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Mein bester Feind

Teil 7

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Im Laufe des weiteren Dienstags und des Mittwochs hatte ich es tatsächlich geschafft, den Schock, den mir der Angriff der maskierten Neonazis versetzt hatte, einigermaßen zu verarbeiten und mit meiner neuen Angst umzugehen. Gerade Nils erwies sich dabei als ein guter Gesprächspartner, denn er kannte ja dieses lähmende Gefühl der Ohnmacht in- und auswendig und es hatte bei ihm Jahre gedauert, bis er sich dazu überwinden konnte, offen darüber zu reden. Mit der Zeit wurmte mich sogar unser Beschluss, dieses Verbrechen, das mir widerfahren war, zu vertuschen. Gerade im Bezug auf meine Eltern. Nach allem, was sie während der letzten Tage für mich und auch Nils getan hatten, war ich der Meinung, sie hätten es verdient, dass ich offen zu ihnen war. Und außerdem hatte ich nach den Gesprächen mit Nils den Eindruck gewonnen, dass es besser war, über den seelischen Schmerz, den ich erlitten hatte, zu reden, statt ihn herunterzuschlucken.

Aber dagegen sprach, dass meine Eltern natürlich sofort die Polizei eingeschaltet hätten. Nils und ich hatten die Sorge, dass wir dadurch die Nazi-Szene noch mehr aufhetzten und das zu Racheaktionen führen könnte. Wir hatten uns darauf geeinigt, vorerst die Füße stillzuhalten und erst beim nächsten Vorkommnis die Kavallerie einzuschalten. Ihr könnt mir glauben, dass ich mit dieser Situation alles andere als glücklich war. Ich musste mich nun voll auf meinen neuen Schutzengel verlassen, der direkt aus der Hölle zu stammen schien. Ein Schutzengel in Form eines skrupellosen Skinhead-Schlägers, der in Gegenwart seines kleinen Bruders plötzlich zum zahmen Teddybär wurde.

Doch zumindest unsere Freunde Basti und Sophie hatten wir noch am Dienstag Mittag in der Schule eingeweiht, nachdem sie uns ausgequetscht hatten, was denn eigentlich mit uns los sei. Auch da hatte es natürlich wieder hitzige Diskussionen gegeben, ob wir die Polizei einschalten sollten oder nicht. Basti und Sophie hatten ja bekanntlich keine hohe Meinung von Torsten und sie fanden es auf deutsch gesagt beschissen, dass ausgerechnet er für unsere Sicherheit sorgen sollte. Doch Nils und ich wollten uns vorerst nicht abbringen lassen.

Es war nun mittlerweile Mittwoch in der Großen Pause. Heute war kein Fummeln angesagt, denn ich saß gemeinsam mit Nils, Basti und Sophie auf der breiten Treppe, die vom oberen Teil des Schulhofs zum unteren Teil mit dem Sportplatz führte.

„Haben deine Eltern eigentlich noch mal nachgehakt, warum du gestern so komisch warst?“, wollte Nils wissen und Basti und Sophie schauten mich fragend an. Denn alle Drei wussten mittlerweile, dass ich mich am Morgen des Vortags, als ich noch unter Schock gestanden hatte, ziemlich tollpatschig verhalten hatte, um meiner Mutter aus dem Weg zu gehen.

„Natürlich haben sie das“, erklärte ich. „Ich hab behauptet, dass mir am Montag Abend sau-übel war und ich deswegen auch so früh ins Bett gegangen bin. Und dass es mir gestern Morgen immer noch nicht gut gegangen ist.“

Meine drei Zuhörer nickten schweigend. Ich schätze, wir sahen alle Vier die Parallelen zu Nils, der auch lange Zeit gelogen hatte, um zu vertuschen, dass er Opfer von Gewalttaten geworden war.

„Miguel. Du...“, wollte Sophie nachhaken, aber da erklang hinter uns ein fröhliches: „Hey. Na, wie läuft's?“

Alle Vier drehten wir gleichzeitig unsere Köpfe weit nach hinten, aber schon hatte sich Anton neben uns gesetzt. Anton war der Junge aus unserer Parallelklasse, der am vergangenen Samstag auf Lauras Party gemeinsam mit dem homophoben André gekommen war und sich mit ihm angelegt hatte, weil Anton zu uns gehalten hatte.

„Hallo Anton. Was treibt dich denn zum Tunten-Pack?“, scherzte Basti, weil unsere Clique sich in manchen Kreisen diesen Schimpfnamen eingefangen hatte und klopfte dem Rothaarigen freundschaftlich auf den Oberschenkel.

Anton lachte mit, aber ein bisschen bitter: „Ich hab mich mit André zerstritten. Der ist angepisst, weil ich euch verteidigt habe und hat mir jetzt die Freundschaft gekündigt und mich aus unserer Clique gedisst.“

„Das tut mir ja leid“, entgegnete ich. Da war es nämlich wieder, dieses hilflose Gefühl. Nur weil Anton uns in Schutz genommen hatte, hatte man ihn aus seinem Freundeskreis verstoßen.

Doch Anton zuckte mit den Schultern: „André ist ein Arschloch. Früher war er ja ganz okay, aber in letzter Zeit habe ich mich lange genug mit im herumgeärgert und er zieht mit seiner scheiß Art die Stimmung in der ganzen Clique mit runter.“ Sein Seufzen, das Anton nun ausstieß, ließ seine aufgesetzte Gleichgültigkeit ziemlich unglaubwürdig erscheinen. „Macht es euch etwas aus, wenn ich erst mal ein bisschen mit euch abhänge? Ich hab das Gefühl, mit euch kann man sowieso mehr Spaß haben.“

Keiner hatte etwas dagegen, denn Anton war ein netter Kerl. Während der nächsten fünf Minuten, die wir noch Pause hatten, quetschten wir ihn ein bisschen aus und erfuhren zwischen den Zeilen, dass André zu jemandem geworden war, der sowohl seine Freundin, als auch seine Freunde herablassend und einfach nur schlecht behandelte. Ein arrogantes Arschloch eben. Da hatte mich mein Eindruck, den ich schon länger von ihm hatte, nicht getäuscht. Und unsere Clique war an diesem Morgen um ein neues Mitglied gewachsen.

Nach der Schule warteten Sophie, Nils, Basti und ich auf Anton in der Vorhalle der Schule, weil unsere Klasse pünktlich um Eins aus dem Klassenzimmer entlassen worden war. Andere Schüler aus allen Jahrgängen rannten, trabten und trotteten an uns vorbei, aber von Antons Klasse war erst einmal nichts zu sehen. Erst etwa fünf Minuten nach 13 Uhr war aus dem Treppenhaus wieder neues Durcheinander-Gemurmel von Stimmen zu hören und kurz darauf kam die 10b ziemlich geschlossen den letzten Absatz der Treppen herunter, der vom Vorraum aus einzusehen war. Schon da fiel auf, dass Anton den anderen Schüler ein bisschen hinterher trottete.

„Hey Arschficker. Habt ihr kein Zuhause?“, lästerte André, als er an uns vorbei ging. Aber wir grinsten ihn nur kühl an. Inzwischen waren wir gut darin geworden, uns nicht provozieren zu lassen.

Am hinteren Ende der Klassen-Kolonne war Anton derweil immer langsamer geworden. Aber nicht langsam genug. Als er bei uns ankam und uns vorsichtig anlächelte, waren André und seine Freunde noch nicht draußen.

Prompt bekam Anton sein Fett weg: „Sag bloß, du brauchst jetzt auch noch 'nen Pimmel im Arsch, Kupferkopf“, stänkerte André fast schon feierlich.

Manche seiner Freunde lachten mit, Einer, dessen Name ich nicht kannte, laberte wie ein Papagei „Pimmel im Arsch, Kupferkopf“, und zwei Andere der Jungs, die vier Stunden zuvor noch Antons Freunde gewesen waren, schauten eher peinlich berührt drein.

Basti legte kumpelhaft seine Hände auf Antons Schultern und schüttelte ihn aufmunternd: „Lass dich von solchen Idioten nicht ärgern.“

„Tu ich nicht“, behauptete Anton. Aber sein Gesicht und seine Körperhaltung sagten das Gegenteil.

Um unseren neuen Freund aufzumuntern, aber auch, um es uns selbst gut gehen zu lassen, ging keiner von uns gleich nach Hause, sondern wir machten uns einen schönen Nachmittag. Im China-Imbiss nutzten wir das All-You-Can-Eat – Angebot aus, danach gingen wir zum Zeitvertreib noch ein bisschen auf den Gummiplatz und als sich der Appetit wieder meldete, zogen wir weiter zum Eiscafé Pinocchio, wo Nils und ich uns vor gar nicht langer Zeit bei Sophie geoutet hatten.

Dieses Mal verdrückten Nils und ich zusammen einen Amore-Eisbecher und machten uns einen Spaß daraus, wenn sich unsere Nasen beim Eis-Löffeln über dem Becher nahe kamen. Für Sophie und Basti wäre der Amore-Becher zwar auch angebracht gewesen, aber weil Basti keine Kirschen mochte, teilten sich die Beiden einen Eiscafé, zu dem sie zwei Löffel und zwei Strohhalme bekommen hatten und schafften es auf diese Weise auch, einen erotischen Genuss zu erzeugen. Nur Anton musste sich alleine durch seinen Capri-Becher mit extra viel Sahne durcharbeiten. Aber er machte auf mich nicht den Eindruck, als ob ihn das stören würde.

„Mit euch kann man es sich echt gutgehen lassen“, bescheinigte er uns auch anerkennend, mit einem Klecks Sahne an seiner Unterlippe, nachdem er einen Löffel seines Eises verschlungen hatte.

Nils stimmte ihm mit vollem Mund zu: „Ja. Wenn schon alle über uns lästern, müssen wir zumindest gucken, dass wir das Leben genießen“, und Basti fügte an: „Bei uns bist du auf jeden Fall immer willkommen, Anton. Es ist einfach nur kacke, wie dich deine Freunde hängengelassen haben.“

Anton kratzte mit dem Löffel ein Mango-Stückchen von seinem Eis und schob es sich in den Mund: „Jaaaa. Mal sehen. Später geh ich ja noch ins Jugendzentrum. Da sind dann auch Max, Lennie und Niclas dabei. Vielleicht lässt sich da auch wieder etwas kitten. Die lästern nämlich auch schon seit einer Weile hinter seinem Rücken über André. Und Achim wird mir bestimmt auch zur Seite springen, wenn er erfährt, worum es geht.“

Ich vermutete, dass vielleicht zwei der drei Jungs, die Anton genannt hatte, die aus seiner ehemaliger Clique waren, die nach der Schule nicht so glücklich über Andrés Beleidigungen waren. Und von Sophie erfuhr ich, dass dieser Achim der ehrenamtliche Jugend-Arbeiter war, der das Jugendzentrum betreute.

„Und du meinst, dass André nicht dort ist?“, fragte ich Anton.

„Quatsch. Die Mittwoche im Jugendzentrum nennt André nur abfällig 'Pussy-Tage'. Da wird unter Achims Moderation über das aktuelle Zeitgeschehen diskutiert und wir haben aus diesen Diskussionen heraus schon einige soziale Projekte auf die Beine gestellt.“ Anton lachte. „Die Mittwoche sind also eher etwas für die Gut-Menschen. Und da will André sicher nicht dazu gehören. Der kommt nur freitags und samstags, wenn Partys sind.“

„Also für mich klingt das gut“, sagte ich, weil mich die Thematik wirklich beeindruckte.

Sophie und Basti schauten sich gegenseitig an und Basti meinte: „Da könnten wir doch auch mal mitgehen. Mittwochs war ich schon ewig nicht mehr dort“, und Sophie nickte zustimmend.

„Fände ich cool“, bestätigte auch Anton und nun richteten sich alle Blicke auf Nils, der ein bisschen unruhig auf seinem Stuhl saß.

„Nils?“, fragte Sophie. „Gehst du auch mit?“

Nils spielte nervös an seinem Röhrchen: „Ich hab lebenslanges Hausverbot im Jugendzentrum. Weißt du das nicht mehr?“

Sophie zog die Augenbrauen hoch: „Oh... Gilt das immer noch?“

Nils biss sich ironisch auf die Unterlippe:„Welchen Teil des Wörtchens 'lebenslang' verstehst du denn nicht, Sophie?“, und brachte uns alle – einschließlich Sophie - zum schmunzeln.

„Kann mich mal jemand aufklären?“, warf ich ein.

Alle grinsten, weil sie wohl mehr wussten als ich, nur Nils verzog peinlich berührt sein süßes Gesicht: „Vielleicht hab ich vor zwei Jahren mal den Hitler-Gruß da drinnen gemacht...“

„Ohje.“

„Hast du nicht noch etwas vergessen, Nils?“, hakte Sophie genüsslich nach und Nils schien auf seinem Platz immer kleiner zu werden.

Sophie, Basti und Nils redeten nun ein bisschen durcheinander, als sie mir erzählten, was an jenem Freitag Abend, etwa zwei Jahre zuvor im Jugendzentrum geschehen war. Denn sie waren damals, genauso wie fast die ganze Klasse, in der ich mittlerweile Mitschüler war, dort gewesen, um die Woche ausklingen zu lassen. Meine 10a, die damals noch die 8a war, hatte sich nämlich zu einer Klassen-Party abgesprochen, bei der Nils ausnahmsweise auch dabei war. Normalerweise war das Jugendzentrum in seiner Familie zwar als 'Zeckentreff' verpönt, weil es von einem Sozialarbeiter betreut wurde, aber an diesem Freitag hatte Nils eine Ausnahme gemacht. Und für Nils, der zu diesem Zeitpunkt noch ein überzeugter Neonazi gewesen war, war es an diesem Abend ein riesiges Vergnügen gewesen, die Anwesenden mit rechten Parolen und eben auch dem Hitler-Gruß zu provozieren. Achim, der Sozialpädagoge des Jugendzentrums, hatte Nils daraufhin rausgeworfen. Doch eine halbe Stunde später war die Fete jäh beendet worden. Nils war nämlich mit seinem Bruder Torsten zurückgekommen. Aus Protest, weil dieser Nils vor die Tür gesetzt hatte, verpasste Torsten Achim ein blaues Auge und den Billard-Tisch hatte er auch noch umgeworfen.

Danach waren Nils und Torsten nur noch einmal im Münsinger Jugendzentrum gewesen. Nämlich als sie zur Strafe dort streichen mussten, und beiden war ein lebenslanges Hausverbot auferlegt worden.

Ich schaute Nils mit einem Kopfschütteln an, lästerte: „Was habe ich mir da nur für einen Trouble-Maker ausgesucht“, und schob ihm mit meinem Löffel eine Kirsche in den Mund.

Nils grinste verlegen und Anton schlug vor: „Geh doch einfach mit, Nils und rede mit Achim. So, wie du jetzt dein Leben verändert hast, wird er dir bestimmt noch eine zweite Chance geben.“

„Ich weiß auch nicht“, haderte Nils und Sophie hatte schon einen Schritt weiter gedacht.

„Wisst ihr was? Wir stimmen ab. Wer ist dafür, dass Nils mit ins Jugendzentrum geht?“

Basti, Sophie, Anton und ich hoben breit grinsend unsere Hände.

„Und wer ist dagegen?“

Nils lächelte etwas zerknirscht und seine Handbewegung ging, während der Arm nach oben ging, in ein Abwinken über: „Auf mich hört hier sowieso niemand.“

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange: „Super, dass du so begeistert bist.“

Der Beschluss wurde zumindest umgesetzt. Ich schickte Mama eine Whatsapp-Nachricht, dass es 19 Uhr werden könnte, bis ich heim käme und um 17 Uhr machten wir uns auf den Weg zum Jugendzentrum.

Das Jugendzentrum war ein Raum im zweiten Stockwerk des Feuerwehrhauses, dessen Zugang, eine Außentreppe, etwas versteckt auf der Rückseite lag. An den abgestellten Fahrrädern neben dem Treppenaufgang war zu erahnen, dass der Jugendtreff ganz ordentlich besucht war und Nils stellte sein Rad dazu. Wir gingen die Treppe hoch und kamen durch eine Glastür in einen größeren Raum, der sehr geschmackvoll eingerichtet war. Ein langer Tresen auf der einen Seite und auf der anderen Seite eine Wand, die fast nur aus Fensterscheiben bestand, wobei der Ausblick zu wünschen ließ. Denn man sah nur den Parkplatz, über den wir gekommen waren und die angrenzende Ziegelwand eines marode wirkenden Hauses. Die Wand hinter dem Tresen und die Seitenwände, die keine Fenster hatten, waren behangen mit Postern, Fotos von Projekten, die wohl das Jugendzentrum übernommen hatte, und auf denen zum Beispiel Jugendliche mit Schaufeln und Werkzeugen tätig waren oder mit Flyern für Partys. Etwa 20 Jungen und Mädchen, die ganz grob geschätzt zwischen 13 oder 14 und 18 waren, saßen auf den Barhockern am Tresen, spielten Tischfußball oder auch Billard an jenem ominösen Billardtisch oder lümmelten sich auf einem der beiden Sofas, die an einem niedrigeren Tisch standen. Einige der Jugendlichen kannte ich schon, manche nur vom Sehen, und andere hatte ich vorher noch nie gesehen. Unter anderem waren da auch die zwei ehemaligen Freunde von Anton, die nicht so zufrieden geguckt hatten, als André ihn beleidigt hatte, und Einer, der mitgelacht hatte. Alle Drei hatten ihre Gespräche eingestellt und starrten uns nun an.

Hinter dem Tresen stand ein Mann, der eigentlich nur dieser Achim sein konnte. Er war wohl knapp über 30, hatte eine magere Figur, schütteres, kurzgeschorenes Haar und ein Ziegenbärtchen. Für Torsten höchstens ein Frühstückshappen, dachte ich mir. Zuerst war der Blick dieses Mannes sehr erfreut, als wir nacheinander eintraten. Ich schätzte, neue Gesichter waren an den sozialpädagogisch angehauchten Mittwochen eher selten. Aber als er dann Nils sah, runzelte er die hohe Stirn, wobei sein Gesicht einigermaßen amüsiert blieb.

Er nahm sich die Zeit, uns Vier, die kein Hausverbot hatten, zu begrüßen und dabei stellte er sich tatsächlich als Achim vor. Dann wendete er sich Nils zu: „Mutig, dass du hier aufkreuzt... Nils. Hast du gedacht, ich hätte dich vergessen?“

Achims Gesicht blieb trotz der harten Worte versöhnlich und wohl deshalb zeichnete sich bei Nils auch ein demütiges Grinsen auf die Lippen: „Nee. Ich glaube, mich vergisst man nicht so schnell.“

„Und?“

„Ich möchte dich um Verzeihung bitten und fragen, ob du vielleicht noch mal wegen des Hausverbots mit dir reden lässt. Ich hab mich auch geändert.“

Achim schaffte es nicht ganz, bei Nils' vorgebrachter Gewissensqual, die nicht ganz so gut geschauspielert war, ernst zu bleiben: „Ich weiß, dass du dich geändert hast, Nils. Seit einer Woche bist du und...“ Sein Blick ging zu mir. „Miguel... Gesprächsthema Nummer Eins.“

'Toll, wenn man so wichtig ist', dachte ich sarkastisch. Und Nils hakte nach: „Heißt das, dass du mir noch eine Chance gibst?“

Achim verzog das Gesicht: „Was du und dein Bruder damals gemacht habt, war unterste Schublade. Bei mir sitzt da der Stachel noch tief und ich ärgere mich bis heute über das lasche Urteil, das Torsten erhalten hat.“

„Vielleicht hast du ja recht“, entgegnete Nils. „Aber das war doch Torsten. Ich war auch damals nicht gewalttätig.“

Achim nickte. Wohl weil er einsah, dass Nils die Wahrheit sagte: „Okay. Ich schlage vor, wir setzen uns jetzt zusammen, du erzählst, wie das damals aus deiner Sicht war und was du heute darüber denkst und dann entscheiden wir alle zusammen, ob du weiterhin Hausverbot hast.“

„ Einverstanden. Dann muss ich euer Tribunal wohl über mich ergehen lassen“, schmunzelte Nils.

„Das ist kein Tribunal, Nils, sondern eine Mehrheitsentscheidung.“ - Erst im zweiten Moment erkannte Achim an Nils' Lächeln, dass dieser ihn auf den Arm genommen hatte, dann seufzte er: „Na gut. Setzen wir uns alle mal da vorne hin“, und wies zu den Sofas am Tisch.

Wenn ich mir die Jugendlichen nun näher betrachtete, erkannte ich wieder das alte Spiel. Einige (was hier die meisten waren) waren uns wohlgesonnen, aber andere auch nicht. Der Typ, der Anton nach der Schule ausgelacht hatte, hatte genervt mit den Augen gerollt, nachdem Achim Nils die Gelegenheit, sich zu erklären, eingeräumt hatte. Und die anderen Beiden versuchten zumindest jeden Augenkontakt mit Anton zu vermeiden. Aber zumindest hatte niemand Achims Vorschlag widersprochen.

„Also... Dann schieß mal los, Nils.“

Alle Gesichter waren nun auf meinen Liebsten gerichtet, wobei eine typische Jugendtreff-Atmosphäre in der Luft lag. Einige der Jugendliche nuckelten an ihren Apfelschorle- oder Colaflaschen, andere hatten die Füße auf dem Holztisch abgelegt, was hier scheinbar kein Tabu war, und wieder andere wirkten eher desinteressiert, wie sie auf ihren Kaugummis kauten. Und Nils begann stockend zu erzählen.

„Ihr müsst wissen, dass ich den Laden damals verachtet habe.“ Sein Blick, der ins Leere gegangen war, wanderte nun zu Achim. „Und dich auch. Ich war vor zwei Jahren sowieso der Meinung, dass das Jugendzentrum mit seinen Sozialprojekten eine Einrichtung des Verbrecherstaates ist, um schon den jüngsten Leuten eine Gehirnwäsche zu verpassen. Dazu kam noch, dass die Party so kurz nach den Herbstferien war. Und in den Ferien war ich im Elsass beim Zeltlager der Jungen Nationalisten.“ Nils lachte. „Nach diesen Lagern war ich immer ein paar Wochen lang besonders aufgehetzt.“

„Warum? Was ist dort geschehen?“, fragte ein Mädchen namens Juliette, deren Name ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte.

„Die Zeltlager waren für mich immer die Höhepunkte des Jahres gewesen. Normalerweise hab ich die Veranstaltungen der Rechten, auf die mich meine Eltern geschleppt haben, nie besonders gemocht. Ich hab zwar alles geglaubt, was dort geredet wurde, doch die aggressive Stimmung hat mich meistens abgeschreckt. Aber das mit den Zeltlagern war etwas ganz anderes. Gerade im Herbst, wenn das Wetter nicht mehr so gut war und es düster war, hatten die Lager einen ganz besondere Charme. Tagsüber haben wir Geländespiele im Wald gemacht und wenn es dunkel war, haben wir uns Fackeln angezündet, ein großes Lagerfeuer gemacht und Lieder dazu gesungen, deren Texte wahrscheinlich verboten sind. Dabei entsteht ein riesiges Gemeinschaftsgefühl und in meinem ganzen Leben hatte ich nur in diesen Zeltlagern das Gefühl, echte Freunde zu haben. Wenn du dann nachts am Lagerfeuer sitzt und jemand, zu dem du aufschaust, erzählt dir in dieser verträumten Stimmung Geschichten, wie das Demokraten-Pack Deutschland an die Juden verhökert oder wie wir von den Ausländern unterwandert werden oder wie das Dritte Reich dämonisiert wird, damit die Juden die Macht behalten, dann glaubt man das und entwickelt einen Hass. Und das Jugendzentrum ist eines der Hassobjekte, von dem ich der Meinung war, dass dort der Judenstaat gefördert wird. Ich hab es damals richtig genossen, die Sau raus zu lassen.“

Im Jugendzentrum herrsche jetzt Schweigen. Das, was Nils da erzählt hatte, mussten wohl alle verdauen. Am Ende war es Achim, der das Gespräch weiter führte: „Und was hat dazu geführt, dass du deine Meinung geändert hast?“

„Das war ein schleichender Prozess, Achim. Damals war ich 14. Da hab ich noch alles geglaubt, was man mir weiß machen wollte. Ich habe meinen Eltern und den Leuten, von denen meine Eltern behauptet haben, dass sie auf der richtigen Seite stehen, blind vertraut. Das ist jetzt erst so ein halbes oder dreiviertel Jahr her, seit ich begonnen habe, die Dinge zu hinterfragen und zu recherchieren. Dabei habe ich eine Lüge nach der anderen aufgedeckt.“

Einer von Antons ehemaligen Freunden schaute Nils zweifelnd an: „Dafür hast du aber lange gebraucht, bis du dich geändert hast. Bis vor zwei – drei Wochen bist du mir immer noch als Vollblut-Nazi vorgekommen.“

„Da hast du auch nicht unrecht, Max.“ Nils machte eine Pause. Wohl zum Überlegen, wie er das am besten beschreiben sollte. „Wahrscheinlich fällt es dir schwer, dir vorzustellen, was das für ein Schock ist, wenn du mehr und mehr herausfindest, dass dein ganzes Leben und alles woran du glaubst, auf Lügen basiert. Und es gab niemandem, dem ich vertraute, mit dem ich hätte reden können. Mein Vater hätte mich geschlagen, wenn ich meine Zweifel geäußert hätte, Mama hätte mich angeschrien und mein Bruder hätte mich für dumm erklärt. Und allen anderen traute ich nicht über den Weg. Die Lehrer und Klassenkameraden gehörten zum Establishment. Zu den Deutschland-Feinden. Diese Denkweise konnte ich nicht so leicht abschütteln und es war auch bequemer, das zu glauben, was die wenigsten Veränderungen mit sich brachte. Mir war damals klar, dass mich mein Papa und meine Mama zum Teufel jagen würden, falls ich ich zu den 'Demokröten' überlaufe. Meine Einstellung änderte sich erst, als ich Miguel kennen lernte.“ Seine Hand suchte meine und umschloss sie. „Bei ihm hatte ich das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte und er mich ernst nahm. Und ich hatte endlich auch einen Grund, dagegen, woran ich sowieso nicht mehr geglaubt hatte, anzukämpfen. Für mich und für uns.“

Immer noch herrschte Stille. Eines musste man Nils lassen. Wenn er tiefgründig redete, konnte er die Menschen um den Finger wickeln. Das war ihm am Vortag mit Torsten schon gelungen und jetzt war es nicht viel anders.

„Und wie ist es dann mit euch weiter gegangen?“, fragte ausgerechnet Niclas – der Junge, der nach der Schule fies gelacht hatte, als André Anton verspottet hatte.

Dieses Mal konnte ich mich getrost zurücklehnen und zuhören, wie Nils zum gefühlten tausendsten Mal während der letzten Tage unsere turbulente Liebesgeschichte erzählte. Und obwohl wir den Werdegang natürlich schon kannten, klebten Basti, Sophie und ich genauso an Nils' Lippen, wie die anderen Zuhörer auch. Niemanden ließen seine Beschreibungen darüber, wie aus einer Erzfeindschaft in wenigen Tagen eine echte Liebe geworden war und nebenbei noch ein Familiendrama entstand, unbeeindruckt.

Nachdem Nils fertig war, herrschte erst einmal ein beseeltes Schweigen. Klar hatte sich in der kleinen Welt Münsingens unter den Jugendlichen schon herumgesprochen, dass Nils und ich schwul und zusammen waren. Aber darüber, welche Schicksale und welche Lebensgeschichten hinter dieser Sensation steckten, hatten sich wohl die Wenigsten Gedanken gemacht. Einige mussten das anscheinend erst einmal verdauen.

„Und wie lebt es sich so als schwules Paar?“, fragte einer der Jüngsten hier, von dem ich später erfahren sollte, dass er Pascal hieß.

„Eigentlich ganz okay“, antwortete ich, weil ich Nils eine Redepause gönnen wollte. „Die meisten Leute, mit denen wir zu tun haben, haben es tatsächlich positiv aufgenommen. Aber Mobbing und Beleidigungen gehören eben auch zu unserem Alltag. Das wird sich wohl auch nie ändern.“ Ich schaute nicht zufällig zu dem Stänkerer Niclas, der sich aber Mühe gab, meinem Blick auszuweichen.

„Hey“, warf Juliette ein, die so etwas wie die gute Seele dieser Zusammenkunft zu sein schien. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns etwas einfallen lassen, um die Akzeptanz von Schwulen und Lesben zu stärken? Vielleicht mal eine Motto-Party oder so etwas, wo LBGs genauso wie Heteros willkommen sind?“

Niclas rollte mit den Augen: „Ach, hör mir doch auf mit so einem Scheiß, Juliette. Das hier ist ein Jugendzentrum und keine Schwulendisco.“

„Und außerdem sind Nils und Miguel die einzigen offiziell umgepolten Jugendlichen hier in Münsingen“, half Lennie seinem Freund aus. „Da würden wir uns mit dem Motto doch nur blamieren, wenn nur zwei Schwule kommen.“

Nun entstand eine rege Diskussion über Juliettes Vorschlag, wo die Meisten für eine solche Party waren, aber Andere waren auch strikt dagegen. Achim hörte sich das alles lange Zeit an, ohne sich einzumischen, dann sagte er: „Also mir gefällt deine Idee, Juliette. Wenn wir so eine Motto-Party organisieren wollen, müssten wir sie eben über die Region hinaus bewerben. Aber ein Versuch wäre es wert.“

„Oooh, Achim“, maulte Niclas, wurde aber ignoriert. Die Befürworter waren nämlich schon einen Schritt weiter und redeten darüber, wie man am Besten Werbung für eine solche Party machen könnte, um ein möglichst gemischtes Publikum zu erreichen. Es war witzig, wie nach und nach auch die anfänglichen Gegner ihre Vorschläge mit einbrachten. Zum Schluss gab es eine Abstimmung, wer mitmachen würde und alle, inklusive mir selbst und Niclas, hoben die Hände.

Ach nein. Alle bis auf Einen. Nils saß ziemlich teilnahmslos zwischen mir und Sophie und behielt seinen Arm unten.

„Und was ist mit dir, Nils?“, fragte Achim.

Nils grinste: „Schon vergessen? Ich habe Hausverbot.“

„Nicht nur vergessen, sondern sogar vergeben und vergessen“, lachte der Sozialpädagoge.

„Na gut. Dann bin ich natürlich dabei.“

Am Ende gab es noch einen kleinen Aufreger. Es war nicht verwunderlich, dass sowohl Achim, als auch die anderen Jugendlichen unser Kuss-Bild sehen wollten, das unser Leben so durcheinander gewirbelt hatte. Weil ich ja einen guten Überblick hatte, wo das Bild überall herumgeisterte, gab ich ihm die Adresse eines linken Forums und Achim öffnete die Seite am PC hinter dem Tresen und alle Augen schauten neugierig darauf und ein Gemurmel ging durch die Jugendlichen. Ich selbst konnte es bei solchen Situationen immer noch selbst kaum glauben, wie anmutig und irgendwie auch sexy das Foto war.

„Lass es uns doch ausdrucken und hier aufhängen, Achim. Nils und Miguel gehören doch jetzt zu uns“, schlug Pascal vor.

„Äh nee. Lieber nicht“, quengelte Nils und lächelte Pascal entschuldigend an. „Das Foto geht mir inzwischen sowas von auf den Sack.“

Pascal zuckte mit den Schultern: „Wenn du das Bild nicht willst, dann müsst ihr es eben nachstellen. Ich fände es zumindest cool, wenn wir so ein Foto hier an der Pinwand hängen hätten.“

„Was? Hier?“

„Warum nicht?“

Nils und ich ließen uns tatsächlich dazu überreden, unser Kussbild von Göppingen nachzustellen. Zwar ohne Springerstiefel und 'Kein Sex mit Nazis' T-Shirt, aber dafür genauso sinnlich und mit genauso viel Zunge. Die Reaktionen, die die Aufnahme begleiteten, die Achim mit seinem Smartphone machte, reichten von fröhlichem Gejohle, bis zu 'Bäääh'-Rufen von Niclas und seiner Clique. Doch trotzdem wurde das Foto auf ein Din-A 4 Blatt gedruckt und direkt aufgehängt. Nun gehörten Nils und ich als erstes schwules Liebespaar also offiziell zum mittwöchlichen Inventar des Jugendzentrums und ich muss sagen, ich fühlte mich dort vom ersten Moment an pudelwohl.

Auf dem Heimweg erlebte ich ein unangenehmes Deja Vu. Den Großteil des Weges ging ich gemeinsam mit alten und neuen Freunden und solchen, die es vielleicht noch werden würden, aber die Gruppe wurde eben auch immer kleiner, wenn sich die Wege trennten. Und die letzten drei Minuten war ich wieder alleine. Und sofort kam auch die Angst, die ich an dem aufregenden Nachmittag ganz vergessen hatte, wieder zurück und nahm meine Seele in den Schwitzkasten. Ich spürte, wie mein Herz zu rasen begann und mein Atem flach wurde, als ich um die letzte Ecke bog und die Parkbucht sah, in der ich zusammengeschlagen worden war. Mein Blick suchte mit steigender Panik alle Richtungen und Winkel nach verdächtigen Personen und Fahrzeugen ab und als ich zu dem Schluss kam, dass die Luft rein war, hetzte ich im Laufschritt zu unserem Haus.

„Beruhige dich, du paranoider Idiot“, murmelte ich vor mich hin. „Torsten kümmert sich darum. Die zwei Typen siehst du nie wieder.“

Ich wollte meine eigenen Worte glauben, als ich die Haustür aufschloss, schaffte es aber nicht so recht. Und diese Vorahnung sollte sich auch bestätigen. Denn schon am nächsten Tag würde es erneut zu einer blutigen Begegnung mit diesen beiden Nazi-Schlägern kommen, die Torsten als 'Dick und Doof' bezeichnet hatte.


Das beklemmende Gefühl, verfolgt zu werden, hatte ich in dem Moment wieder abgestreift, als ich die Haustür hinter mir geschlossen hatte. Und als ich gegen 19:00 Uhr die Wohnung betrat, war ich ziemlich aufgekratzt. Ich setzte mich zu meinen Eltern ins Wohnzimmer und erzählte begeistert davon, was der heutige Tag mit sich gebracht hatte. Wie Nils und ich in Anton einen neuen Freund gefunden hatten und über unseren Besuch im Jugendzentrum, den ich voll und ganz als gelungen betrachtete. Ich war auch deshalb bemüht, möglichst euphorisch rüber zu kommen, weil ich besorgt war, Mama und Papa könnten noch einmal wegen meines seltsamen Verhaltens vom Vortag nachfragen. Sie kamen mir nämlich ein bisschen verstockt vor und die Zwischenkommentare, die meine Eltern abgaben, beschränkten sich auf Sätze wie: „Das ist ja schön“, und: „Dieser Anton scheint nett zu sein“. Das kam mir schon komisch vor, denn normalerweise zeigen meine Eltern bei solchen Gesprächen mehr Elan. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und ewig konnte ich dieses Gefühl nicht ignorieren.

„Ist alles okay?“, fragte ich meine Eltern, nachdem ich alles berichtet hatte, was es zu berichten gab.

Papa schaute mich mit gerunzelter Stirn und für seine Verhältnisse ungewöhnlich ernst an: „Es gibt ein Problem, Miguel.“

Ich blickte fragend zu meinem Vater und schon bevor er weiter redete, hatte meine gute Laune einen Dämpfer erhalten: „Und welches?“

„Ich hatte heute schon ein Telefonat mit Frau Zittlau vom Jugendamt. Nils' Eltern sind wohl auf die Idee gekommen, dass sie nun doch um das Sorgerecht für Nils kämpfen wollen und sie haben einen Anwalt eingeschaltet.“

Ich schluckte trocken: „Aber die haben doch keine Chance. Oder?“

„Anscheinend doch. So wie Frau Zittlau es mir beschrieben hat, hängt nun vieles davon ab, ob Nils nicht doch noch eine Aussage gegen seinen Vater macht. Der Amtsarzt hat zwar festgestellt, dass Nils das Opfer von Gewalttaten wurde, aber es gibt keine Belege dafür, dass die auch von seinem Vater stammen. Wenn Nils' Eltern ihn wirklich zurück wollen, läuft alles auf eine Hauptverhandlung im Sorgerechtsprozess hinaus. Und so wie es jetzt aussieht, haben sie ganz gute Karten.“

„Das kann doch nicht sein. Nach allem, was Nils durchgemacht hat.“

„Ja. Aber wenn er das nicht zugibt, nur weil er seinen Vater schützen will, muss das Gericht davon ausgehen, dass es die häusliche Gewalt nicht gegeben hat. Dann gibt es auch keine rechtliche Grundlage für einen Sorgerechtsentzug. Dafür muss schon eine handfeste Gefährdung vorliegen.“

Wir Drei schauten uns befangen an, dann nahm mich Mama ins Gebet: „Du und deine Freunde müsst es jetzt schaffen, Nils davon zu überzeugen, eine Aussage zu machen. Jetzt geht es um Alles oder Nichts.“

Ich nickte.

Noch am Abend rief ich bei Nils an, dem auch schon die Schirmachers ins Gewissen geredet hatten, denn auch sie hatten vom Gegenangriff von Nils' Eltern erfahren. Und als ich da nicht so richtig weiter kam, hatte ich auch noch Sophie, Basti und sogar Anton angerufen, um sie auf eine Überredungsoffensive für den nächsten Tag einzuschwören. Ich brauchte in dieser Nacht zwar wieder lange, um einzuschlafen, aber immerhin wurde ich nicht mehr von Albträumen geplagt.


Es war nun wieder Große Pause. Ich hatte mir Nils gekrallt, um mich gemeinsam mit ihm in unser Versteck im Biogarten zurückzuziehen. Aber dieses Mal ausnahmsweise nicht zum Knutschen und Fummeln, sondern damit ich in Ruhe mit ihm reden konnte. Natürlich hatten sowohl ich, als auch Sophie, Basti und Anton schon versucht, Nils zu überzeugen, eine Aussage gegen seinen Vater zu machen. Zuerst hatte Nils nur abgewiegelt, aber als wir den Druck erhöht hatten, hatte er begonnen, sich einzuigeln und war uns sogar aus dem Weg gegangen. Vielleicht war ein ruhiges Vier-Augen-Gespräch nun die bessere Variante, als ein Vier-gegen-Einen.

Wie immer lehnten wir mit dem Rücken gegen die mit Efeu bewachsene Wand. Ich hatte eine Hand auf Nils' Oberschenkel gelegt und Nils hatte seine Hand unter meinen Pulli geschoben, um mit dem Zeigefinger an meinem Bauchnabel zu spielen. Er war schon im Fummelmodus und ich schätzte, dass er mir sicher bald die Zunge in den Mund stecken wollte, was nach dem überstandenen Dienstag, der vielleicht der schwerste und belastendste Tag in unserer jungen Liebe gewesen war, und dem turbulenten Mittwoch sicherlich auch angebracht gewesen wäre.

Da murmelte ich so, als wenn ich mit mir selbst reden würde: „Ich verstehe es einfach nicht.“

Nils seufzte mürrisch: „WAS verstehst du einfach nicht.“ Sein Finger hörte auf, mich am Nabel zu kitzeln und lag nun reglos auf meinem Unterbauch. Wie als Rüge, dass ich diesen beschaulichen Moment mit meinen fünf Worten zerstört hatte.

„Dass du deine Zukunft aufs Spiel setzt, nur um deinen Vater zu schützen. Nach allem, was er dir getan hat.“

Ich las in Nils' Gesicht, dass er wieder in Abwehrhaltung gehen und mich anpflaumen wollte, aber dann atmete er durch und redete stattdessen leise und sanftmütig. Seine Fingerkuppe streichelte nun auch wieder über meine Haut: „Papa hat mir vieles angetan, das stimmt schon. Aber wir hatten auch schöne Zeiten, wo wir gemeinsam gelacht und Spaß gemacht haben. Mir würde es auch nichts ausmachen, gegen Papa auszusagen, wenn das für ihn eine Geldstrafe oder Bewährung bedeuten würde. Aber bei ihm steht es halt ziemlich auf der Kippe. Wir dachten schon vor einem dreiviertel Jahr, dass er ins Gefängnis muss, als er sich mal wieder besoffen auf dem Weihnachtsmarkt geprügelt hat. Aber der Richter hat ihm zu seiner vorherigen Bewährungsstrafe nur noch mal zwei Monate auf Bewährung draufgepackt. Das Urteil war damals schon eine kleine Sensation für uns, aber noch einmal wird er das Glück nicht haben. Und ich will einfach nicht der sein, der meinen Papa ins Gefängnis bringt. Versteh es oder versteh es nicht, Miguel.“

Ich nickte. Ich war zwar anderer Meinung, aber ein bisschen verstand ich Nils' Skrupel schon: „Dann willst du es in Kauf nehmen, dass du wieder zu deinen Eltern zurückgeschickt wirst?“

„Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es darauf anzulegen.“ Er lächelte mich zaghaft an. „Die Richter haben doch bestimmt auch Menschenkenntnis. Das wird schon gut gehen, Miguel.“

„Hoffentlich“, grummelte ich und musste wieder an den Haken an Nils Zimmerdecke denken, an dem er sich aufhängen gewollt hatte. „Und wenn du doch zurück musst, werde ich dich jeden Tag besuchen, da kann dein Papa im Dreieck springen.“ ('Oder mich verprügeln, damit ich ihn ins Gefängnis bringen kann', dachte ich, sprach es aber nicht aus.) „Ich finde es nur blöde. Jetzt habe ich mich davon überzeugen lassen, unsere Liebe nicht aufzugeben, obwohl ich Angst haben muss, von den Nazis zusammengeschlagen zu werden. Und du setzt alles aufs Spiel.“

Nils saß in sich zusammengekauert neben mir, denn mit dem letzten Satz hatte ich ihn getroffen: „Mann, Miguel. Wieso muss es uns immer so schwer gemacht werden?“, stammelte er deprimiert.

Ich legte einen Arm um seinen Nacken und drückte ihn aufmunternd Schulter an Schulter an mich: „Weil das zwischen uns etwas Besonderes ist. Das wäre doch langweilig, wenn man es uns zu einfach machen würde.“

„Schlauberger“, schmollte Nils, der den Tränen nahe war, doch das Lächeln setzte sich auf seinen Lippen durch. Ich hätte es mir zwar auch mehr als alles auf der Welt gewünscht, dass wir es einfacher hätten, aber zumindest konnten wir nun wieder gemeinsam lachen. Mehr hatte ich mit diesem blöden Satz gar nicht erreichen wollen. Heute würde ich es sowieso nicht mehr schaffen, Nils zum Umdenken zu bewegen, das war mir klar. Deswegen ließ ich es zu, dass Nils sich fester an mich drückte, um die letzten Minuten der großen Pause doch noch mit Zärtlichkeiten zu verbringen.

Als ich nach der Schule gemeinsam mit meiner Mutter beim Mittagessen saß, hatte ich fast schon ein schlechtes Gewissen, weil ich bei Nils nichts erreicht hatte.

„Ein bisschen verstehe ich ihn ja schon“, meinte ich zu Mama, nachdem ich das erklärt hatte, was Nils mir gesagt hatte.

Mama seufzte: „Nils muss sich überlegen, ob es nicht doch nötig ist, über seinen Schatten zu springen. Familie hin oder her. Der braune Bernd gehört nirgendwo anders hin, als ins Gefängnis.“

Kurz schauten wir uns in die Augen, dann mussten wir beide lachen. Den Begriff 'Der braune Bernd' hatte Papa vor ein paar Tagen erfunden, als wir mal wieder über Nils' Vater gelästert hatten und hatte sich irgendwie bei uns eingebürgert. 'Lass das aber nicht Nils hören', hatte Papa damals gesagt.

„Wir werden uns zumindest nicht geschlagen geben. Auch Anton, Basti und Sophie wollen weiter versuchen, Nils zu überzeugen. Und heute hat er auch noch einen Termin bei Frau Zittlau auf dem Jugendamt. Vielleicht hat sie ja auch noch ein paar Argumente.“

Mama nickte. Das Bild meiner Eltern von Frau Zittlau, die sich als sehr engagiert erwiesen hatte, hatte sich seit ihrem ersten unangekündigten Besuch sehr verbessert. Die Tatsache, dass in mir schon wieder der Plan eines Alleingangs gärte, sagte ich meiner Mutter jedoch nicht. Ich weiß schon, was ihr jetzt denkt, liebe Leser. Und ich fand es auch nicht gut, weiterhin so viele Geheimnisse vor meinen Eltern zu haben. Aber ich hatte meinen Grund. Diesen Plan hätte mir Mama nämlich garantiert verboten.

Und so hatte ich mich um halb Drei von meiner Mutter verabschiedet, unter dem Vorwand, Sophie zu besuchen und Minuten später schob ich mein Fahrrad durch die Straßen Münsingens. In Wirklichkeit war ich nicht auf dem Weg zu Sophie, denn ich wollte sie aus dem, was ich vorhatte, heraushalten. Für mich war es ungewöhnlich, mit dem Rad unterwegs zu sein, wenn ich mich innerhalb von Münsingen bewegte, aber an diesem Nachmittag war es ein besseres Gefühl, es dabei zu haben, falls ich schnell flüchten musste. Denn gerade einmal zwei Tage nach dem Schock, als mich die Nazi-Schläger verprügelt hatten, war ich schon wieder auf dem Weg zu einer Hauruck-Aktion von der Art, wie sie mein Vater immer als 'Mit dem Kopf durch die Wand' tadelte (wobei er sich gar nicht zu beklagen brauchte, denn meinen Hang, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, hatte ich eindeutig von ihm geerbt).

Außerdem fühlte ich mich im Recht. Immerhin hatte mich an dem Tag, als Nils vom Jugendamt in Obhut genommen worden war, seine Mutter mit einer fingierten SMS vors Haus gelockt, um mich abzufangen. Und heute wollte ich den Spieß umdrehen. Ich wollte Nils' Mutter einen Besuch abstatten, um sie zur Rede zu stellen, was hinter diesem Versuch, Nils zurück zu klagen, steckte. Dabei erwartete ich nicht unbedingt, dass ich sie umstimmen konnte. Sie schien zwar eher noch an Nils' Wohl interessiert zu sein als ihr Mann, doch ich hatte auch den Verdacht, dass sie zuhause nicht viel zu melden hatte. Aber zumindest hoffte ich auf ein paar Informationen. Meine Sorge war nur, dass auch Nils' Vater daheim sein konnte. Das war zwar eher unwahrscheinlich, weil ich wusste, dass er tagsüber arbeitete, aber man wusste ja nie. Deshalb fühlte ich mich besser, weil ich mein Rad als Fluchtfahrzeug bei mir hatte.

Als ich dann mein Rad abstellte und durch den Vorgarten zur Haustür dieses Dämonenhauses ging, hätte ich mir gewünscht, dass ich zumindest Basti Bescheid gegeben hätte, was ich tat. Falls ich irgendwie verschwinden würde. Aber auch er hätte bestimmt versucht, mich zu bremsen. Und das konnte ich nicht gebrauchen.

Doch vorerst schien das Glück auf meiner Seite zu sein. Nachdem ich geklingelt hatte und ich unruhig auf der Fußmatte mit einem Fuß auf den anderen trat, passierte lange nichts, aber dann waren von innen Schritte zu hören.

Noch bevor die Haustür geöffnet wurde, war dumpf die raue Stimme von Nils' Mutter zu hören: „Hast du schon wieder deinen Hausschlüssel vergessen?“

Innerlich beschloss ich schon, den Besuch schnell hinter mich zu bringen. Denn ich mutmaßte, dass dieser Rüffel nur dem braunen Bernd gelten konnte und Frau Lange ihn bald erwartete.

Die Haustür wurde geöffnet und mich erwartete eine Überraschung. Denn die kleine Frau mit dem Alkoholiker-Gesicht schaute mich eher erschrocken, als feindselig an.

„Du? Ähm... Was willst du hier?“

„Ich glaube, das wissen Sie ganz genau, Frau Lange“, motzte ich, weil mir ihre Unsicherheit Auftrieb gab. Ich ging an Nils' Mutter vorbei in die Diele, damit sie nicht auf die Idee kommen konnte, mir die Tür vor der Nase zuzuknallen.

Ich konnte mir nicht erklären, welche Laus Frau Lange über die Leber gelaufen war, aber dieser Satz ließ sie richtig blass im Gesicht werden: „Du... Du täuschst dich da aber“, stammelte sie und ich kapierte nicht so recht, was sie damit meinte.

„Aha? Ich täusche mich also? Wollen Sie mir sagen, dass Frau Zittlau uns angelogen hat? Sie haben also gar keinen Anwalt eingeschaltet, der Nils zurück in Ihr Gruselhaus bringen soll? Damit ihr Mann ihn wieder ordentlich verprügeln kann?“

Auf einmal änderte sich der erschrockene Blick von Frau Lange wieder in den für sie typischen Trotz: „Ach so. Das meinst du, Batschake. Ja. Wir wollen Nils aus eurer Kanaken-Familie herausholen. Bei uns ist er besser aufgehoben. Mein Mann und ich werden ihn dann schon wieder ordentlich einnorden.“

Die Erkenntnis, dass die Langes anscheinend dachten, Nils würde schon bei uns in der Familie leben, speicherte ich als interessante Information ab, ohne aber weiter darauf einzugehen: „Ihn einnorden...“, lachte ich sarkastisch. „Sie wissen genauso gut wie ich, dass Ihr Mann Nils verprügeln wird, bis er seinen Willen gebrochen hat oder bis er tot ist.“

Frau Lange schaute mich mit ihrem verlebten Bulldoggen-Gesicht an und ich erkannte, dass ihre Augen traurig glänzten.

„Ist es das, was Sie wollen?“, hakte ich leiser nach.

„Bernd tut so etwas nicht. Er kennt seine Grenzen“, antwortete sie mir, während sie bemüht war, die Feindseligkeit in ihrem Blick zu erhalten.

„Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Wenn es nötig ist, werde ich alles dafür tun, dass Ihr Mann ins Gefängnis muss. Das verspreche ich Ihnen.“

„Jetzt verschwinde, du Familien-Zerstörer“, Frau Lange wollte das zwar forsch sagen, aber es kam eher wie ein Betteln rüber.

„Okay. Aber versuchen Sie, Ihren Mann umzustimmen. Für Nils.“

„Raus jetzt!“

Na gut. Ich hatte getan, was ich konnte und war sogar ziemlich zufrieden mit mir selbst und meinem Auftritt. Viel erreicht hatte ich zwar nicht, aber zumindest hatte ich mein Gewissen erleichtert und den Druck an Frau Lange weiter gegeben. Für mich war es nun höchste Zeit zu gehen, bevor Nils' Papa nach Hause kam. Dieses Mal schien mein 'Mit dem Kopf durch die Wand' gut gegangen zu sein und ich war optimistisch, dass meine Worte auf fruchtbaren Boden gefallen waren.

Aber wie heißt es so schön? Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben...

Und genau dieser Spruch kam mir in den Sinn, als ich mich einigermaßen selbstgefällig umdrehte und mich der offenen Haustür zuwendete. Da erkannte ich nämlich, dass es nicht der braune Bernd war, dem der vorsorgliche Anraunzer von Nils' Mutter durch die geschlossene Haustür gegolten hatte, sondern Torsten. Denn dieser kam durch den Vorgarten direkt auf die Haustür zu. In der linken Hand hielt er eine Einkaufstüte und in der rechten einen Blumenstrauß. Oh Gott... Mit Nils' großem Bruder, der doch gar nicht mehr bei seinen Eltern wohnte, hatte ich am wenigsten gerechnet. Schnell machte ich mich auf den Weg und versuchte mich auf dem schmalen Fußweg an dem breitschultrigen Kampfsportler vorbei zu mogeln.

„Hallo Torsten“, murmelte ich, als wir auf gleicher Höhe waren und hegte die irre Hoffnung, Torsten würde mich gewähren lassen. Aber nichts da. Er streckte einen Arm wie eine Schranke aus und schob mich zurück ins Haus. Zu allem Elend machte er hinter uns auch noch die Tür zu.

„Was hat der denn von dir gewollt?“, fragte Torsten seine Mutter, nachdem er ihr den Blumenstrauß in die Hand gegeben und einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte.

„Nichts. Nur über deinen Vater stänkern. Aber er wollte auch gerade gehen.“

„Deine Eltern versuchen mit einem Anwalt, das Sorgerecht für Nils zurückzubekommen“, erklärte ich Torsten mit leiser Stimme.

Torsten zuckte mit der Schulter: „Und? Besser bei uns, als bei euch.“ - Wieder fiel mir diese falsche Vermutung der Langes auf, Nils würde bei uns leben.

„Aber du weißt doch, dass euer Vater Nils verprügelt, Torsten. Macht dir das denn gar nichts aus?“

„Darum werde ich mich schon kümmern.“

Ich nickte, mit dem Gefühl, hier nicht mehr weiter zu kommen. Aber auf einmal kam mir ein Geistesblitz. Mir fiel wieder ein, wie erschrocken mich Frau Lange angeguckt hatte, als ich vor der Haustür stand. Das schlechte Gewissen in ihrem Gesicht, das eindeutig nicht wegen des Anwalts war, war nicht zu übersehen gewesen. Und nun war mir ein Gedanke gekommen, was dahinter stecken konnte und ich probierte es einfach einmal.

„Ähm Frau Lange?“

„Jaaa?“, raunzte sie genervt.

„Am Dienstag bin ich von zwei Schlägern überfallen worden. Und ich weiß, dass Ihr Mann dahinter steckt.“ Diese Gewissheit war zwar gelogen, aber ein Versuch war es wert. Und ich schien voll ins Schwarze getroffen zu haben.

„Nein!!! Du bist ein Lügner!!!“, rief Frau Lange so panisch, dass sie es auch hätte zugeben können.

„Ich gehe jetzt zur Polizei und dann sollen die herausfinden, wer dahinter steckt. Schließlich ist das deren Job“, entgegnete ich mit einer Spur Euphorie in der Stimme. Aber die kam mir schnell wieder abhanden, als Torsten mich mit seiner bedrohlichsten Art, die er drauf hatte, anknurrte.

„Wenn du zu den Bullen gehst, haben wir Zwei ein gewaltiges Problem. Verstanden?“

Im ersten Moment stockte mir der Atem und ich hatte das Gefühl, mir gleich in die Hose zu machen. Aber dann dachte ich wieder an den Haken in Nils' Zimmer und seinen Gürtel: „Falls euer Vater wirklich dahinter steckt, Torsten, hätte er ja auch davon ausgehen müssen, dass Nils bei mir ist, als er die Schläger auf mich angesetzt hat. Meinst du, die hätten ihn dann in Ruhe gelassen? Oder hätten sie ihm auch einen Denkzettel mit auf den Weg gegeben?“

Torsten schaute mich nachdenklich an. Immerhin dachte er ja, dass Nils bei uns lebte. Als er nichts sagte, schob ich hinterher: „Schlag mich ruhig zusammen, wenn dir das so wichtig ist. Nils ist mir das wert. Aber falls es keine andere Möglichkeit gibt, gehe ich zur Polizei und bringe euren Vater ins Gefängnis.“

Torsten blickte seinen Mutter eindringlich an: „Sagt er die Wahrheit?“

„Nein!“

„Mama?“

Frau Lange seufzte und nun kullerten tatsächlich Tränen über ihre Wangen: „Am Sonntag Abend, als er im Walhall seine Bierchen getrunken hat, haben ihn ein paar seiner Kameraden aufgezogen. Weil er nicht einmal seinen verweichlichten Sohn unter Kontrolle hat und der sich von einem Kanaken ficken lässt. Du weißt doch, wie dein Vater sich so etwas zu Herzen nimmt. Das ist auch der Grund, warum er jetzt versucht, ihn wieder zurückzuholen. Und als er am Montag am Sportplatz vorbei gefahren ist, hat er Nils und den da“ - ihr Blick ging zu mir - „beim Fußball spielen gesehen. Da ist dein Vater ausgetickt und hat zwei Bekannte angeheuert, damit sie den Kanaken vor seinem Haus abfangen und ihm eine Abreibung verpassen.“

„Und hätte Nils auch eine Abreibung erhalten sollen?“, hakte Torsten nach.

Nils' Mutter schaute Torsten nur an und Torsten nickte langsam.

Ich wartete darauf, dass Torsten nachsetzte, aber er tat es nicht. Er nahm nur seine Mutter am Handgelenk und betrachtet ihren Unterarm, wo, weil sie kurze Ärmel hatte, ein unauffälliger blauer Fleck zu sehen war, der mir bis dahin nicht einmal aufgefallen war: „Was hast du da gemacht?“

„Ich hab mich gestoßen.“

„Ehrlich?“

„Hmh.“

Wieder schwieg Torsten und dachte wohl dasselbe, wie ich. Dass Blutergüsse im Hause Lange verdächtig waren.

Ich war mir sicher, dass Torsten sie nun weiter ausquetschen würde, um die ganze Wahrheit zu erfahren, aber ihm tat es wohl weh, seine Mutter weinen zu sehen.

Er klopfte mir auf die Schulter: „Lass uns gehen.“

„Okay“, sagte ich und meine Erleichterung, dieses Haus endlich verlassen zu können, konnte ich nicht verbergen.

Gemeinsam mit Torsten ging ich durch die Haustür auf den Kieselweg, der durch den Vorgarten zur Straße führte und fragte vorsichtig: „Hast du mit denen, die mich zusammengeschlagen haben, eigentlich schon geredet?“

„Ja. Die bestreiten aber, dass sie etwas damit zu tun haben.“

„Ah ja“, antwortete ich ernüchtert. „Und nimmst du sie dir noch einmal zur Brust?“

„Ich denke schon.“ Ein seltsames Grinsen ging durch sein Gesicht, das ich nicht richtig zuordnen konnte.

Wir waren jetzt an der Straße angekommen und ich wollte mir mein Fahrrad schnappen. Doch ehe ich das konnte, legte mir Torsten einen tätowierten Arm um die Schulter und schob mich zu seinem Passat, der zehn Meter entfernt am Straßenrand parkte.

„Was ist?“, fragte ich mit einem flauen Gefühl im Magen.

„Steig ein. Wir Zwei machen jetzt einen kleinen Ausflug.“

'Scheeeiiiiiiiiißeeeeee' ging es mir durch den Kopf, und ich murmelte kaum hörbar: „Warum?“

Torstens Hand auf meiner Schulter zwickte mich freundschaftlich: „Na du bist doch jetzt sozusagen mein Schwager. Wäre es da nicht angebracht, dass wir uns näher kennen lernen?“

Ich nickte mit einer Kehle, die sich so trocken anfühlte, dass ich bezweifelte, einen Ton herauszubekommen.

Obwohl mir meine innere Stimme sagte, dass es nun an der Zeit war, loszurennen, so schnell und so weit ich konnte, ging ich brav um das Auto herum und setzte mich auf den Beifahrersitz. Wie der Ochse, der zur Schlachtbank läuft. Und Sekunden später startete Torsten den Motor.

Während er das Auto aus den Seitenstraßen heraus zur Hauptstraße manövrierte, hatte sich Torsten auch sein Smartphone aus dem Seitenfach heraus gegriffen. Natürlich traute ich mich nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass man während der Fahrt nicht telefonieren sollte. Deshalb hörte ich einfach zu, als er, nachdem wohl jemand am anderen Ende der Leitung abgenommen hatte, los redete.

„In zehn Minuten am Wendehammer Brühlweg. Und bring Bolle mit.“

Bevor der Gesprächspartner antworten oder nachfragen konnte, hatte Torsten schon wieder aufgelegt. Und mir wurde klar, dass ich jetzt für meine 'Mit dem Kopf durch die Wand'-Dummheit und meine große Klappe die Abrechnung bekommen würde, um die ich förmlich gebettelt hatte.

„Wo bringst du mich hin?“, fragte ich, als ich meine Stimme wieder gefunden hatte und wir Münsingen nach Osten verließen. In eine Richtung, in die ich in den paar Wochen, in denen ich nun auf der Schwäbischen Alb lebte, noch nicht gekommen war.

„Entspann dich und lass dich überraschen. Dafür, dass du vorhin so große Reden geschwungen hast, bist du mir jetzt ganz schön pussy.“ Torsten wirkte weiterhin kumpelhaft und sogar gut gelaunt. Aber davon wollte ich mich nicht täuschen lassen und zog es vor, zu schweigen.

Ich hätte Torsten sagen können, dass man sich nicht so leicht entspannen konnte, wenn man als schwuler Südländer von einem Nazi-Hooligan irgendwohin gefahren wird, wo er sich mit anderen Nazi-Hooligans verabredet hatte, um einen zu verprügeln. Aber ich fügte mich meinem Schicksal mit dem tragischen Bewusstsein, dass heute kein Schnäuzle Nils in der Nähe war, der seinen Bruder einbremsen könnte.

Und so schaute ich die meiste Zeit sehnsüchtig aus dem Seitenfenster in die so greifbar erscheinende Freiheit, als wir auf der Landstraße zwischen weiten Feldern hindurch fuhren und ein kleines Dörflein namens Mehrstetten durchquerten, wo die Menschen, die wir passierten, keine Ahnung hatten, dass hier so etwas wie eine Entführung stattfand. Kurze Zeit später kamen wir in ein Nest namens Justingen und dort bog Torsten in eine Seitenstraße ein. Am Ende der Straße, wo auch das Kaff endete und sie an einem Bauernhof in einen Feldweg überging, war tatsächlich ein Wendeplatz, auf dem Torsten mittig das Auto abstellte. Die Stelle war verlassen genug, damit man mit relativ wenig Risiko, erwischt zu werden, jemanden zusammenschlagen konnte.

„Und jetzt?“, fragte ich Torsten, der auf seinem Smartphone tippte.

„Komm, steig aus. Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen“, antwortete er bester Laune. Was auch immer jetzt kommen würde... Torsten schien sich darauf zu freuen.

Wir stiegen aus dem Auto, Torsten setzte sich auf die Motorhaube und ich stellte mich daneben.

„Da bin ich mal gespannt“, nuschelte ich, weil ich immer das Gefühl hatte, reden zu müssen, wenn ich nervös war. Torsten brummte zustimmend, während er wieder auf seinem Smartphone daddelte.

Die Auflösung von Torstens Geheimnis war ein Schock. Die beiden Gestalten, die das gerade Sträßchen entlanggelaufen kamen, erkannte ich auf den ersten Blick schon von Weitem, obwohl sie bei unserer letzten Begegnung Masken getragen hatten. Aber der lange Dürre und der kleinere Dicke waren eindeutig die Schläger, die mich verprügelt hatten. Ihre Gestalten, ihre Körperhaltungen und sogar der 'Landser' Pulli, den der Dicke auch zwei Tage nach dem Angriff noch trug, ließen keinen Zweifel. In was für eine perverse Falle hatte mich Torsten da nur gelockt?

Ich wollte nun tatsächlich losrennen, aber Torsten hielt mich zwar konsequent, aber auch auf eine irgendwie beruhigende Art am Ellbogen fest: „Waren die es?“

„Ja. Da bin ich mir sicher“, stotterte ich mit wackliger Stimme und schöpfte neue Hoffnung. Denn nun, wo die Gesichter meiner beiden Peiniger besser zu erkennen waren, sah ich, dass es ihnen nicht besser ging, als mir. Als sie realisierten, dass Torsten mich dabei hatte, schienen sie selbst mit dem Gedanken zu spielen, wieder umzudrehen. Doch dann tuschelte der Dicke etwas zu dem Dürren, beide setzten ein Grinsen auf, das eine pure Maskerade war und kamen weiter auf uns zu.

Und je näher sie kamen, umso weniger konnte ich glauben, dass die Zwei der Grund für meine schlaflosen Nächte waren und dafür, dass ich fast meine Beziehung mit Nils aufgegeben hätte. Torsten hatte die Beiden zwei Tage zuvor als Dick und Doof bezeichnet und nun kam mir selbst der Gedanke, dass das Duett eher die Ausstrahlung eines Slapstick-Duos hatte, als von furchterregenden Schlägern. Der Dicke erinnerte mich aber mit seinem runden Kopf, dem Mondgesicht und dem kurzen Hals trotz seines Dreitage-Barts eher an Eric Cartman von Southpark, als an Oliver Hardy. Und auch der lange Dünne hatte mit seinem akne-narbigen Gesicht, in dessen Augen eine fast schon liebenswerte Begriffsstutzigkeit lag und seiner schlaksigen Haltung nicht viel mit Stan Laurel gemein. Beide kamen mit ihren kahl geschorenen Schädel als Oldschool-Skinheads daher, wie man sie eher aus den 1990ern kannte, als aus den 2010ern.

„Hallo Torsten“, sagten die Beiden fast gleichzeitig mit einer nicht zu übersehenden Nervosität, während sie mir schräge Blicke zuwarfen.

Natürlich sollte man sich vom rein Optischen nicht täuschen lassen. Kräftemäßig waren die Beiden mir sicherlich haushoch überlegen und vielleicht würden sie im Duo sogar mit Torsten fertig werden. Aber die gesamte Körpersprache, die ich beobachtete, bedeutete mir das Gegenteil. Dick und Doof standen blöde grinsend in einer unterwürfigen Haltung vor Torsten, der sogar jetzt, wo er locker auf der Motorhaube lümmelte, die natürliche Ausstrahlung eines gespannten Katapults hatte. Bei diesem Zusammentreffen war eindeutig klar, wer hier der Boss war. Und ich hoffte nun, dass ich den Boss auf meiner Seite hatte.

Torsten richtete sich mit einer etwas theatralischen Schwerfälligkeit auf: „Na ihr? Wie geht’s?“

Mit einer gespielten Fröhlichkeit taten Dick und Doof kund, dass es ihnen gut ginge und der Dünne, der etwa im selben Alter wie Torsten war, hängte mit seiner Lispel-Stimme, die mich in meine schlimmsten Alpträume verfolgt hatte, an: „Und was führt dich hier her, Torsten?“

„Eigentlich hatte ich vor, euch mit jemandem bekannt zu machen, Carsten.“ Er warf einen Blick zu mir, dann wieder abwechselnd zu Dick und Doof. „Aber anscheinend ist das gar nicht nötig. Ihr kennt euch ja bereits.“

„Ich... bin... mir... nicht... ganz... sicher“, zauderte der Dicke. Ich schätzte ihn als Mittzwanziger als den Ältesten dieser Versammlung und dem ersten Eindruck nach war er auch ein bisschen schlauer als sein Kumpel Carsten, was aber nicht viel zu bedeuten hatte.

Torsten blieb seiner freundschaftlichen Art treu: „Ach komm schon, Bolle. Wir wollen uns doch wegen so einer dreckigen Kanaken-Tunte, die auf die Fresse bekommen hat, nicht anlügen. Also? Was war los?“

Genauso, wie das Lächeln meiner beiden Kontrahenten sicherer wurde, fühlte ich mich nach diesen Sätzen unwohler in meiner Haut.

„Also gut. Hat er ja auch verdient“, bestätigte der dicke Bolle, während Torsten zustimmend grinste, was den dünnen Carsten dazu verführte, auch zustimmend zu grinsen und mir einen Blick zuzuwerfen, der 'Da hörst du's' ausdrückte.

„So viel Dresche, wie der kleine Schwanzlutscher verdient hat, kann man ihm gar nicht geben“, entgegnete Torsten lachend, legte mir einen Arm um die Schulter und drückte mich auf eine Weise an sich, die gar nicht mehr freundschaftlich war, sondern purer Sarkasmus und die wohl eher dazu diente, dass ich nicht weglaufen konnte. „War echt cool von euch, Männer. Wie seid ihr eigentlich darauf gekommen?“

Trotz meiner panischen Angst und dem Wissen, dass es übel um mich stand, registrierte ich, wie die Stimmung kippte und Dick und Doof jetzt mindestens genauso fröhlich waren, wie Torsten. Sogar ein bisschen Stolz war in ihren Augen.

„Ehrlich gesagt war das gar nicht unsere Idee“, lispelte Carsten. Er tauschte mit Bolle einen Blick aus und bekam die Zustimmung, mit der Wahrheit rauszurücken. „Dein Vater hat uns dort hingeschickt.“

„Was? Echt?“, tat Torsten erstaunt.

„Ja.“

Torsten schaute Carsten mit einem neugierigen Blick an und der Dürre erzählte bereitwillig: „Am Sonntag waren wir doch abends noch im Walhall und dein Papa war auch dort. Da wurde auch über deinen Gay-Bruder gelästert und über die Sache mit dem Kanaken. Am Anfang hat Bernd seine Wut noch in sich reingefressen. Aber du weißt ja, wie lustig dein Vater ist, wenn er sich aufregt. Als der Kopf immer roter wurde, haben wir ihn noch ein bisschen geärgert, bis er explodiert ist.“ Carsten lachte jetzt tatsächlich vergnügt. „'Ich brech dem Kanaken das Kreuz', hat er rumgeschrien. Und: 'Den Nils hole ich zurück. Dann trete ich ihm so lange in den Arsch, bis er keinen Schwanz mehr drin haben will'.“ Alle Drei lachten jetzt über das Temperament von Herr Lange und ich hätte am liebsten losgeheult, weil sich auch Torsten köstlich zu amüsieren schien.

„Und dann?“

„Na, am Montag Abend, hat dein Papa bei Bolle angerufen. Er hat uns die Adresse von dem Kanaken gegeben und gesagt, wir sollen uns beeilen, damit wir ihn dort abfangen und ihn platt machen können. Er hat auch jedem von uns 50 Euro angeboten. Und du weißt ja, wie dringend wir die Kohle bei der knappen Stütze brauchen, Torsten. Wir haben's dann aber doch nicht so arg gemacht, wie es dein Vater wollte. Sonst wären nur nur die Bullen gekommen.“

„Ist klar“, lenkte Torsten ein. „Und hat Papa auch etwas über meinen Schwuchtel-Bruder gesagt?“

„Sicher. Er hat gemeint, dass wir Nils auch den Arsch versohlen sollen, wenn er dabei ist. Aber nicht so heftig wie bei dem Kanaken.“

„Da hatte Nils ja Glück“, witzelte Torsten.

Und Carsten gluckste heiter: „Ja. Verdient hätte er es ja.“

„Meinst du?“

„Jo.“

Nun ging es so schnell, dass ich gar nicht richtig mitbekam, was geschah. Weil Torsten noch seinen Arm um meine Schulter gelegt hatte, damit ich nicht davon laufen konnte, wurde ich in seiner Bewegung ein Stück nach vorne geschoben und Sekundenbruchteile später knallte seine Faust in Carstens Gesicht. Direkt auf die Nase. Carsten beugte sich mit einem Stöhnen nach vorne und drückte sich beide Hände auf Nase und Mund. Tränen schossen in seine Augen und im nächsten Moment rann Blut zwischen seinen Fingern hindurch. Aus seiner gebeugten Haltung schaute er geschockt zu Torsten hoch.

Der dicke Bolle hatte nun einen Arm um Carstens Taille gelegt, so, als ob er ihn stützen wollte, damit er nicht umfiel und schaute Torsten genauso fassungslos an: „Mann Torsten. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“

„Denkst du auch, dass Nils es verdient hätte, verprügelt zu werden?“, entgegnete Torsten.

„Nein. Ich kenne ihn zwar nicht, aber ich glaube, Nils ist voll okay. Aber...“

Torsten lächelte. Er schien seinen Spaß zu haben: „Schön, dass wir uns da einig sind. Ich hab einen guten Tipp für euch. Lasst Nils in Ruhe und den da auch.“ Wieder so ein schräger Blick zu mir. „Die kleine Schwuchtel hat mehr Eier in der Hose, als ihr zwei Eunuchen zusammen.“

„Okay.“

„Und hört auf, meinen Vater aufzustacheln, wenn er gesoffen hat. Sonst bringe ich das nächste Mal noch ein paar Freunde aus Stuttgart mit. Verstanden?“

„Klar, Torsten.“

„Na gut. Man sieht sich.“ Torsten kramte in seiner Hosentasche und holte eine Packung Taschentücher heraus, die er Carsten hinhielt und der nahm das Tempo-Päckchen mit einer blutverschmierten Hand entgegen. Ich konnte es kaum glauben, dass er dabei noch: „Danke“, schnorchelte. Dann trennten sich die Wege zwischen mir und Dick und Doof.

Auf der Rückfahrt war Torsten immer noch gut gelaunt und deutlich redseliger, als auf der Hinfahrt.

„Ich glaube, die Zwei machen euch keine Probleme mehr“, meinte er fröhlich.

Ich brummte nur zustimmend. Denn obwohl ich vielleicht hätte erfreut sein müssen, dass dieser lispelnde Schläger jetzt selbst eins auf die Nase bekommen hatte, war ich über diesen Gewaltausbruch einfach nur schockiert.

Torsten grinste noch breiter: „Soll ich dir mal etwas über die Beiden erzählen?“

„Hmh.“

„Die haben jetzt groß rumgelabert von wegen 'Schwuchteln' und 'Tunten'. Aber dabei wohnen sie auch schon seit fast zwei Jahren zusammen unter dem Dachboden im Bauernhof von Carstens Alten. Und soweit ich weiß, hatte noch keiner von denen jemals etwas mit einem Mädchen.“

„Du meinst...?“

„Hmmm. Es gibt zumindest solche Gerüchte. Denk darüber, was du willst.“ Torsten schmunzelte jetzt frech, und dabei war seine Ähnlichkeit mit Nils nicht zu übersehen. Diese Kleinigkeit entlockte mir nun selbst ein Lächeln und ich wurde sogar ein bisschen lockerer, obwohl ich mir darüber natürlich bewusst war, dass ich bei Torsten aufpassen musste, wie ein Schießhund.

„Und wie geht es jetzt mit eurem Vater weiter?“, fragte ich schließlich zaghaft. „Ich kann nicht glauben, dass der jemals aufhört. Wenn er sogar so weit geht, trotz seiner Bewährung Schläger auf Nils und mich anzusetzen.“

„Du willst ihn immer noch anzeigen?“

Ich schwieg zustimmend und Torsten seufzte: „Hör zu, Miguel. Ich will nicht mal behaupten, dass du unrecht hast. Du musst dir aber bewusst sein, dass mein Vater gut vernetzt ist. Mit denen Zwei von eben hatte ich jetzt leichtes Spiel. Aber wenn du Papa in den Knast bringst, kannst du davon ausgehen, dass das andere Leute auf den Plan ruft, bei denen es Wahnsinn wäre, wenn ich mich mit ihnen anlege. Überleg dir das gut.“

„Aber wir können doch auch nicht zulassen, dass Nils wieder zu eurem Papa zurückgesteckt wird. Da sind wir uns doch einig. Oder?“

Torsten schaute nachdenklich nach vorne auf die Straße. Zum ersten Mal, seit ich ihn gestern kennengelernt hatte, hatte ich das Gefühl, dass er mich respektierte: „Ich schlag dir einen Deal vor. Ich versuche Papa noch ein einziges Mal klar zu machen, dass er die Sorgerechtsklage zurückziehen soll. Falls ich ihn nicht überzeuge, dann bleibt uns eben nichts anderes übrig. Dann hole ich dich und Nils persönlich ab, um zu den Bullen zu gehen. Ich hab sowieso vor, mich für die nächsten Wochen wieder bei meinen Eltern einzunisten, um Papa unter Kontrolle zu halten.“ Torsten schluckte bitter. „Ich glaube nämlich, er schlägt Mama.“

Ich nickte nur und war irgendwie froh, dass Torsten das tat. Denn obwohl Nils' Mutter ein Ekel aller erster Güte war, tat sie mir doch leid.

„Hand drauf?“, hakte Torsten nach, nachdem ich nicht antwortete und hielt mir, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, seine Hand entgegen.

Ich zögerte noch ein paar Sekunden, in denen mir gefühlte tausend Argumente für und gegen dieses Abkommen durch den Kopf schossen, dann schlug ich ein.

Torsten lächelte zögerlich: „Nils und du... Ihr macht es mir echt nicht leicht. Weißt du das?“

Ich lächelte mit: „Ich kann es mir vorstellen.“

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