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Leanders Erbe

Teil 6

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Inhaltsverzeichnis

-Lauri-

Sie warteten in der Nähe von Sylvesters kleiner Hütte. Lauri hatte Finns wirre blonde Haare fast sofort entdeckt. Lias stand bei ihm und schien ihn zu unterhalten, während sie warteten. Lias war nur wenig größer als Finn, aber er wirkte neben Lauris Freund so wahnsinnig erwachsen. Er lachte und Lauri bemerkte, dass Finn mal wieder rot anlief. Was er sonst immer niedlich fand, bescherte ihm diesmal ein seltsames Gefühl im Magen. War das etwa Eifersucht? Er fragte sich, worüber die beiden lachten.

Plötzlich hatte Finn ihn entdeckt und hob die Hand, um ihn zu den beiden herüber zu winken.

„Hey, alles in Ordnung?“, fragte Finn sanft und griff zaghaft nach Lauris Hand.

Lauri nickte nur. Die ganze Situation hier überforderte ihn irgendwie. Sylvester, das Grab seines Vaters, überhaupt all die Menschen, die ihn und Finn so freundlich empfangen hatten ...

„Ich sagte grade schon zu Finn, dass ihr beide gern erst mal bei uns unterkommen könnt, und morgen schauen wir dann, wo wir euch unterbringen, ok?“ Lias strahlte Lauri dabei so ehrlich an, dass es ihm unmöglich war, Lias irgendwelche fiesen Absichten zu unterstellen. Warum waren hier denn alle so verdammt nett?

Wieder nickte er, obwohl er eigentlich lieber mit Finn allein gewesen wäre, um seine Gedanken zu ordnen.

Lias führte sie einige Schritte zurück Richtung Westen, bis zu einer Hütte, die etwas größer als Sylvesters Behausung zu sein schien.

„Kommt rein. Bitte fühlt euch wie Zuhause!“

Zuhause … da war es schon wieder, dieses Wort.

Die Stube war zweckdienlich, aber auch gemütlich eingerichtet. Wie üblich gab es auf der einen Seite eine Feuerstelle, die zum Kochen diente, aber ebenso den Raum beheizte. In der Mitte des Raumes ein Tisch mit zwei Bänken. Lias hatte sogar einige Regale angebracht, neben den sonst häufig genutzten Truhen. Rechts und links führte jeweils eine einfache Leiter zu einer Schlafnische direkt unter dem Dach.

„Mit seinem gebrochenen Arm kommt Marlon ohnehin nicht gut die Leiter hoch. Ich denke, er hat kein Problem damit, euch seinen Schlafplatz fürs Erste zu überlassen, oder?“

Marlon, der am Tisch saß, schaute zwar mit Blick auf Lauri erst einmal skeptisch, nickte dann aber und grinste die drei Männer an. „Ich bin noch bei Robin, ok?“ Damit verschwand er durch die Tür.

„Setzt euch doch! Möchtet ihr etwas trinken?“ Lias spielte den perfekten Gastgeber.

Finn spielte mit Lauris Fingern und betrachtete ihn mit schräg gelegtem Kopf.

„Wirklich alles in Ordnung? Du bist so schweigsam!“

Kurz mussten Lauri und Finn beide grinsen, da Lauri ja noch nie ein Mann vieler Worte gewesen war. Bevor er antworten konnte, räusperte sich Lias jedoch dezent und zog damit die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.

„Also, wie gesagt, bitte fühlt euch hier wie Zuhause. Ich darf euch hoffentlich kurz allein lassen. Habe noch etwas zu erledigen.“ Und mit einem Augenzwinkern war er schon zur Tür raus.

„Ich glaube, das macht er mit Absicht.“ Finns Blick war noch auf die Tür gerichtet. Er kniff die Augenbrauen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken. Doch im nächsten Moment klarte sich sein Blick auf, als er Lauri wieder das Gesicht zuwandte und ihn wie immer mit seinen grünen Augen anstrahlte.

Lauri konnte einfach nicht anders. Er zog den überraschten Finn zu sich heran und küsste ihn. Wenn schon plötzlich alles anders war, Finn war wie immer. Gott sei Dank.

„Wow. Was ist los?“ Finn schnappte nach Luft.

„Ich ... keine Ahnung. Das hab ich jetzt gebraucht!“, gab Lauri zurück. Mit Finn im Arm war irgendwie alles leichter.

„Ganz schön überwältigend hier, oder?“, fragte Finn. Er kannte Lauri mittlerweile einfach zu gut.

Lauri nickte. „Ich hätte nie gedacht, Sylvester jemals wiederzusehen.“ Und auf Finns fragenden Blick setzte er hinzu: „Er war ein Freund meines Vaters. Er hat früher öfter auf mich aufgepasst, wenn mein Vater unterwegs war. Sie haben damals sogar nach mir gesucht. Aber Genzo hat es so aussehen lassen, als hätten sie mich auch auf dem Gewissen.“

Finn sah ihn mitfühlend an. „Du siehst ganz schön aufgewühlt aus!“

„Das bin ich auch. Aber ich kann das gar nicht richtig in Worte fassen.“

„Ich glaube, es war die richtige Entscheidung, herzukommen, oder?“

Lauri nickte langsam. Ja, wahrscheinlich hatte Finn recht, mal wieder ...

„Lias hat mich ein bisschen herumgeführt. Das Dorf ist wirklich beeindruckend. Also wenn man bedenkt, dass sie sich hier verstecken! Angefangen haben sie mit einem kleinen Lager mit Zelten und so, aber nach und nach wurde es immer größer und hat seinen vorläufigen Charakter verloren.“

Finn schien ganz begeistert zu sein und ein klitzekleiner Teil von Lauri fragte sich grimmig, ob Lias da auch einen Anteil zu beitrug.

„Oh, ach ja ... Lias weiß ... ähm, von uns!“ Finn wurde mal wieder ganz schön rot.

„Hast du ihm von uns erzählt?“ Lauri wusste nicht so recht, wie er das finden sollte. Obwohl er selbst ja auch Sylvester von Finn erzählt hatte. Aber zu seiner Überraschung schüttelte Finn verlegen den Kopf. „Nein. Ich weiß auch nicht, woher er das weiß ... aber ...“

In diesem Moment schwang die Tür auf und Marlon kam mit Robin zurück.

„Hey ihr zwei! Wo ist Lias?“, fragte Robin freundlich.

„Wollte noch etwas erledigen“, gab Finn zurück. Robin nickte nur und nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, setzte er sich zu Lauri und Finn an den Tisch.

„Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt“, entschuldigte er sich an Lauri gewandt und reichte ihm über den Tisch hinweg die Hand. „Ich bin Robin. Und entschuldige nochmal den Auftritt im Wald heute Nachmittag.“ Lauri nahm die ausgestreckte Hand an. „Ähm, ja kein Problem. Ich bin Lauri!“

Robin hatte wirklich ein gewinnendes Lächeln.

Allerdings war Lauri etwas verwirrt. War das nicht Lias und Marlons Hütte? Robin schien sich hier auch ziemlich Zuhause zu fühlen. Ein Blick zu Finn verriet ihm, dass seinem Freund auch etwas auf der Zunge lag. Konnte es sein, dass ...?!

Lias kam schwer beladen mit jeder Menge Nahrungsmitteln zurück. Robin war sofort aufgesprungen, um Lias etwas abzunehmen und gemeinsam luden sie die Sachen in der Kochnische ab.

„Ich dachte, zur Feier des Tages wäre ein anständiges Abendessen angemessen. Robin kocht fantastisch!“ Der blonde Mann verpasste Lias grinsend einen Schubser in die Seite. Sie strahlten sich gegenseitig an. Und so langsam war Lauri sich relativ sicher. Lias und Robin waren bestimmt ein Paar. Ein fragender Blick zu Finn wurde mit einem wissenden Lächeln quittiert.

-Finn-

Der restliche Abend verlief dann wirklich ziemlich gemütlich. Robin hatte für sie wirklich nahezu ein Festmahl gezaubert und sogar Marlon und Lauri schienen ihre Streitereien nun endgültig begraben zu haben. Lauri und Finn erzählten den anderen vom Lager der Wessington Bande und Lias und Robin erklärten, wie es zu der Widerstandsgruppe gekommen war.

Interessiert hörte Finn auch zu, als die anderen drei ihm erklärten, wie früher alles begonnen hatte. Leander, Lauris Vater, hatte im Grunde eine Art Bürgerwehr gegründet, die die Dörfler und Bauern in der Umgebung vor räuberischen Banden beschützte. Nach und nach schlossen sich ihm mehr Männer an, bis, und das ließ Finn schlucken, auch Luca zu der Gruppe stieß. Dass er und Genzo ganz andere Pläne hatten, kam für Lauris Vater leider zu spät ans Tageslicht. Und dann nahm das Desaster seinen Lauf.

„Luca war ein geldgieriges Schwein – nichts für Ungut, Finn –, aber Colin ist wirklich krank im Kopf!“ Lias schenkte den Männern noch nach. Marlons Kopf lag schon schwer auf der Tischplatte. Er bekam von den Gesprächen gar nichts mehr mit. Liebevoll strich Lias seinem kleinen Bruder über den verwuschelten Kopf.

„Ich glaube, Colin geht es noch nicht mal ums Geld. Er steht nur darauf, andere Menschen leiden zu sehen.“

Finn nickte betroffen. Lias hatte natürlich Recht und Finn schämte sich, auch wenn er nichts dafür konnte. Immerhin gehörte Colin trotz allem zu seiner Familie.

Wobei ... Familie?! So wie Lias seinen schlafenden Bruder behandelte, ihn vorsichtig umbettete und in eine Decke wickelte, so stellte sich Finn eine Familie vor. So etwas hatte er aber nie erfahren. Nicht von seinem Vater und auch nicht im Haus seines Onkels. Er schüttelte leicht den Kopf, um diese trüben Gedanken zu vertreiben. Zaghaft griff er unter dem Tisch nach Lauris Hand. Lauris Daumen strich zärtlich über seinen Handrücken. Eigentlich war Lauri seine Familie.

Die nächsten Tage entwickelten sich fast so etwas wie ein bisschen Routine. Auch wenn Lias und Robin versicherten, dass Lauri und er ruhig noch länger bei ihnen wohnen könnten, machte man sich gemeinsam auf die Suche nach einer eigenen Hütte für die beiden Neuankömmlinge. Nicht weit entfernt stand ein ungenutzter Schuppen und die Männer beschlossen, gemeinsam das Ganze zu einer bewohnbaren Hütte umzubauen.

Dabei kamen ihnen auch noch zahlreiche andere Dorfbewohner zu Hilfe, die teilweise sogar Möbelstücke spendeten. Lauri und Finn waren überwältigt von der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Menschen hier. Finn fragte sich zwar insgeheim immer, ob er das überhaupt verdient hatte, aber er war sich auch sicher, dass viele der Menschen hier hauptsächlich wegen Lauri so reagierten.

Lauri schien allerdings auf der anderen Seite auch überfordert mit der Situation.

„Ich kann das gar nicht beschreiben.“ Er nahm die angereichten Holzbretter von Robin an und setzte sie ordentlich als Verstrebungen für das Dach der Hütte ein. „Alle sind so nett hier und zuvorkommend, aber wenn sie mich ansehen, dann hab ich das Gefühl, sie erwarten irgendwas von mir? Nur weil Leander mein Vater war.“

Robin schüttelte den Kopf, als er zum nächsten Brett griff. „Ich glaube nicht, dass die irgendwas von dir erwarten. Ich glaube eher, du stehst für sie wie ein Symbol da.“ Und Lias fügte hinzu: „Weil alle dachten, du wärst tot, aber das bist du nicht und du bist hierher zurückgekehrt! Das gibt den Leuten hier einfach Hoffnung.“

Finn mochte die beiden Männer immer mehr. Mal ganz davon abgesehen, dass es wirklich toll war, sich nicht verstellen zu müssen und zwei Menschen vor sich zu haben, die so Vieles einfach auch ohne große Worte verstanden, da es ihnen genauso ging. Lias und Robin waren einfach beide ganz wunderbare Menschen. Sie waren innerhalb der kurzen Zeit wirklich schon so etwas wie Freunde geworden. Und dass Lauri sogar vor den beiden seine Gefühle auf den Tisch brachte, zeigte ziemlich deutlich, dass Lauri das wohl genauso sah.

„Mach dir keinen Kopf!“ Lias grinste und klopfte Lauri auf die Schulter, bevor er sich vom Dachbalken gleiten ließ und neben Finn auf dem Boden landete.

Mit einem prüfenden Blick auf das Bauwerk meinte Lias: „Sieht doch schon ganz wohnlich aus, oder?“

Finn nickte. Sie hatten den Schuppen ganz schön verändert. Nach rechts und nach hinten hatten sie das kleine Gebäude erweitert und Robin hatte sogar einen kleinen Kamin gemauert. Sie hatten die Wände etwas verstärkt, damit die Hütte auch bei Wind und Wetter standhielt und gerade waren sie dabei, eine Schlafnische unter dem Dach zu zimmern, so wie Lias, Robin und Marlon sie hatten.

„Wir sollten Schluss machen für heute. Es dämmert schon und ich hab Hunger!“ Lias streckte sich und ließ anschließend einen Arm über Robins Schulter fallen, so dass seine Hand auf Robins Brust ruhte. „Ja, ich hab’s schon verstanden. Ab in die Küche, Robin!“, grinste selbiger und drückte Lias einen Kuss auf den Mund.

Finn fand den Umgang der beiden Männer überaus angenehm. Die unbefangene Art mit der Robin und Lias miteinander umgingen, vermittelte wirklich eine Normalität, die ihn immer wieder vergessen ließ, dass Colin und so viele andere Menschen ihre Beziehung als pervers und krank bezeichnen würden.

„Ach übrigens ... ich könnte demnächst Hilfe in der Schmiede gebrauchen!“

„Ich kann dir helfen!“, meldete sich Marlon mit vollem Mund zu Wort.

„Du? Da musste dir aber erst mal ein paar Muskeln wachsen lassen!“, stichelte Lias, bevor er sich ein Stück Fleisch in den Mund schob.

Marlon streckte seinem Bruder die Zunge raus. „Ich kann ja bloß grad nicht trainieren!“ Und zur Erklärung hob er seinen gebrochenen und geschienten Arm hoch.

„Ja, ja, und solange du noch außer Gefecht bist, könnte Lauri mir ja unter die Arme greifen, ok?“ Robin grinste und Lauri nickte. „Klar. Kein Problem!“

„Ich würd mich auch gern irgendwie nützlich machen, aber ich glaub, ich kann überhaupt nichts gut!“ Finn stocherte verlegen auf seinem Teller rum.

„Ach Finn, so ein Quatsch! Ich denke, du kannst gut mit Zahlen und so was?“ Finn nickte zaghaft. „Dann weiß ich eine Aufgabe, für die du bestens geeignet bist!“, dozierte Lias weiter. „So viele Menschen hier müssen schließlich versorgt werden, und zugegeben, im Organisieren war ich noch nie gut. Wir haben zwar eine Art Lager mit Lebensmitteln, aber ich fürchte, kein Mensch hat da einen Überblick. Wie wäre es, wenn wir da mal eine Art Inventur durchführen und du das Ganze organisierst. Dann wüssten wir auch immer, was da ist und was wir brauchen!“ Finn nickte zustimmend. Klang wirklich nach einer passenden Aufgabe für ihn.

„Und da kannst du dich auch nützlich machen!“, stieß Lias seinen Bruder an.

-Lauri-

Lauri staunte immer wieder über sich selbst. Er war damals – die Zeit schien so wahnsinnig weit weg zu sein – durchaus ein fröhliches, aufgeschlossenes und kontaktfreudiges Kind gewesen. Gleichzeitig hatte er aber immer gedacht, dass die 10 Jahre nach dem Tod seines Vaters ihn auch für immer verändert hätten. Er war vorsichtig, verschlossen und misstrauisch geworden, was ihm wahrscheinlich auch den Hals gerettet hatte, aber jetzt … So langsam kamen wieder ganz andere Facetten zum Vorschein, von denen er selbst geglaubt hatte, sie gehörten gar nicht mehr zu ihm.

An Finns Blicken erkannte er, dass auch sein Freund zum Teil überrascht war.

Er war wirklich lockerer geworden. Er genoss die Zeit im Dorf. Er verstand sich sowohl mit Robin als auch mit Lias gut und es machte ihm Spaß, Robin in der Schmiede zuzuarbeiten. Es war großartig, die ganze Zeit Finn um sich zu haben und niemanden, der sich daran störte, wenn sie einander in der Öffentlichkeit in den Arm nahmen oder sich einen Kuss gaben.

Wenn er nicht gerade Robin unterstützte, verbrachte er viel Zeit bei Sylvester. Nicht nur, um zu reden. Sylvester hatte im Dorf ein wenig die Rolle eines Arztes übernommen. Natürlich fehlte ihm die Ausbildung dazu, aber das machte er mit Erfahrung fast wieder wett, und Lauri tauschte sich gern mit ihm aus, da er, wie Finn immer wieder gern betonte, scheinbar ein Talent für dieses Berufsfeld besaß.

Leider waren das auch immer wieder die Momente, die ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholten. Jedes Mal, wenn wieder ein verletzter Bauer Sylvester aufsuchte, der Bekanntschaft mit Genzo und Colins Männern gemacht hatte, wurde Lauri schmerzhaft daran erinnert, warum sie eigentlich hier waren.

„Geht’s noch, Julian?“, fragte Sylvester den bleichen Mann. Dieser nickte nur mit zusammengebissenen Zähnen. Schweißperlen standen ihm schon auf der Stirn. Die Schmerzen mussten unerträglich sein. Genzo hatte ihm die Hand zertrümmert. Sylvester und Lauri versuchten zu retten, was zu retten war.

Aber Lauri war sich sicher, dass Julians Hand nie wieder so funktionieren würde wie früher. Der eine oder andere Finger würde sicher steif bleiben. Er hoffte nur, dass er zumindest schmerzfrei sein würde, wenn die Brüche verheilt waren.  

„Es wird immer schlimmer, Sylvester!“ Julian stöhnte kurz auf, als Lauri versuchte, den Ringfinger zu schienen. „Er taucht ohne Vorwarnung auf und fordert Beträge, die niemand zahlen kann. Manchmal kommt er auch einfach nur, um uns unter Druck zu setzen. Sie vergreifen sich wahllos an den Frauen und auch die Kinder sind nicht mehr sicher!“

Lauri und Sylvester warfen sich kurz einen Blick zu.

„Können wir etwas tun?“, Sylvester hatte eine Hand auf Julians Schulter gelegt.

„Ich weiß nicht. Ich hab keine Ahnung, wie es weitergehen soll ... Wer es sich leisten kann, ist längst weg von hier. Aber das macht es für uns Übriggebliebene nicht einfacher!“

Julian betrachtete Lauri nachdenklich. Und Lauri hatte mal wieder das Gefühl, dass von ihm eine Lösung erwartet wurde.

„Mh, ich werde nachher mal mit Lias und Robin drüber sprechen ...“, murmelte er, um wenigstens etwas zu sagen.

Auch wenn die Hütte für Finn und Lauri mittlerweile fertig war, ließen die neuen Freunde es sich nicht nehmen, abends gemeinsam zu essen und gemütlich zusammenzusitzen.

Finn lehnte sich bequem an Lauri und dieser legte einen Arm um seinen Freund.

„Julian war heute bei Sylvester. Mit einer gebrochenen Hand!“

„Klingt ganz nach Genzos Handschrift!“, grummelte Robin.

Lauri nickte. „Ja. Er hat auch ein bisschen erzählt. Colin schreckt wohl wirklich vor nichts zurück. Er vergreift sich auch an den Frauen und Kindern.“

Finn setzte sich auf und schaute Lauri betroffen mit großen Augen an.

„Können wir da nicht etwas unternehmen?“ Die Frage richtete er an alle im Raum.

Lias seufzte und drehte den Becher in seinen Händen.

Wollen auf jeden Fall. Können ist so eine Sache. Hast du einen Vorschlag?“

Finn überlegte kurz. „Könnten wir nicht zumindest die Frauen und Kinder, oder wenigstens die Kinder, auch hier im Dorf unterbringen?“

Robin lehnte sich zurück. „Um wie viele Menschen geht es denn hier? Ich meine, du machst die Lebensmittelplanung. Bisher hatte ich nicht unbedingt den Eindruck, dass da noch so wahnsinnig viel übrig bleibt?“

Lauri betrachtete Finn von der Seite. Er schien im Kopf nachzurechnen, die Augen zur Decke gerichtet, kaute er gedankenverloren auf seiner Unterlippe. Lauri fand, er sah zum Niederknien aus, auch wenn die Situation vielleicht unpassend war.

„Mh, man müsste natürlich etwas kürzer treten, aber es wäre sicherlich machbar. Hat er was zur Anzahl der Kinder gesagt?“ Die aufgeweckten grünen Augen richteten sich wieder auf Lauri.

„In Julians Dorf sind es noch 5 Frauen und 7 Kinder.“

„Das wird kein Problem sein!“, entschied Finn sofort und strahlte die Männer glücklich an.

„Dann müssen wir nur schauen, wie wir die Leute unauffällig hierherbringen. Am besten nach und nach. Eine so große Gruppe würde auffallen!“, erwiderte Lias.

„Ich kann morgen mal bei Julian vorbeischauen und alles Weitere mit ihm besprechen!“, erklärte Robin sofort.

In den kommenden Tagen wurde fleißig weiter am Plan gefeilt. Finn kümmerte sich darum, dass die Flüchtlinge im Dorf untergebracht werden konnten und rationierte die Lebensmittel für alle.

Lauri und Robin statteten Julian in der Zwischenzeit einen Besuch ab und teilten die Frauen und Kinder in kleine Grüppchen ein, die sie an verschiedenen Tagen ins versteckte Dorf brachten.

„Tausend Dank, dass ihr das macht! So kann ich wenigstens wieder ruhig schlafen, wenn ich meine Schwester und die Kinder in Sicherheit weiß. Wenn ich euch irgendwie helfen kann, bitte scheut euch nicht, es zu sagen!“ Verlegen sah Julian auf seine verletzte Hand. Zurzeit war er noch ziemlich eingeschränkt.

„Wir werden schon noch einen Weg finden, wie wir Colin und den Rest von dieser Bande loswerden!“, munterte Robin den jungen Mann auf. „Mir fällt da aber wirklich etwas ein, was du tun könntest.“

Julian nickte eifrig.

„Lias will nachher zur Stadt. Finigan Flint will sich dort mit ihm treffen. Der hat wohl ein paar wichtige Informationen für uns. Würdest du ihn vielleicht mit ein paar Männern begleiten?“

Erneut nickte Julian. „Natürlich. Ich kann Cedric und Marvin mitnehmen. Auf dem Feld ist zurzeit ohnehin nicht viel zu tun und wir sind alle froh, wenn wir euch irgendwie unterstützen können.“

„Danke! Ich lasse Lias nicht so gern allein auf solche Ausflüge. Dafür ist er zu wichtig … Ich schicke ihn dir gleich vorbei!“ Robin hatte Julian eine Hand auf die Schulter gelegt und drückte diese dankbar.

Lauri und er nahmen jeder eines der Kinder mit sich auf das Pferd. Marianna, Julians Schwester, hatte sich ihre jüngste Tochter umgebunden und ritt auf einem eigenen Pferd.

„Keine Sorge. Bald seid ihr in Sicherheit!“, versuchte Lauri die verängstigten Kinder zu beruhigen. Dann ritten sie los.

„Finn? Hier sind die Letzten!“ Lauri und Robin begleiteten die Flüchtlinge zu Finn, der alle Neuankömmlinge empfangen und auf die Hütten aufgeteilt hatte.

„Hallo! Herzlich willkommen. Kassandra und Arthur werden euch fürs Erste bei sich aufnehmen“, erklärte Finn sogleich freundlich und stellte Gastgeber und Gäste einander vor.

Anschließend wandte er sich an Robin und seinen Freund.

„Habt ihr Lias gesehen? Ich wollte noch etwas mit ihm besprechen, wegen der Lebensmittelrationen!“

„Er ist eben los zu Julian. Sie reiten in die Stadt und treffen sich mit Finigan Flint.“

Finns Gesicht wurde plötzlich starr.

„Mit wem?“

Robin schien verwirrt. „Äh ... zuerst zu Julian und dann mit ihm und zwei weiteren Männern zu Finigan Flint ...“

„Finigan ...?!“

Lauri sah deutlich, dass Finns Gehirn mal wieder auf Hochtouren arbeitete.

„Was ist los Finn? Alles in Ordnung mit dir?“ Sein Freund war plötzlich ungesund blass um die Nase.

„Scheiße ... wie konnte ich das vergessen?“ Lauri und Robin sahen sich verständnislos an, als Finn sofort alles fallen ließ, sich umdrehte und wie von der Tarantel gestochen in Richtung der gemeinsamen Hütte rannte.

Lauri folgte ihm auf dem Fuße und auch Robin kam ihnen nach.

Als sie durch die Tür traten, kramte Finn bereits hektisch in der Satteltasche.

„Lauri, hast du die Papiere weggetan, die ich hier drin hatte?“

Lauri verstand zwar nicht, worum es ging, aber Finn schien es eilig zu haben.

„Äh ja, du sagtest, du wolltest sie aufheben, daher hab ich sie in der Truhe verstaut.“

Sofort war Finn aufgesprungen und begann die Truhe auszuräumen.

„Kannst du uns vielleicht erst mal erklären, was los ist?“, fragte Lauri und bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber Finns Nervosität war irgendwie ansteckend.

Endlich hielt Finn den ganzen Stoß Papiere in der Hand. Er machte sich nicht die Mühe, sich an den Tisch zu setzen, sondern hockte weiter vor der Truhe auf dem Boden, während er ein Papier nach dem anderen überflog und es zur Seite warf.

Auch Robin wurde langsam unruhig. „Finn, jetzt sag schon, was ist los! Du machst mir ein bisschen Angst gerade!“

Finn hatte das gesuchte Papier gefunden und blickte nun mit aufeinandergepressten Lippen zu den beiden jungen Männern hoch.

„Ich weiß nicht, wie ich das vergessen konnte ...“ Es klang entschuldigend.

Er hielt Robin und Lauri die Notiz hin. „Vertraut ihr diesem Finigan? Ich glaube, er hat euch schon einmal betrogen!“

„Finigan sagt, er stamme aus dem Dorf südlich des Flusses. Du musst schnell sein. Er weiß zu viel!“, las Lauri vor und Robin schien sofort verstanden zu haben, worum es ging. Er war kreidebleich und sackte neben Finn auf dem Boden zusammen.

Das blanke Entsetzen stand in sein Gesicht geschrieben. „Es ist eine Falle!“, flüsterte er.

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