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Leanders Erbe

Teil 8

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Inhaltsverzeichnis

-Finn-

Sie hatten einen Plan erarbeitet. Ob er wasserdicht war? Woher sollten sie das wissen. Auf jeden Fall wollten sie zeitgleich jeden Stützpunkt von Colin angreifen. Den Außenposten bei der Lichtung, den Finn noch in sehr guter Erinnerung hatte, den zweiten Stützpunkt im Osten und natürlich das Hauptlager, wo sie Lias vermutlich festhielten. Außerdem sollte eine Gruppe den Staudamm zerstören, den Luca damals hatte aufbauen lassen, um den Fluss umzuleiten. Die Wassermassen würden das Lager zwar nicht wegspülen können, aber sicher für einige Verwirrung sorgen. Hoffentlich genug Verwirrung, um Lias da rauszuholen.

Aber dafür brauchten sie definitiv Hilfe. Robin hatte alle Bewohner des kleinen Dorfes zusammengetrommelt. Sie brauchten jede Unterstützung, die sie kriegen konnten. Neben den Menschen hier im Versteck wollte Robin auch die Leute in den umliegenden Dörfern überzeugen, sich ihnen anzuschließen. Schließlich hatten alle unter Colin zu leiden und nur wenn sie sich zusammentaten, hatten sie eine Chance …

Aber zähneknirschend nahm Finn die Gegenstimmen auf, die auf dem Platz laut wurden.

„Wie stellst du dir das vor? Colins Männer würden uns einer nach dem anderen aufschlitzen!“

„Das ist doch Selbstmord!“

„Wir wissen doch nicht mal, ob Lias noch am Leben ist …“

Robin warf ihnen hilflose Blicke zu. Die Leute waren so aufgebracht, dass sie ihm kaum zuhören wollten. Und wenn sie die Menschen hier schon nicht erreichten, wie sollten sie dann erst die umliegende Bevölkerung überzeugen?

Finn hatte auch keine Idee, wie sie die Menge beruhigen sollten. Doch überrascht stellte er fest, dass Lauri sich von ihm gelöst hatte und neben Robin getreten war.

Was hatte er vor?

Nach einem kurzen Wortwechsel mit Robin, den Finn jedoch nicht verstehen konnte, trat Robin nickend einige Schritte zurück. Mit offenem Mund starrte Finn seinen Freund an, der sich nun an die Menschen wandte.

„Hey!“

Augenblicklich wurde es still auf dem Platz.

Lauris Blick ruhte einen Moment auf der Menge, bevor er weiter sprach.

„Sicher. Colin hat Männer. Aber wisst ihr was? Das sind alles ganz normale Leute, so wie wir auch. Ihre Kraft ziehen sie nur aus unserer Angst. Wir haben aber einen entscheidenden Vorteil!“

„Ach ja? Und was soll das sein?“, rief einer der Bauern.

„Wofür kämpfen Colins Männer?“, stellte Lauri eine Gegenfrage.

„Für Colin? Oh nein, sicher nicht. Sie kämpfen für Alkohol, für Geld … das sind nur billige Söldner. Aber wir … wir kämpfen für unsere Überzeugung! Für unsere Familien, für unsere Freunde und für uns selbst. Wenn wir zusammenhalten, sind wir viel stärker als die Männer von Colin. Das hier ist unser Land, oder nicht? Und es ist an der Zeit, dass wir es uns zurückholen!“

Finn hing immer noch an Lauris Lippen. War das da wirklich sein Freund? Finn war fasziniert von Lauris Ansprache. Der Mut, die Kraft und die Leidenschaft in seiner Stimme hatten alle Menschen auf dem Platz mitgerissen.

„Großartig, nicht wahr?“ Sylvester hatte Finn von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt, als er ihm schmunzelnd zuflüsterte: „Lauri hat weitaus mehr von Leander, als er selbst denkt!“

„Scheinbar …“, gab Finn knapp zurück. Auf jeden Fall stand dort vorne ein gänzlich anderer Lauri, als der, den Finn vor einigen Monaten kennengelernt hatte.

„Wir werden Lias da rausholen und werden Colin einen Schlag verpassen, den er nicht mehr vergisst! Dafür brauchen wir jeden von euch!“

Jubel schwappte Lauri wie eine große Welle entgegen und mit einem zufriedenen Lächeln übergab er das Wort wieder an Robin, der nun den Plan erklären und die Gruppen einteilen sollte.

-Lauri-

Als er wieder bei Finn angekommen war, blickten ihn zwei Augenpaare an.

Sylvester, mit einem wissenden, stolzen Lächeln nickte ihm zu, während Finn ihn freudig überrascht anstarrte.

„Das war … Wahnsinn!“

Immer noch mit offenem Mund griff Finn zaghaft nach seiner Hand und drückte sie.

Lauri wurde fast etwas verlegen. Er winkte ab und senkte den Kopf, so dass seine dunklen Locken sein Gesicht fast verdeckten. Er hatte gar nicht groß darüber nachgedacht, als er Robin zu Hilfe geeilt war. Natürlich hatten die Leute hier Angst, aber nur gemeinsam konnten sie doch gegen Colin angehen. Sie mussten Robin einfach zuhören.

„Ich sag es gerne noch einmal, mein Junge! Du bist ganz wie dein Vater!“

Sylvester stand vor ihm und schmunzelte. In seinen Augen blitzte wieder so ein Wissen auf, dass Lauri verwirrte und verunsicherte. Er fürchtete sich davor, Sylvester zu enttäuschen. Schmerzhaft erinnerte er sich an seine Aussetzer in der Stadt, als er einfach zugeschlagen hatte. Leander hätte sicher nie so reagiert. Sylvesters Blick, der noch immer auf ihm ruhte, machte ihm auch deutlich, dass die Leute ihm eben sicher auch nur deshalb zugehört hatten, weil sie genauso dachten wie der alte Mann. Sie sahen Leander in ihm und erwarteten, dass er ihnen helfen würde, wie sein Vater es getan hatte. Er seufzte schwer und legte dem Freund seines Vaters eine Hand auf die knochige Schulter.

„Erwarte bitte nicht zu viel …“

„Ich erwarte gar nichts, Lauri!“

Aber dieser Blick lag immer noch auf ihm.

„So, geschafft! Danke dir nochmal, Lauri!“ Robin strahlte, zum ersten Mal seit Langem, als er zu seinen Freunden stieß. „Ich habe einige Männer in die umliegenden Dörfer geschickt. Ich hoffe sehr, dass sich uns noch mehr Leute anschließen. Morgen geht es los!“ Er holte tief Luft …

„Hat eigentlich einer von euch Marlon gesehen?“

Lauri, Finn und Sylvester schüttelten ratlos die Köpfe.

„Mh … komisch. Ich frage mich, wo er steckt?“

-Marlon-

Er war immer noch wütend auf Robin, Finn und Lauri. Wie konnten sie Lias nur hängenlassen und so viel Zeit vergeuden mit ihrem sinnlosen Gerede?

Es war scheinbar niemandem aufgefallen, dass er sich nachts weggeschlichen hatte, zumindest war ihm offensichtlich niemand gefolgt. Er schlug sich mehr schlecht als recht durchs Unterholz und peilte dabei grob das Hauptlager an. Der gebrochene Arm war nicht gerade hilfreich dabei, aber zeitweise zog er ihn aus der Schlinge, um sich abzustützen, als er eine Böschung herabrutschte. Der Schmerz, als er mit dem verbundenen Arm gegen einen dickeren Ast schlug, trieb ihm Tränen in die Augen, aber er presste die Lippen aufeinander. Lias zählte auf ihn. Einen wirklichen Plan hatte er zwar nicht, aber er würde seinen Bruder sicher nicht im Stich lassen.

-Lauri-

Diese Nacht schlief er schlecht. Wenn ihm trotz der Grübeleien doch einmal die Augen zufielen, quälten ihn Albträume. Immer wieder hatte er das Bild vor Augen, wie Finn leblos in seinen Armen lag. Wieder schreckte er schweißgebadet hoch. Aber sein Freund lag an ihn gekuschelt auf der Seite. Das Gesicht ihm zugewandt und einige seiner wirren blonden Strähnen fielen ihm über die geschlossenen Augen. Den Arm hatte er um Lauris Körper geschwungen, sein Atem streifte Lauris nackte Brust. Schwer ließ er sich zurücksinken und betrachtete Finn. War er jetzt derjenige, der von Albträumen heimgesucht wurde? Die Zeit, als der blonde junge Mann regelmäßig aus dem Schlaf gerissen wurde, schien schon so wahnsinnig fern zu sein. Jetzt schlief er ruhig an seiner Seite.

Überhaupt hatte sich so unglaublich viel verändert in der letzten Zeit. Nie hätte er gedacht, dass er jetzt hier sein würde, dass er der sein würde, der er nun war. Seine Gedanken streiften zu seinen Vater. Kaum zu glauben, wie sehr er Leander noch immer vermisste … Manchmal wünschte er sich, dass Sylvester doch Recht hätte mit seiner Behauptung, er wäre Leander ähnlich …

Am Morgen war er selbst verwundert darüber, dass er doch noch etwas Schlaf gefunden hatte. Die Stimmung im Lager war angespannt. Zwar gab es einige Männer, die scheinbar in freudiger Erwartung waren, Colin und Genzo endlich heimzuzahlen, was ihnen jahrelang von der Bande angetan worden war. Die meisten jedoch hatten Respekt vor ihrem Plan und auch Finn und Robin wirkten am Morgen nervös.

„Hoffentlich geht unser Plan auf …“, brummte Robin und strich seiner Stute fahrig über die Flanke.

„Wir holen Lias da raus, keine Sorge!“, versuchte Finn ihn zu beruhigen, aber auch seine Stimme klang nicht so fest und überzeugt wie sonst.

Sylvester stieß zu ihrer Gruppe hinzu.

„Zieht nicht solche Gesichter Jungs!“

Aufmunternd klopfte er Robin auf die Schulter.

„Die Männer sind alle instruiert. Wir brechen jetzt auf und gegen Mittag schlagen wir los.“

Die jungen Männer nickten einvernehmlich und schwangen sich auf ihre Pferde.

Finn und Lauri würden sich wie geplant zuerst von östlicher Richtung dem Lager nähern. Die Männer aus den umliegenden Dörfern würden dann gegen Mittag die verschiedenen Außenposten von Colin angreifen und Lauri und Finn würden Colin und Genzo ablenken, während Robin Lias befreien sollte.

Irgendwie kam Lauri der Plan mit einem Mal gar nicht mehr so toll vor.

Eine ganze Weile ritten Finn und er schweigend durch den Wald, aber Lauri fühlte Finns Blicke auf sich.

„Du machst dir schon wieder Sorgen!“, stellte Finn nüchtern fest.

Lauri verzog als Antwort nur kurz den Mund.

„Na ja, was auch sonst … Ich werde schon auf mich aufpassen, in Ordnung?“

Lauri brachte ein schmales Lächeln zustande, auch wenn er sich sicher war, dass dieses seine Augen nicht erreichte.

Sie erreichten das Lager noch am frühen Vormittag. Viel zu früh eigentlich. Die Pferde hatten sie tiefer im Wald zurückgelassen und waren zu Fuß weitergegangen. Nun hielten sie sich zwischen den dichten Bäumen und Büschen versteckt und beobachteten das Lager. Im Grunde sah alles aus wie immer. Einige Männer waren mit Lagerarbeiten beschäftigt und alles in allem herrschte ein geschäftiges Kommen und Gehen auf dem Platz.

Plötzlich trat Genzo auf den Plan. Ein anderer Mann begleitete ihn und beide grinsten gehässig wie immer, so dass Lauri die Wut bereits in seinem Körper spürte. Es kribbelte in seinen Fingerspitzen und er öffnete und schloss mehrmals die Faust, um das Gefühl wieder loszuwerden.

Sie waren zu weit entfernt, um die Gespräche der Männer mit anzuhören, aber Genzo sah recht zufrieden aus und nickte selbstgefällig.

Auf einmal deutete einer der Männer genau in ihre Richtung und Genzo reckte sofort seinen hässlichen Schädel, um zwischen den Blättern etwas zu erkennen. Erschrocken wichen Lauri und Finn sofort zurück.

„Verdammt! Sie haben was gesehen!“ Lauris Kopf arbeitete sofort auf Hochtouren. Er musste unbedingt verhindern, dass Finn in Colins Hände gelangte.

„Los, da rauf!“ Er deutete auf das dichte Blätterdach über ihren Köpfen. „Colin und Genzo wissen nicht, dass du lebst, also werden sie auch nicht nach dir suchen!“

„Moment und was ist mit dir?“ Finn sah ihn entgeistert an. „Ich komm schon klar! Warte auf Robin. Und egal was passiert – keinen Ton, hörst du!“ Rasch half er Finn, der zum Glück nur wenig Widerstand zeigte, auf den Baum und nur wenige Sekunden später hörte er Genzo mit einigen Männern durch das Unterholz brechen.

„Na sieh mal an. Wen haben wir denn da? Das Kindermädchen! Muss wohl heute mein Glückstag sein. Aber ich dachte mir schon, dass du Sehnsucht nach mir hast!“ Genzo bleckte die verfaulten Zähne, was wohl ein Grinsen darstellen sollte, und Lauri verspürte die spontane Lust, Genzo die Nase zu brechen. Dennoch ließ er sich mit nur wenig Gegenwehr festnehmen. Er wollte möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Genzo kam ihm so nah, dass Lauri seinen fauligen Atem riechen konnte und raunte: „Auf dein letztes Baby haste aber nicht besonders gut aufgepasst, Kindermädchen …“

Da Lauri von mehreren Männern festgehalten wurde, spuckte er Genzo lediglich voller Hass in seine hässliche Visage, woraufhin er sich einen schmerzhaften Schlag in den Magen einfing. Zumindest wusste er jetzt, dass Genzo wirklich der Meinung war, Finn getötet zu haben. Unsanft schubste Genzo ihn in Richtung des Lagers. „Los, vorwärts! Ich wette, Colin freut sich, dich zu sehen!“

Sie steuerten ohne Umwege auf das Haupthaus zu und Genzo stieß die Tür auf. Nach wenigen Schritten befanden sie sich in dem Raum, in dem vor so kurzer Zeit noch Finn geschlafen hatte. Allerdings hatte Colin den Raum zu einer Zelle umfunktioniert. Ein massives Holzgitter trennte die Hälfte des Raumes ab und auch das Fenster hatte er zunageln lassen.

Colin stand vor dem Gitter und schien bis gerade mit jemandem gesprochen zu haben. Lauri sah an Colin vorbei. Lias! Er saß relativ entspannt auf dem steinernen Boden, den Rücken an die Wand gelehnt und taxierte mit verschränkten Armen den Anführer der Wessington Bande, bis er die Neuankömmlinge registrierte.

„Colin! Sieh mal, wer uns besuchen wollte!“ Genzo verzog wieder seinen hässlichen Mund zu einem Grinsen und auch auf Colins Gesicht machte die anfängliche Überraschung einem überheblichen, kalten Lächeln Platz. „Das Kindermädchen. Nein, wie nett!“ Er nickte in Richtung der Zelle und nach einem weiteren, unnötigen Faustschlag in die Nieren schubsten die Handlanger Lauri zu Lias hinter das Gitter.

„Lauri!“ Lias war nun aufgesprungen und half seinem Freund wieder auf die Beine. „Was machst du hier? Was ist mit …“ Lauri hatte die Lippen aufeinandergepresst und fast kaum merklich den Kopf geschüttelt. Lias verstand die nonverbale Botschaft schnell genug, um sofort den Mund zu halten.

„Ach schön, ihr kennt euch!?“ Colins Stimme tropfte nur so vor Ironie. „Oder ist das vielleicht deine neue Flamme, Kindermädchen? Hast dich ja schnell getröstet, was?!“ Der blonde Mann lachte freudlos auf. „Ach nein, Lias ist doch mit unserem Robin Hood verbandelt, wobei … wer weiß. Euch perversem Pack traut man ja alles zu!“ Lauri zwang sich dazu, ruhig zu bleiben. Er wusste genau, dass Colin nur eine Reaktion provozieren wollte. Auch Lias ignorierte Colins blöde Bemerkungen und wandte sich wieder Lauri zu. „Bist du ok?“ Lauri nickte nur kurz.    

Colin spazierte vor dem massiven Holzgitter auf und ab. Ein fieses Grinsen umspielte seine Lippen. Es war offensichtlich, dass er gerade wieder eine bescheuerte Idee ausheckte. Lauri wäre ihm am liebsten an den Hals gesprungen.

„Na dann lasst doch mal sehen, was euresgleichen so miteinander treibt!“

Lias und Lauri blickten Colin verständnislos an. Was wollte er?

„Na ich denk, ihr steht beide auf Schwänze! Dann mal los!“

„Bist du bescheuert?“, platzte es aus Lauri heraus. Wollte er jetzt ernsthaft, dass sie beide ihm eine Show ablieferten?

Colins Grinsen wurde breiter.

„Heißt es nicht, dass ihr Schwuchteln eh immer geil seid? Also zeigt doch mal, was ihr draufhabt!“

Lias verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

„Was soll der Scheiß, Colin? Warum sollten wir das tun?“

Colin legte gespielt einen Finger an die Lippen.

„Mh, lass mich kurz überlegen …“ Nach einem kurzen Wink zu Genzo zerrte dieser plötzlich Lias kleinen Bruder in den engen Raum und hielt ihn im Schwitzkasten.

„Marlon!“ Lias war reflexartig zum Gitter gesprungen und umklammerte die Holzbalken. Er war mit einem Mal kreidebleich im Gesicht. Auch Lauri musste schwer schlucken. Verdammt, was hatte Marlon hier zu suchen?

„Lias …“ wimmerte der Junge und Tränen liefen ihm unaufhörlich über die Wangen. Es war unverkennbar, dass der Junge furchtbare Angst hatte.

„Vielleicht solltet ihr deshalb ALLES tun, was ich sage …“, drohte Colin plötzlich und das Grinsen war einer hassverzerrten Fratze gewichen. Nach einem weiteren Wink hatte Genzo seinen Dolch gezückt und drückte ihn grob unter Marlons Kinn.

Lias sah verzweifelt zu Lauri und wieder zurück zu Marlon, Genzo und Colin.

„Du mieses Schwein!“, presste er an Colin gerichtet zwischen den Zähnen heraus.

„Ah, ah, ah … pass auf, wie du mit mir redest, mein Lieber! Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte: ICH bin grade in der deutlich besseren Position!“ Colins Stimme klang so kalt, dass es auch Lauri regelrechte Schauer über den Rücken jagte. Er war selbst kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen und Lias ging es noch schlechter. Natürlich, schließlich hatte Colin grade seinen kleinen Bruder in der Gewalt.  

Entgeistert taumelte Lias einige Schritte zurück. Lauri hatte den jungen, sonst so starken Mann noch nie in einer solchen Verfassung gesehen.

„Aber … was soll das Colin? Du stehst doch gar nicht auf sowas …“ Lias Stimme war fast nur ein Flüstern. Lauri war hinter Lias getreten und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. „Aber er weiß, wie erniedrigend das ist!“, raunte er und auf Colins Gesicht zeichnete sich erneut das ekelhafte Grinsen ab. Lias drehte sich zaghaft zu Lauri um und blickte ihn mit verzweifelten Augen an. „Und er weiß, dass du Robin liebst … und ich Finn!“, setzte er leise nach, in der Hoffnung, dass Colin seine letzten Worte nicht verstanden hatte.

„LOS JETZT!“, brüllte Colin plötzlich. Seine Stimme klang schrill und wahnsinnig. Lias war regelrecht zusammengezuckt. Wieder sah er Lauri so verzweifelt an. Lauri konnte seinen Konflikt gut verstehen. Er wollte das alles auch nicht. Lias war ein Freund … Und vor Colin und Genzo … Er liebte Finn … Aber auch er zweifelte nicht daran, dass sie Marlon etwas antun würden.

„Ich … Lauri … es tut mir leid … ich kann …“, stammelte Lias und sah dabei betreten zu Boden. „Sie dürfen ihm nichts tun!“ Lauri schluckte schwer und versuchte alle Gedanken an Finn auszublenden, als er seine Hand hob und sanft über Lias Wange strich. „Ich weiß …“

Sie hörten Marlon schluchzen und Lias verkrampfte sich sofort. Lauri hielt ihn an den Oberarmen fest. „Sieh nicht hin!“, sagte er. Aber Lias wandte sich erneut zu Colin um. Tränen standen bereits in seinen Augen. „Aber muss er das denn mit ansehen? Bitte bring ihn weg von hier, Colin!“

Colin lachte freudlos. „Warum? Er sollte ruhig sehen, was sein Bruder für ein perverser Schwanzlutscher ist! Und jetzt fangt endlich an, bevor ich meine Geduld verliere!“

Lias schien kurz vor einem Zusammenbruch zu stehen. Lauri fasste ihn etwas fester an den Armen und zwang Lias erneut ihn anzusehen. „Sieh nicht hin, Lias! Sieh mich an!“

Endlich blickten ihn die beiden dunkelbraunen, traurigen Augen an.

„Ich … er ist mein Bruder! Er sollte das nicht sehen!“, flüsterte Lias. Lauri nickte mitfühlend. Niemand sollte das sehen. Es war wirklich demütigend.

„Versuch, nicht daran zu denken!“, gab Lauri genauso leise zurück. Sie standen so nah voreinander, dass Lauri Lias hektischen Atem auf seinen Lippen spüren konnte. Er wusste selbst nicht, ob er das konnte, aber er versuchte ebenfalls, alles um ihn herum so gut wie möglich auszublenden. Und vor allem das Bild von Finn musste er aus dem Kopf kriegen.

Er hörte, wie Colin ungeduldig mit den Füßen scharrte und bevor er weiter nachdenken konnte, murmelte Lias „Verzeih mir!“ und drückte seine Lippen auf Lauris Mund.

Es war … anders. Nicht besser oder schlechter, nur anders. Nachdem sie dieses erste Tabu gebrochen hatten, fiel es leichter. Nur den Verstand ausschalten. Das war das Wichtigste. Nicht darüber nachdenken. Trotzdem ertappte sich Lauri immer wieder dabei, wie seine Gedanken zu Finn wanderten. Seine Lippen, seine Hände, seine Haut … Alles war anders.  

Ob es Lias genauso ging?

Es war fast ein bisschen so wie beim ersten Mal. Er war so unsicher. An Lias zitternden Händen, die zaghaft sein Hemd aufknöpften, erkannte Lauri, dass es Lias ähnlich gehen musste. Dafür war die ganze Situation auch einfach zu absurd. Jedes Mal, wenn Marlon aufschluchzte, zuckte Lias zusammen und erinnerte sie beide daran, gerade nicht allein zu sein.

Lauri fuhr mit seinen Händen unter Lias Hemd. Seine warme, weiche Haut fühlte sich trotz allem gut an und Lauri bemerkte fast erschrocken, dass sein Körper trotz allem auf Lias Berührungen reagierte. Wie konnte das sein? Mit seinen Gedanken war er doch ständig bei Finn und trotzdem reagierte er jetzt so auf Lias. Objektiv betrachtet war das kein Wunder. Schließlich hatte er gerade einen durchaus attraktiven jungen Mann vor sich. Trotzdem sollte das nicht so sein. Das fühlte sich so falsch an. Er biss sich auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte.

Lias hatte seine Arme um Lauris Taille geschlungen und als er Lauri näher an sich heranzog, war auch Lias Reaktion deutlich zu spüren. Er lehnte seine Stirn gegen Lauri und einen kurzen Moment sahen sich beide schuldbewusst in die Augen. Langsam glitten Lias Hände tiefer, während Lauri Lias Kragen packte und ihn fast grob zu sich heranzog, um ihn erneut zu küssen.

„Das reicht!“ Colins Stimme drang im ersten Moment gar nicht recht zu ihnen vor. Erst das zweite und energischere „Schluss jetzt!“ ließ beide Männer auseinanderfahren.

Colin betrachtete die beiden angeekelt und spuckte vor sich auf den Boden. „Wirklich widerlich!“

Lauri war erschöpft die wenigen Schritte gegen die steinerne Wand hinter ihm getaumelt. Lias war beim Anblick seines Bruders einfach in der Mitte des Raumes zusammengebrochen.

„Nur schade, dass Finn das nicht mehr miterleben konnte! Es wäre spannend gewesen, seine Reaktion darauf zu sehen!“ Mit einem gehässigen Grinsen machte Colin auf dem Absatz kehrt und Genzo folgte mit Marlon im Schlepptau.

Lauri schlug die Hände vors Gesicht. Als Colin Finn erwähnt hatte, brach alles über ihm zusammen, was er versucht hatte auszublenden. Natürlich wusste Colin nicht, dass Finn noch lebte, doch machte das eigentlich alles fast noch schlimmer. Er schämte sich so unglaublich.

Lias kniete mitten im Raum und weinte hemmungslos. Lauri hätte ihn einerseits gern getröstet, aber er konnte nicht. Er konnte Lias jetzt nicht anfassen, eigentlich konnte er ihn nicht mal ansehen. Es war alles so falsch und Colin wusste genau, was er damit angerichtet hatte.

„Lauri?“

Lauri hatte immer noch die Hände vor dem Gesicht. „Mh …“

„Ich … es tut mir leid. Ich … ich konnte doch nicht …“ Lias Stimme versagte.

Lauri hob kurz den Blick. „Lass gut sein, Lias. Du musst dich nicht rechtfertigen.“ Was ein Kraftakt diese Worte über die Lippen zu bringen.

Lias sah immer noch zu Boden. „Ich habe das Gefühl, dich missbraucht zu haben …“

„Sie hätten Marlon getötet, wenn wir es nicht getan hätten!“

„Glaubst du das wirklich?“

Lauri nickte, als Lias ihn wieder ansah.

„Denkst du, sie tun ihm jetzt etwas an?“ Lias Schultern bebten erneut beim Gedanken an seinen kleinen Bruder.

„Nein, ich glaube nicht. Colin hat doch festgestellt, was er für ein tolles Druckmittel in Marlon hat. Das würde er nicht vergeuden!“

Lias setzte sich in gebührendem Abstand zu Lauri mit dem Rücken an die Wand. Eine Weile schwiegen beide und hingen ihren eigenen unschönen Gedanken nach.

„Ich weiß nicht, wie ich Robin wieder unter die Augen treten soll!“ Lias Stimme war fast nur ein Flüstern.

„Glaubst du nicht, Robin und Finn hätten in unserer Situation genauso gehandelt?“ Lauri war sich nicht sicher, ob er Lias oder sein eigenes Gewissen mit dieser Frage beruhigen wollte. Natürlich war das keine Entschuldigung, aber Lauri war sich ziemlich sicher, dass Finn auch versucht hätte, Marlons Leben zu retten. Und wäre er Finn dann deswegen böse gewesen? Wahrscheinlich nicht, aber ein seltsames Gefühl wäre es trotz allem.

„Wir können wohl froh sein, dass Colin so schnell die Schnauze voll hatte von uns …“. Als er Lias ansah, mussten beide auflachen. Ja, im Grunde hatte Colin alles abgebrochen, bevor wirklich etwas passiert war, wofür sie sich schämen müssten. Hoffentlich beließ er es dabei …

„Lauri?“

„Mh?“

Lias braune Augen sahen ihn nun eindringlich an.

„Bitte lass das nicht zwischen uns stehen, in Ordnung?“

Als Antwort zuckten Lauris Mundwinkel nach oben und der junge Mann rutschte wieder etwas näher.

-Finn-

Die Warterei machte ihn fertig. Nicht nur, dass er mit ansehen musste, wie Genzo Lauri schmerzhafte Schläge verpasste, jetzt wusste er nicht einmal was weiter passieren würde.  Ihr toller Plan scheiterte schon zu Beginn …

Vom Baum aus hatte er sogar relativ freie Sicht auf das Haupthaus. Das Fenster, welches früher zu seinem Zimmer gehörte, war mit einigen Brettern vernagelt, aber man konnte immer noch ein wenig hindurchsehen. Genzo hatte Lauri ins Haupthaus geschleppt und er meinte auch, Lias durch die Holzstreben erkennen zu können.

Plötzlich hörte Finn wieder leise Schritte am Waldboden. Er verhielt sich weiterhin ruhig, wie er es Lauri versprochen hatte, bis er Robins blonde Locken unter sich erkannte.

„Robin!“, flüsterte er.

Robin sah sich verstohlen um.

„Finn? Wo bist du?“

„Über dir im Baum!“

„Wo ist Lauri?“

„Genzo hat ihn erwischt!“

„Scheiße! Weißt du, wo sie ihn hingebracht haben?“

„Ja, ins Haupthaus. Ich kann auch Lias sehen und Lauri ist jetzt bei ihm!“

Gerade hatten sie Lauri zu Lias in den Raum gestoßen. Lias half ihm auf.

„Was machen sie? Geht es ihnen gut?“ Robin spähte durch die Blätter zu Finn herauf.

Finn versuchte angestrengt etwas zu erkennen.

„Ja, ich glaube es geht ihnen gut. Sie …“

Er musste sich verguckt haben, oder?!

„Was denn? Was ist?“, fragte Robin ungeduldig von unten.

„Ähm …“, Finn schluckte. Nein, das sah ziemlich eindeutig aus.

„Sag schon, Finn! Was ist los?“

Finn wandte unschlüssig den Blick ab und schaute verwirrt runter zu Robin, der ihn mit großen Augen ansah.

„Sie … sie küssen sich?!“

Einen Moment schwiegen beide. Dann hangelte sich Robin ebenfalls auf den Baum.

Finn beobachtete Robin von der Seite, während dieser sich selbst überzeugte. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Finn wusste selbst nicht, was er denken sollte.

Robin fiel es schwer, seinen Blick abzuwenden, aber er schüttelte leicht den Kopf.

„Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung. Vielleicht sind sie auch nur froh, sich zu sehen und nicht mehr allein zu sein?“, mutmaßte er, aber Finn fand, dass er nicht besonders überzeugt klang.

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