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Mein bester Feind

Teil 6

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Was für ein Genuss. Verschwommen sah ich aus kürzester Distanz, wie mich Nils' Augen voller Humor und Leidenschaft betrachteten, während unsere Nasenspitzen aneinander kitzelten und sich unsere Lippen berührten. Ich roch den dezent salzigen Geschmack seiner Haut, vermischt mit dem Frühherbstduft der Sträucher und Hecken um uns herum. Nils öffnete seinen Mund einen Spalt und seine Zunge streifte neckisch über meine Lippen. Ich wollte reagieren und seine Zunge mit meiner anstupsen, aber ich war zu langsam. Nils hatte sie schon wieder hinter seinen geschlossenen Lippen verborgen und meine Zunge kitzelte nur über die weiche Haut seiner Lippen.

Leise kicherten wir, ehe Nils nachgab und mir seine Mundhöhle für einen neugierigen und verspielten Zungenkuss freigab. Das Letzte, was ich sah, war, dass Nils seine Augen schloss, dann tat ich dasselbe, um mich voll dem Tastsinn meiner Zunge hinzugeben. Meine Hand wuschelte durch seine blonden Haare, die sich an diesem Tag, an dem er kein Haargel drin hatte, ungewohnt flauschig anfühlten, und Nils hatte seine Hand unter meinen Pulli geschoben, um an meinem seitlichen Bauch meine Haut zu ertasten. Von allen Seiten war das Lachen, Albern, Motzen, Streiten und Krakeelen unserer Mitschüler zu hören. Denn es war gerade große Pause am Tag Eins, nachdem Nils vom Jugendamt in Obhut genommen worden war. Nach diesem Schock war es eine Genugtuung, Nils mit all meinen Sinnen zu erleben, um mich zu versichern, dass ich ihn wieder hatte.

Wir hatten uns nun im Bio-Garten unserer Schule mit seinen verwinkelten Sträuchern und Hecken in dieses uneinsehbare Versteck zurückgezogen, wo Nils und ich genau 24 Stunden zuvor mit Sophie sorgenvoll über unsere und vor Allem Nils' Zukunft debattiert hatten. Hauptsächlich hatten wir das getan, um den bohrenden Blicken und blöden Sprüchen zu entkommen, die uns in der Schule verfolgten, seit sich unser Coming Out über die Klassenzimmergrenze hinaus herumgesprochen hatte. Aber natürlich wussten wir die Abgeschiedenheit auch zu nutzen. Nils und ich saßen Schulter an Schulter mit dem Rücken an eine mit Efeu verwilderte Mauer gelehnt, die das Schulgelände von der Goethestraße trennte und hatten die Welt um uns herum ausgeblendet. Unseren Zungenkuss unterbrachen wir immer wieder, um unsere Köpfe ein bisschen voneinander zu entfernen, verliebte Blicke auszutauschen, uns schmatzend auf die Lippen zu küssen und uns dann wieder die Zungen in die Mundhöhlen zu stecken.

Ich hatte gerade wieder die Augen geschlossen und mich Nils hingegeben. Unbewusst brummten wir beide leise beim Küssen, da wurde ich jäh aus der Sinnlichkeit herausgerissen. Eine Schuhspitze tippte mich nämlich gegen den Oberschenkel. Erschrocken zog ich mit einem leisen Ploppen meine Zunge aus Nils' Mund und blinzelte hoch. Direkt in das schadenfroh grinsende Gesicht unseres Klassenkameraden Basti.

„Wir stören euch doch hoffentlich nicht“, unkte er gut gelaunt zu uns herunter, wobei er das 'wir' offensichtlich auf sich und Sophie bezogen hatte, die hinter ihm stand und nur einen Hauch schuldbewusster auf uns herab lächelte.

„Neiiiin. Gaaaar nicht. Ihr könnt ja mitmachen“, moserte Nils neben mir und ich hing ein verlegenes: „Passt schon. Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten“, dran.

„Ja ja. Ich hab schon Pornos gesehen, da haben die... Unterhaltungen... harmloser ausgesehen, als bei euch eben.“ Basti ignorierte gekonnt Sophies strafenden Blick, der diese Aussage kommentierte und setzte sich ungefragt neben mich, ebenfalls mit dem Rücken an die zugewucherte Wand. Sophie setzte sich auf der anderen Seite neben Nils.

„Und? Was soll das jetzt eigentlich, dass ihr euch angeschlichen habt?“, fragte ich angesäuert und brachte Sophie zum Drucksen.

„Wir haben uns doch nicht angeschlichen. Ich hab mir nur gedacht, dass ihr heute wieder hier sein könntet und da hab ich Basti mitgenommen. Dass ihr so ineinander vertieft wart, dass ihr uns nicht mitbekommen habt – daran seid ihr echt selber schuld.“

„Jaaa. Okay. Und was wollt ihr?“

„Wir wollten einfach mal erfahren, wie es mit dir seit gestern weiter gegangen ist, Nils. In den kleinen Pausen habt ihr euch ja immer sofort eingeigelt, sobald es geklingelt habt. Da wollten wir die große Pause nutzen.“

Nils und ich tauschten einen Blick aus und rollten dabei mit den Augen. Aber ohne, dass wir uns absprechen mussten, drückte der Blickkontakt auch aus, dass wir uns einig waren. Sophie war schließlich von Anfang an eine tolle Freundin und Hilfe gewesen auf unserem Weg dorthin zu kommen, wo wir jetzt waren. Und auch Basti hatte sich seit dem Coming Out vor unserer Klasse fantastisch verhalten, obwohl ich mir immer noch nicht sicher war, ob ich ihn mochte. Aber wegen seiner charismatischen Art war er so etwas wie ein Meinungsmacher in der Klasse. Und seinem Engagement für uns war es wohl vor allem zu verdanken, dass sich die Stimmung innerhalb der Klasse zumindest vorerst auf unsere Seite geschlagen hatte.

Nils nickte kurz vor sich hin und dann spitzte ich die Ohren, als er begann zu erzählen. Im Groben wusste ich zwar schon, wie es ihm ergangen war, aber die Zeit, in die Details zu gehen, hatte er an diesem Morgen bis dahin noch nicht gehabt.

„Also gut. Dann passt mal auf“, seufzte Nils.


Nachdem Frau Zittlau (oder die Gewitterziege vom Jugendamt, wie Nils sie genannt hatte) und der Rektor Gerstner Nils aus unserem Klassenzimmer geholt hatten und die Tür hinter sich geschlossen hatten, war es wohl zu einem kleinen Vorfall gekommen, an dem Nils nur unbeteiligter Zuhörer war.

„Keine Angst, Nils, es ist alles zu deinem Besten, was wir da tun. Ich schlage vor, wir gehen jetzt ins Rektorat, damit du uns alles, was geschehen ist, genau erzählen kannst. Und dann werden Frau Zittlau und ich entscheiden, wie es mit dir weitergeht“, meinte der Rektor zu Nils, der, total überfordert von den sich überschlagenden Ereignissen, nur nickte, was Rektor Gerstner mit einem selbstzufriedenen väterlichen Lächeln quittierte.

Aber dieses Lächeln verblasste schnell wieder, als ihm Frau Zittlau mit ihrer unterkühlten Art über den Mund fuhr. Sie war eine auf den ersten Blick gemütsarm wirkende Enddreißigerin mit streng hochgesteckten Haaren, einer schmalen Brille und Business-Anzug, die man sich eher im mittleren Management eines Dax-Unternehmens, als im Jugendamt vorstellen konnte: „Das was Nils zu berichten hat ist vertraulich und ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Herr Gerstner. Ich werde Nils jetzt mitnehmen und Ihnen alle für die Schule relevanten Informationen zukommen lassen.“ Frau Zittlau zog hinter ihrer schmalen Brille eine Augenbraue hoch. „Sind Sie damit einverstanden?“

„Aber ich bin doch der Rektor“, knirschte Gerstner durch zusammengepresste Zähne.

Frau Zittlau verzog keine Miene: „Das möchte Ihnen auch niemand streitig machen, Herr Gerstner. Nils? Kommst du bitte mit?“

Nils warf Herr Gerstner noch einen bittenden Blick zu. Er mochte den Rektor zwar nicht – kein Schüler mochte ihn mit seiner herablassenden Art. Aber Gerstner schien ihm nun das kleinere Übel zu sein. Doch Nils war viel zu überrumpelt, um dies zu äußern. Frau Zittlau legte eine Hand auf seine Schulter und Nils ließ sich schweigend die Treppe hinunter und aus der Schule führen.

Doch sobald die Beiden das Schulgebäude verlassen hatten und über den Hof zu den Lehrer-Parkplätzen gingen, veränderte sich die Gewitterziege auf eine unerklärliche Weise. Beim Gehen stupste sie Nils mit der Hüfte an und als Nils zu ihr schaute, lächelte sie plötzlich sympathisch. Dieses Lächeln ließ Frau Zittlau auf einen Schlag zehn Jahre jünger wirken.

„Euer Rektor kann ganz schön nerven, mit seiner überheblichen Art.“

Auf Nils' Lippen setzte sich nun ebenfalls ein Lächeln durch, obwohl er dagegen ankämpfte: „Das müssen Sie mir nicht erzählen“, woraufhin Frau Zittlau nur lachte.

Die neue, nett wirkende Frau Zittlau brachte Nils nun zu einem dunklen VW, der wohl dem Amt gehörte, und Nils setzte sich auf den Beifahrersitz. Sie startete den Motor und Nils fragte: „Und wie geht es nun mit mir weiter?“

„Ich hatte vor einer Stunde schon ein Telefonat mit deinem Vater.“ Frau Zittlau machte eine Pause, die – ohne dass sie das Telefonat näher hätte beschreiben müssen – ausdrückte, wie das Gespräch gelaufen war. „Dorthin lasse ich dich auf keinen Fall zurück.“

„Darf ich jetzt zu den Garcias?“, hakte Nils hoffnungsvoll nach.

„Eins nach dem anderen. Was jetzt geschehen wird, ist eine Inobhutnahme. Das Wichtigste ist, dass du vor deinem Vater in Sicherheit bist. Herr Garcia hat zwar den Wunsch geäußert, dass du bei ihnen leben darfst, aber da gibt es auch Hürden.“

Nils schaute Frau Zittlau fragend an.

„Erstens müssen die Garcias einen Kurs belegen. Den Pflegeeltern-Führerschein sozusagen. Und zweitens will ich mir sicher sein, dass du in guten Händen bist. Da werde ich den Garcias in den nächsten Tagen auch noch auf den Zahn fühlen.“

„Aber...“

„Du und Miguel – ihr seid jetzt verliebt, Nils. So viel habe ich schon erfahren. Und ich weiß auch, dass Herr und Frau Garcia damit einverstanden sind. Aber was wäre, wenn Miguel und du Streit bekommen würdet und eure Liebe zerbricht? Würden Herr und Frau Garcia dann immer noch so begeistert sein, dich in der Familie zu haben? Verstehst du, Nils? Über solche Fragen muss ich mir auch Gedanken machen. Und da möchte ich zuvor ein Gespür für die Garcias bekommen.“

Nils verstand: „Okay. Sie sollten aber wissen, dass es mein Wunsch ist, bei den Garcias zu leben.“

„Natürlich. Falls mich mein jetziges Gefühl nicht total täuscht, werde ich das auch unterstützen. Jetzt muss sowieso ein Gericht entscheiden, wie es mit dir weitergeht.“ Frau Zittlau atmete durch. „Zuerst müssen wir für einen Übergang sorgen. Bis vor einer Stunde sah es noch so aus, als würdest du in eine Wohngruppe in Ulm kommen. Aber ich habe ein bisschen meine Beziehungen spielen lassen.“

Nils und Frau Zittlau waren jetzt am Rathaus angekommen. Dort warteten noch einige Prozeduren auf ihn. Ein Verhör (beziehungsweise ein informelles Gespräch, wie es die Zittlau nannte) mit ihr und ihrem Chef, dann wurde Nils dem Amtsarzt vorgeführt wegen den Verletzungen, die ihm sein Vater zugefügt hatte und der Arzt hatte dann auch gleich die Polizei eingeschaltet.

„Das geschieht deinem Vater gerade recht. Mit deiner Aussage gehen ihm die Bullen jetzt bestimmt an den Kragen“, frohlockte Sophie, als Nils das erzählt hatte.

Aber Nils schaute sie eingeschnappt an: „Bist du verrückt? Denkst du echt, ich liefere meinen eigenen Vater an die Klinge?“ Wir schauten alle Drei Nils fassungslos an und Nils murrte: „Ich hab die Aussage verweigert“, hinterher.

Alles gute Zureden und Widersprechen von Sophie, Basti und mir half da nichts. Zumindest an diesem Vormittag beharrte Nils auf seinem Entschluss. Auch wenn ihm Frau Zittlau am Vortag klar gemacht hatte, dass das bei einem Sorgerechtsprozess seinen Stand erschweren könnte, falls es seine Eltern darauf anlegten, Nils zurückzubekommen.

Nils erzählte dann weiter, wie er am Ende von Frau Zittlau nach Gomadingen, einer Nachbargemeinde von Münsingen, gefahren wurde, wo die Jugendamtsgewitterziege, die gar nicht so zickig war, Bereitschaftspflegeeltern für Nils klar gemacht hatte. Dort sollte er so lange leben, bis der endgültige Verbleib von Nils geklärt wäre. Bestenfalls würde es sich dabei um wenige Wochen handeln.

„Und was sind das für Typen?“, fragte Basti.

Nils verzog nachdenklich das Gesicht: „So richtig kann ich die nicht einschätzen. Die Schirmachers sind auch beide schon über 60. Die sind in der Vergangenheit schon drei mal fürs Jugendamt als Bereitschaftspflegeeltern eingesprungen. Aber bisher immer bei kleinen Kindern. Ich hatte den Eindruck, die hatten gestern auch die Hosen voll, als sie einen verzogenen 16jährigen Problem-Jugendlichen ins Haus gesteckt bekommen haben.“ Nils machte eine dramaturgische Pause, wo er sich zu uns allen dreien umschaute und sichtlich erwartete, dass ihm jemand widersprach. Aber als das nicht geschah, sondern Sophie, Basti und ich nur grinsten, rollte er mit den Augen und erzählte weiter. „Bis jetzt ist es zumindest gut gelaufen. Auch wenn es mir komisch vorkommt, sie Gerd und Erika zu nennen, so wie sie es wollen. Dafür sind sie mir noch zu fremd.“

Ich musste lachen: „Nenn sie doch einfach Mama und Papa, wenn du später heim kommst. Was meinst du, wie die dann gucken.“

Nils schaute mich einen Moment mit großen Augen an, dann fiel er gemeinsam mit Sophie und Basti in mein Lachen ein.

„Ach ja, Miguel... Das hab ich dir noch gar nicht gesagt... Wir wollen dich und deine Eltern morgen Abend zum Essen einladen. Damit die Schirmachers euch kennen lernen. Denkst du, ihr könnt euch das einrichten?“

„Ich denke schon“, antwortete ich und gab mir nicht die geringste Mühe, meine Freude zu verbergen.

Inzwischen war ich ganz froh, dass Basti und Sophie uns aufgespürt hatten. Denn ich hatte einiges Neues erfahren. Gerne hätte ich Nils noch weiter mit Fragen gelöchert, aber leise war vom Schulgebäude her das Läuten zu hören.

„Auf. Wir müssen reingehen“, murrte Sophie und wir richteten uns auf.

Ich wollte ihr und Nils folgen, aber Basti hielt mich an der Schulter fest. Ich blickte ihn überrascht an, aber Basti lächelte frech: „Du kannst mich nicht leiden. Stimmt's?“

„Quatsch.“ Ich atmete tief durch. „Okay, Basti. Mit deiner ganzen Art hab ich mir bis gestern immer schwer getan. Mit deinem prolligen Gelaber und den ständigen Titten-Sprüchen. Ich hab echt gedacht, du wärst der Erste, der mir das Leben schwer machen würde, wenn herauskommt, dass ich schwul bin. Bis vor Kurzem hab ich dich für ein Arschloch gehalten“, sagte ich und schmunzelte Basti entschuldigend an.

„Das 'Bis vor Kurzem' fasse ich mal als Kompliment auf“, lachte Basti und wurde dann ernst: „Hör zu, Miguel. Meine Sprüche sind vielleicht nicht immer die Schlausten. Aber du kannst mir glauben, dass ich nichts gegen Schwule habe. Jeder soll die Chance haben, glücklich zu werden, genau so wie er ist. Das ist meine Überzeugung. “

„Klingt gut“, sagte ich und war sogar ein bisschen gerührt.

„Du und Nils. Ihr seid zwei klasse Typen.“ Basti streckte mir etwas theatralisch seine Hand entgegen. „Freunde?“

„Freunde.“ Ich schlug ein und musste mir sogar eine kleine Träne verdrücken, als mir Basti freundschaftlich einen Arm um die Schulter legte.

„Dann wäre das ja geklärt, Miguel. Und übrigens... Du spielst doch auch Fußball. Ich treffe mich jeden Montag mit ein paar Kumpels und meinem Bruder am Gummi-Platz zum Kicken und wir machen auch ab und zu bei Freizeit-Turnieren mit. Wenn du Bock hast – schau einfach vorbei.“

Ich strahlte über das ganze Gesicht, denn nach meinem Coming Out hatte ich das Vorhaben, die TSG Münsingen zu unterwandern (wie ich es vor einer gefühlten Ewigkeit und einer tatsächlichen Woche zu Nils gesagt hatte) aufgegeben.

„Klar. Ich bin nächsten Montag dabei“, sagte ich, ohne zu ahnen, damit neuem Unheil Tür und Tor zu öffnen.

„Okay. Dann lass uns reingehen.“

Nils und Sophie waren schon um die nächste Ecke gebogen und außer Sichtweite, nachdem Basti und ich unseren einminütigen Friedensgipfel beendet hatten. Als ich ins Klassenzimmer kam, wo sich unsere Klasse nach und nach sammelte und die Sachen für die vierte Stunde richtete, saß Nils schon an seinem Platz und tippte auf seinem Smartphone.

„Mit wem schreibst du da?“, fragte ich beiläufig, als ich mich setzte.

„Mit Torsten. Meinem Bruder“, lächelte Nils unbedarft, aber ich konnte es kaum fassen.

„Ist das dein Ernst? Vor ein paar Tagen hast du mir noch erzählt, wie schrecklich das wäre, wenn Torsten oder deine Eltern rausbekommen, dass du schwul und mit mir zusammen bist? Und jetzt schreibst du Whatsapp-Nachrichten mit ihm?“

Nils grinste über mein Temperament: „Jaaa. Aber er scheint es locker zu nehmen.“

Ich schüttelte mit dem Kopf: „Das kann doch auch eine Falle sein.“

„So ist Torsten nicht drauf. Aber keine Sorge, der Herr... Ich werde mich an das halten, was mir die Jugendamts-Zittlau empfohlen hat. Ich verrate ihm nicht, wo ich jetzt wohne und nicht mal, ob ich noch hier zur Schule gehe. Ich lasse ihn einfach wissen, dass es mir gut geht.“

„Hoffentlich hältst du dich auch wirklich dran.“ Ich lächelte Nils verlegen an. „Nach allem, was ich von Sophie über Torsten gehört habe, hab ich ehrlich gesagt Angst vor ihm.“

„Musst du nicht“, entgegnete Nils, wobei sein Gesichtsausdruck ausdrückte, dass er seine eigenen Worte nicht so recht glaubte. „Außerdem ist es vielleicht gut für uns beide, wenn ich den Kontakt zu ihm halte. Die Nazi-Szene hier auf der Alb ist ziemlich überschaubar und Torsten ist da gut vernetzt. Er könnte mich ja vorwarnen, wenn er erfährt, dass es für uns gefährlich werden könnte.“

„Klingt gut“, seufzte ich und dachte: 'Falls es nicht Torsten ist, der uns als Erster gefährlich wird.'

Die Diskussion wurde unterbrochen, als Herr Bosch reinkam und mit dem Englischunterricht loslegte.

An diesem Tag hatte ich auch noch einmal mit Sophie geredet und auch sie war der Meinung, dass Nils' naiver Kontakt zu Torsten ein Risiko sein konnte. Ich wusste zwar gar nichts über diesen Torsten, nicht einmal wie er aussah, aber Sophie beschrieb ihn als brutalen Schläger und fanatischen Kampfsportler, der in der Neonaziszene so etwas wie eine Anführer-Rolle angenommen hatte. Und auch Basti hatte schon allerhand Dinge über Torsten gehört, die mein Unbehagen nicht gerade schmälerten.

Doch als wir Nils zu dritt zur Rede stellten, ernteten wir nur ein genervtes: „Ja ja.“

Zumindest sah ich an diesem Tag und auch am folgenden Mittwoch Nils nicht mehr auf seinem Smartphone tippen. Hoffentlich hatte unsere Kritik gefruchtet.

Natürlich hatten auch Mama und Papa die Einladung der Schirmachers angenommen, obwohl Papa durch den Neueinstieg im neuen Arbeitsumfeld ein bisschen gestresst war und wahrscheinlich auch kein Problem damit gehabt hätte, den Abend auf der Coach zu verbringen. Aber als wir Mittwoch abends nach 18 Uhr auf der Landstraße zwischen Münsingen und Gomadingen fuhren, sorgte die allgemeine Neugier für eine gute Stimmung. Und so standen wir um halb Sieben am Abend gut gelaunt zu dritt auf der Fußmatte eines schönen Einfamilienhauses mit einem Vorgarten, der geschmackvoll rustikal wirkte und auf eine gewollte Weise leicht verwildert war. Ein spannender Kontrast zu all den auf Hochglanz getrimmten Gärten drumherum. Und es roch hier auch nach gutem Essen.

Als Papa an der Haustür klingelte, die schattig unter einem Vordach war, waren von innen auch schon nach wenigen Sekunden Schritte zu hören, ehe uns die Tür geöffnet wurde. Es war eine herzliche Begrüßung eines nett wirkenden älteren Ehepaars. Frau Schirmacher, eine schlanke Frau, die einen halben Kopf größer war als ihr Mann, strahlte uns aus einnehmenden Augen hinter ihrer vergoldeten Brille an: „Guten Abend, Herr und Frau Garcia... Miguel... Nach allem, was ich gehört habe, war ich schon gespannt darauf, dich kennenzulernen.“

Nachdem sie meinen Eltern die Hand geschüttelt hatte, streichelte Frau Schirmacher mir liebevoll durchs Haar, wie man das eher bei einem kleinen Kind macht. Ich warf Nils, der neben Herr Schirmacher stand, mit schlecht unterdrücktem Lachen auf meinen Lippen einen fragenden Blick zu. Nils, der in seinem Poloshirt und den zurückgekämmten Haaren ein bisschen wie ein Musterschüler dastand, antwortete breit grinsend mit einem angedeuteten Schulterzucken.

Zum Glück wurde ich von Herr Schirmacher nicht so emotional begrüßt. Er schien zurückhaltender zu sein als seine Frau, aber auch er machte einen netten Eindruck. Nachdem die Begrüßungszeremonie beendet war und auch meine Eltern Nils meiner Meinung nach übertrieben geherzt hatten (ich vermutete, dass da auch ein bisschen Konkurrenzdenken wegen der Sorgerechtsfrage um Nils mit drin steckte), konnten wir endlich rein gehen und wir wurden an einen gedeckten Esstisch geführt.

„Hier riecht es aber gut“, sagte meine Mutter, als wir uns setzten. Teils wohl, um das Eis zu brechen, aber auch, weil es wirklich stimmte.

Ehe Herr oder Frau Schirmacher antworten konnten, erwiderte Nils schon mit leuchtenden Augen: „Erika und ich haben gemeinsam gekocht. Es gibt mediterran gefülltes Rinderfilet mit selbst gemachter Pasta.“

Nils' Begeisterung ließ erkennen, dass es für ihn eine ganz neue Erfahrung war, etwas zuzubereiten, was nicht aus der Tüte oder fertig aus dem Tiefkühlfach kam und meine Eltern und ich ließen uns davon anstecken.

„Da bin ich mal gespannt. Pasta al a Nils...“, witzelte Papa und Nils' Lächeln wurde noch breiter.

„Dann wollen wir unsere Gäste aber auch nicht länger warten lassen. Kommst du mit in die Küche, Nils?“

„Klar.“

Das ganze Gebaren wirkte in diesen ersten Minuten zwar noch sehr gekünstelt, aber das war wohl in solchen Momenten auch nicht zu vermeiden. Mein Eindruck von den Schirmachers war zumindest ein Guter. Nils wirkte wie ausgetauscht.

Als dann Nils mit Frau Schirmacher in die Küche verschwand, bekam das aufkommende Gespräch einen kleinen Knacks. Es war auszumachen, dass Herr Schirmacher nicht so ein guter Smalltalker war, wie seine Frau. Als er in den ersten Sekunden unruhig mit dem Hintern auf dem Stuhl hin und her rutschte, versuchte Papa die Wartezeit mit einem kleinen Gespräch zu überbrücken.

„Und? Hat sich Nils schon eingelebt?“

„Ja. Nils ist ein toller Junge, der nur in die richtige Richtung geschoben werden muss. Aber das wird uns schon gelingen.“

„Er wird ja auch nur für ein paar Wochen bei Ihnen bleiben“, fügte Mama an und Herr Schirmacher zuckte mit den Schultern.

Ich hielt mich zwar bedeckt und überließ es meinen Eltern, mit Herr Schirmacher zu reden, aber innerlich war ich aus dem Häuschen. Nach all den Befürchtungen, die wir gehabt hatten, schien es Nils jetzt wirklich gut erwischt zu haben. Er konnte hier richtig aufblühen und schon bald würde er dann zu uns kommen, wenn das Jugendamt und das Gericht mitspielten.

Wenig später kamen Nils und Frau Schirmacher aus der Küche zurück. Frau Schirmacher mit einer großen Pastaschüssel und Nils, dessen Hände in Küchenhandschuhen steckten, mit dem Gartopf, in dem der Braten war. Dampf kam aus beiden Behältnissen und verströmte einen Duft, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Während des Essens wurden die Gespräche auch ungezwungener. Wir erfuhren, dass die Schirmachers mittlerweile zwar beide in Pension waren (was mir Nils ja schon erzählt hatte), aber sie waren beide in der Jugendarbeit engagiert. „Den Nachwuchs in die richtigen Bahnen lenken“, wie es Herr Schirmacher nannte.

„Ich finde es wirklich toll, wie motiviert Sie in Ihrem Alter noch sind“, lobte mein Vater unsere Gastgeber und verzog im nächsten Moment das Gesicht. Ich vermutete, dass ihm Mama unter dem Tisch auf den Fuß getreten hatte, weil sie im Gegensatz zu ihm den Fettnapf bemerkt hatte.

Aber Herr Schirmacher überhörte das zweifelhafte Kompliment wohlwollend: „Ja. Man bleibt selbst jung im Kopf, wenn man sich mit der Jugend abgibt. Und... ähm... Nils und Miguel sind also... ähm...“

Das Gestotter war zwar an meine Eltern gerichtet, aber nach den letzten zwei Tagen fiel es mir gar nicht mehr schwer, meine Liebe zuzugeben: „Ja. Nils und ich sind zusammen.“

Nils nickte und die Schirmachers tauschten einen Blick aus, der 'Fängst du an oder soll ich?' ausdrückte.

Am Ende war es der eher mundfaule Herr Schirmacher, an Papa gewendet: „Und was halten Sie davon?“

„Ich find's gut“, antwortete mein Vater knapp genug, um durchzustecken, dass er sich noch nicht so richtig an diese Tatsache gewöhnt hatte.

Herr Schirmacher lächelte sanft: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich mit dem Gedanken schwer tun. Niemals Enkelkinder bekommen, das Gerede der Nachbarn, das Wissen, dass mein Sohn sich verirrt hat...“

„Und worauf wollen Sie hinaus, Herr Schirmacher?“, raunzte Papa ihn an. Seine Dünnhäutigkeit verriet, dass Herr Schirmacher einen wunden Punkt getroffen hatte.

„Nils und Miguel sind zwei großartige Jungs. Da sollten wir doch zusammenhalten, dass sie wieder zurück auf den rechten Weg kommen. Niemand will, dass sie homosexuell sind. Sie und Ihre Frau nicht, wir nicht und die Beiden auch nicht. Stimmt doch. Oder?“

Die letzte Frage war zwar an Nils und mich gerichtet, aber wir waren zu baff, um darauf zu antworten. Mama holte Atem, um ihrem Ärger Luft zu verschaffen, aber Papa war schneller: „Man kann sich seine Sexualität nicht aussuchen. Wir werden Miguel und Nils auf jeden Fall so akzeptieren wie sie sind und ihnen helfen, starke Persönlichkeiten zu werden.“

„Homosexualität ist aber keine Sexualität, sondern eine Verirrung. Und da kann man einen Menschen schon befreien“, fiel Frau Schirmacher meinem Vater ins Wort. „Wir werden Nils zumindest dabei helfen. Und Sie sollten dasselbe auch mit Miguel machen. Wir könnten Sie dabei beraten. Miguel und Nils müssen zu allererst verstehen, dass es zwischen Mann und Mann keine Liebe gibt. Das geht rein von der Logik her gar nicht.“

Jetzt kam endlich auch mal Mama zu Wort. Überraschend ruhig: „Solche Sprüche haben wir schon einmal gehört. Oder Fernando?“ Sie schaute Papa an, der zustimmend nickte, ehe sie weiter redete. „Sie müssen wissen, dass meine Familie aus Andalusien stammt und Fernandos Familie aus Tornabous, einem kleinen Dorf in Katalonien. Nachdem wir uns beim Studieren in Madrid kennen und lieben gelernt hatten, war Fernando in meiner Familie zwar von Anfang an willkommen, aber umgekehrt ging es gar nicht. Fernandos Familie hat mich gehasst. Es war unvorstellbar, dass er eine Südspanierin liebte und das hat uns seine Familie spüren lassen.“ Mama seufzte und auch Papa war anzusehen, dass ihn die Erinnerung an diese Zeiten nicht kalt ließ.

Nun redete Papa weiter: „Damals wurden Wunden gerissen, die bis heute nicht verheilt sind. Zu meinen Eltern und meinen Geschwistern habe ich kaum noch Kontakt. Das Tischtuch ist zerschnitten.“

„Jaaa. Aaaber...“, wollte Frau Schirmacher einwenden, als Papa für drei, vier Sekunden nicht weiter redete, aber dann fiel er ihr ins Wort: „Ich und meine Frau wollen nicht denselben Fehler mit Miguel machen. Miguel soll glücklich werden, genau so wie er ist. Und Nils auch. Dabei werden wir die Zwei immer unterstützen.“

Es herrschte ein betretenes Schweigen am Tisch, dann räusperte sich Herr Schirmacher: „Na gut. Ich glaube, wir kommen so nicht weiter. Nils hat mir erzählt, dass du Fußball spielst, Miguel?“

Die angefangene Diskussion über Homosexualität wurde an diesem Abend zwar im weiteren Verlauf totgeschwiegen und die Gespräche drehten sich um Belangloses, aber die Stimmung blieb im Keller. Trotz des ersten guten Eindrucks, den ich von den Schirmachers hatte, war ich zwar einerseits froh, als das Essen fertig war und wir endlich nach Hause gehen konnte, aber andererseits tat es mir weh, Nils zurückzulassen.

An der Haustür, als nette Grüße ausgetauscht wurden, die wohl niemand so richtig ernst meinte und wir schon im Begriff waren zu gehen, drückte Nils mir noch einen nassen Schmatzer halb auf die Wange, halb auf die Lippen: „Bis morgen, Mausi. Ich liebe dich.“

Ich verdrückte mir gekonnt mein Lachen, denn eine solche Theatralik war gar nicht Nils' Art und es war klar, dass Nils das hauptsächlich tat, um seine Pflegeeltern zu ärgern.

„Bis morgen, Spatz“, schmachtete ich gespielt kitschig und küsste Nils ebenfalls direkt auf den Mund. Die Blicke der Schirmachers sprachen Bände, dann verließ ich mit meinen Eltern das Haus, und die Tür ging hinter uns zu.

„Spatz und Mausi?“, fragte Papa ironisch und kniff mir beim Gehen in den Nacken.

„Man muss es ja den Schirmachers nicht zu leicht machen“, scherzte ich zurück.

Auf der Rückfahrt war es für unsere Verhältnisse relativ still im Auto, ehe Mama Papa fragte: „Und was meinst du zu denen?“

„Der Nils tut mir echt leid“, knurrte Papa. „Von den Hitlers zu den Mormonen.“

Jetzt lachte Mama: „Dummschwätzer. So sektenmäßig kommen mir die Schirmachers jetzt auch nicht vor. Die sind eben eine andere Generation und wahrscheinlich konservativ erzogen. Mit denen kommt Nils schon klar. Wichtig ist, dass er jetzt erst mal zur Ruhe kommt und das wird er bei den Schirmachers bestimmt schaffen. Und in ein paar Wochen haben wir ihn sowieso bei uns.“

„Na hoffentlich“, murrte mein Vater. Für diese zwei Worte hätte ich ihn umarmen können.


Auch am folgenden Morgen ging mein Herz auf, als ich zur Schule ging. Denn Nils stand wieder an der üblichen Stelle, um auf mich zu warten. An diesem Morgen staunte ich nicht schlecht. Denn Nils hatte ein Fahrrad bei sich, das er beim Warten lässig an seinen Körper gelehnt hatte.

Ich tippte mit der Fußspitze gegen den Vorderreifen, als ich bei ihm angekommen war: „Ich wusste gar nicht, dass du Fahrrad fahren kannst.“

„Sehr witzig. Gerd hat mir sein Rad geliehen, damit ich zur Schule fahren kann. Auf den Bus hab ich keinen Bock. Gerade bei dem Wetter.“

„Respekt“, lobte ich Nils und nahm mir vor, mein Rad auch endlich mal aus dem Keller zu holen. Dann wechselte ich das Thema. „Aber das war schon ein seltsamer Auftritt von deinen Pflegeeltern gestern. Du hast mir gar nicht gesagt, dass die so homophob sind.“

„Hat mich auch überrascht. Vorher hatten sie das Thema nicht einmal angesprochen und auf einmal haben sie so 'ne Show abgezogen.“ Nils schüttelte ratlos mit dem Kopf, während er begann, sein Rad Richtung Schule zu schieben und ich neben ihm her ging.

„Haben sie dann gestern noch etwas darüber gesagt?“

Nils lachte trocken: „Oh ja. Ich habe erfahren, dass ich nicht in den Himmel komme, wenn ich mit dir zusammen bleibe.“ Nils sprach jetzt überzogen hochtrabend weiter: „Du sollst nämlich nicht bei einem Manne liegen, wie bei einer Frau. Das ist ein Gräuel. Steht schon in der Bibel.“

„Oh. Und du willst doch sicher in den Himmel kommen“, lästerte ich mit.

„Bei meiner Vergangenheit kann ich das sowieso vergessen. Also... Ich glaube, wir haben uns heute noch gar nicht geküsst.“ Nils hielt sein Fahrrad an, damit wir unser Versäumnis nachholen konnten. Und zwar ausgiebig. Als wir damit fertig waren, blickte Nils mich aus seinen tollen braunen Augen liebevoll an: „Erika hat gesagt, es wäre zwar okay, wenn du uns besuchst, aber ich soll nicht mehr zu euch gehen. Ihr hättet einen schlechten Einfluss auf mich.“

„Was für eine alte Fotze“, motzte ich. „Und hältst du dich dran?“

Nils legte altklug die Stirn in Falten: „Hör mal... Bis vor ein paar Tagen bin ich noch bei meinem prügelnden Vater ausgebüxt, wenn mir danach war. Glaubst du, ich lass mich da von zwei überforderten Rentner-Lehrern stoppen? Also bitte.“

„Sagt der Problem-Jugendliche“, warf ich lachend ein und Nils lachte mit.

„Oh ja. Ich bin unzähmbar.“

„So gefällst du mir. Jetzt müssen wir uns aber beeilen. Wir haben schon viel zu viel Zeit vertrödelt.“

„Dann schwing dich hinten drauf.“

Das tat ich. Ich setzte mich auf den Gepäckträger und dann sausten wir laut lachend auf dem Alte-Herren-Rad die Hauff-Straße entlang zur Schule, wobei ich natürlich gar keine Hemmungen hatte, meine Arme um Nils' Hüfte zu schlingen.

Die gute Stimmung bekam aber gleich einen Dämpfer, als wir zu den Fahrradständern am Rand der Schule einbogen.

„Hey schaut mal. Ist das ein Schwulentandem?“, lästerte ein Siebt- oder Achtklässler, als wir gemeinsam auf dem Rad anrollten.

„Hehehe. Die haben bestimmt den Sattel abgeschraubt, damit das Rohr schön reinrutscht.“

„Ich schieb dir gleich...“, wollte Nils zurück blaffen, aber ich kniff ihn während dem Absteigen in den Ellbogen: „Lass dich nicht provozieren.“

Nils warf mir einen beleidigten Blick zu, während er das Vorderrad am Radhalter verschloss: „Ich lass mich doch von so einem Knilch nicht verarschen.“

„Ja. Aber wegen so armen Würstchen reibe ich mich auch nicht auf“, sagte ich laut genug, dass es die Stänkerer hörten. Es fiel mir zwar selbst schwer, das locker klingen zu lassen, trotzdem fand ich es auf Dauer am besten, cool zu bleiben.

„Stimmt. Die schlimmsten Lästerer stehen bekanntlich selbst auf Jungs“, antwortete Nils auch hörbar für die anderen, weil er meinen Plan wohl kapiert hatte und schaffte es tatsächlich, unter den Jüngeren ein beleidigtes Getuschel hervorzurufen.

Während des zweiminütigen Wegs vom Fahrradständer zum Eingang der Schule hatten wir Gelegenheit, unsere neue Taktik zu üben. Denn wieder waren die Blicke der Mitschüler auf uns gerichtet. Als wohl erstes offizielles Schwulenpaar in der Geschichte unserer Schule waren wir immer noch die große Sensation und nicht alle waren uns wohlgesonnen. Auch die Türken, die Nils schon früher gehasst hatten, klopften wieder ihre Sprüche.

„Hey Schwuchteln! Habt ihr schon gefickt? Ich rieche doch die Scheiße, die euch am Schwanz klebt“, kam es auch aus dieser Ecke, so wie wir es erwartet hatten und von allen Seiten wurde hämisch gelacht.

Wir sparten es uns zwar, zurück zu motzen, aber dafür gingen wir mit geschauspielertem selbstbewusstem Lächeln und weniger geduckt, als an den beiden Tagen zuvor, zwischen den Schülern hindurch. In Wirklichkeit taten die Anfeindungen unheimlich weh. Aber in diesen Momenten war ich dankbar, dass ich Nils bei mir hatte und diese Lektion nicht alleine durchstehen musste. Zu zweit war es dann doch ein ganzes Stück erträglicher. Trotzdem war ich erleichtert, als wir im Vorraum der Schule auf Sophie und Basti stießen, die mit einer Gruppe anderer Klassenkameraden im Halbkreis standen und quatschten. Nils und ich stellten uns dazu.

Von einem Moment auf den Anderen war die Anspannung, die mich wie eine geballte Faust umschlossen hatte, weggesprengt.

„Na, ihr Zwei? Alles fit?“, fragte Basti und Nils und ich nickten.

Der Schultag offenbarte während der nächsten Tage die seltsamen Kontraste meines neuen Lebens besser, als an den beiden Tage zuvor, weil ich inzwischen sortiert genug im Kopf war, um unsere Außenwirkung zu realisieren. In unserer Klasse fühlte ich mich auf einmal sogar wohler, als vor dem Coming Out. Es kristallisierte sich nämlich mehr und mehr heraus, dass die Klasse zu Nils und mir halten würde. Ich war nun nicht mehr der unsichtbare Neue und Nils war nicht mehr der Nazi, der ungefragt seine abstrusen Verschwörungs- und Rassentheorien verbreitete, sondern auf einmal waren wir beliebt. Wir waren interessant geworden und wurden so akzeptiert, wie wir waren. Es hatte sich herumgesprochen, was wir uns gegen alle Widerstände aufgebaut hatten und die Klassenkameraden respektierten das. Und wir wurden für den Samstag sogar auf die Geburtstagsparty von Laura eingeladen. Das Mädchen, das mich an meinem ersten Tag gleich bei meiner Vorstellung angemacht hatte und von Nils dafür angepflaumt worden war. Ich fand es zwar seltsam, weil bei Weitem nicht alle Klassenkameraden eingeladen waren und ich mit Laura zwar immer ganz ordentlich ausgekommen war, aber wir keine besondere Freundschaft hatten (Laura war mir auch ein bisschen zu versnobt). Doch natürlich freuten wir uns darüber.

Außerhalb unseres Klassenzimmers war die Stimmung dagegen distanziert, manchmal sogar feindselig. Leute gingen uns aus dem Weg, lästerten hinter unseren Rücken oder beleidigten uns ganz offen. Das waren zwar alles nur Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was Nils schon in seiner eigenen Familie erlebt hatte. Aber uns wurde von Tag zu Tag mehr bewusst, dass unser Leben als geoutete Schwule kein Zuckerschlecken werden würde. Wahrscheinlich mussten wir uns von Tag zu Tag neu durchsetzen. Gerade wegen der Kraft, die ich aus dem Zuspruch meiner Eltern ziehen konnte, mit denen ich über diese Geschehnisse redete, tat es mir weh, dass Nils bei seinen Pflegeeltern diesen Rückhalt nicht erfuhr. Darum hoffte ich umso mehr, ihn bald bei uns in der Familie zu haben.

Als ich mich am Donnerstag nach der Schule und dem Mittagessen auf mein Fahrrad schwang, das ich noch am Vorabend gemeinsam mit Papa wieder auf Vordermann gebracht hatte, um zu Nils und seinen Pflegeeltern nach Gomadingen zu fahren, hatte ich mit meinen Eltern noch nicht darüber geredet, dass es Nils verboten worden war, zu uns zu kommen. Ich hoffte, dass seine Pflegeeltern noch mit sich reden ließen und wollte deshalb vorerst kein Öl ins Feuer gießen. Die knapp zehn Kilometer lange Fahrt, die ich auf Tipp von Nils absichtlich abseits der Landstraße auf Feldwegen zurücklegte, machte mir mehr Spaß, als ich es erwartet hatte. Die grüne Hügellandschaft und die frische Luft waren wundervoll. Der Weg führte mich zwischen saftigen Wiesen hindurch mit fantastischen Fernblicken, dann wieder am Rand eines kleinen Wäldchens vorbei und zwischen Aussiedlerhöfen mit weidenden Kühen hindurch. Nun erkannte ich selbst, warum Nils lieber mit dem Fahrrad, als mit dem Bus zur Schule fuhr. Ich hatte das Gefühl, diese Strecke jeden Tag fahren zu wollen.

Das Fahrrad stellte ich dann in der Hofeinfahrt der Schirmachers ab und als ich auf den Klingelknopf drückte, hatte ich tatsächlich ein nervöses Grummeln im Bauch. Ich war unsicher, wie Nils' Pflegeeltern auf mich reagieren würden und ermahnte mich in Gedanken, nicht einzuknicken, wenn es darauf ankam.

Entgegen aller Befürchtungen war der Empfang gut als ich kam. Frau Schirmacher, die heute mit einem Pullover und einer zu weiten Stoffhose bei weitem nicht so elegant angezogen war, wie bei dem Besuch meiner Eltern, empfing mich aber fast so überschwänglich, wie zwei Tage zuvor.

„Oh. Hallo Miguel. Schön, dass du gekommen bist.“

„Danke“, sagte ich etwas überrumpelt und lächelte sie an.

„Nils ist in seinem Zimmer.“ Sie drehte den Kopf nach hinten. „Niiiihiiiiils!!!“, und wendete sich wieder mir zu. „Komm doch rein.“

Im Flur, als ich an der offenen Tür zum Wohnzimmer vorbei kam, erhaschte ich auch einen Blick auf Herrn Schirmacher, der einen braunen Pollunder über einem Hemd trug und der mir über seine Lesebrille hinweg freundlich zunickte. Sekunden später kam Nils aus einer der weiteren Türen im Verlauf des Flurs heraus, was wohl sein Zimmer war. Auch er war im Freizeit-Modus und trug einen Jogginganzug und weiße Tennissocken.

Sofort lächelten wir uns an.

„Kommt doch mit ins Wohnzimmer. Ich hab frischen Zwetschgenkuchen“, schlug Frau Schirmacher vor.

Aber Nils wiegelte ab: „Nee. Wir gehen jetzt erstmal in mein Zimmer, Hausaufgaben machen. Wir kommen dann später vielleicht.“

Frau Schirmacher schluckte trocken: „Hmh. Okay.“

„Und bleibt sauber“, gab uns Herr Schirmacher mit auf den Weg. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich es als einen Spaß verstanden.

Auf den paar Schritten, bis wir Nils' Zimmertür hinter uns geschlossen hatten, war ich echt verwundert, nach allem, was mir Nils über seine Pflegeeltern und deren Einstellung zu unserer schwulen Beziehung erzählt hatte. Die zwei, drei Minuten von eben erweckten den Eindruck einer Bilderbuchfamilie. Ich wollte Nils darauf ansprechen, aber sobald er die Tür hinter uns geschlossen hatte, legte Nils seine Hände an meine Wangen und schaute mich mit seinem belustigt-verträumten Blick an, den ich in solchen Situationen liebte.

„Schön, dass du gekommen bist.“

„Ich bin...“

Schon lagen Nils' Lippen auf meinen und seine Zunge streichelte sich durch meine Mundhöhle. Ach, wie ich diese Küsse liebte. Wir kosteten das Zungenspiel mehr als eine Minute aus, dann entfernten sich unsere Gesichter voneinander und Nils belohnte mich wieder mit seinem Schmacht-Blick: „So. Jetzt darfst du weiter reden.“

„Hab vergessen, was ich sagen wollte“, gab ich kleinlaut zu. „Ahja... Deine Pflegeeltern waren ja ziemlich locker drauf.“

„Stimmt. Heute gab's auch noch keine Gardinenpredigt darüber, wer wen lieben darf. Vielleicht haben sie ja eingesehen, dass sie nicht weiter kommen.“

„Wäre wünschenswert“, entgegnete ich. „Machen wir jetzt die Hausaufgaben?“

„Lass uns erst noch ein bisschen kuscheln“, schmollte Nils.

„Dürfen wir das?“

„Das ist mein Reich. Hier ist jede Zucht und jede Unzucht erlaubt.“

„Na denn.“

Wir blieben nun doch ganz züchtig und behielten unsere Kleidung an, als wir uns auf das schmale Bett legten, das wohl, wenn das Jugendamt nicht gerade einen Problem-Jugendlichen ins Haus steckte, als Gästebett in einem Gästezimmer fungierte. Es reichte uns, uns aneinander zu drücken, zu küssen und uns die Hände unter die Sweatshirts zu schieben, um unsere Oberkörper zu ertasten. Und trotzdem war es schön. Wir waren gerade so richtig in Fahrt gekommen, als die Tür aufgerissen wurde. Frau Schirmacher hatte zwar einen Teller mit zwei Kuchenstücken darauf in der Hand, aber die Tatsache, dass hinter ihr Herr Schirmacher stand, ließ die Störung eher als Razzia erscheinen und der Kuchen diente wohl nur als Vorwand.

Nils und ich schauten eher genervt als erschrocken zu seinen Pflegeeltern, als wir uns schwerfällig aufrichteten.

„Ihr könnt doch wenigstens anklopfen“, nörgelte Nils dabei.

„Ähm ja... Entschuldigung“, stotterte Frau Schirmacher. Aber statt uns in Ruhe weiter machen zu lassen, trat sie ein und ihr Mann folgte ihr mit einem zaghaften Blick. „Wir müssen mit euch reden.“

Nils und ich setzten uns auf die Bettkante, Frau Schirmacher zog sich Nils' Schreibtischstuhl zurecht, auf dem sie sich uns gegenüber setzte und Herr Schirmacher blieb stehen und lehnte sich mit dem Hintern an Nils' Schreibtisch.

„Also?“ fragte Nils sauer, nahm sich ein Stück Zwetschgenkuchen und gab den Teller an mich weiter.

„Na gut... Miguel... Nils... Ihr wisst doch inzwischen, wie wir zu eurer... Neigung... stehen. Mein Mann und ich finden das nicht gut, dass ihr solche Dinge hier unter unserem Dach tut.“ Nils' Pflegemutter nickte uns auf eine mütterliche Weise an, dass ich ihr trotz der aufkommenden Wut in meinem Bauch nicht so richtig böse sein konnte. Herr Schirmacher sah dagegen so aus, als ob er lieber im Wohnzimmer sitzen würde, als dieses Gespräch zu führen.

„Damit müsst ihr euch aber abfinden. Wir lieben uns und das wisst ihr.“ Nils legte mir einen Arm um die Schulter und Frau Schirmacher verzog daraufhin das Gesicht.

„Das stimmt nicht, Nils. Ihr liebt euch nicht. Liebe ist dem Mann und der Frau vorbehalten. Ihr habt euch bestimmt gern. Ihr habt euch vielleicht sogar sehr gern. Aber man kann sich auch gern haben, ohne sich zu berühren und zu küssen.“

„Ihr könnt MICH jetzt alle mal gern haben“, murrte Nils, nahm mich an der Hand und stand auf.

„Wo wollt ihr hin?“

„Raus. Wenn wir das im Haus nicht machen dürfen, knutschen wir eben draußen auf der Straße. Viel Spaß dabei, wenn ihr es den Nachbarn erklärt.“

Nils zog mich zur Tür und ich biss noch mal in den Kuchen, der wirklich lecker schmeckte, ehe ich ihn zurück auf den Teller legte und krallte mir meine Schuhe.

„Nils. Bleib doch vernünftig.“

Aber Nils blieb stur. Er zog mich an Herrn Schirmacher vorbei, der auf den Boden schaute und so tat, als ob er mit all dem nichts zu tun hätte und unter einem aufgebrachten: „Ihr bleibt hier!!!“, das uns Frau Schirmacher hinterher rief, verließen wir das Zimmer und das Haus.

„Wollen wir jetzt wirklich hier auf der Straße knutschen?“, fragte ich Nils, als wir in der Hofeinfahrt standen.

„Quatsch. Das war doch nur so gesagt, um Gerd und Erika zu erziehen. Dafür hat mich das Jugendamt immerhin hergeschickt.“ Nils grinste verschmitzt. „Oder hab ich da etwas falsch verstanden?“

Ich musste lachen: „Nee. Genauso sehe ich das auch. Und was machen wir jetzt?“

„Wie wär's wenn wir aus dem Kaff raus gehen und uns ein schönes Plätzchen suchen?“

Ich hatte nichts einzuwenden. Nils schnappte sich das Fahrrad, das ihm Herr Schirmacher geborgt hatte und nebeneinander her radelnd verließen wir Gomadingen. Auf einer der vielen Wiesen fanden wir unser Plätzchen. Wir schoben die Räder ein Stück über das Gras, lehnten uns aneinander und genossen den herrlichen Ausblick über Münsingen, Gomadingen und andere Dörfer. Auch hier behielten wir unsere Kleidung an, denn für ein Schäferstündchen in der freien Natur war es uns schlicht und einfach zu kühl, aber trotzdem machten wir es uns schön. Nils und ich verbrachten mehr als zwei Stunden damit, zu kuscheln, zu träumen und unsere Liebe zu zelebrieren.

Gegen 17 Uhr war es dann Nils, der zum Aufbruch drängte: „Für mich wird’s dann langsam Zeit. Ich hab Erika versprochen, ihr beim Abendessen zubereiten zu helfen.“

„Aha. Und das ist dir also wichtiger, als ich?“, schmollte ich gespielt empört.

„Sie kocht halt so gut. Und ich will das auch lernen“, redete sich Nils heraus. „Und außerdem... Du hast ja gehört, dass es Liebe nur zwischen Mann und Frau geben kann. Also werde ich mich jetzt an Erika ranmachen. Gerd wird sich noch umgucken, wenn ich sie ihm ausspanne.“

Lachend boxte ich Nils an den Oberarm: „Depp.“

Nils rieb sich schmunzelnd die Stelle an die ich ihn geboxt hatte: „Du bist doch nur neidisch.“

„Na klar.“

Wir nahmen uns noch Zeit, uns für unsere Liebe würdig zu verabschieden, aber dann trennten sich unsere Wege. So richtig glücklich war ich immer noch nicht, Nils zu seinen Pflegeeltern zurückzulassen. Aber mit denen würde Nils schon fertig werden. Da war ich mir sicher.

Als ich nach Hause kam, hatten meine Eltern einen überraschenden Besuch. Die schwarze VW Limousine vor dem Haus war mir zwar aufgefallen, aber ich hatte mir nicht viel dabei gedacht. Doch als ich hochkam, und die Wohnung betrat, saßen meine Mutter und mein Vater am Esstisch. Gemeinsam mit einer streng wirkenden Frau, die ich schon am Montag in der sechsten Stunde gesehen hatte. Frau Zittlau vom Jugendamt.

„Hallo Miguel“, sagte Papa etwas angespannt, als ich ins Zimmer kam. „Darf ich vorstellen? Frau Zittlau.“

„Sehr erfreut“, sagte die Dame, als wir uns die Hand schüttelten. „Möchtest du dich nicht zu uns setzen?“

Natürlich setzte ich mich dazu. Mama erklärte mir, dass Frau Zittlau gut fünf Minuten vor mir gekommen war. Zwischen den Zeilen hörte ich heraus, dass das unangekündigt geschehen war und meine Mutter war wohl nicht besonders glücklich darüber.

Aber Frau Zittlau blieb ihrer emotionsarmen Linie treu und schob sich ihre Brille zurecht: „Also gut. Ich fang noch mal an.“ Frau Zittlau sprach nun mich direkt an, weil meine Eltern den Einstieg wohl schon gehört hatten. „Nils' Akte ist jetzt beim Familiengericht und wir streben an, das Sorgerecht in einem Eilverfahren auf das Jugendamt übertragen zu bekommen. In zwei oder drei Wochen wird das hoffentlich zu Nils' Gunsten erledigt sein und dann stellt sich die Frage nach seinem endgültigen Verbleib.“

„Wie gesagt. Wir bieten uns dafür an“, warf mein Vater ungewohnt kleinlaut ein.

„Ja. Und deshalb bin ich heute hier, um mich zu vergewissern, dass Nils bei Ihnen gut aufgehoben ist.

Frau Zittlau fragte meine Eltern über ihre Arbeitsverhältnisse aus und wie sie sich ein Familienleben mit Nils vorstellen würden und auch mich, wie ich meine Beziehung zu meinen Eltern beschreiben würde. Das Ganze war ein heilloses Rumgestotter. Jeder von uns hatte Angst, durch einen falschen Satz alles zu versauen und Frau Zittlau ließ sich auch nicht in die Karten schauen, was sie von unseren Ausführungen hielt. Papa kam ein bisschen ins Schwimmen, als Frau Zittlau ihm klar machte, dass er sein 'Arbeitszimmer', wie er es nannte (was aber eher ein Fernsehzimmer war), für Nils räumen musste.

„Er wird doch bei mir im Zimmer einziehen“, beschwerte ich mich.

„Das wird wohl so sein. Aber was ist, wenn ihr Streit bekommt? Nils braucht sein eigenes Rückzugsgebiet.“

„Okay. Ich bin damit einverstanden“, stöhnte Papa.

„Und da wäre noch etwas...“ Nun zeigte Frau Zittlau zum ersten Mal eine Gefühlsregung, als sie mit Daumen und Zeigefinger verlegen am Brillenbügel spielte. „Frau Schirmacher hat heute Nachmittag bei mir angerufen und sich über Sie beschwert. Sie meinte, sie hätte das Gefühl, dass Ihre Erziehungsmethoden fraglich wären. Miguel würde einen verzogenen Eindruck machen.“

„Und wie hat Frau Schirmacher den verzogenen Eindruck beschrieben?“, fragte Papa mit deutlich mehr Temperament als zuvor.

„Sie wollte nicht konkret werden. Miguel wäre heute Mittag dort gewesen und war rotzfrech zu Herrn und Frau Schirmacher. Die Schirmachers haben sich dafür angeboten, auch über die Übergangsphase hinaus Nils als Pflegesohn zu behalten.“

Bevor Papa explodieren konnte, versuchte ich, die Situation aufzuklären: „Die Schirmachers haben ein Problem damit, dass Nils und ich zusammen sind. Sie sagen, dass Homosexualität unnatürlich ist und wollen Nils zwingen, heterosexuell zu werden. Das war vorhin das Problem.“

„Das ist natürlich nicht in unserem Interesse. Ich werde das überprüfen,“ sagte Frau Zittlau, richtete sich ihre Akte zusammen und stand auf.

Zu dritt brachten wir sie aus dem Esszimmer in den Flur.

An der geöffneten Wohnungstür wendete sich die Jugendamts-Dame noch einmal an meine Eltern: „Und Sie denken an Ihren Kurs?“

„Ja. Am Montag Abend sind wir in der Beratungsstelle auf der Abendschule.“

„Gut. Ich werde im Verlauf der nächsten Woche noch einmal kommen und dann können wir darüber reden.“

„Gut.“

Nachdem Frau Zittlau die Wohnung verlassen hatte, schauten wir uns alle Drei ratlos an. Von unten war nun die zugehende Haustür zu hören.

„Wie hat sie Nils genannt? Schreckschraube?“, motzte Papa.

„Gewitterziege“, berichtigte ich ihn und Papa nickte düster.

Zumindest konnte ich Papa davon abhalten, noch bei den Schirmachers anzurufen. So aufgekratzt, wie er war, wäre es keine gute Idee gewesen, den Streit weiter anzuheizen. Obwohl sich Frau Zittlau an jenem Abend nicht gerade zu meinem Lieblingsmenschen gemausert hatte, hatte ich, nach allem, was ich von Nils gehört hatte, genug Vertrauen in sie, dass sie die Lage richtig beurteilte.

Kurz vor dem Einschlafen telefonierte ich noch mal mit Nils. Er war völlig baff über die Neuigkeiten. Denn die Schirmachers waren am Abend total zahm gewesen und unser Abgang und das Thema Homosexualität war gar nicht mehr thematisiert worden.

„Zumindest weiß ich jetzt, woran ich an ihnen bin“, knurrte Nils in den Hörer.


Der Freitag verlief fast bis Schulende unspektakulär. Nils und ich waren noch ein bisschen besser darin geworden, Selbstbewusstsein vorzugaukeln, wenn wir über den Schulhof gingen, und bis zu den letzten beiden Stunden wurden wir nicht einmal beleidigt. Aber dann wurde es noch einmal blöde. Es stand nämlich Sport auf dem Programm. Den Jungs-Sportunterricht hatten wir zusammen mit den Jungs aus unserer Parallelklasse. Und während des Unterrichts verlief auch alles noch normal. Mir wurde von André aus der 10b zwar mal „Drecks-Tunte“ zugezischt, als ich ihm beim abschließenden Feldhockey-Match den Ball abknöpfte, aber auf so etwas ließ ich mich gar nicht mehr ein.

Doch zu einer kleinen Eskalation kam es in der Umkleide nach dem Unterricht. Als Nils und ich vom Umkleideraum nackt in die Sammeldusche kamen, gingen die Stänkereien wieder los. „Drückt eure Ärsche an die Wand. Die Schwuchteln kommen“, ätzte André und sofort stimmten seine Klassenkameraden in das Gemotze mit ein.

„Haut ab, Arschficker. Ich will nicht, dass ihr meinen Schwanz seht“, brüllte Serkan, woraufhin Jan, unser Klassensprecher, auf ihn los ging. Mit beiden Händen stieß er Serkan gegen die nasse Brust: „Wenn du weiter so 'nen Scheiß laberst, hau ich dir eins in die Fresse. Ich schwör's dir, Alter.“

Nils und ich schauten uns nun mit offenen Mündern mit an, wie es unter gegenseitigen Beleidigungen zu einer Schubserei zwischen über einem Dutzend nackter Jungs im Sammelduschraum unserer Schule kam und konnten kaum glauben, was wir dort sahen. Ehe die Situation aus dem Ruder geraten konnte, kam aber schon unser Sportlehrer, der seine Einzelkabine in einem Nebenraum hatte, mit um die Hüfte geschlungenem Handtuch in den Duschraum: „Was ist hier los?!“

„Nichts. Alles in Ordnung“, sagte jemand zerknirscht.

Herr Landes warf noch einen kritischen Blick in die Runde, dann schloss er die Tür wieder. Danach blieb es zwar bei bösen Blicken und gebrummten gegenseitigen Vorwürfen, aber dieser Klassenstreit hatte seine Spuren an mir hinterlassen. Ich fragte mich, ob es wirklich eine gute Idee wäre, mich bei Bastis Freizeit-Fußballmanschaft zu beteiligen, so wie ich es ihm versprochen hatte. Als Schwuler war man scheinbar besonders beim Sport unbeliebt und angreifbar. Und ich wusste nicht, ob Bastis Freunde genauso gut drauf waren, wie er. Aber ich hatte ja noch das ganze Wochenende Zeit, darüber nachzudenken.

Am Abend rief mich Nils nochmal an.

Er war aufgebracht: „Hey Miguel. Hast du 'ne Ahnung, was Erika und Gerd jetzt wieder ausgeheckt haben?“

„Nee. Sag.“

„Die haben für morgen Mittag einen Termin bei einem gewissen Pfarrer Lietz für mich ausgemacht. Er soll mich wegen meiner Sexualität beraten.“

„Dann lass dir aber keinen Blowjob aufschwatzen.“

Nils lachte trocken in den Hörer: „Ja ja. Da hau ich sowieso ab, bevor der Pfaffe kommt.“

„Hab ich das richtig verstanden? Der kommt zu euch?“

„Ja. Um 14:30.“

Ich grinste dreckig vor mich hin: „Weißt du was? Ich kreuze morgen kurz vorher einfach bei euch auf. Das will ich mir auch anhören.“

„Wie teuflisch, Señor Garcia“, lachte Nils zurück.


Endlich war wieder Wochenende. Nach dieser ereignisreichen Woche tat es gut, einfach mal auszuschlafen und im Schlafanzug am Mittagstisch zu erscheinen. Meine Eltern belächelten zwar diesen Aufzug, aber ein allzu ungewöhnlicher Anblick war das jetzt auch wieder nicht.

„Hast du heute schon was vor?“, fragte mich Mama und schöpfte sich Rucola-Nudeln auf den Teller.

„Ja. Ich will spätestens um kurz nach Zwei bei Nils und den Schirmachers sein.“ Ich schob mir eine Gabel Nudeln in den Mund und redete mit vollem Mund weiter. „Könnt ihr euch vorstellen, was die Schirmachers Nils jetzt wieder eingebrockt haben?“ Abwechselnd schaute ich kauend mit Hamsterbacken meine Eltern an.

„Nein, sag. Aber verschluck dich dabei nicht.“

„Nils hat heute Mittag eine Audienz beim Dorfpfarrer. Damit der ihm auch noch mal sagt, wie schlimm es ist, schwul zu sein.“

„Diese Schirmachers“, seufzte Papa, und Mama schmunzelte mich an: „Lass mich raten. Du willst später rechtzeitig dort sein, damit du bei der Audienz auch dabei bist.“

„Hmh. Genau.“

Mama schüttelte lachend den Kopf: „Ihr Zwei...“, und brachte mich und Papa auch zum Grinsen.

„Ahja. Und heute Abend bin ich noch auf dem Geburtstag bei einer Klassenkameradin eingeladen. Ist hier in Münsingen.“

„Schön“, sagte Mama und ihr Blick ließ ihre Freude erkennen. Denn ohne, dass es jemand am Tisch aussprach, wussten wir alle, dass das in meiner jetzigen Lebenslage keine Selbstverständlichkeit war. „Kommt Nils auch?“

„Ja. Zumindest ist er eingeladen.“

„Dann bietet es sich ja an, dass er bei uns übernachtet“, schlug Papa vor und ich lächelte bitter.

„Ja. Falls seine Pflegeeltern das erlauben.“

„Sagt doch einfach, er bleibt über Nacht bei dieser...“

„Laura“, half ich ihm aus.

„Ja... Bei dieser Laura. Die Schirmachers müssen doch nicht alles wissen.“

Mama schaute Papa mit gerunzelter Stirn an: „Bring den Jungs doch nicht solche Sachen bei, Fernando. Es wäre doch vernünftiger, wenn wir uns mit den Schirmachers kurzschließen.“

„Klar sind wir vernünftig, Ines“, entgegnete Papa. „Nächste Woche wieder. Aber mit 16 können sich Miguel und Nils ruhig ein bisschen Unvernunft erlauben. Wir wissen doch jetzt, wie die Schirmachers zu Miguel und uns stehen.“

„Du willst, dass Nils und ich unsere Eltern anlügen?“, foppte ich Papa.

Aber er blieb locker: „Ich weiß gar nicht, was mit euch jungen Leuten los ist. Als ich in eurem Altern war...“

„Das will hier kein Mensch hören.“

Das Mittagessen zog sich noch genauso lustig weiter in die Länge. Aber um 14 Uhr setzte ich mich auf mein Rad und eine viertel Stunde später stand ich bei Nils und seinen Pflegeeltern auf der Matte. Dieses Mal fiel der Empfang aber kühler aus, als am Vortag.

Frau Schirmacher schaute mich mit großen Augen an: „Du?“

Ich lächelte freundlich, obwohl ich ihr die Lüge, ich hätte mich rotzfrech verhalten, noch übel nahm: „Hallo Frau Schirmacher. Ist Nils da?“

„Nils hat jetzt keine Zeit für dich, Miguel. Er hat gleich einen Termin. Also? Auf Wiedersehen.“

Hätte ich nicht schon ein Bein über die Schwelle geschoben, hätte die Dame mir wohl die Tür vor der Nase zugeknallt. Aber so schaute sie nur erklärend zu meinem Fahrrad, das in Sichtweite stand.

„Ich...“, wollte ich gerade zu einer Erklärung ansetzten, von der ich selbst noch nicht wusste, was ich erwidern sollte, da tauchte Nils von hinten auf.

Mit einer gespielten Überraschung: „Hey Miguel. Das ist ja super, dass du gekommen bist.“

„Du weißt, dass du jetzt keine Zeit hast“, raunzte Frau Schirmacher Nils an. Wahrscheinlich ahnte sie schon, dass mein Aufkreuzen kein Zufall war. „Pfarrer Lietz kommt in zehn Minuten.“

Nils hob die Schultern: „Miguel kann doch dabei sein. Ihn betrifft das doch auch, er ist doch auch schwul.“

„Jaaa. Aber...“

„Entweder Miguel ist dabei oder wir hauen für die nächsten zwei Stunden ab. Kannst uns ja die Polizei auf die Fersen jagen und ihnen sagen, dass ich für eure Teufelsaustreibung gebraucht werde.“ Nils grinste selbstgefällig über seinen eigenen Spruch.

„Das... ist... keine... Teufelsaustreibung, Nils. Pfarrer Lietz ist ein ganz netter Mann, der gut mit jungen Leuten umgehen kann.“ Sie seufzte. „Na gut, Miguel. Dann bleib eben dabei. Schaden kann es dir auch nicht.“

Herr Schirmacher begrüßte mich freundlicher, als ich ins Esszimmer kam. Er winkte mir zu einem „Hallo Miguel“ zu und seinem gequälten Lächeln nach zu urteilen, schien ihm die Situation, die seine Frau da aufgebaut hatte, selbst peinlich zu sein. Aber in dieser Ehe hatte anscheinend Erika die Hosen an und Gerd hatte nicht den Arsch in der Hose, ihr zu widersprechen.

Während der nächsten Minuten, als wir zu viert am Esstisch saßen und, um uns das Warten zu verkürzen, von Frau Schirmachers leckerem Zwetschgenkuchen aßen, war die Stimmung zum Zerreißen gespannt. Nach einem kurzen hin und her von Belanglosigkeiten hatten wir das Reden eingestellt. Nils, ich und Frau Schirmacher brüteten grimmig vor uns hin, während Herr Schirmacher mit vorsichtigen Blicken einen nach dem anderen abtastete.

Obwohl ich nicht besonders scharf darauf war, Bekanntschaft mit diesem ominösen Pfarrer zu machen, war ich doch erleichtert, als es um kurz vor halb an der Tür klingelte. Die Atmosphäre war nämlich inzwischen mehr als unangenehm geworden. Frau Schirmacher stand auf, wie von der Tarantel gestochen und eilte aus dem Zimmer zur Haustür.

„Guten Tag, Herr Pfarrer“, sagte sie mit einem lächerlich-unterwürfigen Tonfall außerhalb unseres Blickfelds, nachdem zu hören gewesen war, wie die Haustür geöffnet wurde.

„Hallo Erika. Schön, dass wir uns mal wieder sehen. Wie geht es Ihnen?“, antwortete eine weiche Stimme, die fast schon ein bisschen übertrieben nett klang.

„Eigentlich gut. Nur unser Nils, von dem ich Ihnen erzählt habe, macht mir und meinem Mann Sorgen. Aber er hatte es auch nicht leicht in seinem Leben.“

Im nächsten Augenblick führte Frau Schirmacher Pfarrer Lietz in das Zimmer, in dem wir uns befanden. Er war ein recht hochgewachsener und stark übergewichtiger Mann, etwa im Alter der Schirmachers, so um die 60. Er trug einen dunklen Anzug, in dem sein dicker Bauch spannte, mit einem weißen Collar im Hemdkragen. Sein Gesicht, das von einer Brille mit runden Gläsern geziert wurde, war genauso weich wie seine Stimme und genauso wenig wie bei der Stimme wusste ich, ob ich das sympathisch finden sollte oder nicht.

Nachdem Herr Schirmacher aufgestanden war, um dem Pfarrer die Hand zu schütteln, wies seine Ehefrau auf Nils, der, genauso wie ich, schon alleine aus Trotz sitzen geblieben war.

„Das ist Nils“, sagte sie, während sie mich ignorierte.

Pfarrer Lietz ging nun um den Tisch herum, um Nils die Hand zu schütteln, ohne dass dieser nur den Hintern vom Stuhl hob, dann ging er weiter zu mir. Der Händedruck war überraschend fest.

„Wie es aussieht, ist hier noch ein weiterer Gast.“

„Miguel Garcia“, murmelte ich.

„Ja. Das ist Nils Freu... äh ein Klassenkamerad von Nils“, erklärte Frau Schirmacher und ihre Stimme ließ keinen Zweifel, dass ich hier unerwünscht war. Aber der Pfarrer nickte mir nur freundlich zu.

Zwei Minuten später saßen wir zu fünft am Tisch, tranken Kaffee und aßen Kuchen.

„Also, Nils. Deine Pflegemutter hat mir erzählt, du spielst mit dem Gedanken, Ministrant zu werden?“

Ein trockenes Schlucken verriet Nils' Überraschung: „Hm. Keine Ahnung. Eigentlich nicht.“

Der Pfarrer, Nils und ich schauten Frau Schirmacher mit gerunzelter Stirn an.

Ihr ertapptes Lachen war saumäßig schlecht geschauspielert: „Das war nur so eine Idee von mir, von der ich dachte, dass sie Nils bestimmt gefallen würde. Nils braucht nämlich menschliche Führung.“

„Sie hätten Nils ja vorher fragen können, ob ihm die Idee gefällt“, warf ich ein und erntete einen missbilligenden Blick von Frau Schirmacher und zustimmende Blicke von Nils und dem Pfarrer, während das Gespräch an Herr Schirmacher voll vorbeizugehen schien.

„Ich...“, knurrte sie kleinlaut. „Das war ja nur einer der Gründe, warum ich Sie hergebeten hatte. Sie müssen wissen, Herr Pfarrer – Nils ist geistig verwirrt. Er denkt, er wäre...“

Nun schaute sogar Herr Schirmacher seine Frau genauso gespannt an, wie wir anderen Drei. Ich versuchte ernst zu bleiben, obwohl ich mich hätte totlachen können, wie Frau Schirmacher nach den richtigen Worten suchte. So, als ob man sich an dem Wörtchen 'schwul' die Zunge verbrennen könnte.

Am Ende war es Nils, der seiner Pflegemutter aus der Klemme half: „Ich bin schwul und Miguel und ich lieben uns. Und jetzt ist es Ihr Job, uns zu bekehren, Herr Lietz.“ Hauptsächlich Nils' wackelnde Lippen ließen erkennen, dass der letzte Satz ironisch gemeint war.

Pfarrer Lietz schaute Nils nun nachdenklich an. Während er wohl dabei war, seine Gedanken und Worte zu sortieren, nutzte Frau Schirmacher schon die Steilvorlage, die ihr Nils gegeben hatte. Untermalt von einem fast hysterischen Lachen, blaffte sie: „Da hören Sie's. Die Kinder sind entsetzlich fehlgeleitet. Und können Sie sich vorstellen, dass Miguels Eltern das sogar noch gutheißen? Gestern Abend hat mich Frau Zittlau vom Jugendamt sogar angerufen und gemaßregelt, weil sich Miguels Eltern über unsere christlichen Ansichten beschwert haben. Und nur, weil ich das Richtige für Nils will.“

„Meine Eltern haben sich beschwert, weil Sie einen Keil zwischen uns treiben wollen“, konterte ich. „Sie haben mich bei Frau Zittlau als schlecht erzogen und rotzfrech dargestellt. Und das nur, um bessere Chancen zu erhalten, dass Nils bei Ihnen bleiben kann.“

„Quatsch. Ich...“, wollte sie erwidern, aber ich ließ mich nicht bremsen.

„Frau Zittlau war gestern noch bei uns und hat es genauso gesagt.“

Frau Schirmacher holte Luft, aber da mischte sich ganz unerwartet ihr Mann ins Gespräch ein: „Hast du das wirklich so gesagt?“

Frau Schirmacher seufzte genervt: „Jaaaa. Dann hab ich eben gestern Mittag beim Jugendamt angerufen. Und alles, was ich gesagt habe, stimmt ja auch – irgendwie. Miguel hat einen schlechten Einfluss auf Nils. Schon alleine, wie er gestern Nils angestachelt hat, sich gegen mich aufzulehnen und das Haus zu verlassen, als ich es ihm verboten hatte.“

„Gar nichts habe ich. Ich habe gestern nicht mal den Mund aufbekommen“, erwiderte ich empört.

Nils' Pflegemutter und ich tauschten einen giftigen Blick aus und der Pfarrer mischte sich schmunzelnd mit einer unglaublichen Gemütsruhe ein: „Ich habe das Gefühl, dass Nils seinen eigenen Kopf hat und niemanden braucht, der ihn anstachelt. Stimmt's?“

Nils nickte mit einem schlecht verdrückten Grinsen.

„Wie dem auch sei“, entgegnete Frau Schirmacher deutlich ruhiger, schon alleine, weil sie jetzt mit dem Pfarrer redete. „Ich fände es besser, wenn Nils und Miguel sich nicht mehr treffen würden, damit Nils wieder normal werden kann. Wissen Sie, was die Beiden gestern getan haben, als sie in Nils' Zimmer waren? Sie haben sich geküsst – unter meinem Dach... Und ich will gar nicht daran denken, was sie noch alles gemacht hätten, wenn ich nicht rechtzeitig dazwischen gegangen wäre. Und dann sagt die Frau vom Jugendamt noch, es wäre gut, wenn Nils mehr Zeit mit dem Garcias verbringt, weil er bald dort wohnen soll. Das ist doch verrückt. Oder?“

„Erika“, sagte Pfarrer Lietz beschwichtigend und hob dabei seine breiten Hände. „Wir wissen beide, was in der Bibel über Beischlaf zwischen Männern steht und wie unsere katholische Kirche das auslegt.“ Frau Schirmacher nickte eifrig und der Pfarrer sprach weiter. „Aber glauben Sie wirklich daran, dass es Ihnen oder mir zusteht, die Liebe zwischen zwei Menschen zu untergraben oder zu verurteilen?“

Es war nun witzig mit anzusehen, wie der armen Frau die Gesichtszüge entglitten: „DAS IST KEINE LIEBE, HERR PFARRER.“ Sie gab einen unartikulierten Laut von sich. „Mein Gott. Da könnte mein Gerd ja auch einen Esel lieben und mit ihm... Naja... Sie verstehen, was ich meine.“

Nun war es Herr Schirmacher, dem hinter seinen Brillengläsern die Augen herauszuglupschen drohten. Aber der Pfarrer blieb weiterhin ruhig: „Nun, das ist meine Meinung, Erika. Ich weiß, dass ich da nicht mit der katholischen Lehre konform bin, aber damit kann ich leben. Wenn Nils und Miguel sich lieben – und ich bin überzeugt, dass sie das tun – kann ich nur raten, für diese Liebe auch zu kämpfen. Und Ihnen, Erika, wünsche ich, dass Sie die Kraft finden, dabei zu helfen, anstatt die Zwei zu torpedieren.“

Frau Schirmacher sah nun ganz schön geknickt aus. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie eine herbe Niederlage erlitten hatte: „Gut, Herr Pfarrer. Schön, dass Sie mal wieder bei uns zu Gast waren. Ich werde demnächst Pfarrer Leonard kontaktieren, um mir seine Meinung einzuholen.“

„Tun Sie das. Von ihm werden Sie eher das hören, was Sie hören wollen.“ Der dicke Pfarrer hatte den Wink mit dem Zaunpfahl sicherlich verstanden, dass seine Anwesenheit hier nicht mehr vonnöten war, aber wenn er mal saß, dann saß er. Und genauso wie Nils und ich wusste er Erikas Zwetschgenkuchen zu schätzen.

Er gab Nils und mir sogar noch seine Karte, die ziemlich geschnörkelt designt war: „Wenn ihr mal einen Seelsorger zum Reden braucht, dürft ihr mich gerne kontaktieren.“

Wir bedankten uns artig, obwohl wir es wohl beide als unwahrscheinlich sahen, jemals auf dieses Angebot einzugehen. Aber während des Gesprächs hatte sich meine vorbelastete Meinung über diesen Mann zumindest grundlegend geändert.

Nachdem der Teller des Pfarrers leer war, ließ er sich von Frau Schirmacher doch noch untermalt von netten Worten aus dem Haus werfen.

„So ein Reinfall“, murmelte sie, als sie wieder zurück ins Esszimmer kam. „Ich werde heute noch mit Pfarrer Leonard telefonieren. Der ist besser für dich, Nils.“

„Lass es sein“, zischte nun Gerd, der am Ende seiner Geduld angekommen war.

Erika war auf eine solche Reaktion nicht gefasst: „Was willst du denn jetzt?!“

„Du hast die Meinung deines ach so verehrten Pfarrers gehört und jetzt halte dich auch daran! Wir wurden vom Jugendamt dafür engagiert, Nils für ein paar Wochen ein sicheres Zuhause zu bieten. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn das Jugendamt der Meinung ist, er wäre bei den Garcias danach gut aufgehoben, dann unterstützen wir das. Es steht dir nicht zu, jeden, der dir unter die Fuchtel kommt, so zu verbiegen, dass er in dein Weltbild passt.“

„Gerd! Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken?“

„Jetzt fang nicht so an.“ Herr Schirmacher schaute seine Frau beleidigt an. „Oder ich such mir wirklich einen Esel. Der ist zumindest nicht so störrisch wie du.“

„Ich denke, wir gehen dann lieber“, warf Nils vorsichtig ein. „Ähm übrigens... Heute Abend ist in Münsingen eine Klassenparty, wo ich eingeladen bin. Ist es okay, wenn ich danach bei den Garcias übernachte?“

'Oh Gott... Musst du das ausgerechnet jetzt fragen?', schoss es mir durch den Kopf.

Frau Schirmacher machte nun den Eindruck, als ob sie gleich einen Nervenzusammenbruch erleiden würde, aber Gerd brummte in einem Ton, der keine Widerrede seiner Frau duldete: „Ja. Selbstverständlich.“

„Okay. Wir gehen dann gleich und ich richte mich schon mal bei den Garcias ein.“

Nils und ich schauten, dass wir aus dem Haus kamen, bevor das Pulverfass explodierte und radelten Richtung Münsingen. Natürlich wieder nicht auf der Landstraße, sondern auf den Feldwegen, wo wir nebeneinander her fahren konnten, um das gerade Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen.

Ich war immer noch ziemlich aufgestachelt: „Mann Nils, heute hat's die Erika ja mal richtig gezeigt bekommen.“

„Ja. Ich hoffe, dass das jetzt wirkt.“

„Und wenn nicht, gibst du ihr einfach weiter Feuer. Mir kommt's so vor, als wenn die Schirmachers dir nicht gewachsen wären.“

Nils lächelte gezwungen: „Schon. Ach Miguel. Mir wär's lieber, wenn es einfacher wäre. Eigentlich sind die Schirmachers doch ganz in Ordnung. Mir geht es gut bei ihnen und ich kann endlich mal zur Ruhe kommen. Mir tut es selber leid, dass ich ihnen das Leben so schwer machen muss.“

„Sicher. Aber dir bleibt doch gar nichts anderes übrig“, entgegnete ich ein gutes Stück ernster, als noch vor wenigen Sekunden.

„Jaaa. Ich weiß. Aber ich fände es schlimm, wenn wir uns wegen dem Scheiß im Schlechten trennen müssten, wenn das alles vorbei ist. Ich kann nur hoffen, dass Erika jetzt einlenkt.“

„Drücken wir Gerd die Daumen, dass er sich noch durchsetzt“, schmunzelte ich. „Vielleicht kannst du morgen ja nochmal mit ihnen reden und ihnen genau das sagen, was du mir eben gesagt hast. Aber heute machen wir uns erstmal einen schönen Tag.“ Ich drehte nun den Kopf zu Nils, der links neben mir fuhr. „Einverstanden?“

„Einverstanden.“

Wir erlebten noch einen schönen Nachmittag, an dem wir einerseits die schräge Bekehrungs-Runde mit meinen Eltern mit viel Humor und Gelächter durchgesprochen hatten. Mein Vater stellte dabei die steile These auf, dass der Pfarrer bestimmt selbst ein verkappter Schwuler war – warum sollte man sich sonst freiwillig ein Zölibat auferlegen – und Nils und mich insgeheim bewunderte. Aber diese Annahme ließ ich ihm nicht durchgehen. Vielleicht hatte Papa ja recht, vielleicht auch nicht. Aber nach diesen Erfahrungen wollte ich es mir abgewöhnen, von einem Vorurteil zum Nächsten zu springen. Danach nahmen Nils und ich uns noch die Zeit, genau das in meinem Zimmer zu tun, was wir schon seit Sonntag Nacht nicht mehr getan hatten. Und zwar mit der Gewissheit, dass niemand das Zimmer stürmen würde, um nach dem Rechten zu schauen.

Etwa um halb Neun am Abend verließen wir dann ziemlich befriedigt und ausgeglichen das Haus und machten uns auf den Fußweg zu einer Party, die denkwürdiger werden sollte, als wir es ahnten. Wir wussten zwar, dass Laura am vergangenen Donnerstag 16 geworden war und, dass der Geburtstag der Anlass der Feier war, aber dass ihre Eltern auf Teneriffa waren und sie gemeinsam mit ihrem großen Bruder Thorben sturmfrei hatte, wussten wir nicht. Thorben war es dann auch, der für einen ansehnlichen Vorrat an alkoholischen Getränken gesorgt hatte.

Als wir das Haus betraten, drückte Laura Nils und mir schon an der Haustür jeweils ein Glas Bacardi-Cola in die Hand und gab jedem von uns ziemlich gekünstelt ein Küsschen auf die Wange: „Hallo, ihr Zwei. Schön, dass ihr gekommen seid.“

Wir überreichten unser unkreatives Geschenk in Form eines Mediamarkt-Gutscheins: „Alles Gute zum Geburtstag, Laura. Und auch danke für die Einladung. Das war ja 'ne echte Überraschung.“

Laura zuckte auf ihre nicht unsympathische, aber immer etwas gezierte Art mit der Schulter: „Keine Ursache. Juliette und ich wollen zu meinem Sechzehnten eine richtige Society-Party machen. Und Becky Heathaway...“ - Laura legte altklug die Stirn in Falten - „Das ist eine Bloggerin aus Los Angeles, sagt auf ihrem Blog, dass Models und ein gewisser Prozentsatz schwuler Männer den Style einer Party anheben würden.“

Ich wusste nicht so richtig, was ich erwidern sollte. Denn wegen ihrer trockenen Art bemerkte ich erst im zweiten Moment, dass Laura uns versuchte, aufzuziehen.

Nils, der Lauras Humor besser kannte, nippte an seinem Glas: „Lass mich raten. Models hast du hier in Münsingen nicht auftreiben können und jetzt sind Miguel und ich alleine dafür verantwortlich, dass deine Party Stil hat.“

„So sieht's aus“, antwortete Laura trocken. „Und wenn das nicht klappt, macht's eben der Bacardi Cola.“

Ich musste lachen: „Die Münsinger Variante eines Trend-Cocktails.“

„Genau“, lachte Laura mit. „Aber jetzt mischt euch erst mal unter die Leute und habt Spaß.“

Den Tipp versuchten wir zu befolgen, aber das war gar nicht so einfach.

Der Partybereich war die Küche, sowie das Wohn- und Esszimmer des großen Hauses, in dem Laura mit ihren Eltern und ihrem Bruder lebte und anfangs fühlten Nils und ich uns deplatziert. Einige Leute kannten wir zwar schon aus unserer Klasse, aber Lauras Freundeskreis war nicht derselbe, wie der von Nils und mir (wobei unser Freundeskreis sowieso mehr als überschaubar war). Und andere Leute kannte ich nur vom Sehen oder gar nicht. Nils und ich standen herum wie bestellt und nicht abgeholt, nippten an unseren Bacardi-Cola, schauten den kleinen Grüppchen zu, die sich hier und da bildeten und ließen uns von denen, die wussten, dass wir 'Die Schwulen' waren, beäugen.

Den Vogel schoss aber wenig später André aus unserer Parallelklasse ab. Der Typ, der die Schubserei unter der Dusche nach dem Schulsport angezettelt hatte. Gemeinsam mit seiner Freundin, einer hübschen Blondine, die ich ihm nicht so wirklich gönnte und zwei mir unbekannten Kumpels, kam er knappe 20 Minuten nach mir und Nils an. Als ich sah, wie Laura ihn ins Wohnzimmer brachte und er uns fast im selben Moment entdeckte, ahnte ich schon, dass das nicht gut gehen würde.

„Hey Laura. Du hast mir gar nicht erzählt, dass das hier eine Schwulenparty ist“, stichelte er laut genug, dass es auch die meisten anderen Gäste mitbekamen. Die Blondine und seine Freunde, ein rothaariger, schlaksiger Junge mit Sommersprossen und ein dunkelblonder Brillenträger schauten André fragend an. Daraufhin zeigte er mit dem nackten Zeigefinger in unsere Richtung: „Na die Zwei da. Das sind die Tunten aus der 10a, von denen ich euch erzählt hatte.“

Na toll. Jetzt hatten auch die paar Nasen, die bis jetzt noch nicht wussten, dass wir schwul waren, mitbekommen, was Sache war. Andrés Gesicht änderte sich in ein selbstzufriedenes Grinsen, als er sah, dass Nils und ich verdattert dreinblickten. Aber er bekam gleich darauf sein Fett weg.

„Hast du ein Problem damit, dass Nils und Miguel hier sind“, fuhr Laura ihn an.

„Nee. Ich bin ja tolerant zu Arschfickern, solange sie mich in Ruhe lassen“, unkte André zurück und schaute schadenfroh seine Freunde und seine Freundin nacheinander an, um sich von deren Blicken feiern zu lassen. Aber sein Auftreten schien denen eher peinlich zu sein.

„Mach mal halblang, André“, sagte der Rothaarige dann auch genervt.

„Alter, was laberst du? Bist du auch schwul oder was?“

„Jetzt...“

Laura fiel dem Rothaarigen ins Wort: „Ich glaube, du haust jetzt ab, André. Du versaust mir die ganze Party.“

André zeigte auf uns: „Die sind schuld. Die sollten abhauen.“

„Nein, du.“

„Okay. Ich benehme mich ja schon“, seufzte André gespielt resigniert.

„Na sicher, du Idiot. Jetzt verschwinde.“ Laura schaute André mit einem Blick an, den wohl nur Frauen drauf hatten und zur Verstärkung hatte sich auch ihr Bruder, der schon alleine wegen des Altersunterschieds von drei Jahren André körperlich überlegen war, neben ihr aufgebaut.

André schaute seine Freunde angepisst an: „Naja, dann geh'n wir halt. Sieht sowieso nach einer Scheiß-Party aus.“

Seine Kumpels schauten ihn nur an, machten aber keine Anstalten, zu gehen.

„Ihr seid solche Wichser“, schimpfte André noch zu ihnen, dann nahm er seine Freundin grob am Handgelenk und zog sie hinter sich her zur Wohnzimmertür und aus meinem Blickfeld. Drei Sekunden später knallte die Haustür und dann war der Spuk vorbei.

Die sowieso etwas zurückhaltende Atmosphäre hatte durch Andrés Auftritt und seinen Abgang einen zusätzlichen Knacks bekommen, der sich aber im Laufe der nächsten Minuten wieder erholte.

Laura kam gleich nach Andrés Verschwinden zu mir und Nils: „Sorry für das eben. Wenn ich gewusst hätte, dass sich André so mies benimmt, hätte ich ihn gar nicht eingeladen.“

„Schon gut. Aber danke, dass du dich so für uns eingesetzt hast.“

Laura strahlte mich an: „Keine Ursache.“

Unsere Stimmung hellte sich auf, als um kurz nach Neun unsere Freunde Basti und Sophie aufkreuzten. Ich wusste zwar, dass Basti eingeladen war, aber dass Sophie auch da war, wunderte mich. Denn die etwas hochnäsige Laura und die sehr bodenständige Sophie hatten eigentlich nicht viel miteinander zu tun. Sie mochten sich nicht einmal besonders.

Nils nahm mir die Frage vorneweg: „Mensch Sophie... Was ist denn da schief gelaufen, dass du auch eingeladen bist?“

Sophie wollte zwar die Eingeschnappte spielen, konnte sich ihr Lachen aber nicht verkneifen: „Laura war der Meinung, dass sie, wenn sie schon einen Bauer wie dich einlädt, auch jemanden mit Stil holt. Sozusagen als Ausgleich.“ Sie machte eine auf sich selbst weisende Geste, die zeigen sollte, wer nun dieser Mensch mit Stil war.

Basti schmunzelte: „Sophie ist gar nicht eingeladen. Sie darf nur als meine Begleitung mitkommen.“

„Oh, dann seid ihr jetzt also zusammen?“, hakte ich, nicht ganz ernst gemeint, nach, während Nils Sophie schadenfroh angrinste.

„Quatsch“ protestierten Basti und „Blödsinn“ Sophie gleichzeitig. Sie hätten es nur als schade empfunden, wenn unsere neu organisierte Clique an diesem Abend nicht gemeinsam auftreten würde und Laura hatte dankenswerterweise auch keine Einwände gehabt.

Wie es bei solchen Partys manchmal ist, lockerte sich die Stimmung mit dem steigenden Alkoholkonsum auf und aus der Party, die Laura nicht ganz ernst gemeint als Society-Party deklariert hatte, wurde eine typische und sehr unterhaltsame Teenager-Fete. Die distanzierten Grüppchen vermischten sich immer mehr, es wurde lauter, Leute, die sich noch nicht kannten, kamen ins Gespräch und der Spaß-Pegel stieg. Ich selbst hatte vorher so gut wie nie getrunken, deshalb spürte ich auch schnell die Wirkung. Ich quatschte mit Jungs und Mädchen, die ich bisher nur von den argwöhnischen Blicken auf dem Schulhof kannte und Nils und ich mussten immer wieder unsere Geschichte erzählen. Anfangs nervte das zwar noch, aber mit steigendem Promillepegel wurden unsere Ausführungen immer ausgeschmückter und auch übertriebener.

Als ich mit Anton, dem rothaarigen Jungen, der gemeinsam mit André gekommen war, Arm in Arm Bruderschaft trank und wir uns gegenseitig anlallten, wie sehr wir uns respektierten, bemerkte ich eher aus meinem Augenwinkel, wie sich Basti und Sophie immer weiter von den anderen absetzten. Beide waren nämlich auch schon ziemlich angeheitert und sie begannen zu fummeln. Während ich immer mehr Leute kennen lernte und mir die Frage stellte, ob Münsingen tatsächlich so hinterwäldlerisch war, wie ich es mir immer eingeredet hatte, wurden die Fummeleien zwischen Basti und Sophie immer intensiver und irgendwann waren sie einfach verschwunden. Doch Nils und ich konnten den Abgang unserer besten Freunde verschmerzen und uns für sie freuen. Denn wir fühlten uns überraschend wohl auf Lauras Party.

Früh am Morgen – es musste weit nach 2 Uhr gewesen sein – löste sich die Feier langsam auf. Zum Glück war es nicht zu suff-bedingten Totalausfällen gekommen. Aber in dieser Nacht gehörten Nils und ich zu den knapp dreißig Jugendlichen, die von Lauras Haus aus in alle Richtungen ausschwärmten, um durch das kleine Städtchen zu eiern und ins Bett zu kommen.

Ich muss nun zugeben, ich weiß weder, wie ich nach Hause gekommen war, noch, ob Nils und ich dann noch etwas erwähnenswertes in meinem Zimmer gemacht hatten. Meine Erinnerungen setzen erst wieder ein, als ich auf eine seltsame und nicht besonders angenehme Weise aus dem Schlaf geholt wurde. Bevor ich die Augen öffnete spürte ich nämlich schon, wie mein Schädel brummte. In meiner furztrockenen Kehle lag ein ekliger Geschmack nach altem Alkohol und Erdnussflips. Dazu kam noch eine akute Atemnot, denn es fühlte sich an, als ob mein Brustkorb zusammengequetscht werden würde. Etwas Hartes, Buschiges, drückte unangenehm an mein seitliches Kinn.

Als ich mich unter körperlichen Qualen dazu zwang, die Augen zu öffnen, kam auch schnell Licht ins Dunkel und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Zimmer war von Tageslicht durchflutet, es musste später Vormittag oder sogar früher Nachmittag sein. Nun registrierte ich auch, dass Nils an meiner Atemnot schuld war. Er lag schräg auf mir drauf - so als ob er während des Versuchs, über mich drüber zu klettern, eingeschlafen wäre. Seine Schläfe lag unangenehm an meinem Kinn an.

Halbherzig versuchte ich Nils von mir runter zu schieben. Der Versuch war zwar zum Scheitern verurteilt, aber zumindest kam aus Nils' Kehle im nächsten Augenblick ein tiefes Brummen. Sein Körper räkelte sich lustlos an mir, seine Stirn versetzte mir einen leichten Kinnhaken und dann schaute mich Nils aus müden Augen an.

„Nie wieder Alkohol“, brummte er kehlig anstatt eines 'Guten Morgen'.

„Hab dich auch lieb.“

Endlich rollte sich Nils von mir herunter, aber wir brauchten noch eine geschlagene Stunde, bis wir uns durchringen konnten, aufzustehen. Doch das war auch nicht allzu wild. Es war erst kurz nach Elf und zum Mittagessen schafften wir es, am Tisch zu sitzen. Meine Eltern riefen zumindest noch bei den Schirmachers an, die überraschend zahm waren, um mit ihnen auszumachen, dass Nils noch den Nachmittag bei uns verbringen durfte. So ersparte sich Nils zumindest eine Alkoholbeichte und war wieder einigermaßen fit, als er sich abends auf den Weg nach Gomadingen machte.


Schon seltsam. Inzwischen war ich sogar schon so tief gesunken, dass ich mich an dem folgenden Montagmorgen auf die Schule freute. Oder besser gesagt auf den Schulweg, weil dort Nils, seit er bei seinen Pflegeeltern in Gomadingen wohnte, jeden Morgen vor der Bäckerei Junghans mit dem Fahrrad auf mich wartete. Und auch an diesem Tag war es wieder so. Schon von Weitem sah ich an seinem Grinsen, dass es ihm erstens genauso ging, wie mir und dass er zweitens, ebenso wie ich, seinen Kater von Lauras Geburtstagsparty verdaut hatte.

„Hey. Na, du?“, flirtete Nils und gab mir den allmorgendlichen Kuss auf den Mund.

„Gut, soweit. Aber für einen Montag Morgen bist du mir ein bisschen zu gut drauf“, scherzte ich zurück.

„Nicht ohne Grund. Gerd hat Erika anscheinend noch ordentlich ins Gewissen geredet und sie hat sich gestern ziemlich kleinlaut bei mir entschuldigt. Ich darf jetzt wieder ganz offiziell meine Freizeit mit dir verbringen und euch zuhause besuchen.“

„Wie großzügig“, lachte ich.

„Oh ja. Und die Sache mit diesem Pfarrer Leonard, der mich bekehren soll, ist auch vom Tisch. Wir dürfen uns ab sofort sogar... ähm... lieb haben. Aber das sollen wir bei euch zuhause machen. Ich hab Erika versprochen, dass es bei den Schirmachers über 'nen Kuss auf die Backe nicht hinausgehen wird. Wegen dem Hausfrieden und so.“

„Backe oder Wange?“, scherzte ich, weil ich inzwischen mitbekommen hatte, dass es im Schwäbischen den Begriff 'Wange' gar nicht gab, der stattdessen von 'Backe' ersetzt wurde.

„Das haben wir nicht so genau abgesteckt. Kannst dir eine von meinen Vieren aussuchen, wenn du das nächste Mal bei uns bist.“

„Ohje. Wenn dann die Erika im falschen Moment wieder mit dem Kuchen reinplatzt“, seufzte ich und musste lachen, weil ich mir das Geschehen gerade bildlich vorstellte.

„Kann für die Toleranzbildung nur gut sein“, lachte Nils zurück.

„Weißt du was? Auf den Erfolg lade ich dich auf ein süßes Stückchen ein.“ Ich schaute erklärend durch das große Schaufenster der Bäckerei direkt neben uns, wodurch man die Leckereien, die im Glastresen ausgelegt waren, sehen konnte.

Das Lächeln, mit dem Nils mich anschaute, ließ zwar keinen Zweifel, wer für ihn das süßeste Stückchen war, trotzdem schob er mich mit seiner Schulter an meinem Schulterblatt zur Eingangsstaffel der Bäckerei: „Da sag ich garantiert nicht 'Nein'.“

Der Verkaufsraum der Bäckerei war fast leer, als wir reinkamen. Nur ein Mann vom Typ Frührentner, der im grün-rosa Glanz-Jogginganzug Kaffee trank und eine Quarktasche aß und auf den ersten Blick zum morgendlichen Inventar gehörte, war da und die Verkäuferin hinter der Theke. Ich bemerkte, wie die Beiden einen ironischen Blick austauschten, als wir auf die Verkäuferin zugingen, dann verwandelte sich der Blick der Dame mit rötlich getöntem Haar in ein professionelles und deutlich unechtes Lächeln: „Bitteschön?“

Ich ließ den Blick an der Auslage entlang schweifen und schaute zu Nils: „Was möchtest du?“

„Eine Vanilleplunder vielleicht?“

„Zwei Vannilleplundern“, sagte ich zu der Verkäuferin.

Während die Frau mit einer Zange zwei der Teilchen nahm und sie in eine Tüte steckte, meldete sich der Mann im Jogginganzug von hinten zu Wort: „Das sind doch die Schwulen, die sich jeden Morgen draußen küssen, Frau Junghans. Werden solche Leute bei Ihnen auch bedient?“

„Ich muss. Sonst könnten wir uns Ärger einhandeln.“ Die Frau lächelte mich falsch an. „Macht genau drei Euro.“

„Ja, ich weiß schon. Gutmenschen-Gedöns“, wetterte der Jogginganzugträger von seinem Platz.

„Eben, Herr Maier.“

Während ich völlig perplex im Kleingeldfach meines Geldbeutels fingerte, stupste mich Nils an: „Lass gut sein. Mir ist der Appetit vergangen.“

„Mhm. Okay.“ Ich steckte mit einem verlorenen Gefühl mein Portmonee zurück in die Tasche und folgte Nils zum Ausgang.

„Jetzt hat sich die Frau Junghans extra die Mühe gemacht, euch eurer Essen zusammenzurichten und dann so etwas. Ihr Schmarotzer“, motzte der Frührentner uns hinterher.

Nils warf einen Blick über die Schulter: „Heul doch, du Drecksack.“

„Unverschämtes Pack!!!“

Dann hatten wir das Geschäft verlassen. Ich war völlig durch den Wind und überfordert mit dieser neuen Erfahrung. Als ich zu Nils schaute, konnte ich es kaum fassen. Er grinste dreckig, so als ob er sich selbst feiern würde, weil er dem unangenehmen Mann Paroli geboten hatte.

„Ich kann nicht glauben, was ich gerade erlebt habe“, murmelte ich.

„Wir haben uns doch gut geschlagen“, unkte Nils fröhlich zurück.

„Hat dich das jetzt gar nicht getroffen?“

Nils schaute mich jetzt ernster an: „Wir müssen uns doch nichts vormachen. Solche Sachen werden uns jetzt immer wieder passieren. Wir müssen halt gucken, dass wir am Ende als die Sieger dastehen. Wir erzählen das jetzt allen, die auf unserer Seite sind und vielleicht kaufen einige ja demnächst ihre Brötchen woanders.“

Ich rang mir ein Lächeln auf die Lippen: „Hast wohl recht.“

„Natürlich hab ich recht. Zum Trost lade ich jetzt dich auf ein süßes Teilchen beim Hausmeister ein. Einverstanden?“

„Einverstanden.“

Auf dem weiteren Schulweg blieb ich schweigsam und zerknirscht. Ich fragte mich, warum Nils sich so leicht tat, dieses scheiß Erlebnis abzuhaken. Wahrscheinlich weil er aus einer Welt kam, in der Diskriminierung und Ausgrenzung zum Alltag gehörten. Für die heile Welt, in der ich groß geworden war, war diese Alltagsdiskriminierung jedoch ein echter Schock. Gerade weil sie von Erwachsenen kam und nicht wie bisher von Gleichaltrigen.

Als wir an diesem Morgen auf den Schulhof kamen und den allmorgendlich Spießrutenlauf durch die Mitschüler ablegten, war es zumindest schon wieder ein bisschen besser, als in der letzten Woche. Die Pöbeleien und Häme waren auch an diesem Morgen wieder da. Aber nach Lauras Party waren zwischendrin immer wieder Gesichter zu sehen, die uns wohlgesonnen waren. Einige winkten uns freundlich zu und andere, so wie zum Beispiel Anton, begrüßten uns sogar demonstrativ herzlich. Ich fand es zwar auch dank des Erlebnisses in der Bäckerei seltsam, wie sehr Nils und ich polarisierten, obwohl wir niemandem etwas getan hatten. Aber immerhin schien sich hier in der Schule die Situation zu verbessern.

Basti nahm mich gleich ins Gebet, als wir mit Zimtschnecken vom Hausmeister in der Hand (andere süße Teile hatte er in seinem Verkaufsstand nicht) bei ihm und Sophie in der Vorhalle ankamen: „Denkst du an das Kicken heute Abend?“

„Mann, das hätte ich jetzt glatt vergessen“, gab ich zu. „Wann geht’s los?“

„18 Uhr auf dem Gummiplatz hinter der Sporthalle. Kannst auch mitkommen, Nils.“

Nils wippte zweifelnd mit dem Kopf: „Hmm, ich weiß nicht. Ich kann nicht so gut Fußball spielen.“

„Das ist keine gute Ausrede. Wir haben Einige, die nicht gut Fußball spielen können. Und wenn du ganz schlecht bist, kommst du ins Tor.“

„Na gut. Wenn deine Kumpels keine Probleme mit Schwulen haben?“

„Ich hab sie schon darauf vorbereitet. Die sind da alle ziemlich locker drauf.“

Das klang für mich auch gut und ich freute mich nun wirklich auf den Freizeitkick. Das Fußballspielen hatte ich nämlich vermisst, seit ich von Freiburg nach Münsingen gezogen war.

Es läutete nun zum Schulbeginn und Basti gab Sophie einen Kuss auf die Wange: „Auf geht’s Schatz.“

„Alter. Läuft da jetzt wirklich was zwischen euch?“, hakte Nils nach, als wir uns auf den Weg zum Klassenzimmer machten.

„Ihr seid jetzt nicht mehr das einzige Paar in unserer Clique“, antwortete Sophie hörbar glücklich. „Und nicht einmal mehr das Hübscheste“, hängte Basti schadenfroh an.

„Träumt ihr mal weiter“, schmunzelte ich. „Aber echt. Ich freu mich für euch.“

„Danke.“

Die Schule brachten wir an diesem Tag gut hinter uns und um halb Zwei saßen Nils und ich gemeinsam mit meiner Mutter am Mittagstisch. Denn Nils hatte in der Großen Pause mit den Schirmachers abgesprochen, dass er über Mittag bis zum Fußball bei uns bleiben würde. Es war für mich fast unglaublich, wie gut Nils schon in unser Familienbild passte, als wir zu dritt Nudeln schaufelten und uns angeregt unterhielten.

„Hat heute in der Schule alles geklappt?“, fragte Mama und bezog das natürlich hauptsächlich auf die Anfeindungen, die wir täglich ertragen mussten.

„Ja. Mir kommt's ein bisschen so vor, als ob die Stimmung langsam auf unsere Seite kippen würde“, antwortete ich ihr. „Aber dafür hatten wir in der Bäckerei Junghans ein mieses Erlebnis.“

„Echt?“

Etwas durcheinander erzählten Nils und ich nun aufgekratzt meiner Mutter, wie die Verkäuferin und der Kunde über uns gelästert hatten und auch, dass unsere Klasse einstimmig einen Boykott der Bäckerei Junghans beschossen hatte.

„Das ist ja toll, dass eure Klasse so zu euch hält.“

„Wenn sich zumindest ein paar daran halten, ist das schon ein kleiner Sieg“, entgegnete Nils. Wobei wir beide uns bewusst waren, dass sich bestimmt nicht alle Klassenkameraden an den Boykott halten würden. Dafür lag die Bäckerei zu günstig und schulnah.

Nach dem Essen halfen Nils und ich Mama noch mit dem Abwasch. Dafür, dass ich das freiwillig tat, sammelte Nils schon wieder Pluspunkte bei meiner Mutter, die ihn aber sowieso schon mochte. Denn ohne Nils tat ich das eher ungern und Mama musste mich meistens dazu zwingen.

Als die Küche sauber war, verabschiedeten wir uns: „Wir gehen dann in mein Zimmer. Hausaufgaben machen.“

„Ich kann euch ja später zwei Stücke frisch gebackenen Kuchen vorbei bringen“, lästerte Mama.

Während Nils etwas gezwungen lächelte, hatte ich meine Mutter durchschaut.

„Trau dich bloß nicht“, konterte ich breit grinsend. Denn ich wusste ja, dass meine Mutter keine passionierte Kuchenbäckerin war und dieser Spruch nur eine Anspielung auf Frau Schirmachers Kuchen-Überrumpelung von letzter Woche war.

Mama lächelte versöhnlich: „Schon gut. Viel Spaß euch Zweien.“

„Beim Hausaufgaben machen?“

„Ganz genau.“

Als wir uns in mein Zimmer zurückgezogen hatten, taten wir mehr als eine Stunde tatsächlich genau das, was wir meiner Mutter gesagt hatten. Wir machten unsere Hausaufgaben. Nils und ich saßen Schenkel an Schenkel an meinem Schreibtisch, hingen über unseren Büchern und Heften und hatten dazu meinen PC laufen. Am Anfang, als wir beide noch am Aufnahmefähigsten waren, machten wir Mathe, wobei Nils mir geduldig eine Formel erklärte, mit der ich mir schwer tat. Nils war schon als ich ihn kennengelernt hatte ein ganz guter Schüler gewesen. Und in den letzten beiden Wochen, wo er bei den Schirmachers die Ruhe hatte, sich richtig auf den Lehrstoff zu konzentrieren, war er sogar noch besser geworden und davon profitierte ich nun. Bei Englisch und Biologie konnte ich aber besser mithalten.

Wir waren schon ziemlich am Ende unserer Hausaufgaben angelangt, da sah ich aus dem Augenwinkel, wie Nils mich von der Seite anlächelte.

„Was ist?“, fragte ich.

Er stupste mich mit seinem Knie, das sowieso schon meinen Oberschenkel berührte: „Erinnert dich diese Situation nicht an etwas?“

Klar tat sie das. Es war schon fast ein Déjà-vu, wie wir so konzentriert und harmonisch nebeneinander saßen. Und nun kam sogar noch Nils' Lächeln von der Seite dazu. So hatte vor zwei Wochen in Nils' Zimmer alles angefangen. An dem Tag, an dem wir zum letzten Mal Feinde waren.

„Damals hast du mich versucht zu küssen“, schmollte ich ihm entgegen.

„... Und mir dadurch eine ziemlich beschissene Nacht eingehandelt“, lachte Nils und ich stieg in sein Lachen mit ein. Wenn ich an diesem Tag schon gewusst hätte, wie beschissen die Nacht damals tatsächlich gewesen war, hätte ich garantiert nicht mitgelacht. Aber das sollte ich erst einen Tag später erfahren.

„Probier es doch noch mal. Vielleicht läuft es ja heute besser für dich“, scherzte ich.

Und Nils ließ sich nicht zweimal bitten. Es wird wohl niemanden wundern, wenn ich euch sage, dass dieses Mal niemand den Kopf zurückgezogen hatte. Es war wieder ein schöner Kuss voller Sinnlichkeit. Die letzte Bio-Aufgabe, an der wir gerade gearbeitet hatten, ließen wir nun links liegen. Während wir von den Schreibtischstühlen zum Bett überwechselten, landete ein Kleidungsstück nach dem anderen auf dem Boden, ehe wir uns nackt auf meinem Bett trollten. Wie schön das mal wieder war, Nils in voller Pracht zu fühlen und zu schmecken. Im Laufe dieses Nachmittags küsste und leckte ich tatsächlich alle vier Backen von Nils, schon alleine um Frau Schirmacher gerecht zu werden. Wir genossen uns wirklich über Stunden, ohne gestört zu werden und hatten dabei fantastischen Sex.

Nachdem ich Nils und mich selbst um halb Sechs am Abend in Sportklamotten aus meinem Kleiderschrank eingekleidet hatte, machten wir uns gut gelaunt und sehr befriedigt auf den Weg zum Gummiplatz. Ich ließ mein Rad in der Garage stehen und Nils schob seines, weil er nach dem Kicken direkt nach Gomadingen fahren wollte. So blieb uns noch viel Zeit zum lachen und quatschen. Ich war glücklich, dass ich Nils bei mir hatte. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich mich alleine überhaupt dazu durchgerungen hätte, bei den Freizeitkickern mitzumachen. Schon alleine aus Angst vor Diskriminierungen. Aber zu Zweit war es viel einfacher.

Unsere Entscheidung, dort hinzugehen, sollte sich als goldrichtig erweisen. Auch wenn das Spielniveau der 'Schwabenpfeile', wie sich die Kicker auf Freizeit-Turnieren nannten, weit unter dem war, das ich vom Vereinsfußball kannte, machte es Spaß. Es war eine bunt gemischte Truppe, in der Nils, ich und Basti die jüngsten waren. Die meisten waren in den Zwanzigern und der Älteste war sogar schon über Dreißig.

Die Tatsache, dass wir schwul waren, wurde dabei nicht einmal totgeschwiegen. Gerade weil Nils' Familie in Münsingen als Nazi-Clan berühmt-berüchtigt war, waren die Mitspieler interessiert, wie das zwischen uns zustande gekommen war. Für unseren Weg ernteten wir nur Respekt und keine Ressentiments und ich musste mir lediglich Lästereien anhören, weil ich als zugezogener Badener nun bei den Schwabenpfeilen mitspielte. Doch dafür konnte ich die meisten Mitspieler auch locker abkochen, während sich Nils in das vorherrschende spieltechnische Unvermögen wunderbar einreihte. Dass wir zwischendurch beobachtet wurden, bemerkte jedoch niemand. Sonst wäre vielleicht einiges ganz anders gelaufen.

So hatten Nils und ich dabei einen riesigen Spaß. Während der anderthalb Stunden wurde eine Menge gelacht, gescherzt und übereinander gelästert. Auch wenn ich gerne mal wieder richtigen Vereinsfußball gespielt hätte, schwor ich mir, den Schwabenpfeilen treu zu bleiben. Ein angenehmes soziales Umfeld war mir an diesen Tagen nämlich wichtiger, als niveauvoller Sport.

Wie abgemacht, radelte Nils danach alleine Richtung Gomadingen, während ich den Großteil des Heimwegs vom Sportgelände zu mir nach Hause mit Benedikt ging, der hauptsächlich Torwart spielte (wobei die Rollen manchmal gewechselt wurden). Ein 24jähriger rotblonder Kerl, der eigentlich ständig am Späße machen war. Zwei Kreuzungen vor der Seitenstraße, in der ich wohnte, trennten sich unsere Wege, nicht ohne dass ich Benedikt versprechen musste, auch in der folgenden Woche wieder beim Kicken dabei zu sein. Auf den restlichen Metern, als ich durch die Abend-Dämmerung lief, war ich so zufrieden, wie selten zuvor in meinem Leben. Mir wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, dass ich hier in der Provinz der Schwäbischen Alb glücklicher war, als ich es in Freiburg jemals gewesen war. Ich war verliebt in einen fantastischen Jungen, konnte das offen zeigen und fand immer mehr Freunde, die mich und Nils so akzeptierten, wie wir waren.

Ich träumte erstens von einer rosigen Zukunft und zweitens von einem gemütlichen Abend, an dem ich das Wohnzimmer (und vor allem die Küche) für mich alleine hatte. Denn ich wusste, dass meine Eltern jetzt gerade auf dem Infoabend für ihren lächerlichen Pflegeeltern-Führerschein waren. Ich bog in unser Sträßchen ein und schlenderte an abgestellten Autos und einer leeren Parkbucht vorbei, die etwas abgesetzt und zu drei Vierteln von Hecken umgeben war. Derweil kramte ich mir schon den Schlüssel aus der Hosentasche, denn unser Haus war in Sichtweite.

Da war direkt hinter mir zweimal kurz hintereinander das Zuschlagen von Autotüren zu hören.

„Hey du, warte mal kurz“, rief jemand.

Ich drehte mich um, aber da war es schon zu spät, um zu reagieren. Zwei Männer mit Sturmhauben kamen auf mich zugestürmt und waren weniger als drei Meter von mir entfernt. Der Eine, mit einem runden Bierbauch unter einem 'Landser'-Kapuzenpulli, zog sich seine Maske mit drei Löcher für die Augen und den Mund gerade noch über sein schlecht rasiertes Kinn. Und der andere, eine hagere, lange Gestalt mit schwarzer Bomberjacke und knöchelhohen Doc-Martens-Schuhen, hatte eine ähnliche Maske, die aber eher ins Graue überging, schon runtergezogen gehabt.

„Hey...“, konnte ich nur noch ausrufen, da hatte mir der Dicke schon eine Hand auf den Mund gedrückt.

„Is ja jut, Kleener. Wir wollen nur ein bisschen quatschen“, laberte er mit einem berliner oder brandenburgischen Akzent, der unter anderen Umständen vielleicht sogar lustig geklungen hätte. Er schob mich unwirsch in die einigermaßen sichtgeschützte Parkbucht, während der Hagere sich nervös über die Schulter schaute, ehe er uns folgte.

Ich schickte zwar ein Stoßgebet in den Himmel, dass irgendjemand vorbeikäme, der mir helfen oder zumindest die Polizei rufen konnte, damit die Schläger verschwanden. Aber dieses Glück hatte ich nicht.

„Was wollt ihr?“ keuchte ich einigermaßen verständlich in die Hand auf meinem Mund, während ich spürte, wie die Zweige der Hecke an meinem Nacken kratzten.

„Macht es dir Spaß, einen blonden deutschen Jungen in den Arsch zu ficken, Kanakenschwuchtel?“, zischte der Hagere zwar aggressiv, aber leise genug, um die Nachbarn nicht aufzuschrecken, in dem hiesigen schwäbischen Dialekt. Und plötzlich war mir alles klar. Trotz der Sturmhauben schätzte ich die beiden Angreifer auf ein eher junges Alter und dieser hier konnte eigentlich nur Torsten sein. Ich hatte wohl gerade mein erstes Rendezvous mit Nils' brandgefährlichem Nazi-Bruder.

Verzweifelt überlegte ich mir, was ich sagen sollte, obwohl die Hand immer noch meinen Mund zudrückte. Aber die Zeit zum Antworten blieb mir gar nicht. Ich hörte ein metallisches Klacken, denn dieser... Torsten?... hatte mit einem beiläufigen Schütteln des Handgelenks einen Teleskop-Schlagstock ausgefahren. Ehe ich überhaupt erschrecken konnte, traf er mich damit schon an der Leber.

Der Schmerz war unbeschreiblich. All meine Sinne wollten schreien, aber genauso wie alle anderen Muskeln meines Körpers, verkrampfte sich auch mein Zwerchfell und ich konnte weder ein- noch ausatmen. Lautlos kippte ich zu Boden, wie ein nasser Sack. Der Hagere, der mich niedergeschlagen hatte und den ich als Torsten ausgemacht hatte, ging sofort in die Hocke und stemmte sein Knie auf meine Brust. Die Spitze des Teleskop-Schlagstocks drückte er drohend an die weiche Stelle an meinem Hals direkt unter meinem Kehlkopf, dann spuckte er mir einen Klecks widerlicher Rotze mitten ins Gesicht. Der Dicke ging einen Schritt zurück, um Schmiere zu stehen.

„Pass auf, Homo“, redete er leise, aber bedrohlich und zum ersten Mal fiel mir sein Lispeln auf. „Heute unterhalten wir Zwei uns noch einmal nett. Aber falls du weiterhin nicht die Finger von Nils lässt, kommen wir wieder und dann machen wir ernst. Dann kannst du deine Zähne vom Bordstein aufsammeln. Kapische?“

Ich konnte zwar nicht antworten, weil ich immernoch keine Luft bekam, aber mit heißen Tränen in den Augen nickte ich eifrig, in der Hoffnung, nicht noch einmal mit dem Schlagstock geschlagen zu werden.

„Schlauer Kanake“, lästerte der mutmaßliche Torsten höhnisch.

Mit einer kleinen Handbewegung hob er den Teleskop-Stock hoch und als ich gerade damit rechnete, dass er ihn wieder runter sausen ließ, kam vom Dicken ein „Pst“.

Schnell richtete sich der Hagere auf. Er ging zwei Schritte dem Dicken entgegen, um sich wohl selbst ein Bild der Lage zu machen, dann kam er eiligen Schrittes wieder zu mir zurück. Ich wollte mich in Fötusstellung zusammenrollen, war aber nicht schnell genug. Er trat mir mit einer Stahlkappe der Doc-Martens in den Magen und schickte die nächste unerträgliche Schmerzwelle durch meinen Körper. Dieses Mal brachte ich es zumindest zu einem armseligen Seufzen.

„Bis bald. Man sieht sich“, höhnte der Angreifer und nun konnte ich durch die Mundöffnung seiner Haube tatsächlich erkennen, wie er zu mir herab lächelte. Und der Dicke gab mir noch ein schadenfrohes: „Und wenn du die Bullen rufst, dann kommen unsere Freunde und machen dich tot. Und deine Kanaken-Eltern auch“, mit auf den Weg. Dann war es vorbei. Im Laufschritt joggten die zwei Nazi-Schläger zu ihrem Auto und im nächsten Moment fuhren sie mit quietschenden Reifen davon.

Die Warnung des Dicken war wohl ein falscher Alarm gewesen. Der Angriff hatte zwar vom Zeitpunkt, als ich von hinten angegriffen wurde, bis dahin, wo die Nazis davongefahren waren, sicher weniger als zwei Minuten gedauert, aber ich lag noch lange zusammengekauert, zitternd und weinend da und niemand kam vorbei. Die Schmerzen waren nach ein paar Minuten zwar wieder erträglich, doch ich wusste schon damals, als ich wie ein Häufchen Elend auf dem Asphalt lag, dass mein Leben nie mehr so unbeschwert sein würde, wie es einmal war. Etwas in mir war gestorben.

Ich lag in meinem Bett und hatte mein Gesicht ins Kopfkissen gegraben, das sich mit meinen Tränen vollsaugte und mein Wimmern dämpfte. Ich zitterte am ganzen Leib. An der Seite, wo mich der Schlagstock eine halbe Stunde zuvor getroffen hatte, zog es bei jeder Bewegung schmerzhaft und in der Magengrube hatte ich ein dumpfes Pochen durch den Tritt mit der Stahlkappe. Zwar glaubte ich, nicht ernsthaft verletzt worden zu sein, aber das machte es nicht viel besser. Mein ganzes unbeschwertes Lebensgefühl war von einer Minute auf die Andere totgeschlagen worden. Für die Angreifer war es der reinste Spaß gewesen, mich zusammenzuschlagen. Die Erinnerung daran, wie dieser... Torsten?... gelacht hatte, als ich mich auf dem Boden vor Schmerzen gewunden hatte, war unerträglich. Und sie wussten, wo ich wohnte. Sie konnten jetzt immer wieder kommen, wenn ihnen danach war, ihrem verfluchten Hobby nachzugehen.

Ich wusste, dass das einzige Richtige, was ich tun konnte, war, mich meinen Eltern anzuvertrauen und zur Polizei zu gehen. Aber etwas wie eine Lähmung hatte meine Psyche vergiftet. Es hatte mich sogar eine unmenschliche Mühe gekostet, mich dazu zu überwinden, mir die Straßenkleidung abzulegen, bevor ich mich ins Bett legte. Angst war alles, wofür in meinen Gedanken noch Platz war. Angst und Ohnmacht. Man fühlt sich als ein wertloses Stück Scheiße, wenn man zum ersten Mal das Opfer von sinnloser Gewalt wird. Ich verachtete mich selbst dafür, dass ich mich nicht gewehrt hatte, obwohl ich wusste, dass ich nicht die geringste Chance gehabt hätte.

Nach einer halben oder dreiviertel Stunde wurde die Wohnungstür aufgeschlossen und ich hörte, wie meine Eltern nach Hause kamen. Ich hörte sie lachen und schäkern und schämte mich, ihnen unter die Augen zu treten. Darum blieb ich einfach liegen. Als meine Mutter die Zimmertür einen Spalt öffnete, stellte ich mich schlafend.

„Pssst, der schläft schon“, flüsterte sie zu Papa hörbar verschmitzt.

„Hat sich bestimmt mit Nils zu sehr ausgetobt“, lachte mein Vater leise zurück, danach waren sie bemüht, still zu sein.

Aus der Düsternis, die meine Seele im Würgegriff hatte, wurde ich nur einmal kurz rausgeholt. Nämlich als ich die allabendliche SMS von Nils bekam: 'Gute Nacht, Miguel', und ein Kuss-Smiley.

'Gute Nacht. Bis Morgen', schrieb ich zurück. Und ich wusste, dass alles vorbei war. Am nächsten Morgen würde ich die Sache mit Nils ein für alle Mal beenden. Der Gedanke daran tat zwar weh, aber es war das Beste für uns alle. Und Nils war ja auch an allem Schuld. Vielleicht hatte Torsten sogar meine Adresse von ihm. Obwohl ich Nils, nachdem ich ihn eine Woche zuvor angemotzt hatte, nicht mehr dabei erwischt hatte, mit Torsten zu schreiben, war ich mir sicher, dass er die ganze Zeit seinen naiven Kontakt mit seinem großen Bruder gehalten hatte. Und nun war ich es, der dafür büßen musste.


Es war Nacht. Im tristen orangenen Natriumdampf-Licht der Straßenlaternen, das die Kleinstadtwelt um mich herum mal heller und mal dunkler machte, rannte ich um mein Leben über den Asphalt der gottverlassenen Schillerstraße. Ein ekliger Nieselregen durchweichte meine Kleidung und legte sich kalt auf die Haut meines Gesichts. In Panik hetzte ich um eine Ecke in die Uhlandstraße, die um diese Zeit unbeleuchtet war. Ich hegte nämlich die verzweifelte Hoffnung, mit diesem Manöver meine Verfolger abschütteln zu können, aber natürlich gelang mir das nicht. Dafür war mir der Lynchmob schon viel zu dicht auf den Fersen.

„Da ist er“, schrie einer, der lispelte, dann folgten mir das schwere Laufschritt-Trampeln von fünf oder sechs Springerstiefel-Paaren in die düstere Gasse. Obwohl ich leichte Sportschuhe trug und mich eigentlich für einen guten Läufer hielt, schien ich während der letzten fünf Minuten, in denen ich von Skinheads gejagt wurde, die mit Schlagstöcken und schweren Eisenketten bewaffnet waren, keinen Meter gut gemacht zu haben. Ich hatte mich nun sogar in eine Falle manövriert. Auf dem nassen Kopfsteinpflaster dieser Straße fanden meine Sneakers auf einmal fast keinen Halt mehr und ich hatte bei meinem Tempo größte Mühe, nicht zu fallen. Gerade auch, weil ich in der Dunkelheit den unebenen Boden unter mir so gut wie gar nicht sehen konnte.

Mein Herz raste nun auf Vollgas. Ich konnte neben dem Trampeln meiner Verfolger nun sogar schon ihren keuchenden Atem hören. Hundert Meter entfernt war die Straßenbeleuchtung der Goethestraße zu sehen. Dorthin musste ich gelangen, um wieder die Chance zu haben, Boden gut zu machen und vielleicht sogar auf Menschen zu treffen, die mir helfen konnten. Aus der Verzweiflung heraus setzte ich alles auf eine Karte. Ich gab wieder Gas und rannte so schnell ich konnte. Meine Füße schlitterten zwar manchmal, aber es hörte sich nun tatsächlich so an, als ob ich mir einen Vorsprung herauslaufen konnte. Ich hegte schon eine irre Hoffnung, diese Nacht doch noch überleben zu können. Da blieb meine rechte Schuhspitze an einem herausragenden Pflasterstein hängen. Mein linker Schuh rutschte mit einem schlürfenden Geräusch über den Boden. Einen Moment lang versuchte ich noch, mit rudernden Armen den Sturz zu verhindern, doch da schlug ich schon mit den Knien auf dem Boden auf, und im nächsten Moment auch mit dem Kinn. Eine Welle aus Schmerzen überflutete meine Sinne.

Sekunden später hatten mich meine Verfolger eingeholt. Es waren sechs. Sechs düstere, schattenhafte Gestalten, die mich nun umkreisten und auf mich herabschauten.

„Hättest es deinen Eltern nicht sagen sollen, damit sie die Bullen rufen können, Kleener“, sagte ein Dicker mit berliner Dialekt, dann holte er mit seiner Kette aus. Wie in Zeitlupe beobachtete ich, wie sie im Schattenlicht dieser Herbstnacht mit einem Rasseln, das an brechende Knochen erinnerte, auf mich herabsauste. Glieder funkelten in einer Lichtquelle, die sich nicht erschließen ließ. Ich kniff die Augen zusammen, in Erwartung des Einschlags von Eisen in meinem Gesicht und dann...

 

Ich riss die Augen auf und fand mich in einer anderen Art von Dämmerlicht. Durch die Rollläden meines Zimmerfensters sickerte nämlich schon Tageslicht durch. Von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet saß ich aufrecht in meinem Bett. Alles nur ein Alptraum. Schon der dritte in dieser Nacht. Vom Badezimmer aus war fließendes Wasser zu hören, weil meine Mutter sich wohl gerade fertig machte. Ein Blick auf den Wecker bestätigte die Vermutung. Es war 6:57 Uhr. In drei Minuten musste ich aufstehen. Ich versuchte meine Gedanken zu sortieren, was mir bei dem Schock, unter dem ich stand, nicht leicht fiel. Mein Herz raste immer noch so, als wäre ich gerade ums mein Leben gerannt und der Schweiß auf meiner Haut begann abzukühlen und sich klebrig anzufühlen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich wirklich so dumm gewesen war, meinen Eltern zu verraten, was mir passiert war und gab ein Seufzen der Erleichterung von mir, als ich realisierte, dass dies nicht der Fall war. Nils' Bruder Torsten hatte also keinen Grund dazu, mit einem Mob eine Hetzjagd auf mich zu veranstalten, so wie ich es geträumt hatte. Gott sei Dank.

Ich hatte gehofft, dass es mir am Morgen, wenn ich einen Nacht über den Angriff vor unserem Haus geschlafen hatte, besser ginge, aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil. Die bösen Träume, deren Grauen mit dem Aufwachen noch lange nicht verflogen war, hatten es nur noch schlimmer gemacht. Mit einem Gefühl, als wäre mein Kopf mit Watte ausgestopft, erledigte ich meine Morgenroutinen auf Autopilot. Mein Gesicht sah schrecklich aus, als ich im Badezimmer in den Spiegel schaute. Meine Augen waren gerötet und darunter waren dunkle Schatten, die ich bis dahin noch nie an mir gesehen hatte. Ich ließ mir extra viel Zeit im Bad, um die Zeit kurz zu halten, die ich mit Mama am Frühstückstisch verbringen musste.

„Bist du auf der Kloschüssel nochmal eingeschlafen?“, scherzte meine Mutter dann auch, als ich angezogen ins Esszimmer bog. Aber im nächsten Moment, als sie mich genauer betrachtete, verging ihr das Lachen, und ihr Gesichtsausdruck wechselte in Besorgnis: „Stimmt etwas nicht?“

„Nee. Alles okay. Hab schlecht geschlafen.“

„Miguel. Du...“

Ich schwang mir den Rucksack über die Schulter: „Ich muss gleich los. Bin spät dran.“

Die bereitstehenden Cornflakes ließ ich links liegen und während meine Mutter noch viel zu perplex war, um zu reagieren, hatte ich die Wohnung schon verlassen.

Auf dem Schulweg bekam ich eine Ahnung davon, wie sehr sich mein Leben nun verändern würde. Als ich an der Stelle vorbei kam, wo ich verprügelt worden war, wurde mir so schlecht, dass ich mich beinahe erbrochen hätte. Und auch auf dem weiteren Weg schaute ich alle paar Sekunden über die Schulter und rechnete eigentlich fest damit, maskierte Männer zu erblicken, die auf mich losgingen. Als mein Handy in der Tasche vibrierte, zuckte ich vor Schreck zusammen. Aber es war nur meine Mutter. Ich ließ es einfach klingeln.

Meine Gefühle fuhren Achterbahn, als ich Nils von Weitem erspähte, wie er, so wie jeden Morgen, mit seinem Fahrrad vor der Bäckerei Junghans auf mich wartete. In mir kochte die Wut auf, denn Nils war sicher Schuld, dass mir das alles passiert war. Ich hasste ihn sogar ein bisschen dafür, dass er mich, wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt, an seinen Bruder verraten hatte. Auf der anderen Seite freute es mich auch ihn zu sehen und ich empfand dieselbe Zuneigung und Liebe, wie jedes Mal, wenn ich ihn erblickte.

Auch Nils' Lächeln gefror auf seinen Lippen ein, als ich näher kam. Genauso, wie es bei meiner Mutter gewesen war. Ich musste wirklich schlimm aussehen.

„Miguel... Mausi... Was ist los?“, fragte er mit dem erfolglosen Versuch, mich zum Schmunzeln zu bringen. Nils legte mir eine Hand an die Schulter, die ich grob wegwischte.

„Nichts. Alles okay, soweit. Komm, lass uns gehen.“

Ich wollte den restlichen Weg zur Schule einschlagen, aber natürlich ließ Nils das nicht auf sich beruhen. Er hielt mich etwas resoluter mit beiden Händen fest: „Nicht, bevor du mit der Sprache rausrückst, Señor Garcia. Mir ist es egal, wenn wir die erste Stunde verpassen.“

Nils war anzusehen, dass er immer noch auf ein Lächeln von mir wartete, aber vergebens.

„Ich hab über uns nachgedacht. Es ist besser, wenn wir uns trennen.“

Nils schaute mich mit großen Augen an: „Quatsch. Das ist doch nicht dein Ernst!“

„Erika hatte recht. Der ganze schwule Scheiß ist nur ein Hirngespinst. Wir können vielleicht Freunde bleiben, vielleicht auch nicht. Für dich wär's eh besser, wenn du bei den Schirmachers bleibst. Die tun dir gut.“

Ich wunderte mich selbst über mich, dass es mir leichter fiel, so einen Blödsinn zu schwafeln, als Nils die Wahrheit zu erzählen. Aber diese Opferrolle, in der ich mich befand, fühlte sich so grausam an. Wie ein Schandfleck, den ich mit mir trug und bei dem es besser war, ihn zu verbergen. Vielleicht wäre es mir ja sogar gelungen, mein Schauspiel aufrecht zu erhalten, wenn sich Nils auf die Diskussion eingelassen hätte. Aber er schaute mich aus den braunen Augen, die ich so liebte, nur nachdenklich an. So als ob er versuchen würde, in meinem Gesicht die Wahrheit zu lesen. Und dann brach ich zusammen. Meine Augen begannen zu brennen, sie wurden feucht und in der nächsten Sekunde kullerten Tränen über meine Wange.

„Sag mir, was passiert ist“, flüsterte Nils beruhigend und drückte mich an sich.

Halbherzig stieß ich ihn mit beiden Händen weg und schrie ihm aufgewühlt ins Gesicht: „Ich bin gestern zusammengeschlagen worden. Okay?! Von deinem ach so tollen Bruder! Er und sein Kumpel haben mit einem Schlagstock auf mich eingedroschen!“ Ich wies mir mit der Hand auf die schmerzende Stelle an meiner Seite, wo mich der Teleskop-Schlagstock getroffen hatte.

Nils schaute mich bestürzt an: „Torsten?“

„Klar! Oder hast du vielleicht noch einen anderen blutrünstigen Nazi-Bruder, von dem ich nichts weiß?“

„Nein. Aber ich kann das einfach nicht glauben.“ Nils war jetzt selbst den Tränen nahe und ich ließ es zu, dass er seine Hand an meinen Hinterkopf legte und mein Gesicht an seine Schulter drückte.

„Ist aber so“, nuschelte ich an seinen Pulli, während ich die Tränen nun endgültig nicht mehr zurückhalten konnte.

„Weine nur. Ich kann verstehen, wie es dir geht“, flüsterte Nils beruhigend, aber ich protestierte mit bebender Stimme.

„Gar nichts kannst du.“

„Man fühlt sich schwach und hilflos. Wie der letzte Dreck und man schämt sich. Aber das musst du nicht.“

Einen Augenblick lang war ich baff, wie Nils meine Gefühlswelt auf den Punkt gebracht hatte. Aber warum auch nicht. Wenn einer wusste, wie man sich als Gewaltopfer fühlte, dann ja wohl Nils. Doch diese Einsicht wollte ich ihn nicht erkennen lassen. Trotzig löste ich mich von ihm, denn ich musste es jetzt für uns durchziehen, unsere Beziehung zu beenden. Mit ein bisschen Abstand würde Nils sicher auch erkennen, dass es das Richtige war.

„Alter, Nils. Deine Glückskeks-Weisheiten kannst du ruhig für dich behalten. Fakt ist, dass die jetzt immer wieder kommen können. Jederzeit. Das nächste Mal will mir Torsten die Zähne ausschlagen. Und ich glaube, dass er das auch wirklich tun wird.“

Ich verzog das Gesicht, als mir Nils über die Wange streichelte und drehte den Kopf zur Seite. Aber dafür legte er mir einen Arm um die Schulter und gemeinsam machten wir uns im Schneckentempo auf den Weg zur Schule. Eine Weile schwiegen wir, ehe Nils das Gespräch wieder aufnahm.

„Hast du schon mit deinen Eltern darüber geredet?“

„Nein. Mama und Papa würden zur Polizei gehen. Und der Kumpel von deinem Bruder hat gesagt, dass dann ihre Freunde kommen, damit sie mich und meine Eltern umbringen. Und weißt du was, Nils?! Das glaube ich ihm sogar.“

Nils blickte betroffen drein: „Und... du bist dir sicher, dass das Torsten war?“

„Klar. Wer denn sonst?“

„Weiß nicht. Kannst du ihn mir beschreiben?“

„Wie denn? Er hatte eine Sturmhaube auf.“

„Gut. Aber trotzdem irgendwie?“

„Groß, einschüchternd... Ist ja auch egal“, raunzte ich, weil ich mich nicht mehr zurückerinnern wollte. „Zumindest bleibe ich bei meiner Entscheidung. Es ist jetzt fertig mit uns. Wir zwei haben keine Zukunft. Die werden sonst immer weiter machen, bis einer stirbt.“

Meine Worte taten mir selbst weh, denn ich liebte Nils immer noch über alles. Aber die Angst vor dem, was noch kommen konnte, war einfach zu groß.

Zu meiner Überraschung widersprach mir Nils nicht. Vielleicht, weil er wusste, dass die schrecklichen Drohungen ernst zu nehmen waren. Wir gingen beide schweigend und nachdenklich nebeneinander her, bis wir die Schule erreichten. Die wenigen Beleidigungen, die es noch gab, ließen wir unbeachtet auf uns herein prasseln und auch unseren Freunden gingen wir an diesem Morgen aus dem Weg. Selbst in der großen Pause hatte ich Nils und alle Anderen, die es gut mit mir meinten, abgehängt, um für mich alleine zu sein und meinen trüben Gedanken nachzugehen. Nichts war mehr so, wie es einmal war. Seit dem Angriff am Vorabend bekam ich das in jeder Sekunde zu spüren.

Nach der Pause, als ich mich schweigend und mit einem zum Selbstschutz auferlegten grimmigen Gesicht neben Nils setzte, zwickte er mich zärtlich in die Schulter.

„Was?“, maulte ich.

„Ich hab einen Vorschlag.“

Ich rollte mit den Augen: „Und der wäre?“

„Wir gehen in der Mittagspause zusammen Currywurst essen. Ich lade dich auch ein.“

„Bei Frieda's Imbiss?“, fragte ich gespielt erschüttert und es kostete mich nun ein bisschen mehr Mühe, nicht zu schmunzeln. Denn das war die nicht wirklich appetitliche Frittenbude, wo vor zwei Wochen, als wir noch Erzfeinde waren, alles begonnen hatte.

„Selbstverständlich“, lächelte Nils, der meine Gesichtsregung wohl erkannt hatte.

Mein Lächeln kam nun auch zaghaft durch: „Das heißt, du willst mir zumindest noch eine Lebensmittelvergiftung mit auf den Weg geben, wenn ich schon mit dir Schluss mache?“

Nils' Grinsen wurde breiter: „Ach komm schon, du tust der guten Frieda unrecht. Tust du mir den Gefallen? Bei Frieda hat es mit uns begonnen, dann lass es uns bei Frieda auch beenden.“

Seine braunen Augen funkelten mich pfiffig an und ich war mir weniger sicher denn je, ob ich überhaupt in der Lage wäre, meine Liebe zu Nils einfach so zu begraben.

„Na gut. Wenn du meinst, dass eine ranzige Currywurst ein würdiges Ende ist...“

Meine Lippen bebten, Nils' Lippen bebten und ohne dass ich es wollte, lachten wir gemeinsam.

„Vielleicht änderst du ja sogar bei leckeren Salmonellen mit Glutamat deine Meinung“, lachte Nils dabei, dann wurde unser Gespräch unterbrochen, denn Herr Bosch kam ins Klassenzimmer, um mit dem Unterricht zu beginnen.

Insgeheim war mir der Abstecher in der Mittagspause ganz recht, denn so musste ich nicht, wie geplant, zum Mittagessen nach Hause gehen und meiner Mutter dabei unter die Augen treten. Ich hatte ihr mit einer Textnachricht übers Smartphone Bescheid gegeben und jede Rückfrage unbeantwortet gelassen.

Als ich nach der sechsten Stunde gemeinsam mit Nils die Schule verließ, lag eine schwermütige, aber auch harmonische Stimmung über uns. Ich hatte den Eindruck, dass Nils es akzeptiert hatte, dass eine Beziehung zwischen uns unter keinem guten Stern stände und dass es besser für uns war, getrennte Wege zu gehen. Nun ging es darum, diese turbulenten, aber auch wundervollen vierzehn Tage unseres Lebens in guter Erinnerung zu behalten. Ich musste daran denken, wie wir zwei Wochen zuvor denselben Weg gegangen waren. Damals hatten wir uns noch gehasst, doch bald darauf hatte Nils zum ersten Mal seine echte, menschliche Seite durchschimmern lassen.

„Glaubst du wirklich, dass wir es schaffen, uns aus dem Weg zu gehen? Wir sehen uns ja jeden Tag und sitzen sogar nebeneinander“, fragte Nils ohne den Hauch eines Vorwurfs oder von Sarkasmus in seiner Stimme.

„Am Besten, wir setzen uns auseinander. Ich werde es mir auch mit Sophie und Basti verscherzen, dann kannst du sie als Freunde behalten. Ich finde, es ist auch besser, wenn wir nicht den gleichen Freundeskreis haben.“

Nils nickte und ließ sich nicht wirklich in die Karten schauen: „Und die Sache mit dem Sorgerecht? Wird schwer für dich, deinen Eltern klarzumachen, dass sie aufs Jugendamt gehen sollen, um der Zittlau zu sagen, dass sie mich doch nicht mehr wollen.“

„Da wird mir auch etwas einfallen. Aber keine Sorge. Ich nehme die Arschloch-Karte voll auf mich. Wie wäre es, wenn wir heute in der Mittagsschule damit beginnen, den Anderen einen Streit vorzuspielen?“ - Ich wusste ja selbst, was ich für einen Quatsch laberte. Aber die Angst vor einer Rache der Nazis, die vielleicht sogar meine Eltern mit treffen konnte, saß unglaublich tief.

Nils nickte beim Gehen betreten vor sich hin: „Weiß nicht. Vielleicht fällt uns ja auch etwas ein, wie wir zusammen bleiben können.“

„Sieh es ein, Nils. Wir haben verloren. Wir hatten eine geile Zeit, aber dass jemand seine Gesundheit verliert oder sogar stirbt – das ist es einfach nicht wert“, antwortete ich mit einem Schmerz, der bis in die tiefsten Gründe meiner Seele zu reichen schien.

„Schade. Ich liebe dich, Miguel.“

Ich konnte auf diese Worte nicht mehr antworten. Den Rest des Weges legten wir schweigend und melancholisch zurück. Als wir an dieser nur bedingt einladend wirkenden Frittenbude ankamen, die aus einem Imbiss-Stand und vier Bistrotischen unter breiten Schirmen bestand, die je nach Witterung als Regen- oder Sonnenschutz dienen konnten, ging Nils an den Verkaufstresen, während ich schon einen der Tische belegte.

Fünf Minuten später saßen wir uns gegenüber und jeder aß seine Currywurst. Heute schien sie, nach all den Erinnerungen, die ich damit verband, besser zu schmecken, als beim letzten Mal. Wir redeten zwar nicht viel miteinander, aber dafür tauschten wir beim Essen viele humorvolle Blicke aus und mussten immer wieder kichern, nur weil wir uns in die Augen schauten. Trotz meiner Unkenrufe schien es tatsächlich ein würdiger Abschluss zu werden.

Diese unbeschreibliche schrecklich-schöne Stimmung änderte sich schlagartig. Ich sah eher aus dem Augenwinkel, wie auf dem gegenüberliegenden Parkplatz jemand aus einem Passat ausstieg, der Sekunden vorher dort abgestellt worden war.

'Hört das denn nie auf?', dachte ich verzweifelt, noch bevor Nils den Typen überhaupt bemerkt hatte. Er hatte sich nämlich nur kurz planlos umgeschaut, ehe er Nils und mich mit dem Blick fixierte. Dann kam er zielstrebig auf uns zu. Ein wahrlich furchteinflößender Zeitgenosse. Die Schläfen waren so kurz geschoren, wie der gepflegte Drei-Tage-Bart in seinem Gesicht, während die blonden Oberhaare nur ein bisschen länger waren. Von der ganzen körperlichen Ausstrahlung her wirkte der junge Mann, der nun mit seinem natürlich-grimmigen Gesicht auf uns zukam, noch gefährlicher, als die beiden maskierten Schläger, mit denen ich es gestern zu tun gehabt hatte. Sein Körper war sehnig und austrainiert und das Kreuz breiter. Obwohl es für kurze Ärmel eigentlich zu frisch war, trug er - wahrscheinlich hauptsächlich, damit er mit seinen tätowierten Unterarmen protzen konnte – nur ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck 'Hooligan Streetwear'.

Unter dem Tisch tippte ich Nils panisch mit der Schuhsohle an den Fuß, während ich dem feigen Drang widerstand, aufzuspringen und meinen Geliebten alleine sitzen zu lassen. Nils musste seinen Kopf weit zur Seite drehen, um meinem Blick zu folgen und auf einmal kapierte ich gar nichts mehr. Statt Panik zu bekommen lächelte Nils. Und im selben Moment zeichnete sich auch ein Lächeln in das Gesicht des selbstbetitelten Hooligans, das dort ein bisschen fehl am Platze wirkte.

Noch während ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was hier eigentlich vor sich ging, zog sich der Kerl einen der billigen Alu-Stühle von einem Nachbartisch zurecht und setzte sich zu Nils und mir an den Tisch.

Er gab Nils einen neckischen, aber auch liebevollen Klaps ins Genick: „Mann, Schnäuzle. Endlich lässt du dich mal blicken, nach dem ganzen Scheiß, den du angerichtet hast.“ Dann ging sein Blick zu mir. „Ist er das?“

„Ja. Das ist Miguel“, antwortete Nils seelenruhig, während ich noch das 'Schnäuzle' verdauen musste. Dieses Kosewort klang aus dem Mund eines solchen Kerls so absurd, dass ich, wenn ich nicht so eingeschüchtert gewesen wäre, laut losgelacht hätte. Stattdessen versuchte ich nur, mich so gut wie möglich wegzuducken vor dem harten Blick, den mir der Unbekannte zuwarf.

Nils übernahm die Vorstellung: „Miguel, das ist Torsten. Mein Bruder.“

„Hallo“, nuschelte ich, worauf Torsten mich mit Augen anschaute, die in mir den Beschluss festigten, besser die Klappe zu halten.

Doch als er sich Nils widmete, wurde sein Blick schlagartig wieder weich: „Weißt du eigentlich, was du uns da eingebrockt hast? Für Mama ist eine Welt zusammengebrochen. Und das alles wegen so einem?“ - Wieder so ein schräger Blick zu mir.

Nils zuckte mit den Schultern: „Ich liebe Miguel. Wenn Mama damit nicht klar kommt, ist es ihr Problem.“

„Na super. Schwul mit 'nem Kanaken.“ Torsten schüttelte mit dem Kopf. „Hast du dir nicht mal überlegt, in den Puff zu gehen? Die richtige Nutte macht dich schon wieder klar im Kopf. Dann kannst du dich auch wieder auf unseren Kampf fürs Vaterland konzentrieren, wenn du dir den Kopf freigevögelt hast.“

Nils zog genervt die Augenbrauen hoch: „Ich hab mich nicht auf dieses Treffen eingelassen, nur um mir so blöde Sprüche anzuhören. Sonst können wir das sofort beenden und weiter über Whatsapp schreiben.“

Torsten seufzte und gab dabei ein abfälliges Grunzen von sich: „Okay. Und wieso hast du mich dann hier herbestellt? Wenn ich dir nicht mal meine Meinung sagen darf?“

„Miguel wurde gestern zusammengeschlagen. Und er glaubt, dass du dahinter stecken könntest. Dabei hast du mir versprochen, uns in Ruhe zu lassen.“

Mir klappte die Kinnlade herunter. Hatte Nils das wirklich alles eingefädelt? Mir weiß machen, dass das hier ein würdiges Ende sein sollte und in Wirklichkeit hatte er auch noch seinen Bruder herbestellt? Aber statt mich zu beschweren, blieb ich geduckt. Die Sache wurde mir nämlich auch aus dem Grund mulmig, weil Torsten eindeutig nicht zu den Angreifern gehört hatte.

„Er war nicht dabei“, murmelte ich nun auch kleinlaut.

„Da hörst du's, Schnäuzle. Ich hab dir versprochen, euch in Ruhe zu lassen und daran halte ich mich auch. Ich find's zwar Scheiße, was du da treibst, aber gut – deine Sache.“

„Und du hast auch niemanden angestiftet das zu machen?“

Nun wirkte Torsten ehrlich eingeschnappt: „Mensch, Nils... Haben wir Zwei uns jemals gegenseitig verarscht?! Mit eurem Foto, das da im Umlauf ist, habt ihr es euch mit einigen verscherzt. Ich kann vielleicht ein bisschen dafür sorgen, dass die Leute dich in Ruhe lassen, aber für so einen Kanaken ruiniere ich meinen Ruf garantiert nicht. Und wenn du einigermaßen vernünftig wärst, würdest du zurück zu Mama und Papa kommen und dir eine deutsche Freundin suchen.“

„Papa hat mich verhauen“, antwortete Nils emotionslos.

„Nach der Sache mit eurem Knutschbild brauchst du dich darüber auch nicht zu wundern.“

„Auch vorher schon.“ Nils schaute Torsten jetzt ohne sichtbare Gefühlsregung tief in die Augen. „Nachdem du ausgezogen bist, hat es angefangen und ist immer schlimmer geworden. So wie er es bei dir damals getan hat.“

Nun verlor der ach so harte Torsten die Kontrolle über seinen abgebrühten Gesichtsausdruck. Er sah Nils entsetzt und auch mitfühlend an: „Wieso hast du mir das nicht erzählt? Ich hätte dich beschützt.“

„Weiß nicht“, druckste Nils. „Ich wollte nicht darüber reden, du hättest mich doch für einen Schlappschwanz gehalten. Als du in meinem Alter warst, hat sich Papa schließlich nicht mehr getraut, dich zu hauen.“

„Red doch nicht so 'nen Blödsinn. Ich hätte dir geholfen. Obwohl ich nicht verstehe, warum du das auf dir sitzen gelassen hast. Ich hab damals alles gegeben, um stärker zu werden als Papa. Und guck, was aus mir geworden ist.“

„Was ist aus dir geworden? Jemand, für den Gewalt das einzige Mittel ist, um Probleme zu lösen. Ich will so nicht werden.“

„Amen... Ich muss zumindest nicht mit vollen Hosen rumlaufen, weil ich vor irgendwelchen armseligen Möchtegern-Schlägern oder vor unserem versoffenen Papa Angst haben muss. Mann, Nils... Und ich dachte immer, du wärst der Schlauere von uns beiden.“

Nils lächelte nun zaghaft: „Ich BIN der Schlauere von uns. Irgendwann wirst du das auch noch einsehen.“

„Träum weiter.“

Die Zwei lachten sich nun tatsächlich offen an. Im wahrsten Sinne des Wortes brüderlich.

„Könntest du dich nicht vielleicht versuchen herauszufinden, wer hinter dem Angriff auf Miguel steckt und dafür sorgen, dass sie aufhören? Du kennst doch die Kameraden hier auf der Alb alle. Die haben doch Respekt vor dir“, hakte Nils nach einer kurzen Pause nach.

Torsten schüttelte mit zusammngekniffenen Lippen mit dem Kopf: „Vergiss es, Schnäuzle. Ich versuche dafür zu sorgen, dass dir nichts passiert. Immerhin bist du mein Bruder – schwuler Kanakenstecher hin oder her. Aber den Ruf, ein Kanakenfreund zu sein, fange ich mir sicher nicht ein.

Nils atmete tief durch und ließ seinen Bruder keinen Moment aus den Augen, als er leise und humorlos weiter sprach: „Ich weiß schon seit gut drei Jahren, dass ich nur auf Jungs stehe. Aber ich hab's immer irgendwie geschafft, das zu verstecken, obwohl es mich manchmal kaputt gemacht hat. Ich hab doch an meiner Zimmerdecke den Haken, wo wir früher mal den Sandsack hängen hatten. Ich hab oft daran gedacht, dass ich mich da mit 'nem Gürtel aufhänge, wenn es gar nicht mehr anders geht.“ Nils lachte bitter – ein trockenes Keuchen. „Bin bestimmt schon hundert Mal mit dem Gürtel um den Hals auf dem Stuhl gestanden zum Probehängen. Nur um sicherzugehen, dass es im entscheidenden Augenblick funktioniert. Als Miguel vor zwei Wochen bei mir im Zimmer saß, weil wir zusammen eine Strafarbeit machen mussten, war das irgendwie voll komisch. Ich hatte noch nie so einen süßen Jungen bei mir daheim. Und während wir zusammen gearbeitet haben, hab ich mich verschossen, obwohl ich wusste – oder glaubte - , dass das falsch war.“

Sowohl Torsten, als auch ich hörten nun Nils' leisen und durchdachten Worten aufmerksam zu, als er nach einer kurzen Pause weiter erzählte: „Zum Schluss ist es mir dann passiert. Ich weiß bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte. Aber ich hab versucht, Miguel zu küssen. Aus heiterem Himmel.“

„Und dann?“, fragte Torsten, als Nils keine Anstalten machte, weiterzureden.

„Nichts. Wir haben beide einen Schrecken bekommen und Miguel hat sich schnellstens auf den Heimweg gemacht. Papa hat mir abends noch in den Bauch geboxt, nur weil Miguel bei uns war. Aber der springende Punkt ist, dass ich mir sicher war, dass Miguel es allen weitererzählen würde, was ich getan hatte. Und dann wäre ich sowieso tot gewesen.“ Wieder so ein humorloses Lachen von Nils. „In dieser Nacht wollte ich es durchziehen. Da sah ich gar keinen anderen Ausweg. Ich bin stundenlang mit dem D-Ring-Gürtel um den Hals auf dem Stuhl gestanden und hab es einfach nicht geschafft, mich zu überwinden, den Stuhl an der Lehne umzukicken. Ich bin halt wirklich ein Versager.“ Nils schmunzelte und wartete auf eine Reaktion. Aber sowohl mir, als auch Torsten war die Kehle zugeschnürt. Ich dachte an den Morgen danach, an dem Nils so seltsam wortkarg und undurchschaubar gewesen war und begann zu frieren.

Als niemand reagierte, redete Nils weiter: „Am nächsten Tag war ich dann bei Miguel zuhause. Da wurde mir alles vor Augen geführt, was ich nie hatte. Nette Eltern, gemeinsames Essen, Lachen und einfach die Ruhe, um ungestört Hausaufgaben machen zu können. Und dann noch die Aussicht auf einen echten Freund. Da hab ich dann so richtig mitbekommen, wie Scheiße mein Leben eigentlich ist.“

„Und dann?“

Nils erzählte uns weiter, dass die folgende Nacht wieder sehr kritisch gewesen war. Er lag wach, zerrissen zwischen Selbstmordgedanken und einer Aufbruchstimmung, mit dem Wunsch, sein Leben umzukrempeln. Mitten in der Nacht, als er es nicht mehr aushielt, hatte er mich angeschrieben, in der Hoffnung, sich mit mir treffen zu können, um sich die Seele frei zu reden. „Du kannst dich bei Miguel bedanken, Torsten. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn diese Nacht überlebt hätte.“

„Mann, Schnäuzle. Laber doch nicht so 'nen Scheiß“, stammelte Torsten. In seinen Augen, die genauso haselnussbraun, wie die von Nils waren, schimmerten Tränen.

Nun erlebte ich die Demonstration einer ganz besonderen Macht. Der Macht eines kleinen Bruders. Statt zu antworten, schaute Nils Torsten nur ernst an. Torsten hielt dem Blick mehrere Sekunden lang stand, dann begann er unruhig mit dem Hintern auf dem Stuhl hin und her zu rutschen.

Wieder verging eine halbe Minute, dann stöhnte Torsten resigniert: „Okay. Ich werde mich mal umhören.“ Er wendete sich an mich: „Kannst du mir die Typen beschreiben?“

Ich dachte kurz nach: „Der Kleinere hatte einen Bierbauch und berliner Akzent. Der Größere mit dem Schlagstock war mager und hat gelispelt.“

„Na klar. Das waren garantiert Dick und Doof“, seufzte Torsten abfällig und Nils hakte sofort nach.

„Wer?“

„Die kennst du nicht und ich verrate euch garantiert keine Namen. Euch versuchen, den Rücken frei zu halten, ist eine Sache. Aber Kameraden zu verpfeifen, damit ihr sie anzeigen könnt, das könnt ihr vergessen. Ich werde mich selbst darum kümmern. Die lassen euch in Zukunft in Ruhe.“

Nils nickte zufrieden: „Machst du das wirklich? Oder sagst du das jetzt nur so?“

„Vertraust du mir etwa nicht mehr Schnäuzle?“, moserte Torsten und dachte kurz nach. „Aber nur unter einer Bedingung. Ich will mich mindestens ein Mal in der Woche mit dir treffen. Und zwar nicht zu so einer scheiß Zeit, sondern abends, wenn ich frei habe.“

„Einverstanden“, erwiderte Nils mit Pokerface. „So lange Miguel nicht mehr angegriffen wird, treffen wir DREI uns jede Woche.“

„Da verlangst du zu viel“, protestierte Torsten. „Mit Dick und Doof werde ich ja fertig. Bei denen reichen ein paar eindringliche Worte. Aber ich kann doch nicht vor der ganzen Kameradschaft den Kanakenbeschützer markieren.“

„Ach komm schon. So groß ist die Nazi-Szene auf der Alb ja wohl nicht. Außerdem nennst du die Albler Kameraden doch immer 'besoffene Maulhelden'.“ Nils zog eine Augenbraue hoch. „Oder hast du etwa doch Schiss vor ihnen?“

„Quatsch. Vor denen doch nicht. Die müssen sich doch Mut ansaufen, bevor sie eine Aktion starten“, beschwerte sich Torsten nun aufgebracht. Nils wusste wohl genau, wie er seinen Bruder anzupacken hatte.

„Also?“

„Okay. Ich kann für nichts garantieren, aber ich werde es zumindest versuchen.“ Torsten dachte kurz nach. „Schmitti und Jonas werden mir wahrscheinlich auch helfen, wenn sie merken, dass es mir ernst ist; sie werden mich zwar auslachen, aber sie werden mir helfen. Und nächste Woche treffen wir uns wieder.“

Nils nickte zufrieden und Torsten stand auf: „Okay Schnäuzle, ich muss dann los. Passt auf euch auf.“

Beim Weggehen zupfte er Nils sanft am Ohr und mir klopfte er auf die Schulter. Eine Geste, die beinahe freundschaftlich hätte wirken können, wenn es nicht ganz so fest gewesen wäre.

Ich wartete noch, bis Nils' Bruder, von dem ich jetzt gar nicht mehr wusste, ob ich ihn für böse halten sollte oder nicht, in sein Auto gestiegen und davongefahren war, ehe ich mich wieder traute zu reden.

„Das war sowas von mies, dass du dieses Treffen inszeniert hast. Du hättest mir doch zumindest vorher Bescheid sagen können.“

„Wärst du dann mitgekommen, wenn ich dir gesagt hätte, dass Torsten auch kommt?“

„Nein! Natürlich nicht!“

Nils grinste verschmitzt: „Siehste?“

„Du...“, wollte ich losschimpfen, aber Nils fiel mir ins Wort.

„Ich war mir sicher, dass wir von Torsten nichts zu befürchten haben und dass er nichts mit dem Angriff auch dich zu tun hatte. Und ich hatte die Hoffnung, dass unsere Beziehung zu retten ist, falls wir Torsten dazu bringen, dass er uns hilft.“

„Ihr zwei seid ziemlich verschworen. Oder... Schnäuzle?“ Ich lächelte zaghaft.

Nils lächelte mit mir: „Oh, den Spitznamen Schnäuzle hab ich mir vor knapp sieben Jahren eingefangen. Ich war damals Neun und Torsten Dreizehn. Da haben wir mal mittags in seinem Zimmer Schokolade gegessen und rumgealbert. Dabei hab ich, um ihn zu ärgern, meinen schoko-verschmierten Mund – also das Schnäuzle – an seinem T-Shirt abgewischt.“ Sein Grinsen wurde durch die schöne Kindheitserinnerung breiter. „Seit dort bin ich für Torsten nur noch das Schnäuzle.“

„Echt witzig“, stimmte ich ihm zu, weil ich mir das Geschehen gerade bildlich vorstellte.

„Hmh. Das war übrigens genau die Zeit, wo Torsten wegen jeder Kleinigkeit von Papa verhauen wurde. Ich hab mir das oft mit ansehen müssen und danach hat sich Torsten immer bei mir ausgeheult. Und jedes Mal hat er mir – oder sich selbst – geschworen, dass er bald stärker sein wird, als Papa, damit er sich wehren kann.“

„Das klingt ja schlimm.“

„Ja. Mit Vierzehn hat Torsten dann neben dem Ringen noch mit Thai-Boxen angefangen. Papa hat das zwar als Fidschi-Turnen verspottet, aber er war damit einverstanden, weil Torsten nicht mit Ausländern, sondern mit Kameraden trainierte. Und Torsten hat sich da wirklich mit Leib und Seele reingesteigert. Etwa mit Fünfzehn hat er angefangen, sich zu wehren, wenn er Prügel von Papa bekam. Ein paar Mal hat er dann zwar von unserem Vater ordentlich den Arsch versohlt bekommen, aber so mit Ende Fünfzehn hat Torsten Papa zum ersten Mal zusammengeschlagen, als er ihn verprügeln wollte. Papa hat's in den nächsten Wochen zwar noch zwei-, dreimal versucht, aber es hat nie gut für ihn geendet.“

„Krass.“

„Ohja. Papa hat dann auf einmal angefangen, bei Torsten zu schleimen und er war sogar stolz darauf, was aus ihm geworden war. Und für Torsten war das die Erkenntnis, dass man mit Gewalt alles erreichen kann. Er machte wie besessen mit dem Kampfsport weiter und hat jeden zusammengeschlagen, der ihm schräg kam. Inzwischen mischt er auch bei den VfB Stuttgart-Hooligans mit und in der Freefight-Szene. Das ist so eine nicht wirklich legale Kampfsport-Szene.“

Während der letzten beiden Sätze hatte Nils sogar leuchtende Augen, so als ob er stolz auf seinen starken Bruder wäre. Aber ich stellte mir die Frage, ob Torsten, den ich jetzt nur als liebevollen großen Bruder kennengelernt hatte, vielleicht einen ganz anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, ohne die Prügel, die er als Jugendlicher bekommen hatte. Vielleicht war er ein mindestens genauso großes Opfer seines Vaters, wie Nils.

Ich sagte das nicht, sondern fragte Nils: „Und glaubst du, er kann uns wirklich den Rücken freihalten?“

„Ich hoffe es. Gibst du uns noch eine Chance?“

Ich dachte kurz nach. Ich hatte zwar meine Zweifel daran, dass es dem Super-Bruder wirklich gelingen würde, die Nazi-Szene in Schach zu halten, aber die Hoffnung darauf genügte mir. Sie war der Strohhalm, an dem ich mich festhalten konnte, um die Liebe meines Lebens nicht fallen zu lassen. Außerdem konnte ich das Verantwortungsgefühl nicht ignorieren, das sich nach Nils' Beinahe-Selbstmord-Beichte in mir breit machte.

„Okay.“ Ich lächelte. „Wahrscheinlich hätte ich es auf Dauer sowieso nicht geschafft, die Finger von dir zu lassen.“

Nils ließ sich von meinem Lächeln anstecken: „Weil ich so gutaussehend und charmant bin.“

Ich gab ihm einen Klaps in den Nacken: „Träum weiter, Schnäuzle.“

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