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Leanders Erbe

Teil 5

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Inhaltsverzeichnis

-Finn-

Sie brachen schon früh auf. Finn hatte in der Nacht vor lauter Aufregung fast kein Auge zugetan. Lauri sicher auch nicht. Allerdings wahrscheinlich aus anderen Gründen. Er war sehr angespannt und gereizt. Als Marlon ihnen die Augen verbinden wollte, hatte er dem Jungen den Stofffetzen fast aus den Händen gerissen.

Finn saß bereits auf dem Pferd, als Lauri sich hinter ihm auf die Stute schwang und ihm anschließend die Augen verband. Marlon führte das Pferd vorneweg. Sie mussten für einen Außenstehenden ziemlich seltsam aussehen, aber Finn war sich sicher, dass Marlon bemüht sein würde, nicht gesehen zu werden.

Er wusste nicht genau, was sie wohl erwarten würde. Wie viele Menschen zu dieser Widerstandsgruppe gehörten, konnte Marlon ihnen nicht genau beantworten. Und auch wenn er das vor Lauri nicht zugab, gab es doch auch einen winzig kleinen Teil ihn ihm, der inständig hoffte, dass Lauri mit seinen Befürchtungen unrecht hatte.

Lauri selbst wirkte zwar nach außen wie immer ruhig, aber Finn konnte die Anspannung spüren, unter der sein Freund stand.

Auf dem Pferd sitzend war es schier unmöglich, auszumachen, in welche Richtung sie sich bewegten. Zumindest für ihn. Gut möglich, dass Lauri auch anhand der Geräusche des Waldes mitbekam, wo Marlon sie langführte. So oder so blieb ihnen im Moment nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Sie waren gut einen halben Tag unterwegs und Finn wurde wieder mal bewusst, wie groß der Wald doch war und dass es noch zahlreiche Ecken hier gab, die er nicht kannte. Genau wie bei Lauris Hütte, hielt Finn es durchaus für realistisch, dass auch das Lager der Widerstandsgruppe bisher von Colin und Genzo nicht entdeckt worden war.

„Warte!“

Lauris Stimme ließ Finn fast zusammenzucken. Auch Marlon war stehengeblieben. Aber es schien auf einmal sogar Finn unnatürlich still zu sein. Kein Wunder, dass Lauri misstrauisch wurde.

„Was ist hier los?!“

Finn spürte Bewegung hinter sich. Lauri musste die Augenbinde abgezogen haben. Zaghaft tat er es ihm nach. Das Licht blendete ihn und er brauchte einen Moment, bis er wieder etwas erkennen konnte.

„Was soll los sein?“, fragte Marlon, aber er sah ein wenig blass um die Nase aus.

„Irgendwas stimmt hier nicht!“, grummelte Lauri und sah sich forschend um. „Wenn das eine Falle ist …“

„Was dann?“ Die unbekannte Stimme ließ alle drei herumfahren.

Finns Puls beschleunigte sich schlagartig. Der Fremde stand mit verschränkten Armen vor ihnen. Nicht mal zwei Meter entfernt. Hinter dem Unbekannten hatten weitere Männer Aufstellung bezogen. Mehrere Pfeile waren auf sie gerichtet.

Feindselig starrten sich beide Parteien einen Moment an, bis der Fremde mit den kurzen blonden Locken an Lauri und Finn vorbei sah. „Marlon? Bist du das?“

Finn schluckte. Hatte er sich wirklich so in Marlon getäuscht?

Der Junge ließ die Zügel los und lief an Lauri und Finn vorbei zu den fremden Männern.

Finn spürte, wie Lauri sich noch mehr anspannte und kurz davor war, vom Pferd abzuspringen.

„Du …“, presste er an Marlon gerichtet zwischen den Lippen hervor.

Augenblicklich zielten die Bogenschützen auf Lauri und der Fremde stellte sich schützend vor den Jungen.

„Nein, nein, wartet!“ Marlon sprang zwischen die beiden Gruppen und winkte mit seinem gesunden Arm ab. „Die beiden sind in Ordnung!“ Er drehte sich zu Lauri um und blitzte ihn grimmig an. „Er ist zwar ein Idiot, aber er ist in Ordnung. Die beiden haben mir geholfen und wollen sich uns anschließen.“

Finn seufzte erleichtert auf. Also war es doch keine Falle und Marlon hatte die Wahrheit gesagt. Natürlich bewachten die Widerständler ihr geheimes Lager und da sie ihn und Lauri nicht kannten …

Lauri schien die Lage nun ebenfalls zu verstehen, auch wenn er nach wie vor nicht glücklich über die gesamte Situation zu sein schien.

„Marlon! Bist du dir sicher, dass wir ihnen trauen können? Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Leute hierherführen!“, hörte Finn den Fremden eindringlich auf den Jungen einreden.

„Robin, glaub mir einfach! Und ich hatte ihnen die Augen verbunden. Gute Idee, oder?“ Marlon grinste über das ganze Gesicht. Der Fremde wuschelte Marlon durchs Haar und seufzte. „Mal sehen, was Lias dazu sagt.“

Den Rest des Weges legten sie gemeinsam zurück. Robin ließ lediglich einige Männer im Wald zurück, die weiterhin die Stellung hielten. Einen weiteren Mann hatte er vorgeschickt.

Der Wald wurde immer dichter und an einer Stelle mussten sie sogar nacheinander durch das Unterholz schlüpfen. Das perfekte Versteck, befand Finn, und als er nach einer weiteren Engstelle wieder aus dem dunklen Blätterdach hervortrat, traute er seinen Augen kaum, als sie plötzlich auf einer großen Lichtung standen, inmitten eines kleinen, improvisierten Dörfchens.

Ihre Ankunft wurde bereits erwartet. Einige Männer und Frauen hatten sich auf dem kleinen Platz in der Mitte des Dörfchens versammelt. Ein Mann fiel Finn sofort auf …

„Lias!“, Marlon rannte auf den jungen Mann zu und fiel ihm um den Hals.

Sie sahen sich wahnsinnig ähnlich, aber um Marlons Vater zu sein, war der Altersunterschied nicht groß genug. Sie mussten Brüder sein, kombinierte Finn. Die gleichen, dunkelbraunen Augen, das glatte braune Haar. Lias trug es lediglich etwas länger, so dass es ihm bis auf die Schultern fiel. Bei Lias Anblick konnte man sich ausmalen, wie Marlon später einmal aussehen würde. Sicher, er war größer, die Gesichtszüge etwas markanter, alles in allem ein gutaussehender Kerl. Bei dem Gedanken wurde Finn fast schon wieder ein bisschen rot.

„Marlon! Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Konntest du Michael warnen?“

Marlon sank ein wenig in sich zusammen und schüttelte betrübt den Kopf. „Nein …“, flüsterte er. „Ich kam zu spät.“ Finn sah in zahlreichen Gesichtern tiefe Bestürzung und auch er selbst musste schlucken, als er an das Dorf dachte, das Colin niedergemetzelt hatte. Lias presste die Lippen aufeinander und zog seinen kleinen Bruder erneut an seine Brust.

„Ist nicht deine Schuld, Marlon! Ich hätte dich niemals dorthin schicken dürfen. Gott sei Dank ist dir nichts passiert!“ Über Marlons Schulter hinweg sah er Finn und Lauri an. Marlon löste sich von seinem Bruder und folgte Lias Blick.

„Das habe ich wahrscheinlich den beiden zu verdanken!“ Marlon nickte Finn zu. „Das sind Finn und Lauri. Sie haben mich gefunden und …“

„Lauri?!“ Ein älterer Mann löste sich aus der Gruppe und kam auf die beiden jungen Männer zu. Die anderen Männer und Frauen hatten sich ihm sofort überrascht zugewandt und auch Finn wunderte sich. Ob dieser Alte Lauri kannte?

Der Alte humpelte näher und starrte Lauri dabei unverwandt an. „Lauri? Bist du das wirklich? Ist das wahr?“

Finns Blick wanderte von seinem Freund zu dem alten Mann und zurück. Und tatsächlich auch in Lauris Blick wandelte sich etwas … Er schien den Fremden zu erkennen.

„Sylvester?“, fragte er zaghaft zurück und Finn stellte überrascht fest, dass Lauri etwas blass geworden war … und zitterte er etwa?

„Bei Gott! Du bist es! Lauri, mein Junge!“ Der Alte fiel Lauri um den Hals, um ihn im nächsten Moment an den Schultern zu fassen und ein Stück von sich wegzudrücken, um ihn besser zu betrachten. Finn und Lauri tauschten einen kurzen Blick aus, aber Finn vermochte ihn nicht zu deuten.

Auch die Leute, die sich auf dem Platz versammelt hatten, schienen verwirrt und warteten auf eine Erklärung. Sylvester, so war wohl der Name des Greises, drehte sich nun zu den anderen um, eine Hand noch immer auf Lauris Schulter, und blickte in die verständnislosen Gesichter.

„Meine Güte! Wisst ihr denn nicht, wer das ist? Das ist Lauri! Leanders Sohn!“

Eine Weile herrschte eine fast unheimliche Stille auf dem Platz und dann brach plötzlich alles auf sie ein. Zahlreiche Menschen umringten die beiden jungen Männer und Finn staunte über den Jubel, der unter den Leuten ausgebrochen war. Lauri brachte unter der Belagerung nur ein kaum wahrnehmbares Schulterzucken zustande, ob Finns verwirrtem Blick. Er schien selbst nicht zu wissen, was das alles zu bedeuten hatte.

Glücklicherweise hatte wohl auch Sylvester dies bemerkt und mahnte die Menschen zur Ruhe.

„Nun lasst die beiden doch erst einmal ankommen! Kommt schon, macht Platz!“

Als alle den dreien wieder etwas Luft gelassen hatten, wandte der Alte sich wieder an Lauri: „Junge … du siehst aus wie dein Vater!“ Sylvester strahlte über das ganze Gesicht, während Lauri irgendwie verloren aussah. So hatte Finn seinen Freund selten gesehen.

Marlons Stimme riss ihn jedoch schnell wieder aus seinen Gedanken, da der Halbstarke nun lauthals verkündete: „Ja und Finn ist Lucas Sohn!“

Wieder mal wurde es schlagartig still auf dem Platz und Finn erkannte aus dem Augenwinkel, wie sich einige der Männer anspannten, als ob er eine Gefahr darstellen würde.

Marlon merkte wohl, dass seine Aussage für Unruhe sorgte, und fügte noch schnell hinzu: „Aber Finn war es, der Luca getötet hat und äh … jetzt sind sie hier, um uns zu helfen!“

Finn spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er hasste es so dermaßen, im Mittelpunkt zu stehen und dann noch ausgerechnet auf diese Weise. Warum musste Marlon das jetzt so rausposaunen?

Betreten starrte er erst auf seine Füße und suchte dann Lauris Blick, der selbst auch immer noch blass um die Nase war.

Diesmal kam Lias ihnen zu Hilfe.

„Ja … dann erst einmal willkommen bei uns! Ich denke, wir werden noch genug Zeit finden, um mehr von Finn und Lauri zu erfahren. Aber jetzt haben ja eigentlich alle etwas zu tun, also los, an die Arbeit!“

Mit einem Augenzwinkern verscheuchte er die Leute vom Platz und kam dann zu den beiden jungen Männern herüber. Sylvester war ebenfalls geblieben und noch immer lag seine Hand auf Lauris Schulter. „Lauri, mein Junge. Da gibt es etwas, was ich dir zeigen möchte …“

Zu viert wanderten sie schweigend durch das improvisierte Dörfchen, einige Schritte in den Wald hinein, bis Sylvester vor einer alten Eiche stehenblieb, und als er einen Schritt zur Seite trat, erkannte Finn ein Grab. Lauri schaffte nur einige Schritte auf das verwitterte Holzkreuz zu, bevor er auf die Knie sank. Tränen verließen seine wunderschönen, blauen Augen, rannen die Wangen herab und tropften vor ihm auf die Erde. Finn litt mit ihm. So selten hatte er Lauri so erlebt. Fast traute er sich nicht, diesen Moment zu stören, aber schließlich ließ er sich doch neben seinem Freund auf der Erde nieder und legte ihm zaghaft eine Hand auf den Arm.

„Liegt er wirklich hier?“, fragte Lauri an Sylvester gewandt.

„Ja!“, nickte Sylvester. „Wir haben alles unternommen, um ihn … um euch zu retten. Und auch als er gestorben war, haben wir alles getan, um ihn da rauszuholen!“

„Danke!“, flüsterte Lauri und seine Hand strich über die eingeritzten Letter. LEANDER

- Lauri-

Er hatte nie darüber nachdenken wollen, was mit dem Körper seines Vaters geschehen war. Zu schlimm war die Vorstellung was Genzo und Luca alles damit hätten anstellen können. Es tat gut, zu wissen, dass Sylvester und die anderen Verbündeten seines Vaters ihn da rausgeholt und ihm eine würdige letzte Ruhestätte gegeben hatten.

Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, um sich zu sammeln.

Verdammt. Das war einfach zu viel, womit er nicht gerechnet hatte.

„Dein Vater wäre stolz auf dich, Lauri!“ Sylvester war hinter ihn getreten und drückte aufmunternd seine Schulter, aber seine Worte ließen ihm wieder Tränen in die Augen schießen.

Lauri presste die Lippen aufeinander und schüttelte den gesenkten Kopf.

„Nein, sicher nicht! Ich habe in den letzten Jahren viel Mist gebaut!“

Ihm fielen Finns Worte ein. Natürlich hätte Leander nicht gewollt, dass er so von Hass und Rachegefühlen zerfressen gewesen wäre und noch dazu einen kaltblütigen Mord plante.

Er spürte Finns sanften Händedruck auf seinem Arm und Sylvester, der neben ihn gehumpelt war, zwang Lauri zu ihm aufzusehen.

„Dein Weg hat dich hierher geführt, oder nicht? Das ist die Hauptsache! Du bist Zuhause!“

Zuhause?! Ja, irgendwie fühlte es sich wirklich ein bisschen so an. Seltsam. Er hätte nie gedacht, dass er noch einmal so denken würde? Bei Finn fühlte er sich auch Zuhause, das schon. Aber es war dennoch anders. Finn war sein neues Ziel. Seine Vergangenheit lag aber nun mal hier im Wessington Forrest, auch wenn er gedacht hatte, dass Genzo dieses Zuhause für immer zerstört hatte.

„Wir wussten nicht, was aus dir geworden ist. Wir haben keine Leiche gefunden, aber dich haben wir auch nicht gefunden, und Genzo hat es so aussehen lassen, als hätten sie dich auch auf dem Gewissen! Erzähl mir, was passiert ist Lauri. Erzähl mir alles!“

Lauri und Finn standen auf und Lauri nickte. Lias hatte sich bereits leise zurückgezogen und auch Finn drückte sanft seine Hand.

„Ihr habt euch sicher viel zu erzählen!“ Aufmunternd lächelten Lauri zwei grüne Augen an und auch wenn es ihm nichts ausgemacht hätte, wenn Finn dabei gewesen wäre, war es jedoch auch völlig in Ordnung, dass er sich zurückzog und ihn mit Sylvester eine Zeit lang allein ließ. Es gab viel zu erzählen und gleichzeitig hatte er auch viele Fragen an den Alten.

-Finn-

Als er aus dem Waldstück zurück in das Lager kam, atmete er erst einmal tief durch. Wer hätte das gedacht? Lauri schien doch nicht so allein zu sein, wie er selbst es immer geglaubt hatte. Finn war zwar neugierig zu erfahren, wer dieser Sylvester nun eigentlich war, aber er besaß genug Feingefühl, um zu wissen, dass jetzt erst mal die Zeit dafür war, dass Lauri ein wenig Vergangenheitsbewältigung betrieb. Es blieb noch genug Zeit für Finns offene Fragen.

„Na? Wer hätte das gedacht, mh?“ Lias war wieder neben ihm aufgetaucht und lächelte ihn freundlich an. „Schön, dass Marlon euch gefunden hat. Oder ihr ihn. Wie man es nimmt!“

„Ja“, antwortete Finn. „Er ist dein Bruder, richtig?“

Lias nickte, aber diesmal sah er nicht ganz so glücklich aus. „Ja, und ich mache mir wirklich Vorwürfe, dass ich ihn habe gehen lassen. Er will immer dabei sein und helfen, und weil er nicht so auffällt, wie einer der Männer, habe ich ihn zu Michael geschickt, um das Dorf vor Colin zu warnen.“

Finn schluckte beim Gedanken an das Dorf. Lias Ängste um seinen kleinen Bruder waren nicht unbegründet.

„Ja, er hat Glück gehabt.“

Lias sammelte sich schnell wieder und sah Finn neugierig an. Finn ahnte, welche Frage ihm auf der Zunge lag. Er senkte den Kopf und starrte auf seine Füße, während er murmelte: „Ja, ich weiß, was du fragen willst. Es stimmt, was Marlon gesagt hat … über Luca.“

Lias legte Finn sanft eine Hand auf die Schulter und auch wenn sie sich erst vor Kurzem kennengelernt hatten, fühlte es sich irgendwie richtig an. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir um Luca leidtut. Aber es tut mir leid, dass du deinen Vater verloren hast. Ich kenne die Umstände nicht, aber ich denke mir, dass es nicht leicht für dich ist.“

Finn sah überrascht auf. Lias hatte sehr passende Worte gefunden. Verlegen nickte er und war froh, dass sie das Thema damit fürs Erste beendet hatten.

„Verzeih mir, wenn ich das sage, aber Lauri und du, ihr seid schon ein seltsames Paar!“ Lias grinste nun wieder und Finn spürte abermals das Blut in seinen Kopf steigen.

„Äh … ich weiß nicht, was du meinst“, stammelte er. Er wusste nicht, ob es klug war, zu viel über Lauri und sich zu verraten. Und er wusste auch nicht, ob es Lauri recht gewesen wäre.

Lias grinste aber nur breiter und legte einen Arm um Finn, während er ihn einige Schritte durch das kleine Dörfchen zog.

„Wenn ich dir eines mit Gewissheit sagen kann, dann, dass ihr euch hier nicht verstecken müsst.“ Lias zwinkerte dem völlig verwirrten Finn zu. Verdammt! Wusste er wirklich, dass Lauri und er mehr als nur Freunde füreinander waren? Woher konnte er das wissen? Zwar wusste Marlon davon, aber seit ihrer Ankunft hatten die Brüder eigentlich keine Zeit gehabt, darüber zu reden.

Sie blieben vor einer provisorischen Schmiede stehen und Lias hob die Hand, um den jungen, blondgelockten Mann vor dem Schmiedeofen zu begrüßen.

„Robin!“

Der Angesprochene sah von seiner Arbeit auf und lächelte die beiden Männer an, bevor er sein Werkzeug ablegte und zu den beiden herüberkam.

Mit offenem Mund beobachtete Finn, wie Lias die linke Hand nach Robin ausstreckte, ihm sanft in die wilden Locken griff und sein Gesicht zu sich heranzog. Als sich ihre Lippen trafen, wollte Finn eigentlich beschämt wegschauen, aber er konnte sich nicht losreißen.

Es war nur ein kurzer, zärtlicher Begrüßungskuss, aber da Finn außer Lauri und sich noch nie andere Männer gesehen hatte, die derartige Zärtlichkeiten austauschten, war er fasziniert von diesem kurzen Schauspiel.

Als sich Robin und Lias jedoch nach dem Kuss zu ihm umdrehten, grinste er nur verlegen. Oh Mann, hatte er die beiden grade wirklich so begafft?

Lias grinste noch breiter als zuvor und stellte Robin und Finn einander vor.

„Finn, das ist Robin, unser Schmied und meine bessere Hälfte. Ich glaube, ihr hattet bereits das Vergnügen?!“

Robin reichte Finn seine starke Hand und seine blauen Augen blitzten ihn freundlich an. „Hi! Freut mich, dass ihr jetzt hier seid. Und entschuldige bitte, dass wir euch vorhin so erschreckt haben.“

Lias Freund war groß und kräftig, aber ebenso wie Lauri nicht von der wuchtigen Art, sondern einfach nur wohlproportioniert. Die blonden Locken trug er im Gegensatz zu Lauri eher kurz. Wenn er lächelte, zeigten sich rechts und links zwei Grübchen, die seine Gesichtszüge gleich viel weicher erscheinen ließen. „Äh … ja, kein Problem!“, stammelte Finn verlegen.

„Entschuldigt mich bitte. Ich muss hier weitermachen, bevor das Metall zu kalt wird.“ Mit einem weiteren Zwinkern drehte er Finn und Lias den Rücken zu und bearbeitete mit nicht zu übersehender Muskelkraft und einem Hammer ein unfertiges Schwert.

Einen Moment sahen die beiden Robin bei seiner Arbeit zu, dann wandte Lias sich zum Gehen und Finn folgte ihm.

„Äh … also ihr beide … seid … äh …“

„Schwul, ja!“

„Und das wissen hier alle?“ Finn wurde neugierig.

„Allerdings. Robin und ich haben noch nie viel von solchen Geheimnissen gehalten. Ich möchte mich nicht verstecken müssen, bloß weil ich einen Mann liebe.“

Finn war beeindruckt.

„Wow … das ist … mh … mutig!“

Lias lachte. „Mutig?“ Er schien zu überlegen. „Vielleicht. Vielleicht auch dumm. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es so ist, wie es ist.“

Er blieb plötzlich stehen und sah Finn eindringlich an.

„Ich will nicht sagen, dass es immer leicht war. Natürlich gab es nicht nur Menschen, die sich für uns gefreut haben. Aber das war es mir wert!“

Finn nickte.

„Also wie gesagt … ihr braucht euch also nicht zu verstecken. Die Leute hier kommen damit schon klar!“

Lias grinste wieder verschmitzt und Finn blieb perplex stehen, da er sich immer noch fragte, woher Lias das nur wusste.

-Lauri-

Sylvester hatte ihn zu einer kleinen Hütte geführt, in der sie sich niederließen. Der alte Mann humpelte in die Kochnische und besorgte für seinen Gast einen Becher und etwas Met.

Erst als sie beide mit einem Getränk in der Hand saßen, richtete er wieder das Wort an Lauri.

„So, und nun erzähl mir, was damals passiert ist?“

Lauri seufzte und starrte eine Weile in seinen Becher, bevor er die richtigen Worte fand. Wie bei Finn damals, fiel es ihm nicht leicht, über die Vergangenheit zu sprechen, aber auch bei Sylvester fühlte er sich sicher genug, um auch mit seinen Gefühlen nicht hinter dem Berg halten zu müssen.

Sylvester war ein alter Freund seines Vaters gewesen. Leander hatte ihn so manches Mal in Sylvesters Obhut gelassen, wenn er längere Zeit mit der Bande unterwegs war. Auch wenn sie nicht verwandt waren, war Sylvester so etwas wie ein Großvater oder ein Onkel für ihn.

Lauri begann mit der Nacht, in der Genzo ihn und seinen Vater überfallen hatte. Er erzählte von den letzten Worten, die Leander an ihn gerichtet hatte, bevor er aus dem Lager fliehen konnte, und wie es ihm gelungen war, Genzo und den anderen Männern zu entkommen.

Sylvester stand ebenfalls der Schmerz über den Verlust seines Freundes ins Gesicht geschrieben, und auch die Schilderungen, wie es Lauri ergangen war, machten ihm sichtbar zu schaffen.

Auch vor Sylvester verheimlichte Lauri nichts, auch wenn er sich mittlerweile schämte, über seine Rachepläne zu sprechen. „Ich dachte, ich hätte ihm das Versprechen gegeben, ihn zu rächen und nichts anderes hat mich am Leben gehalten.“ Die Stimme versagte ihm und er klammerte sich an den Becher in seinen Händen, den er immer noch nicht angerührt hatte. Sylvester seufzte und lehnte sich etwas zurück, was ihm half, die verspannten Muskeln im Rücken zu lockern. „Ach, mein Junge. Mach dir keine Vorwürfe. Du glaubst nicht, was ich für Gedanken hatte, als ich von Leanders und deinem vermeintlichen Tod hörte.“ Er goss sich selbst etwas Met nach und nahm einen tiefen Schluck.

„Wie es scheint, hast du deinen Plan aber nicht in die Tat umgesetzt …“

Lauri schüttelte den Kopf.

„Nein.“ Er erzählte, wie er Finn kennengelernt und in ihm zunächst die Chance gesehen hatte, an Luca heranzukommen. Ohne zu zögern, erzählte er auch davon, dass er bald festgestellt hatte, dass Finn seinem Vater in keinster Weise ähnlich war und dass sich zunächst eine Freundschaft und später auch mehr daraus entwickelt hatte.

„Als Luca herausfand, dass Finn und ich zusammen waren, stellte er Finn vor die Wahl. Er oder ich …“

Einen Moment schwiegen sie und als Lauri aufsah, lächelte Sylvester.

„Es freut mich wirklich, dass ihr zueinandergefunden habt.“ Seine Miene wurde ernst. „Aber das muss nicht leicht für deinen Freund gewesen sein.“

Lauri schüttelte erneut den Kopf.

„Nein. Er leidet immer noch darunter. Kein Wunder. Von Finn würde man normalerweise sagen, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.“ Lauri seufzte. War nicht auch das seine Schuld? Hätte er früher auf Finn gehört, hätte Finn nie diese Entscheidung treffen müssen.

Kurz setzte er den Becher an und brachte seine Erzählung danach schnell zu Ende, von ihrer Flucht, Finns Verletzung und von Marlon.

Sylvester nickte. „Es ist gut, dass ihr hier seid. Auch wenn ich deinen Wunsch gut verstehen kann, das alles hinter dir zu lassen!“ Er stand auf, um den beiden nachzuschenken. „Seit wir mit deinem Vater versucht haben, die Bauern und die Dorfbewohner zu schützen, ist es kontinuierlich schlimmer geworden. Luca war eine falsche Schlange. Das haben wir zu spät erkannt. Nach dem Tod deines Vaters wurde alles anders. Erst dann war für alle klar, dass Luca wirklich nichts Gutes im Schilde führte. Die meisten von uns wandten sich von ihm ab. Leider nicht alle. Und seitdem führen wir Krieg gegen Luca. Erst begann er damit, Schutzgelder zu verlangen und nach einiger Zeit wurde klar, dass man eigentlich nur noch Schutz vor ihm und seinen Männern benötigte. Sie gingen immer härter vor und wenn jemand versuchte, sich ihm zu widersetzen …“

Lauri nickte wissend. „Ja, wie es zuletzt ablief, weiß ich. Vergiss nicht, ich war dabei … leider!“

Sylvester seufzte tief. Dann deutete er auf Lauris Brust. „Haben sie dich auch gebrandmarkt, wie so ein Stück Vieh?“ Lauri zog als Antwort sein Hemd ein Stück zur Seite. „Barbarisch ist das …“, murmelte Sylvester. „Dieser Colin, das neue Ungeheuer, hat seinen Männern wohl zusätzlich eine Markierung am Handgelenk verpasst, habe ich gehört.“ Das sah Colin ähnlich. Immer noch einen draufsetzen.

„Wo ist eigentlich Marta? Ist sie auch hier?“ Lauri war Sylvesters Frau eingefallen. Die gute Seele. Sie hatte sich ebenso wie Sylvester immer um ihn gekümmert, wenn Leander unterwegs war.

Sylvesters Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.

„Sie ist letzten Winter gestorben.“

„Das tut mir leid!“ Das tat es wirklich. Er hätte sie gern wiedergesehen.

„Ja, sie wäre auch so froh gewesen, zu erfahren, dass du lebst.“ Der alte Mann seufzte.

„Ich wusste gar nicht, dass Luca einen Sohn hatte!“, wechselte Sylvester plötzlich das Thema.

„Finn hat bis vor Kurzem ja auch bei seinem Onkel gelebt. Übrigens … ich glaube, ich sollte Finn mal suchen gehen!“

„Na er wird hier sicher nicht verlorengehen!“, lachte Sylvester, stand aber dennoch auf, um Lauri zur Tür zu begleiten.

„Das mag sein, aber Finn hat ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen!“

An der Tür blieben sie voreinander stehen.

„Ich bin wirklich so froh, dich zu sehen, Lauri!“

Sylvesters Augen glänzten, als er den nun erwachsenen Mann umarmte, den er als Kind tot geglaubt hatte.

„Ich auch!“, brachte Lauri noch heraus und wieder überkam ihn dieses seltsame Gefühl von Zuhause.

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