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Mein bester Feind

Teil 5

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Nach der Schule war ich schnurstracks nach Hause gegangen. Die Szene, in der Nils eine Viertelstunde vor Schulschluss vom Rektor und der Jugendamts-Tusse aus der Klasse gerissen worden war, hatte mir so zugesetzt, dass ich mich sogar vor meiner besten Freundin Sophie weggeduckt hatte, ganz zu schweigen von den übrigen Klassenkameraden. Wie ein geprügelter Hund hatte ich mich vom Schulgelände geschlichen und hatte dabei das Gefühl, die Blicke der Mitschüler würden mich durchlöchern. Ich fühlte mich plötzlich entsetzlich einsam ohne Nils, so kurz nach unserem Coming Out.

Auf dem Heimweg verlangsamte ich meinen Schritt erst, als ich in die Hauffstraße abgebogen war und die Schule nicht mehr zu sehen war. Doch je langsamer meine Schritte wurden, umso mehr stürzten die Ängste auf mich ein. Es war eine Hoffnungslosigkeit, die mich auf dem Heimweg begleitete. In mir wuchs die Gewissheit, dass ich Nils so schnell nicht wiedersehen würde. So sehr hatte mich Nils' entsetzte Reaktion auf die Jugendamts-Tusse schockiert.

Als ich endlich zu Hause angekommen war (wobei sich Münsingen und unsere neue Wohnung an diesem Mittag weniger als 'Zuhause' angefühlt hatte, als jemals zuvor), fühlten sich meine Beine im Treppenhaus so schwer an, als wenn ich den Weg von der Schule hierher gerannt wäre. Das Haus widerte mich an, genauso wie das ganze Städtchen und die ganze Schwäbische Alb. Wären wir doch nur in Freiburg geblieben, wo die Welt in Ordnung war. Hier in Münsingen hatte ich gekämpft, hoch gepokert und alles verloren. Und ich schätzte, Nils wäre es auch besser ergangen, wenn ich nie in sein Leben getreten wäre, um es durcheinander zu wirbeln. Vor meinem geistigen Auge spielten sich Bilder ab, wie Nils von der fiesen Jugendamts-Gewitterziege wieder in seine Familie zurückgesteckt wurde. Mir war nämlich klar geworden, dass sie auch zu den Nazis gehören musste. Klang im ersten Moment vielleicht ein bisschen unvorstellbar. Aber genauso unvorstellbar war für mich bis vor wenigen Tagen auch der Arzt gewesen, der einfach wegschaute und Nils krank schrieb, wenn ihn sein Vater zu hart verprügelte. Und nun, während diese Frau wieder hinter ihrem Amtsschreibtisch saß und Kaffee schlürfte, wurde Nils von seinem Vater zum heterosexuellen Vorzeigedeutschen auf Linie geprügelt.

Als ich durch die Wohnungstür kam und in der Diele kraftlos meine Rucksack auf den Boden fallen ließ, kamen mir meine Eltern direkt entgegen. Sie schauten mich mitfühlend an, weil meine traurige Gestalt wohl nicht zu übersehen war.

„Miguel? Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Papa besorgt.

Doch in meinem Unmut und meiner Wut auf Gott und die Welt antwortete ich nicht, sondern ging schweigend ins Esszimmer. Dabei rempelte ich Papa absichtlich mit der Schulter an.

„Rede mit uns, Miguel“, bat mich mein Vater eindringlich, als er mir hinterher kam.

Dann platzte es aus mir heraus: „Die haben Nils aus der Klasse herausgezogen wie einen Verbrecher. Das war eine Scheiß-Idee mit dem Jugendamt! Nils kennt die Tusse schon. Die gehört bestimmt auch zu den Nazis, so eingeschüchtert wie er war.“

Papa redete mit beschwichtigendem Tonfall auf mich ein: „Hör zu, Miguel. Ich war heute Morgen noch bei Frau Zittlau auf dem Jugendamt und hab ihr Nils' Sachen gebracht. Das ist die zuständige Sachbearbeiterin für ihn – oder die zuständige Tusse, wie du sie nennst.“

Nach diesen beiden Sätzen machte mein Vater eine kurze Pause, die er lieber nicht gemacht hätte. Denn in meinem Verstand brannte eine Sicherung durch und ich schrie ihn so an, dass meine Mutter, die neben ihm stand, einen Schritt zurückwich: „DU steckst da auch mit drin?! Du hast das doch nur gemacht, damit du Nils los wirst! Und jetzt steckt Nils wieder in seiner Nazifamilie und wird zusammengeschlagen. Nur damit du dir ein lästiges Problem vom Hals schaffen kannst!!!“

Genauso schnell wie sie gekommen war, verpuffte die Temperaments-Explosion in meinem Gehirn auch wieder. Auf einmal fühlte ich mir nur noch ausgebrannt. Die Tränen liefen mir über die Wangen und mein Vater, den ich gerade noch angebrüllt und mit unfairen Vorwürfen überzogen hatte, nahm mich in den Arm und ich drückte mein Gesicht an seine Schulter. Ich spürte, wie Mama überfordert meinen Rücken knetete.

„Es ist nicht so wie du denkst, Miguel. Setzen wir uns an den Tisch. Dann erzähle ich dir alles“, sagte Papa leise und beruhigend. Und ich ging auf den Vorschlag ein. Nicht, weil ich wieder zur Vernunft gekommen war, sondern einfach, weil ich nicht mehr konnte.

Als wir dann am Esstisch saßen, wo in unserer Familie traditionell Krisengespräche stattfanden, wurde mir erst wieder bewusst, dass meine Mutter noch ihre schöne Bluse trug. Sie war wohl noch nicht lange vom Vorstellungsgespräch zurück. Aber darüber machte ich mir nun keine Gedanken, sondern ich schaute mit vorwurfsvollen Augen meinen Vater an, der mir gegenüber saß.

„Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, dass Frau Zittlau zu den Nazis gehört“, sagte Papa dann zwar sachlich, aber auch eingeschnappt. „Du liegst da zumindest falsch. Nils kommt auf keinen Fall zu seiner Familie zurück.“

Dieses Gespräch mit meinen Eltern machte mich zumindest ein bisschen schlauer. Ich erfuhr, dass Papa sogar darum gekämpft hatte, Nils bei uns aufnehmen zu dürfen, aber so einfach ginge das nicht. Normalerweise wäre sogar ein gerichtliches Sorgerechtsverfahren nötig, um Nils aus seinem Elternhaus herauszuholen. Aber spätestens, als Frau Zittlau Nils' Vater telefonisch erreicht hatte und dieser seine Drohung, er würde Nils totschlagen, wenn er wieder nach Hause käme, bekräftigt hatte, standen die Dinge anders. Eine solche Drohung von einem vorbestraften Gewalttäter musste man schließlich ernst nehmen.

Nun wurde Nils' Eltern wegen der akuten Gefährdung vorläufig das Sorgerecht entzogen, bis ein endgültiges Urteil gesprochen werden würde. Leider durfte er aber nicht bei uns wohnen, denn um Pflegeeltern zu werden, hätten meine Eltern noch einen Kurs und eine Prüfung auf Herz und Nieren durchlaufen müssen.

„Und was ist jetzt mit Nils?“, fragte ich.

„Ich weiß nicht. Als ich gegangen bin, war das noch nicht geregelt. Und Frau Zittlau hätte mir das auch aus Datenschutzgründen gar nicht sagen dürfen. Nils kommt jetzt entweder in ein Heim oder, wenn sich eine findet, in eine Bereitschaftspflegefamilie, bis ein Richter über seinen Verbleib entscheidet“, erklärte mir Papa.

Ich seufzte. Einerseits war ich erleichtert, dass Nils zumindest in Sicherheit war, aber trotzdem war das alles nicht zufriedenstellend.

Papa lächelte zaghaft: „Ich habe mit Frau Zittlau besprochen, dass wir uns zu Pflegeeltern schulen lassen. Sie würde uns dabei unterstützen, dass Nils nach dem Sorgerechtsverfahren zu uns kommen kann.“

„Echt?“, fragte ich treudoof und schämte mich auf einmal in Grund und Boden, wie ich mich meinen Eltern – oder vor allem Papa – gegenüber verhalten hatte.

Papa nickte.

„Tut mir leid, was ich dir an den Kopf geworfen habe.“

„Schon okay. Du machst gerade eine schwere Zeit durch.“ Papas Blick ließ aber erkennen, dass ich ihn schon ganz schön getroffen hatte.

„Nein, das war nicht okay“, erwiderte ich. „Ihr seid seit gestern eigentlich durchgehend über euch hinausgewachsen und dann müsst ihr euch von mir so einen Scheiß anhören.“

Papa räusperte sich. Sowohl er als auch Mama schienen gerührt zu sein. Ab und zu schaffte ich es wohl doch, die richtigen Worte zu finden. „Mach es beim nächsten Mal einfach besser.“ Pause. „Und wie ist dein Tag noch restlich gelaufen?“

Ich erzählte meinen Eltern, was uns alles widerfahren war. Das Coming-Out, die gegensätzlichen und manchmal auch widersprüchlichen Reaktionen der Mitschüler und wie das Kussfoto aufgetaucht war, das sich jetzt auch in der Schule verbreitete. „Ich glaube, ich pack das alles nicht. Jetzt, wo Nils weg ist, steh ich als Schwuler ganz alleine da. Das wächst mir alles über den Kopf.“

Jetzt mischte sich meine Mutter ein, die sich bis dahin zurückgehalten hatte: „Sophie und andere Klassenkameraden werden dir bestimmt helfen. Das wird alles nicht so schlimm werden, wie du dir das jetzt ausmalst. Und wieso bist du dir eigentlich so sicher, dass Nils jetzt nicht mehr kommt. Irgendwo muss er schließlich auch zur Schule gehen.“

„Eben – IRGENDWO“, erwiderte ich niedergeschlagen. „Wer weiß, wo der jetzt überhaupt ist?“

„Na, so weit weg sicher auch nicht. Er wird sich bestimmt bald melden.“

Ich nickte und wollte es einfach glauben.

Ich machte einen Themenwechsel, weil ich auf dem Thema Nils einfach nicht mehr weiter reiten konnte: „Und wie ist dein Bewerbungsgespräch gelaufen?“

Mama lächelte zaghaft: „Gut. Ab November arbeite ich für die Sozialstation als mobile Altenpflegerin.“

„Hey, das freut mich. Glückwunsch.“

„Deine Mutter fährt bald mit einer Sozialstation-Knutschkugel den ganzen Tag durch Münsingen, um Verbände zu wechseln und macht die Straßen unsicher“, witzelte Papa, und spielte darauf an, dass Mama beim Autofahren gerne irgendwo hängen blieb und kleine Unfälle baute.

„Dann geh ich ab November nur noch mit Helm auf die Straße“, lästerte ich zurück und konnte plötzlich wieder mit meinem Papa lachen. Ich denke, das war auch die große Stärke in meinem Verhältnis zu meinen Eltern oder vor allem zu meinem Vater. Auch wenn wir uns mal fetzten, waren wir nie nachtragend und ein kleiner Witz konnte alles wieder bereinigen (auch wenn er dieses Mal auf Mamas Kosten ging).

Nachdem ich mit mäßigem Appetit einen Hähnchenschlegel abgenagt hatte, den Mama auf dem Heimweg vom Bewerbungsgespräch noch mitgebracht hatte, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Nach dem Gespräch mit meinen Eltern war meine Hoffnung, Nils in absehbarer Zeit wiederzusehen, zwar gestiegen, aber mein Schädel brummte immer noch vor Sorgen und Zukunftsängsten. Dazu kam noch, dass mich alles hier an die Nacht mit Nils erinnerte. Das zerwühlte Bett, in dem in der letzten Nacht zum ersten Mal zwei Jungs geschlafen hatten; seine kurze Hose und das T-Shirt, das er auf seiner Flucht getragen hatte und jetzt über der Lehne eines Holzstuhles hing, den ich hauptsächlich als provisorischen Kleiderständer verwendete; und sogar der Geruch im Zimmer, der an diesem Tag anders zu sein schien. Der irgendwie nach Nils roch und dem Sex, den wir in der Nacht gehabt hatten. Trotzdem mussten die Hausaufgaben erledigt werden. Ich stöpselte die Kopfhörer in mein Smartphone und erledigte mit Musik in den Ohren, die mir half, abzuschalten, meine Aufgaben. Zwischendurch schloss ich immer wieder die Augen und versank in meiner melancholischen Gedankenwelt.

Es war dann so gegen 15:30 Uhr. Weil mein Handy neben mir auf dem Schreibtisch lag, bekam ich sofort mit, dass ich eine Whatsapp-Nachricht bekommen hatte. Ich dachte im ersten Moment an Sophie. Aber als ich die Nachricht öffnete, traf mich der Schlag. Sie kam nämlich von niemand geringerem als Nils.

'Kommst mal kurz runter auf die Straße, Mausi? Ich warte auf dich'

Nur einen Moment lang war ich skeptisch, denn meines Wissens nach hätte Nils' Smartphone nämlich noch in seinem Schlafzimmer unter der Matratze liegen müssen. Dort, wo er es seit Samstag vor seinen Eltern versteckt hatte. Aber das Kosewort 'Mausi', mit dem er mich schon am Sonntag Morgen im Whatsapp-Chat spaßhaft bezeichnet hatte, identifizierte den wahren Nils. Wahrscheinlich hatte das Jugendamt - oder sogar die Polizei – seinen Eltern noch einen Besuch abgestattet, um seine restlichen Besitztümer abzuholen. Und damit auch das Handy.

'Bin auf dem Weg', tippte ich ein, sendete es und nach kurzem Überlegen schickte ich mit breitem Grinsen noch ein 'Spatz' hinterher. Eben so, wie ich Nils am Sonntag Morgen beim Chatten bezeichnet hatte. Dann schlüpfte ich in meine Birkenstock und wetzte die Treppen hinunter.

Doch sobald ich aus der Haustür hinaus kam, hätte es mich mit dem Restschwung in meinen Beinen vor Schreck fast auf die Schnauze gelegt. Es war nämlich nicht Nils, der am Rand des Grundstücks auf dem Gehweg stand und mich feindselig betrachtete, sondern seine Mutter. Mein erster Instinkt war, mich wieder ins Haus zurückzuziehen, meinen Eltern Bescheid zu sagen und vielleicht sogar die Polizei zu rufen. Aber im zweiten Moment, als ich die Lage erfasst hatte und erkannte, dass sie alleine war – ohne ihren durchgeknallten Ehemann oder Nils' berüchtigten Bruder Torsten, von dem ich nicht einmal wusste, wie er aussah - überlegte ich es mir anders.

Vor dieser Frau, die vielleicht 1,65 Meter groß war und damit kleiner als ich, mit gerötetem und etwas aufgedunsenen Gesicht, das erahnen ließ, dass sie schon zu lange zu viel Alkohol getrunken hatte, wollte ich nicht kuschen. Ich war nun sauer auf diese Nazibraut, weil sie offensichtlich unsere Chats gelesen hatte und sich sogar erdreistete, mich Mausi zu nennen, um so zu tun, als wäre sie Nils. Und ich Idiot hatte sie auch noch Spatz genannt.

Ich versuchte, genauso grimmig zu gucken, wie mein Gegenüber und ging auf sie zu: „Was wollen Sie?“

„Mit Nils sprechen.“

„Nils ist nicht hier. Das Jugendamt hat ihn heute von der Schule abgeholt. Ich weiß nicht, wo er ist und wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen nicht sagen. Er wird den Kontakt zu Ihnen abbrechen.“

Frau Lange nickte. Sie versuchte weiterhin, mich abgebrüht anzuschauen, aber etwas wie... Sorge!?... stach aus ihrem Blick durch. Sie griff in ihre Jackentasche, holte ein Smartphone heraus, das wohl das von Nils war und statt es mir in die Hand zu geben, drückte sie es mir lächerlich drohend mit der Vorderseite an die Brust: „Gib ihm das. Nils soll das selbst entscheiden.“

Widerwillig nahm ich das Smartphone an: „Wenn Sie denken, dass Nils zu Ihnen zurückkommt, irren Sie sich, Frau Lange.“

So sehr sie sich auch bemühte – es gelang Nils' Mutter immer weniger, ihre kaltherzige Maskerade aufrecht zu erhalten: „Nils kann nicht mehr zurückkommen. Mein Mann... Wir wollen ihn nicht mehr. Weil du ihn mit deinem schwulen Scheiß verdorben hast.“

Ich schluckte die bissige Antwort, die mir auf der Zunge lag, denn ich wollte mich nicht auf Vorwürfe und Provokationen einlassen: „Auch gut. Wenn für Sie der Hass wichtiger ist, als die Familie... Nils kann es recht sein. Dann kann er ohne schlechtes Gewissen dem Jugendamt erzählen, was im Hause Lange hinter verschlossenen Türen abgegangen ist.“

„Das wird Nils nicht machen. Dafür, seinen Vater ins Unglück zu stürzen, ist er zu anständig“, fauchte mich Frau Lange mit Panik in den Augen an.

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, was Nils alles ertragen musste. Sich dagegen zu wehren, hat mit schlechtem Anstand nichts zu tun. Und wenn das alles raus kommt, wird der Richter auch entscheiden, dass Nils nicht mehr zu Ihnen zurück muss.“

„Nils muss auch so nicht mehr zurück“, maulte sie mich an und schob etwas leiser hinterher: „Dafür sorgt Bernd mit seinem unüberlegten Gerede schon. Und wenn Nils – oder du – nicht an die große Glocke hängt, dass Bernd ihn... gemaßregelt hat, werde ich dafür sorgen, dass er und seine Kameraden euch in Ruhe lassen.“

„Blödsinn“, raunzte ich sie an und ärgerte mich schon alleine über das Wörtchen 'gemaßregelt'.

„Ich hab meinen Mann im Griff und Bernd hat die Kameraden im Griff. Das ist ein Deal.“

Sie streckte mir die Hand entgegen, aber ich hütete mich davor, einzuschlagen: „Ich werde es Nils sagen, falls ich ihn überhaupt wiedersehe.“

Frau Lange nickte: „Okay, ich will nur ab und zu erfahren, dass es Nils gut geht. Mehr will ich gar nicht“, was ich mit einem sarkastischen Auflachen quittierte.

Sie wollte sich gerade abwenden, da motzte ich sie noch einmal an: „Sie tun mir ECHT leid. Eigentlich könnten Sie stolz sein, einen Sohn wie Nils zu haben. Und Sie bemerken das nicht einmal.“

Man sagt ja, ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Und Frau Langes Blick, mit dem sie an mir vorbei schaute, ließ erahnen, dass sie das sehr wohl bemerkt hatte.

Eigentlich hätte ich mit meinen Eltern über diesen ungebetenen Besuch reden müssen, die dann wahrscheinlich die Wände hochgerannt wären. Aber etwas hielt mich davon ab. Ich ärgerte mich zwar maßlos über Frau Langes ungebetenes Aufkreuzen und ihren dreisten Versuch, Nils über mich von einer Aussage abzuhalten. Aber andererseits hatte ich den Eindruck, dass es auch der Auftritt einer besorgten Mutter war. Irgendwie schaffte ich es nicht, den Hass auf sie zu entwickeln, wie ich es eigentlich gewollt hätte. Da schwang nämlich zu viel Mitleid mit. Ich beschloss, wenn sich die Gelegenheit bot, mit Nils darüber zu reden und mir seine Meinung anzuhören.

Die folgenden Stunden waren für mich eine Zumutung. Ich hörte Musik, versuchte mich mit Youtube-Videos abzulenken, was mir nicht besonders gut gelang, und – peinlich aber wahr - ich erwischte mich sogar dabei, dass ich mir Nils' zurückgelassenes T-Shirt vor die Nase hielt, um daran zu schnüffeln. Aber nichts schaffte es, meine Laune zu bessern. Ich hatte die ganze Zeit sowohl mein eigenes Smartphone, als auch das von Nils in Griff- und Sichtweite, um bloß nichts zu verpassen. Später durchstöberte ich noch das Internet zum Thema Sorgerecht und saugte alles in mich auf, was ich finden konnte.

Als es gegen halb Acht am Abend an der Haustür klingelte, war ich schon ein kleiner Sorgerechtsexperte und war in Sachen Nils trotzdem nicht schlauer geworden. Der Klang der Türglocke riss mich aus meiner Melancholie und als ich auf dem Flur Papas Schritte hörte, wie er zur Sprechanlage ging, spitzte ich die Ohren. Zwischen all die Hoffnung mischten sich wieder Bilder, wie sich Nils Mutter unten die Füße vertrat. Oder sein Vater und dessen Kameraden, die sich vor der Haustür aufbauten. Und wieder der Gedanke an seinen Nazi-Bruder...

„Ja?“, hörte ich Papa in den Hörer sagen.

Pause.

Papa: „Komm hoch. Miguel wird sich freuen, dich zu sehen.“

Dieser Satz war wie ein Startschuss. Das konnte nur Nils sein. Nur in Socken sprang ich auf, rannte durch die Zimmertür und staubte an meinem Vater vorbei, der mir überrascht und auch ein bisschen erschrocken nachschaute, ins Treppenhaus. Aber auf halbem Weg nach unten stockten meine Schritte.

„Ach... Du...“, maulte ich enttäuscht.

Sophie schmunzelte mich ironisch an: „Freut mich auch dich zu sehen.“

Ein verlegenes Lächeln kämpfte sich auf meine Lippen: „Sorry. Schön, dass du da bist. Komm doch mit rauf.“

Natürlich folgte Sophie meiner Einladung. Deswegen war sie schließlich gekommen. Meine Eltern standen in der Diele schon bereit, um meine ehemalige Alibi-Freundin, die sie ja bis dahin noch nicht kennengelernt hatten, zu empfangen.

„Mama... Papa... Das ist Sophie, von der ich euch erzählt hatte. Sophie, das sind Mama und Papa“, machte ich sie ungeschickt miteinander bekannt.

Es gab herzliches Händeschütteln, wie es bei meinen Eltern üblich ist.

„Schön dich kennenzulernen, Sophie. Wir haben schon so viel über dich gehört“, herzte Mama Sophie.

„Hoffentlich nur Gutes“, erwiderte Sophie smalltalk-mäßig vorhersehbar.

Papa nickte: „Das stimmt tatsächlich. Kommst du mit ins Wohnzimmer?“

„Wir gehen lieber erstmal in mein Zimmer“, mischte ich mich hektischer ein, als ich es vorgehabt hatte. „Wir haben nämlich etwas wichtiges zu besprechen.“

„Na gut“, murrte meine Mutter. Ich war mir sicher, dass Sophie eine Art sympathischer Ausstrahlung hatte, die Mama mochte und deshalb hätte sie Sophie wohl gerne ein bisschen ausgefragt.

„Und bleibt sauber“, hängte Papa mit einem Zwinkern an.

„Hmh.“

Etwas überhastet führte ich Sophie von meinen Eltern weg in mein Zimmer.

„Was war das denn?“, fragte Sophie neckisch und setzte sich auf die Bettkante, genauso wie der weinende Nils einen Tag zuvor.

„Was meinst du?“

„Man hätte denken können, du schämst dich für mich, so wie du mich an deinen Eltern vorbei bugsiert hast.“

„Quatsch... Naja... Das ist alles ein bisschen blöde für mich“, stammelte ich.

Sophie schaute mich fragend an, während ich versuchte mein Gefühl in Worte zu fassen: „In den letzten Tagen habe ich behauptet, du wärst meine Freundin – oder wir wären zumindest auf dem Weg, ein Paar zu werden. Und wenn ich ehrlich bin, wäre es tatsächlich so gewesen, wenn ich nicht schwul wäre. Wahrscheinlich wärst du sogar meine erste Freundin geworden.“

Sophie lächelte etwas gerührt, als ob sie sich mit dem Gedanken anfreunden könnte: „Du machst mich richtig verlegen.“

„Jaaaa. Das Problem ist, dass das meine Eltern auch wissen. Oder zumindest ahnen.“ Ich lächelte verlegen: „Ich schätze, ich hab deshalb ein schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber.“

„Blödsinn“, entgegnete Sophie liebevoll.

„Ich weiß es doch selbst. Aber das Gefühl lässt sich nicht so einfach abstellen. Irgendwie fühle ich mich schuldig, dass ich nicht so bin, wie Mama und Papa das gerne hätten.“

Sophie nahm meine rechte Hand zwischen ihre Hände und knetete sie angenehm: „Mensch Miguel. Du hast das Recht, so zu sein, wie du bist. Und deine Eltern wissen das und wie du es mir erzählt hast, unterstützen sie dich auch dabei. Du hast da riesiges Glück und solltest das auch ausnutzen.“ Sie zwinkerte. „Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein könntest du dir ruhig erlauben.“

„Du hast wohl recht“, lächelte ich. „Weißt du was? Sie kämpfen sogar darum, dass sie Nils als Pflegesohn aufnehmen können.“

„Echt? Das ist ja toll. Gibt's eigentlich was Neues von ihm?“

„Gar nichts“, antwortete ich zerknirscht. „Ich weiß zumindest, dass er nicht mehr bei seinen Eltern ist. Aber das war's auch schon. Er könnte sich doch wenigstens mal melden.“

„Das wird er schon noch. Hauptsache, er ist aus seiner Familie rausgezogen worden. Und so weit weg wird er auch nicht sein.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Ich hab mich heute Mittag mal durch ein paar Foren gelesen. Nils könnte jetzt überall sein, wo ein Platz für ihn frei ist. Das muss nicht unbedingt hier in der Gegend sein. Vielleicht sogar in Ulm. Oder in Stuttgart, in einem Heim.“

Sophie lachte empathisch: „Du solltest die Finger von solchen Foren lassen. Da macht man sich nur verrückt.“

„Hast wohl recht“, antwortete ich, denn das Gefühl hatte ich auch bekommen. „Seine Mutter war vorhin übrigens da.“

„Echt? Die alte Schachtel?“ Sophie bekam große und auch wütende Augen. „Was wollte die denn?“

Ich wies auf das Smartphone, das neben meinem auf dem Schreibtisch lag: „Hat mir sein Handy gegeben, weil ich es Nils weitergeben soll. Damit sie mit ihm in Kontakt bleiben kann.“

„Das ist doch ein Trick. Vielleicht wollen seine Alten das Handy dann irgendwie orten lassen, damit sie herausfinden, wo er ist.“

Dieser Gedanke war mir zwar auch schon gekommen, aber ich hatte ihn wieder verworfen: „Das glaube ich nicht wirklich. So wie sie mir vorgekommen ist, macht sie sich echt Sorgen um Nils. Ich werde ihm das Handy geben, falls ich ihn wieder sehe. Dann soll er selbst entscheiden.“

Sophies Blick ließ erkennen, dass sie mit der Idee nicht so glücklich war. Aber sie beließ es dabei. Sie hatte nämlich einen anderen Einfall: „Hast du schon darin gestöbert? Vielleicht findest du ja etwas, was dir weiterhilft.“

„Ich schnüffle doch nicht in Nils' Handy herum“, erwiderte ich empört und meinte das ehrlich.

„Ach komm schon. In unserer Notsituation hat Nils bestimmt nicht dagegen.“

Sophie nahm mir die Entscheidung ab und erweckte mit einem Klick das Display zum Leben.

Ich muss zwar zugeben, dass ich einerseits auch von einer Neugier gepackt wurde, die mir selbst unangenehm war. Aber andererseits fühlte ich Genugtuung, als, nachdem Sophie über den Inaktiv-Schirm strich, der eine schöne Landschaft zeigte, die ich dem Voralpenraum zuordnete, die Aufforderung 'Pin-Eingabe' erschien. Aber ich fühlte auch eine neue Wut auf Nils' Mutter, die, aus welchem Grund auch immer, Nils' Pin-Nummer kennen musste. Denn sonst hätte sie mir keine Nachrichten von dessen Smartphone schicken können.

„Schade“, schmollte Sophie, was ich mit einem schadenfrohen „So ist es eben“, kommentierte.

Sophie hielt noch das Smartphone in der Hand und ihr wäre es vor Schreck fast auf den Boden gefallen, als es in ihrer Hand piepte und vibrierte.

Ohne ein Zögern brachte sie das Display wieder zum leuchten und dieses Mal war auf dem Sperrbildschirm immerhin die Vorschau einer neuen Nachricht zu lesen.

Und zwar von einem gewissen Torsten, der nur sein böser Bruder sein konnte.

'Hey Kleiner. Wo treibst du...' Mehr gab die Vorschau nicht her.

„Was will der denn von Nils?“, fragte Sophie verwirrt.

„Naja. Der denkt wohl, dass Nils sein Handy noch hat. Immerhin wohnt er ja ein paar Ortschaften entfernt“, erwiderte ich.

„Aber wenn er nicht total hinter dem Mond lebt, hat er doch bestimmt die ganze Sache mit eurem Kussbild mitbekommen und, dass ihn sein Vater rausgeschmissen hat. Und vielleicht auch, dass ihn das Jugendamt weggesteckt hat.“

Wir tauschten einen entgeisterten Blick: „Meinst du, der will Nils in eine Falle locken?“

Sophie schaute mich besorgt an: „Gut möglich, so wie der drauf ist. Wir müssen Nils unbedingt finden und ihn warnen. Und du solltest auch vorsichtig sein, Miguel. Mit Torsten ist nicht zu spaßen. Glaub es mir.“

Ich schluckte trocken und nickte. Immerhin war das noch ein Grund mehr, Nils aufzuspüren und zu warnen. Aber Sophie und ich kamen an diesem Abend nicht mehr weiter. Stattdessen verbrachten wir später wirklich noch ein bisschen Zeit mit meinen Eltern im Wohnzimmer. Diese knappe Stunde war zwar tatsächlich angenehm und ich kam mir selbst ein bisschen blöde vor, weil ich mich vorher so tollpatschig verhalten hatte. Doch die ständige Sorge um Nils verhinderte es, mich fallen zu lassen. Um es kurz zu machen... An diesem Abend passierte nichts erwähnenswertes mehr.

Der folgende Morgen kam mir trostlos vor. Zum ersten Mal, seit wir ins Münsingen wohnten, saß Papa, der Gute-Laune-Garant, nicht mit am Frühstückstisch. Denn an diesem Tag war sein erster Arbeitstag in der neuen Arbeitsstelle und er hatte das Haus schon verlassen. Mama und ich tauschten ungewöhnlich wenige Worte, was natürlich hauptsächlich an mir lag. Eine Nacht mit wenig Schlaf und vielen schweren Gedanken lag nämlich hinter mir. Ich würgte lustlos mein Müsli hinunter, quälte mir ab und zu ein Lächeln auf die Lippen, wenn meine Mutter versuchte, mich aufzumuntern, ehe ich mir den Rucksack auf den Rücken schwang und die Wohnung verließ.

Auch der Schulweg zog sich in die Länge. Ich hatten blanke Angst davor, was heute auf mich zukommen würde. Das Mobbing, das mich am Tag Eins nach meinem Schul-Coming-Out sicherlich erwarten würde, hätte ich vielleicht gemeinsam mit Nils einigermaßen ertragen können. Aber einsam und alleine? Sicher nicht. Nichts gegen Sophie, aber ich glaubte nicht, dass sie mir da wirklich beistehen konnte.

So ging ich geknickt und mit auf den Boden gerichteten Blick die Sternbergstraße entlang, eine langgezogene gerade Straße. Mein Herz machte eine kurzen Aussetzer, als ich einmal den Kopf hob und nach vorne blickte, um den Straßenverlauf abzuchecken. Wie eine Fata Morgana lehnte 200 Meter entfernt eine Gestalt mit dem Ellbogen an der Hauswand einer Bäckerei und betrachtete mich, wie ich näher kam. Lässig und mit seinen engen Jeans irgendwie auch sexy. Auf einmal beschleunigte ich meine Schritte und konnte es gar nicht mehr erwarten, Nils zu erreichen. Unsere Blicke hafteten aneinander und keiner von uns konnte sich ein breites Grinsen verdrücken, noch ehe wir in Hörweite waren.

Als ich angekommen war, schlang ich ihm einen Arm um die Hüfte und kniff Nils in die Wange, um zu testen, ob er überhaupt echt war und nicht nur eine Einbildung.

„Hey. Was machst du?“, lachte Nils.

„Alter. Du hättest dich ruhig melden können“, pflaumte ich ihn mit feuchten Augen an, konnte aber trotzdem nicht aufhören zu lachen und zu grinsen.

„Wie denn? Ich hab doch mein Handy nicht mehr, wo ich deine Nummer gespeichert habe. Und ihr steht ja auch nicht im Telefonbuch.“

„Schon gut. Mann Nils, ich hab mir echt Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, die hätten dich...“, stammelte ich verlegen und wusste nicht mal genau, wie ich den Satz beenden sollte.

Nils Blick wurde ernster. Vielleicht wurde er sich jetzt erst darüber bewusst, wie sehr mir die Aktion gestern zugesetzt hatte. „Alles ist gut“, sagte er einfühlsam, legte seine Hand in meinen Nacken und dann lagen unsere Lippen aufeinander. Klar war es nicht unser erster Kuss. Aber es fühlte sich galaktisch an, das in der Öffentlichkeit unseres Heimatstädtchens zu tun. Vielleicht fünfhundert Meter von unserer Schule entfernt. Jetzt, wo die Karten auf dem Tisch lagen, gab es keinen Grund mehr, uns verstecken zu müssen. Das spürten wir eher intuitiv, als bewusst und ließ uns diesen alles andere als flüchtigen Zungenkuss genießen. Einer Frau, die gerade aus der Bäckerei herauskam, vor der wir standen, glupschten bei dem ungewohnten Anblick zwar fast die Augen heraus, aber Nils und ich bekamen das nur am Rande mit.

Nach dem Kuss schauten wir uns mehrere Sekunden schweigend in die Augen und genossen den Moment.

„Wo haben sie dich jetzt eigentlich hingesteckt?“, fragte ich und klopfte Nils gleichzeitig auf die Schulter, um ihm zu signalisieren, dass es Zeit ist, uns auf den Weg zu machen.

Gemeinsam schlugen wir den Weg zur Schule ein.

„Die Jugendamts-Zittlau und ihr Chef haben mir, nachdem sie mich verhört haben, so Bereitschaftspflegeeltern klar gemacht.“ Er trat gedankenverloren beim Gehen einen Kieselstein auf dem Boden davon, der ein paar Meter davon rollte, während er erzählte. „Hat mich selbst gewundert, wie Ruckzuck das ging. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass ich erst mal in ein Heim muss.“ Er lachte kurz humorlos. „Die Zittlau hat schon seit Jahren versucht, mir und meinen Eltern auf die Füße zu treten. Papa hat gesagt, dass sie mich in ein geschlossenes Heim stecken will, damit ich eine Gehirnwäsche bekomme.“

„Und das hast du geglaubt?“, fragte ich baff und trat nun ebenfalls gegen dasselbe Steinchen, das Nils zuvor gekickt hatte.

Nils zuckte mit den Schultern: „Seit ich denken kann wurde mir schon eingetrichtert, dass die Staatsdiener alles böse Menschen sind, die uns unterwandern und schaden wollen. Das war in der Familie so, im Bekanntenkreis und auf den Lehrgängen und Ferienlager, auf die Papa mich geschickt hat. Manchmal fällt es mir schwer zu erkennen, was richtig ist und was falsch.“

„Zumindest scheint die Zittlau nicht ganz so böse zu sein, wie du gedacht hast.“

„Jaha“, lachte Nils offen. Scheinbar über sich selbst und seine wirren Gedankengänge. „Sie hat sich sogar ziemlich ins Zeug gelegt, dass ich nicht aus meinem Umfeld gerissen werde. Die Jugendamts-Leute haben dann so ein Ehepaar ausgegraben, die als mögliche Bereitschaftspflegeeltern registriert sind und das vor 15 Jahren mal gemacht haben. Die waren selbst ziemlich überrumpelt. Aber nach ein bisschen gutem Zureden haben sie sich bereit erklärt, es mit mir zu probieren, bis klar ist, was aus mir wird.“

„Dann sei aber auch nett zu ihnen“, schmunzelte ich.

„Ich hab gesagt, wenn sie zulassen, dass wir uns treffen können, mache ich keine Probleme.“ Nils grinste dreckig. „Oder zumindest wenige Probleme.“

Während der nächsten Schritte erfuhr ich, dass es sich um ein schon gereiftes Ehepaar handelte. Herr Schirmacher war ein im letzten Jahr pensionierter Studienrat und Frau Schirmacher war auch schon im Vorruhestand als Hautpschullehrerin. Sie lebten in Godmadingen, einem Nachbardorf von Münsingen, von wo Nils jetzt mit dem Bus zur Schule kommen musste. Und jetzt, wo die Schirmachers eigentlich die Ruhe hätten genießen können, mussten sie sich auf einmal mit einem 16 Jährigen schwulen Nazi rumschlagen, wie es Nils ausdrückte.

„16 Jähriger schwuler Ex-Nazi“, berichtigte ich ihn lachend und Nils machte eine zustimmende Kopfbewegung. „Und wie sind sie so drauf?“

„Keine Ahnung. Gestern war alles ziemlich hektisch bis die ganzen Prozeduren im Amt und beim Amtsarzt fertig waren. Dann mussten wir Herr Schirmachers...“ Nils stockte kurz. „...oder Gerds, wie ich ihn nennen soll, Arbeitszimmer ausräumen, damit ich ein Schlafzimmer habe. Bis jetzt kann ich die Schirmachers noch nicht wirklich einschätzen. Scheinen aber einigermaßen okay zu sein.“

„Hmh“, brummte ich und bekam so eine Ahnung, was für einen mentalen Stress Nils da gerade durchmachte. Und das, obwohl die Wendung eine gute zu sein schien.

Die Schule war nun schon in Sichtweite und ich hielt kurz an.

„Ich hab da was für dich“, sagte ich und kramte aus meinem Rucksack Nils' Smartphone, das ich für eben jenen unglaublichen Fall mitgenommen hatte, dass Nils tatsächlich wieder zur Schule kommen würde.

Er strahlte auch übers ganze Gesicht: „Geil. Woher hast du das?“

„Deine Mutter war gestern noch bei mir“, knurrte ich übertrieben abfällig. „Sie wollte, dass ich dir das gebe, damit sie mit dir in Kontakt bleiben kann. Und dann wollte sie auch noch einen Deal mit dir und mir machen, dass wir nicht der Polizei sagen, wie du von deinem Vater vermöbelt wurdest.“

Den letzten Satz hatte ich so zornig betont, dass Nils klar heraushören konnte, was ich von diesem miesen Deal hielt. Aber Nils murmelte nur ein ein unaufgeregtes „Was denkt die nur von mir. Ich ruf sie später mal an“, vor sich hin. So als ob er nicht mal mit dem Gedanken spielen würde, seinen Vater anzuzeigen. Dann tippte er seinen Pin ins Smartphone und unglaublicherweise lächelte er, als er die Nachricht von seinem Bruder las.

Ich wollte Nils zur Rede stellen, aber das war nun nicht mehr der richtige Zeitpunkt für solche Diskussionen. Wir kamen aufs Schulgelände und um uns herum waren jetzt viele andere Schüler unserer Realschule, die solche Gespräche nichts angingen.

Es war schon seltsam, wie sowohl Nils, als auch ich von einem auf den anderen Moment deutlich angespannter wurden, als uns die Blicke trafen. Wahrscheinlich wussten es inzwischen alle, dass wir ein Paar waren.

„Hey Schwuchteln. Aufs Maul?“, machte uns einer von Nils' Türkenfeinden an, als wir an der Clique vorbei kamen, mit der Nils im Clinch lag.

Instinktiv zog ich den Kopf ein und mit nervös zusammengepressten Lippen bahnten wir uns schweigend unseren Weg in die Vorhalle. Nicht mal der sonst immer so schlagfertige Nils hatte einen frechen Spruch übrig.

In der Vorhalle waren zwar keine potentiellen Krawallmacher zu sehen, und wir fühlten uns auch sicherer, weil der Hausmeister von seinem Glasräumchen aus alles im Blick hatte, aber dafür beschäftigte uns etwas anderes.

„Kann es sein, dass die erste Stunde heute bei uns ausfällt?“, fragte Nils mich überrascht.

„Nicht dass ich wüsste“, nuschelte ich nachdenklich. Denn weder hier, noch auf dem Weg durch das Schulgelände hatten wir einen unserer Klassenkameraden gesehen.

„Sören und Julia waren zumindest im Schulbus. Keine Ahnung, wo die jetzt sind“, fügte Nils an.

Es war dann auch ein seltsames Gefühl, als wir, nachdem es zum ersten Mal geläutet hatte, genauso wie alle anderen Schüler ins Innere der Schule gingen und die Treppen rauf in den zweiten Stock, wo unser Klassenzimmer war. Die Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte, wurde noch erdrückender, als wir auf unsere Klassenzimmertür zugingen. Überall um uns herum waren die Türen offen und es wurde hektisch und lebhaft rein und raus gegangen und dabei laut geredet. Nur an unserem Klassenzimmer war die Tür geschlossen und in dem belebten Flur sah die Tür seltsam verwaist aus.

An der Tür tauschten Nils und ich einen verwirrten Blick, bei dem Nils die Stirn in Falten legte. Dann drückte er die Türklinke herunter und öffnete die Tür. Nur einen Augenblick herrschte im Inneren eine überraschte Stille, in der uns 24 Augenpaare anblickten. Im nächsten Moment brach die Klasse in einen außerordentlich gekünstelt wirkenden grölenden Jubel und Applaus aus. Sogar Frau Hellmann war schon da und lächelte Nils und mich verlegen an, wie wir im Türrahmen standen und überlegten, ob wir noch mal rausgehen sollten, bis sich alles beruhigt hatte.

Sophie nickte uns zufrieden lächelnd zu und wies mit dem Kopf auf das Pinboard neben der Tafel. Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich das sah. Dort hatten meine Klassenkameraden nämlich etwas vorbereitet. Auf einer orangenen Papptafel hatten sie das unsägliche Kuss-Bild aus Göppingen aufgeklebt, das jemand ausgedruckt haben musste. Darüber war geschnörkelt mit Filzstift geschrieben 'Alles Gute, Nils und Miguel' und rund um das Bild hatten alle Klassenkameraden und sogar Frau Hellmann unterschrieben.

Nils und ich grinsten verkrampft. Ich war zwar sehr gerührt von der Aktion, aber trotzdem war mir die Lage, in der ich war, eher unangenehm, was Nils nicht anders ging.

„Ähm... Danke...“, murmelte ich. Und Nils neben mir: „Müssen wir jetzt eine Rede halten?“

Sophie grinste breit und ziemlich schadenfroh über beide Backen: „Nö. Es reicht, wenn ihr euch küsst.“

„Äh... Das ist keine so gute Idee“, stammelte ich und auch Nils brummte etwas in der Art in seinen nicht vorhandenen Bart.

Aber die Klasse war nun von Sophie angestachelt, und wir wurden mit einem erwartungsfrohen „Küssen – Küssen - Küssen“ Chor angefeuert, so dass uns gar keine andere Wahl blieb.

Der Kuss, der nun folgte, war nur ein kurzer Schmatzer auf die Lippen und ein Schatten dessen, der auf dem Bild am Pinboard war. Aber trotzdem gaben sich unsere Klassenkameraden damit zufrieden. Es wurde kurz gejohlt, aber dann wollte Frau Hellmann in den Unterricht übergehen.

„Ist das auf deinem Mist gewachsen?“, fragte ich Sophie immer noch verlegen, aber auch lachend, als Nils und ich zu unserer Bank gingen und an ihr vorbei kamen.

„Ich hab mich gestern, nachdem ich bei dir war, noch mit Basti kurzgeschlossen. Und dann haben wir den Rest der Klasse mobilisiert.“ Sophie lächelte stolz. „Es haben wirklich alle mitgezogen. Erst wollten wir etwas machen, was dich wegen der Trennung von Nils tröstet, Miguel. Aber Sören und Julia haben vorhin Nils ja schon im Bus gesehen. Deswegen haben wir den Slogan umimprovisiert.“

Ich musste jetzt herzlich lachen: „Danke. Ihr seid echt verrückt.“

Nun machte aber Frau Hellmann am Lehrerpult Druck: „Jetzt setzt euch aber. Damit wir loslegen können.“

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