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Mein bester Feind

Teil 4

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Meine Eltern standen nicht an der Tür, um zu lauschen, so wie ich es befürchtet hatte. Die Tür zum Ess- und Wohnzimmer war geschlossen und als ich sie öffnete, saßen Mom und Dad auf ihren Stammplätzen auf der Couch und dem Sessel und schauten uns zwar betreten, aber auch unwissend genug an, dass ich mir sicher sein konnte, dass sie von unserem Gespräch in meinem Zimmer nichts mitbekommen hatten.

„Können wir reden?“, fragte ich zaghaft und wies auf den Esstisch, weil der mir passender vorkam, als der Wohnzimmertisch für das, was jetzt folgte.

Mama und Papa willigten beide sofort ein. Wahrscheinlich waren sie froh, dass wir das Gespräch mit ihnen suchten. Denn es war ja nicht zu übersehen gewesen, dass Nils etwas Schlimmes zugestoßen war.

„Du hättest ihm zumindest Socken geben können“, raunzte Papa mich dabei an, als er an uns vorbei ging. Innerlich musste ich ihm auch zustimmen. Denn Nils lief immer noch barfuß in T-Shirt und kurzer Hose herum, aber das hatte ich in der Aufregung ganz vergessen, zu ändern.

„Später“, sagte ich nur kleinlaut.

Papa nickte. Während er sich schon setzte und Nils sich unschlüssig in Reichweite eines der Stühle die Beine vertrat, holten Mama und ich, ohne dass wir uns hätten absprechen müssen, vier Gläser, eine Flasche Mineralwasser und eine Apfelsaftflasche. Als wir uns auch hinsetzten, setzte Nils sich neben mich.

„Also?“, fragte Mama und schaute abwechselnd Nils und mich an.

„Nils hat...“ - Ich korrigierte mich. „Wir haben ein riesiges Problem.“

Neben mir hatte sich nun Nils die Wasserflasche gegriffen und aus dem Augenwinkel sah ich, wie sehr seine Hand beim Einschenken zitterte.

„Okay, Muchachos. Dann lasst mal hören.“ Papa hatte zwar versucht, den Satz locker rüberzubringen, aber das war ihm nicht gelungen.

Ich begann wieder zu drucksen, obwohl ich mich selbst dafür hasste: „Ähm... Ich will aber vorher noch sagen, dass ich nach diesem Gespräch zu Nils halten werde, egal wie es ausgeht. Okay?“

Mann, war ich schlecht... Hätte dieser Satz zumindest halbwegs selbstbewusst geklungen, hätte er vielleicht sogar gezogen. Aber so leise und unsicher, wie ich ihn vorgetragen hatte, klang er eher nach einem Betteln um Nachsicht. Ich schaute Mama und Papa an, deren Blicke jetzt ungeduldiger geworden waren. Dann warf ich einen Blick zu Nils, der wie ein Häufchen Elend in sich zusammengekauert neben mir saß. Eben genau wie jemand, der vor einer Stunde seine Lebensgrundlage verloren hatte und jetzt befürchten musste, dass sich seine letzte Hoffnung auflöste.

„Na gut. Was habt ihr angestellt?“, seufzte mein Vater.

'Wir sind schwul', lag mir auf der Zunge, doch ich empfand wieder diesen verdammten Klos im Hals. Aber auf einmal hörte ich mich selbst sagen: „Nils und ich – wir lieben uns.“

Schweigen.

Ich hatte mir selbst schon gefühlte Millionen Male ausgemalt, was in den Sekunden nach meinem Coming Out passieren würde. Vielleicht Vorwürfe, Beschimpfungen, Spott, Verständnis, Zuspruch... Auf alles hatte ich mich versucht, einzustellen. Aber nun starrten mich meine Eltern nur an wie Schleiereulen. In einer entspannteren Lage hätte ich bei diesen verpeilten Glupschaugen wahrscheinlich sogar lachen müssen, aber nun war das nur noch verunsichernd.

„Habt ihr das verstanden?“, hakte ich nach, weil einfach keine Reaktion kam.

„Ja schon“, stotterte Papa. „Aber das kann doch gar nicht sein. Ihr seid zwei Jungs.“

Ich warf einen Blick auf meine Mama, aber sie schien viel zu perplex, als dass ich von ihrer Seite Hilfe erwarten konnte. In meiner Vermutung, dass sie mich bereits am Nachmittag durchschaut hatte, hatte ich mich vollkommen getäuscht.

Unter der Tischkante und außerhalb des Blickfelds meiner Eltern spürte ich Nils' Fingerkuppen, die sich an meinem Handgelenk entlang nach vorne tasteten und schließlich meine Hand umschlossen. Auch bei dieser Berührung bemerkte ich, dass Nils zitterte. Ich fühlte, wie in mir ein Verantwortungsgefühl aufkeimte, das mir eine trotzige Kraft verlieh, die sich in dieser Situation gut anfühlte: „Und?“

„Das ist so ähnlich wie... Schwul. Ihr wollt doch nicht schwul sein.“

„Uns hat niemand gefragt, ob wir schwul sein wollen. Das ist eine Tatsache, mit der wir leben müssen. Wir SIND schwul“, motzte ich lebhafter als zuvor Papa an, denn seine Unsicherheit und Nils' Händedruck steigerten mein Selbstvertrauen.

„Okay... Okay...“, seufzte mein Vater beschwichtigend. Er stützte sein Kinn auf die Faust und schaute mich mit Augen an, die mich zu bitten schienen, den schlechten Scherz jetzt endlich aufzulösen. Der Knall war förmlich zu hören, mit dem seine Träume zerplatzten, er könne seine jungen Playboy-Jahre durch mich noch einmal erleben. Mama standen dagegen die Tränen in den Augen und das steckte mich an. Mein Adrenalinspiegel sank und meine Augen wurden plötzlich auch feucht.

Ich redete deutlich leiser und versöhnlicher weiter: „Nils' Vater hat vorhin herausbekommen, dass er schwul ist. Er hat Nils verprügelt und zum Teufel gejagt.“ Ich atmete durch. „Mama... Papa... Wir brauchen euch jetzt ganz dringend.“

Wumms... Diese drei Sätze hatten gesessen. Wieder folgte so ein betretenes Schweigen, aber dieses Mal viel empathischer. Nun war es meine Mutter, die als Erste Worte fand. Sie wies bei sich selbst auf den Wangenknochen, an die Stelle, wo Nils sein Veilchen hatte: „War er das?“

Nils nickte beklemmt.

„Nils kann froh sein, dass er rechtzeitig abgehauen ist, bevor sein Vater richtig losprügeln konnte“, warf ich ein.

Papa hakte überrascht nach: „Aber du hast doch gesagt, seine Eltern wären so nett.“

„Das war gelogen. Seine Eltern sind...“ - Ich warf einen Blick zu Nils und fragte mich, ob ich ihn mit dem, was mir auf der Zunge lag, vielleicht verletzen könnte. Schließlich waren es immer noch seine Eltern. „...nicht gut“, fügte ich nach kurzem Zögern an.

Nun begann auch Nils an dem Gespräch, das nach der ersten Aufregung jetzt leise geworden war, teilzunehmen: „Als ich am Mittwoch hier war, haben wir über den Nazi in unserer Klasse gelästert. Nun... Der Nazi bin ich. Ich möchte aus der rechten Szene heraus kommen, aber meine Eltern lassen mir dazu keine Chance.“

Papas Gesicht ließ erkennen, dass er jetzt gar nichts mehr verstand: „Moment mal, Nils. Dann hast du doch Miguel ständig gemobbt und das sogar ziemlich übel. Und jetzt wollt ihr uns weiß machen, dass ihr euch auf einmal ... liebt?“

„Das hat angefangen, als wir gemeinsam die Strafarbeit ausgearbeitet haben...“, wollte ich damit beginnen, meinen Eltern eine Entwicklung zu erklären, die ich selbst noch nicht wirklich durchschaut hatte.

Da fiel mir Nils ins Wort: „Eigentlich hat es bei mir sogar schon früher angefangen. Anfangs hatte ich wirklich gedacht, ich würde das Richtige tun, wenn ich Miguel fertig mache. Aber ich wurde da immer unsicherer.“ Jetzt sprach Nils nicht mehr meine Eltern, sondern mich an und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein zaghaftes Grinsen durch sein Gesicht, das sogar bis zu den Augen reichte: „Ehrlich gesagt habe ich dich am Ende nur noch geärgert, weil ich dein Temperament mochte. Du bist immer so süß, wenn du dich aufregst.“

Ich riss verdutzt die Augen auf: „Alter! Ich glaub's einfach nicht. Dafür gehört dir echt ein Satz heiße Ohren verpasst!“

Nils Grinsen wurde noch ein bisschen breiter: „Siehst du? Genau das meine ich.“

Ich starrte Nils mit offenem Mund an und wusste nicht, ob ich belustigt oder empört sein sollte. Selbst meine Eltern mussten jetzt lachen.

„Ihr zwei seid ja jetzt schon wie ein altes Ehepaar“, lästerte Mama verwundert und sowohl sie, als auch mein Vater musste lachen. Zwar nervös, aber ehrlich. Genau das war der Moment, an dem ich zum ersten Mal die Hoffnung hegte, dass vielleicht wirklich alles gut werden könnte.

„Gut“, sagte Papa und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Und wie geht eure Geschichte weiter?“

Ich nahm mir nun die Zeit, meinen Eltern das Geschehen der letzten Tage ehrlich und detailliert zu schildern und versuchte ihnen dabei auch Nils' unerträgliche Familienverhältnisse näherzubringen. Erst beim Reden wurde mir so richtig bewusst, dass einige Punkte mindestens genauso brisant waren, wie mein Coming Out. Die düsteren Blicke meiner Eltern, als ich von meinen nächtlichen Kletteraktionen aus dem Fenster über die Garage und dem Ausflug auf die Nazi-Demo nach Göppingen erzählte, waren unbeschreiblich.

Zum Schluss holte ich meinen Laptop aus dem Schlafzimmer, um Mama und Papa das Kussfoto und die Reaktionen zu zeigen, das uns all das überhaupt eingebrockt hatte.

„Oh Mann“, stöhnte Papa niedergeschlagen, als er sich durch die hasserfüllten Kommentare gelesen hatte und schaute uns ratlos an.

„Anmut hat das Foto ja schon“, hängte meine Mutter zwar anerkennend an, aber so richtig freuen konnte ich mich über dieses Kompliment nicht.

Papa schenkte sich noch einmal Apfelsaft nach, dann resümierte er: „Also gut, Nils. Wenn ich die Sache richtig verstanden habe, kannst du heute Abend nicht mehr zurück nach Hause gehen.“

Nils nickte.

„Dann schläfst du heute erst einmal in Miguels Zimmer. Und morgen sehen wir dann weiter.“

„Kann Nils nicht komplett bei uns einziehen?“, hakte ich hoffnungsvoll nach, aber Papa wiegelte ab.

„Wir müssen jetzt schauen, ob sich Nils' Eltern vielleicht noch beruhigen. Wenn nicht, ist das eine Sache fürs Jugendamt.“

„Papa...“

„Ich fahre jetzt zu ihnen, damit ich für Nils zumindest noch ein paar Sachen zum Anziehen bekomme.“

„Nein, Papa. Das ist keine gute Idee!“, rief ich entsetzt.

„Doch. Vielleicht kann ich noch mit ihnen reden. Das sind doch auch nur Menschen.“

Ich schüttelte beklommen mit dem Kopf und Nils fragte: „Soll ich mitkommen?“, in einem 'hoffentlich nicht' Tonfall.

„Nein. Ich glaube, das ist keine so gute Idee. Ich suche mal das Gespräch von Vater zu Vater. Wäre doch gelacht, wenn ich da nichts bewirke.“

„Amen“, hängte ich sarkastisch hinten dran und fing mir scharfe Blicke meiner Eltern ein.

Zumindest ließ sich Papa nicht umstimmen. Ich bot ihm an mitzukommen, aber das ließ sein Beschützer-Instinkt nicht zu. Es gab noch ein paar Worte hin und her, dann machte er sich auf den Weg. Mama und Nils gingen schon in mein Schlafzimmer, um ein paar Sachen aus meinem Kleiderschrank zu suchen, die Nils anziehen konnte, auch wenn sie ihm nicht perfekt passen würden.

„Ich muss mal kurz aufs Klo. Dann komme ich nach“, sagte ich entschuldigend zu den Beiden.

Doch als Mama die Tür hinter sich und Nils geschlossen hatte, ging ich nicht ins Bad, sondern staubte durchs Treppenhaus meinem Vater hinterher. Er hatte gerade den Motor des Autos gestartet, da riss ich die Beifahrertür auf und huschte auf den Beifahrersitz.

„Was soll das denn jetzt?“, pflaumte er mich an.

„Ich will dir nur helfen. Ich kenne Nils' Eltern schließlich besser als du.“

Papa brummte zwar, aber dann legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Einfahrt.

Während der ersten Meter herrschte ein unangenehmes Schweigen zwischen uns, bei dem jeder vor sich hin brütete.

Dann gab ich mir einen Ruck: „Denkst du, ihr könnt damit klar kommen, dass ich schwul bin?“

Papa nickte nachdenklich: „Klar. Wir sind doch eine Familie. Mann, Miguel... Du hättest das ruhig vorher schon mal durchstecken können, dann hättest du es uns allen leichter gemacht. Das kam jetzt alles so aus dem Nichts.“

„Tut mir leid.“

„Schon gut. Das war eben alles ein bisschen viel auf einmal heute Abend. Die Zeit, das zu verdauen, musst du deiner Mutter und mir schon geben. Und dann noch dieser Scheiß, dass du nachts abgehauen bist und, dass du Nils nach Göppingen hinterher gefahren bist. Soll ich dir etwas sagen?“

„Hmh“, brummte ich mit schlechtem Gewissen.

Papa lächelte vorsichtig, ohne den Blick von der Straße zu nehmen: „Ich bin da schon stolz auf dich.“

Ich schaute ihn überrascht an: „Echt jetzt?“

„Ja. Das war zwar dummer Leichtsinn. Aber Nils kann froh sein, so einen tollen Freund... oder Liebhaber... gefunden zu haben.“

„Danke.“ Meine Freude konnte ich nun nicht mehr verbergen.

„Aber ich werde dir trotzdem ein Gitter vors Zimmerfenster montieren.“

Endlich konnten mein Vater und ich wieder offen miteinander lachen. Ich hätte dieses Vater–Sohn-Gespräch nun gerne noch weiter geführt, aber wir waren angekommen. Papa fuhr den Wagen an den Straßenrand, dann schauten wir uns in die Augen und gaben uns etwas theatralisch mit einem Klatschen die Hand: „Auf in den Kampf.“

Und dieser Kampf sollte es in sich haben. Mir wurde richtig übel, als ich durch den Vorgarten auf die Haustür zuging. Papa lächelte zwar etwas angespannt, aber auch unbedarft. Für ihn war es eine Gewissheit, dass er mit seiner fröhlich-lockeren Art alle um den Finger wickeln konnte. Als er geklingelt hatte, war von innen schon nach wenigen Sekunden das Schlagen einer Tür zu hören, dann ein gedämpftes spottendes: „Jetzt kommt das Flittchen wieder angekrochen.“

Nachdem die Haustür aufgegangen war, schaute Nils' Vater uns einen Augenblick lang überrascht an. Er war zwar etwa so groß wie mein Vater, aber dafür deutlich bulliger. Seine Haare waren auf wenige Millimeter herunter rasiert und sein Vollbart, der dichter war als die Kopfhaare, wirkte ungepflegt.

Nach dem ersten Überraschungsmoment grinste Herr Lange erst mich, dann meinen Vater auf eine Weise höhnisch an, die seinen Hass und seinen aufgestauten Zorn nicht überzeichnen konnte: „Hier nix Asylheim. Ihr mich verstehen?“

Papas Blick wurde finster, aber obwohl auch ich mich ärgerte, fiel mein Blick auf die beiden gepackten Reisetaschen innen neben der Haustür, auf denen Nils' Schul-Rucksack lag. Die hatten tatsächlich damit gerechnet, dass Nils kleinlaut zurückkommen würde und wollten ihn dann auf die Straße setzen.

„Ich verstehe Sie gut, mein Freund“, sagte Papa und versuchte vergeblich, seine Wut zu unterdrücken. „Mein Name ist Fernando Garcia und das ist mein Sohn Miguel.“

„Ah, das ist also die kleine Kanaken-Tunte. Schön, dass wir uns einmal persönlich kennen lernen.“ Die Schweinsäuglein von Herr Lange funkelten mich herausfordernd an und mir trieb es die Zornesröte ins Gesicht.

Doch trotz all der Provokation versuchte Papa sachlich zu bleiben: „Nils wohnt jetzt erst einmal bei uns. Ich möchte Sie bitten, seine Sachen zusammenzurichten und sie uns mitzugeben.“

„Aha? Und wenn ich das nicht mache?“ Nils’ Vater lehnte sich herausfordernd an den Türrahmen und im Hintergrund war nun auch seine widerliche Mutter aufgetaucht.

Ich wies auf die Taschen und den Rucksack im Inneren neben der Tür: „Ich glaube, das sind seine Sachen. Am besten, wir nehmen sie mit und verschwinden.“

Nun änderte sich der Blick von Nils' Vater. Der aufgesetzte Spott verschwand aus seinem Blick und überließ die Augen dem ungezähmten Hass. Er ballte drohend seine Pranke zur Faust: „Komm einen Schritt näher und ich schlag dir alle Zähne aus, du schwule Missgeburt.“

„Reden Sie nicht so mit meinem Sohn“, schimpfte Papa.

Gleichzeitig rief Nils' Mutter von hinten besorgt: „Bernd! Denke an deine Bewährung!“

Die fünf Worte wirkten. Ich denke, Herr Lange war wirklich gerade auf dem Sprung gewesen, auf uns loszugehen. Aber nach der Mahnung seiner Frau presste er verbittert seine Lippen aufeinander, gab einen unartikulierten Laut von sich und öffnete seine Faust.

Papa bekam nun Oberwasser: „Entweder Sie geben uns jetzt Nils' Sachen oder ich rufe die Polizei. Dann können Sie denen ja erklären, woher Nils das blaue Auge und die geprellte Rippe hat. Wäre vielleicht schade um die schöne Bewährung, aber was soll's.“

Wahrscheinlich kann ein Mensch gar nicht böser gucken als so, wie Herr Lange nun meinen Vater angeschaut hatte. Ich rechnete fest damit, dass er nun zuschlagen würde. Aber die Drohung zeigte Wirkung. Mit einer Demütigung im Gesicht, die fast schon körperlich weh zu tun schien, ging er einen Schritt zur Seite, damit Nils’ Mutter die Sachen herausgeben konnte.

„Ihr solltet euch schämen“, raunzte sie Papa und mich dabei an, während Nils' Vater nur dastand und uns anstierte.

„Danke“, sagte ich halbherzig höhnisch und spürte dabei, wie ich am ganzen Leib zitterte, als Papa und ich die Taschen und den Rucksack in Empfang nahmen.

„Haut ab! Und sag deiner Anal-Hure, dass er sich nicht trauen soll, wieder zurückzukommen! Das überlebt er sonst nicht! Und dir drehe ich auch den Hals um, falls ich dich noch einmal sehe, Kanakenschwuchtel!“

Ich bekam noch mit, wie Nils' Mutter zwei Schritte hinter ihrem Mann weinte, dann flog die Haustür mit einem Knall zu, der einem Pistolenschuss gleich kam. Obwohl es sich nicht so anfühlte, hatten wir gewonnen. Mein Vater und ich standen nun genauso sprachlos vor dieser Doppelhaushälfte mit dem gepflegten Vorgarten, wie ich es schon am vorigen Dienstag getan hatte und schauten uns ungläubig, zornig und hilflos an. Auf der Heimfahrt standen sowohl mein Vater, als auch ich unter Schock.

„Morgen gehe ich aufs Jugendamt und versuche zu erreichen, dass Nils bei uns bleiben kann“, sagte Papa und ich nickte dankbar. Das war der einzige Satz, der während der fünfminütigen Autofahrt geredet wurde.

Doch als wir dann zu Hause angekommen waren, die Treppe rauf gingen und die Wohnungstür aufschlossen, hatten wir den Schrecken einigermaßen verdaut. Wie die Könige marschierten wir durch die Tür mit unserer Beute in Form von zwei Reisetaschen und einem Rucksack in den Händen. Mama und Nils kamen als Empfangskomitee aus dem Wohnzimmer heraus. Nils trug nun weiße Sportsocken und meinen 'Sportfreunde Eintracht Freiburg' Trainingsanzug aus der guten alten Zeit.

„Und? Wie ist es gelaufen?“, fragte meine Mutter.

„Ach, war nicht so wild. Die haben gut mitgespielt“, flunkerte ich, auch um Nils die Wahrheit zu ersparen.

Aber Nils durchschaute mich: „Blödsinn.“

Ich tauschte einen Blick mit meinem Vater: „Also gut...“

Dann erzählten Papa und ich meiner Mutter und Nils, wie es tatsächlich gelaufen war.

„Papas Angst vor einer Anzeige kann ich gut verstehen“, erklärte Nils anfangs noch gefasst, aber schon mit brüchiger Stimme, als wir fertig waren. „Wegen Körperverletzung und Volksverhetzung steht er schon mit einem Bein im Gefängnis. Und sein Arbeitgeber hat ihm auch gedroht, dass er entlassen wird, falls noch eine Verurteilung dazu kommt. Vielleicht hat ja Mama euch absichtlich den Hinweis gegeben, um euch einen Ansatz zu geben, wie ihr mir helfen könnt.“ Der letzte Satz klang mir zwar sehr nach Schönrederei, aber vielleicht hatte Nils ja auch recht. Vielleicht hatten auch Rabenmütter einen Mutterinstinkt. Eine kurze Pause, in der Nils hilflos seinen Blick durch den Raum schweifen ließ und seine Augen füllten sich mit Tränen: „Jetzt bin ich offiziell von meiner Familie verstoßen.“

„Hey. Du gehörst jetzt zu uns.“ Papa legte einen Arm um Nils' Schulter und drückte ihn an sich. Dabei stieß Nils wegen seiner Rippenprellung einen schmerzerfüllten Seufzer aus, aber sein Blick ließ erkennen, dass ihm die Umarmung gut tat.

Selbst Mama hatte eine Träne der Rührung in den Augen: „Herzlich willkommen bei den Garcias, Nils.“

Nils nickte gerührt und die Tränen, die nun seine Augen verließen, deutete ich als gutes Zeichen.

Der weitere Abend verlief harmonisch. Obwohl ich mir vorstellen konnte, dass meine Eltern an der Entwicklung der Dinge zu knabbern hatten und sicherlich auch Vorbehalte gegenüber Nils und unserer überstürzten Liebe hatten, gaben sie sich Mühe, uns das nicht spüren zu lassen. Stattdessen ließen sie Nils eine Geborgenheit spüren, wie er sie von zu Hause nicht kannte.

Nun gab es aber eher Organisatorisches zu besprechen.

„Wir gehen morgen vor der Schule alle zusammen zu eurer Klassenlehrerin - oder noch besser zum Direktor Gerstner – und sagen ihm, was Sache ist. Dann bekommen wir hoffentlich auch ein paar Tipps, wie es weiter gehen kann“, schlug Papa vor. Aber ich hatte meine Zweifel.

„Wir können weder der Hellmann, noch dem Gerstner auf die Nase binden, dass wir schwul sind. Was ist, wenn sich das rumspricht?“, beklagte ich mich.

Aber Mama hielt dagegen: „Dein Vater hat recht. Wir haben mit so einer Situation gar keine Erfahrung und brauchen Hilfe. Du tust ja so, als ob es ein Verbrechen wäre, dass man schwul ist.“

Nils schaute betreten drein: „Über kurz oder lang wird uns die Sache mit dem Bild sowieso einholen, so wie sich das verbreitet. Wir sollten uns überlegen, ob wir dem nicht zuvor kommen wollen.“

„Willst du das echt?“, fragte ich überrascht und wenig begeistert.

„Nee. Aber uns bleibt kaum was anderes übrig. Oder willst du nur zittern und abwarten, bis der Erste auf das Bild stößt?“

Nils und ich schauten uns verzagt an. Dann mischte sich Papa ein: „Das bereden wir morgen alles mit Frau Hellmann und dem Direktor. Wir müssen da auch nichts überstürzen.“

Ich nickte verkniffen und stellte mir mit einem mulmigen Bauchgefühl die Frage, was in den nächsten Tagen und Wochen wohl noch alles auf uns zukommen würde.

Aber ich war mittlerweile zu erschöpft, um diese Gedanken auszudrücken. Es lag nun ein Abend hinter uns, der für uns alle eine Nummer zu groß gewesen war und das hinterließ jetzt seine Spuren. Nachdem wir uns mehrere Minuten nachdenklich angeschwiegen hatten, hob ich meine Hände: „Ich glaube, Nils und ich gehen mal in mein Zimmer, damit sich Nils einrichten kann.“

Meine Mutter nickte: „Wir können ja die Schlafcouch hochtragen, dann kann Nils heute Nacht darauf schlafen. Oder Fernando?“

Mein Vater schaute Mama unwillig an: „Hast du dich vorhin irgendwann ausgeklinkt? Die Jungs sind ein Paar, die schlafen doch bestimmt auch in einem Bett. Ich schleppe jetzt garantiert nicht das sperrige Ding hier rauf, nur damit es als Dekoration in Miguels Zimmer steht. Oder?“

Nils und ich tauschten einen überraschten Blick. Klar. Die Schlafcouch hatten wir beim Umzug aus Bequemlichkeit und Platzgründen erst mal in unserem Kellerraum untergebracht, weil sie schwer, sperrig und ein Platzfresser war und weil wir dachten, sie auf absehbare Zeit nicht zu brauchen.

Sowohl Nils, als auch ich waren an diesem Abend noch zu unschuldig gewesen, um überhaupt auf die Idee zu kommen, im selben Bett zu schlafen. Papas Verdruss änderte das.

„Also, von mir aus brauchen wir die Couch heute Abend nicht mehr“, sagte ich schnell mit einer Latte neuer Perspektiven im Sinn und schaute Nils fragend an, der vorsichtshalber nur mit der Schulter zuckte. Mama nickte etwas zerknirschter als Papa. Dann verabschiedeten Nils und ich uns endgültig und zogen uns in mein Zimmer zurück.

Nils setzte sich erst einmal abgekämpft auf meine Bettkante, drückte sich die Handflächen an die Wangen und gab einen mitleiderregenden Seufzer von sich: „Oh Gott. Was für ein scheiß Tag.“

Ich setzte mich neben ihn, nahm ihn vorsichtig in den Arm und drückte ihm einen feuchten, aufmunternden Schmatzer auf die Stirn: „Ist doch gar nicht so schlecht gelaufen... Nils Garcia... Wie klingt das?“

Endlich hatte ich es geschafft, Nils richtig zum Lachen zu bringen: „Hat was.“

Es war schon zu einem angenehmen Automatismus geworden, wie sich, ohne dass wir ein Wort darüber wechseln mussten, unsere Lippen einander näherten. Und ich liebte es wieder, Nils' Lippen zu berühren und mit der Zunge darüber zu kitzeln. An diesem Abend schmeckte die Haut um Nils' Mund ein bisschen salzig. Aber dieser Geschmack wurde schnell von einem fruchtigen Apfelsaft-Aroma abgelöst, als sich unsere Zungen trafen und sich umkreisten.

Während unsere Zungen miteinander spielten, legte ich einen Arm um Nils' Nacken, hielt ihn an der Schulter und ließ uns gemeinsam sanft nach hinten gleiten. Nils brummte überrascht (oder zufrieden – ich konnte es nicht wirklich heraushören) in meine Mundhöhle, dann drehten wir uns auf die Seite und küssten uns im Liegen weiter.

Irgendwann rollte sich Nils in einer Überrumpelungs-Aktion auf mich drauf. Mein Sweat-Shirt und seine geliehene Sportweste waren schon lange ein Stück weit nach oben gerutscht und so lagen wir mit den blanken Bäuchen aneinander. Nils, der etwas stärker war als ich, fixierte mich mit seinem Körpergewicht und den Händen an meinen Schultern auf der Matratze und drückte mir einen nassen Kuss nach dem anderen auf die Lippen.

„Wolltest du mir nicht helfen, meine Klamotten zu verstauen?“, fragte er mich dabei herausfordernd.

Ich überlegte mir, ob ich mit einer Eskimorolle versuchen sollte, den Spieß umzudrehen, entschied mich wegen Nils' schmerzender Rippe aber dagegen. Dafür schob ich an Nils' Rücken meine Hände unter seine Weste und streichelte seine Haut, die sich so fantastisch anfühlte: „Hmmmm. Später vielleicht.“

In den nächsten Minuten landete ein Kleidungsstück nach dem anderen auf der Matratze oder auf dem Fußboden. Nils und ich waren zwar bedacht, leise zu sein. Aber trotzdem konnten wir ein stetiges Lachen und Kichern nicht unterdrücken. Aber was soll's. Papa hatte es ja schließlich mehr oder weniger selbst abgesegnet, dass wir das tun durften.

An diesem Abend und der darauffolgenden Nacht kamen wir mit dem Schrankeinräumen nicht sehr weit. Dafür nahmen Nils und ich uns die Zeit, unsere Körper besser kennen zu lernen und sie bis ins kleinste Detail zu ergründen. Die Geschehnisse dieser Nacht als unser 'Erstes Mal' zu beschreiben, würden vielleicht einige Hartgesottene als lächerlich empfinden, weil es sehr harmlos war, aber für mich war es bis heute das schönste und spannendste sexuelle Erlebnis, das ich je gehabt hatte.

Irgendwann mitten in der Nacht, als Nils eng an mich geschmiegt im Tiefschlaf vor sich hin grunzte, stellte ich mir die Frage, ob ich wirklich bereit dazu war, meine Liebe zu diesem zauberhaften Jungen zu verheimlichen. Ich glaubte nicht mehr, dass unsere aufkeimende Beziehung etwas Schändliches war. Vielleicht würde ja in wenigen Stunden unser großer Tag beginnen.


Ich stieß ein bemitleidenswertes Brummen aus - mit geschlossenen Augen irgendwo zwischen Tiefschlaf und widerwilligem Wachwerden. Etwas stimmte hier nämlich nicht.

Die ungeliebten Alltagsgeräusche eines Werktag-Morgens kurz vor dem Aufstehen drangen in mein Bewusstsein, noch ehe ich wirklich bei mir war. Das Brummen des Transporters unseres Nachbarn, der jeden Morgen um genau 6:55 Uhr den Motor startete und ihn unverschämter Weise jedes Mal mehrere Minuten im Leerlauf laufen ließ. Das leise Rauschen von Wasser aus dem Badezimmer gegenüber, weil meine Mutter, die immer kurz vor mir aufstand, sich gerade duschte.

Aber etwas war heute gar nicht so, wie ich es kannte. Da war einerseits ein Geruch, der direkt in meiner Nase lag, der zwar abgestanden war, der aber trotzdem ein seltsames prickelndes Gefühl in mir auslöste, das ich noch nicht zuordnen konnte. Dann war da auch noch eine Hand, die erst sanft über meine Schulter streichelte, aber als ich keine Reaktion zeigte, zwar zärtlich, aber bestimmt meine Schulter und dann auch meine Brust knetete.

Ich gab noch ein zweites verzweifeltes Morgenmuffel-Brummen von mir und zwang mich dazu, die Augen zu öffnen, um zu gucken, was hier los war. Es war schon einigermaßen hell in meinem Zimmer, weil die Rollläden oben waren und nur die Vorhänge zugezogen waren. Durch den Müdigkeitsschleier vor meinen Augen füllte ein undefinierbarer weißer Brei einen Großteil meines Gesichtsfeldes aus. Mit den Zeigefingern versuchte ich mir den Schlaf aus den Augen zu reiben und das half einigermaßen. Als ich die Augen wieder öffnete, wurde aus dem Brei langsam, wie wenn man eine Kameralinse scharf stellt, ein hübsches Jungs-Gesicht mit blonden zerzausten Oberhaaren und abrasierten Schläfen.

Nils lag vielleicht 20 Zentimeter neben mir auf der Seite, auf dem linken Ellbogen abgestützt, während seine rechte Hand meine Haut knetete. Seine unverschämt wachen braunen Augen betrachteten mich ernst und verträumt und seine Stirn war konzentriert gerunzelt, als er mein Aufwachen beobachtete.

„Was ist?“, nuschelte ich verloren und war dabei noch so weggetreten, dass ich überhaupt nicht kapierte, warum Nils an diesem Morgen überhaupt in meinem Schlafzimmer war. Und sogar in meinem Bett lag.

Nils' ernster Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein breites Grinsen und er stieß ein amüsiertes Lachen aus, was mir auch ein müdes Lächeln auf die Lippen zwang. Ich war mir bewusst, dass ich auf eine solche bezaubernde Weise noch nie geweckt worden war, noch bevor die Erinnerungen meinen Verstand überfluteten. Die Erinnerungen an den schrecklichsten Abend, den ich jemals erlebt hatte, auf den die schönste Nacht meines Lebens gefolgt war. Und diese Nacht schien noch nicht ganz vorbei zu sein. Als Nils sich an mich kuschelte und mir seine Zunge in den Mund schob, die nun etwas pelzig schmeckte, fiel mir wieder ein, dass wir ja beide nackt waren. Nils rollte sich auf mich drauf, um mich mit seinem ganzen Körper wachzurubbeln. Wieder genoss ich dieses neue, unfassbar intensive Gefühl von Haut an Haut, das ich in dieser Nacht zum ersten Mal wirklich kennengelernt hatte. Mit den Händen streichelte ich dabei Nils Schläfen, weil ich das Gefühl liebte, wie seine Haarstummel an meinen Handflächen kitzelten.

„Zeit aufzustehen, Schlafmütze“, säuselte Nils an meine Wange.

„Wir haben noch Zeit, bis das Bad frei wird“, beschwerte ich mich. Denn jetzt fiel mir auch wieder ein, dass das abgestandene Aroma, das mir direkt nach dem Aufwachen schon in der Nase gelegen war, der Duft von nicht mehr frischen Körpersäften auf meiner Haut war, die zumindest nicht alle von mir stammten. Und diese Erinnerung weckte neue Lust. „Mist!“ Denn gerade, wo mir das wieder eingefallen war, konnte ich hören, wie die Badezimmertür aufging.

„Miguel? Nils?“, rief meine Mutter vom Flur aus.

„Ja! Wir kommen gleich!“

Nils schaute mich verschmitzt an und drückte mir einen kurzen, schmatzenden Kuss auf den Mund: „Machen wir nach der Schule weiter?“

„Wollen wir zusammen duschen?“, fragte ich mit einer brummigen Stimme, die zu dieser Zeit noch nicht ganz einsatzfähig war.

„Ich glaube, wir sollten deinen Eltern nicht zu viel auf einmal zumuten.“ Nils' Stimme klang deutlich wacher, als meine. Und die Sorge, bei meinen Eltern, die praktisch seine Lebensretter waren, anzuecken, war herauszuhören.

„Hmmm“, brummelte ich. „Wenn wir nacheinander duschen, wird’s von der Zeit her knapp.“ Klar war mir das gemeinsame Duschen auch wegen meiner Eltern peinlich. Aber als frisch verliebter 16jähriger, der gerade die erste gemeinsame Nacht mit seinem Liebsten hinter sich gebracht hatte und der dazu noch zu unausgeschlafen war, um einen einigermaßen rationalen Gedanken zu fassen, hatten mich meine Hormone einfach zu fest im Griff.

Nils seufzte und gab sich geschlagen: „Wir sollten nicht riskieren, dass wir zu spät kommen. Aber lass uns dabei leise sein.“

Die gemeinsame Dusche war nun noch einmal ein Genuss und wir alberten tatsächlich nicht allzu viel herum. Aber richtig lustig wurde es, als wir danach vor dem Badezimmerspiegel standen und Nils mich mit dem Haargel meines Vaters seine Frisur herrichten ließ. Klar konnte ich es nicht lassen, einen engen Körperkontakt mit Nils zu suchen. Von hinten drückte ich meine Brust an seinen Rücken und knabberte an seinem Nackenmuskel, während ich unter Gelächter und Gekicher von uns beiden das Gel in Nils' Haare wuschelte und ihn frisierte.

Als wir Minuten später zu meinen Eltern an den Frühstückstisch kamen, war von Nils' hart frisiertem Undercut-Seitenscheitel, den er bisher immer getragen hatte, nichts mehr übriggeblieben. Seine Oberhaare standen stachelig in alle Richtungen davon und zum ersten Mal gefiel mir seine Frisur.

Auch meine Eltern mussten lachen, als wir fröhlich und zumindest Nils ungewöhnlich frisiert zum Frühstücken kamen: „Ich hab mich schon gefragt, was es bei euch im Bad zu lachen gab. Jetzt wird mir das klar“, schmunzelte meine Mutter und streichelte Nils durch seine stupfeligen Haare.

„Wir wollten mal etwas Neues probieren“, antwortete Nils, der etwas stolz auf seinen neuen Style zu sein schien.

„Alles andere als schön, aber besser als vorher“, lachte mein Vater. „Habt ihr wenigstens gut geschlafen?“

„Geht so“, antwortete ich demonstrativ müde und Nils gleichzeitig ein höfliches: „Ganz okay.“

Es war unglaublich, wie es meine Mutter schaffte, mich aus der Fassung zu bringen, nur weil sie mich auf eine wissende Art anlächelte, so wie es wohl nur Mütter konnten. Ich fragte mich mit flauem Magen, wie viel sie und Papa wohl von unseren nächtlichen Liebeleien mitbekommen hatten. Aber ehe es dazu kommen konnte, dass ich morgens um zwanzig nach Sieben mit meinen Eltern über mein erstes Mal diskutieren musste, wechselte Papa das Thema.

„Habt ihr euch noch einmal Gedanken darüber gemacht, ob es wirklich eine gute Idee ist, dass ihr euch vor der Klasse outen wollt?“

„Ja. Wir haben heute Nacht noch einmal darüber geredet“, antwortete Nils für uns beide. „Es geht nicht anders. Das Kussbild verbreitet sich immer weiter. Und wenn wir das heute nicht machen, übernimmt es vielleicht schon morgen oder übermorgen jemand anderes für uns. Und dann wird’s nur noch blöder.“

„Okay. Wir stehen auf jeden Fall hinter euch. Frau Hellmann soll euch dabei helfen.“

Alle Vier schauten wir nicht gerade glücklich drein, denn niemand wollte so ein überhetztes Outing vor der Klasse und letztendlich auch vor der Schule. Aber wir alle wussten, dass es dazu keine Alternative gab. In diesen Momenten empfand ich tiefe Dankbarkeit meinen Eltern gegenüber, wie sie schon so früh nach meinem Coming Out mich und auch Nils akzeptieren konnten. An manchen Punkten wirkte an diesem Morgen Mamas und Papas Lockerheit zwar gekünstelt, aber gerade diese Bemühungen, uns ein gutes Gefühl zu geben, rechnete ich ihnen hoch an.

Um kurz nach halb gingen wir dann runter zum Auto und alle Vier fuhren wir gemeinsam zur Schule, um diesen Schicksalstag anzugehen. Papa auf dem Fahrersitz, Mama auf dem Beifahrersitz und Nils und ich hinten drin.

'Als ob Nils zur Familie gehören würde', dachte ich und bekam eine wohlige Gänsehaut.

Schon als wir in der Nähe der Bushaltestellen das Auto verließen und über den Schulhof gingen, wo um diese Zeit ein Großteil der Schüler unserer Realschule versammelt waren, ernteten wir blöde Blicke. Aber das war auch nicht verwunderlich. Den Ruf, Erzfeinde zu sein, hatten Nils und ich über unsere Klasse hinaus. Und jetzt, wo wir Beide gemeinsam mit meinen Eltern einträchtig, aber auch sichtbar nervös, über den Hof und durch die Vorhalle gingen, roch das nach einer Sensation - gerade mit Nils' neuer Frisur, die so gar nicht zu seinem Image passte. Es tat mir zwar ein bisschen leid, dass ich für Sophie, die etwas zu weit entfernt war, um uns für Fragen rechtzeitig zu erreichen, nicht mehr, als ein Winken übrig hatte, aber es war mir auch ganz recht, jetzt auf die Schnelle keine Fragen beantworten zu müssen.

Wir gingen zu viert durch die Glastür in den Innenraum des Schulgebäudes, wo wir den Blicken entronnen waren. Denn vor dem ersten Läuten durften die Schüler dort nicht hinein. Mit einem aufgeregten Schweigen und einem Lächeln meines Vaters, dass zu angespannt war, um seinen Zweck der Aufmunterung zu erfüllen, gingen wir die zwei Stockwerke hoch, dorthin, wo das Lehrerzimmer und das Rektorat waren.

Den Rektor Gerstner erwischten wir, als er gerade die Tür zum Rektorats-Vorzimmer geöffnet hatte und mit der Sekretärin, Frau Timmelmann, im Türrahmen stehend Smalltalk hielt. Er hatte uns zwar den Rücken zugewendet, aber als er sah, dass Frau Timmelmann über seine Schulter hinweg zu uns schaute, drehte er sich um. Rektor Gerstner, ein hochgewachsener spindeldürrer Mann Ende Fünfzig, betrachtete uns nacheinander mit seiner für ihn typischen ironischen Aufmerksamkeit über die tief sitzende Brille hinweg. Ein Blick, der zwar nicht unsympathisch war, den aber viele Schüler hassten. Gerade der chronische Lehrerschreck Nils konnte ein Lied über den Rektoren-Blick singen. Nicht umsonst behaupteten böse Zungen, Nils hätte im Rektorat eine eigene Tasse, auf der sein Name stand.

„Guten Morgen, Herr und Frau... Garcia.“ Er streckte meinen Eltern die Hand entgegen und ich fand es verwunderlich, dass er nach einem nur kurzen Zögern auf den Namen gekommen war, obwohl wir eigentlich nicht viel mit ihm zu tun gehabt hatten.

Sein Blick wanderte weiter: „Miguel.“ - Ein fester Handschlag.

„Nils?“ - der Blick wurde noch ironischer und brachte sowohl mich, als auch meine Eltern zum Grinsen, als der Rektor den Bad-Boy demonstrativ von den Zehenspitzen bis zu den stacheligen Haaren musterte und dabei humorvoll-tadelnd schmunzelte. Auch Nils lächelte etwas unwillig, ehe es den obligatorischen Händedruck gab.

„Nun? Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Rektor, während er etwas unschlüssig abwechselnd meine Mutter und meinen Vater anschaute. Ich hätte wetten können, dass er sich die Frage 'Was hat Nils angestellt?' gerade noch verkniffen hatte.

„Können wir reingehen? Das wird eine kompliziertere Geschichte“, meinte mein Vater und meine Mutter fügte an: „Es wäre uns recht, wenn auch Frau Hellmann dabei ist.“

Der Rektor nickte nicht allzu begeistert und wendete sich an seine Sekretärin, die das Gespräch schweigend hinter ihrem Schreibtisch sitzend durch die offene Tür beobachtet hatte: „Holen Sie bitte Frau Hellmann?“

Während sich Frau Timmelmann auf den Weg zum Lehrerzimmer machte, führte uns Herr Gerstner durch die Durchgangstür vom Vorzimmer ins Rektorat. Dort stellte er sich neben den Rahmen, so dass wir einer nach dem anderen an ihm vorbeigehen mussten. Als Nils als letzter das Zimmer betrat, das Heiko, ein besonders witziger Klassenkamerad, einmal als Nils' zweites Wohnzimmer bezeichnet hatte, wies der Rektor bei sich selbst an die Stelle, an der Nils sein Veilchen hatte und fragte übertrieben beiläufig: „Hast du dich geprügelt?“

„Es ist nicht so, wie es aussieht. Und genau deshalb sind wir auch hier“, antwortete Mama, als Nils schon für seine Antwort Luft holte und es dann doch vorzog, zu schweigen.

„Na gut.“

Wir hatten uns gerade Stühle zu Recht gezogen und uns gesetzt, da kam auch schon Frau Hellmann durch die Tür. Sie warf als aller Erstes einen verblüfften Blick auf diese seltsame Menschen-Kombination, die da vor dem breiten Schreibtisch saß, dann ging sichtbar ein Ruck durch sie.

„Guten Morgen“, begrüßte sie meine Eltern, während sie Nils und mich ein bisschen links liegen ließ.

Sowohl die Hellmann, als auch der Gerstner machten am Anfang des Gesprächs einen missmutigen Eindruck, weil sie davon abgehalten wurden, ihren Unterricht rechtzeitig zu beginnen. Doch schon nach wenigen Minuten, als die unglaubliche Tragweite zu erahnen war, war von diesem Unmut nichts mehr zu spüren. Etwas durcheinander berichteten Nils, ich und meine Eltern von den Ereignissen der vergangenen Tage. Wir hatten uns darauf geeinigt, mit offenen Karten zu spielen und das taten wir nun auch. Ein bisschen hatte ich Schiss, dass die Lehrer jetzt etwas blödes über unsere Homosexualität sagen würden. Der Gedanke, dass das etwas Abartiges wäre, saß so tief, dass es mir nicht möglich war, ihn von einem Tag auf den anderen abzuschütteln.

Aber nachdem wir unsere Geschichte erzählt hatten, meinte Frau Hellman erst einmal verwundert: „Dem Herrn Thoma müsste man einen Orden geben“, weil es ja die Strafarbeit des Geographielehrers war, die die Ereignisse ins Rollen gebracht hatte.

„Der Thoma hat damit gar nichts zu tun. Der ist doch 'ne Schlaftablette“, monierte Nils, der im Rektorat wohl nicht aus seiner Problemschüler-Haut schlüpfen konnte und ich dachte nur 'Halt doch die Klappe'.

Doch nach der pflichtgemäßen Rüge ging das Gespräch weiter. Meine Eltern sagten, dass Nils jetzt bei uns wohnen solle.

Der Rektor sah sie mit gerunzelter Stirn an, wobei mir mehr und mehr der Eindruck kam, dass so ziemlich jede Mimik, die er an den Tag legte, durchdacht war: „So einfach geht das nicht. Da muss das Jugendamt eingeschaltet werden und dessen Mitarbeiter werden entscheiden, wie es mit Nils weiter geht.“

„Das wollen wir aber nicht. Nils soll bei uns bleiben!“, warf ich emotional ein.

Wieder so ein einstudiert-geduldiger Blick des Rektors: „Das funktioniert so nicht, Miguel. Falls Nils jetzt ohne behördliche Genehmigung bei euch bleiben würde, könnten seine Eltern die Polizei schicken, um ihn abzuholen, falls ihnen danach ist. Immerhin sind sie noch die Erziehungsberechtigten.“

Ich erwiderte den Blick hilflos und zornig. Aber mir fiel darauf nichts ein. Deshalb redete Rektor Gerstner beschwichtigend weiter: „Die Jugendamt-Sachbearbeiter wollen doch auch nur Nils' Bestes. Ihr müsst da ein bisschen Vertrauen haben.“

Meine Eltern schauten mich mit einem 'Er hat bestimmt recht' Blick an und ich gab mich geschlagen. Nils brütete neben mir schweigend vor sich hin. Für ihn war es eine schreckliche Zumutung, nicht zu wissen, wie es nach der Schule überhaupt für ihn weiter gehen würde. Aber es half nichts. Das Gespräch dauerte über eine halbe Stunde. Herr Gerstner versprach uns, alles Nötige in die Wege zu leiten, was sich für Nils wie eine Drohung anhören musste. Dann gingen Nils und ich gemeinsam mit Frau Hellmann einen Stock tiefer, wo unser Klassenzimmer war, während meine Eltern noch beim Rektor blieben. Die nächste Herausforderung für unsere frische Liebe stand nun nämlich auf dem Stundenplan. Das Coming Out vor der Klasse.

„Und ihr seid euch sicher, dass ihr das tun wollt?“, fragte Frau Hellman noch einmal, als wir vor der geschlossenen Klassenzimmertür standen. Von innen war das Motzen, Lachen und Krakeelen unserer Klassenkameraden zu hören. Die Stimmung schien gut und ausgelassen zu sein.

Alle meine Sinne schienen nun einen Rückzieher machen zu wollen. Trotzdem antwortete ich ein verkniffenes: „Ja.“

Nils nickte neben mir abwesend. Ihn schienen ganz andere Sorgen zu plagen.

Als Frau Hellmann die Tür öffnete und wir hintereinander zu dritt eintraten, ging ein enttäuschtes Raunen durch die Reihen unserer Mitschüler. Jetzt, wo schon mehr als zwei Drittel der ersten Stunde um waren, hatten sie sich wohl schon mental auf eine Freistunde eingerichtet. Aber eine sensationsgeile Spannung stieg, als sich sowohl unsere Lehrerin, als auch Nils und ich uns neben dem Lehrerpult aufstellten.

Und so erlebte ich am Montagmorgen, den 14. Oktober 2013 ein Déjà-Vu. Mit dem Rucksack, der an einer Schnalle über meinem Rücken hing, stand ich neben meiner Klassenlehrerin und fuhr mir nervös mit der Hand durch die halblangen Haare. So wie fast auf die Minute genau zwei Wochen zuvor, starrten mich meine Klassenkameraden an. Aber heute deutlich sensationslüsterner, als vor zwei Wochen, dazu wurde getuschelt und gemurmelt. Zumindest musste ich aber dieses Mal nicht mit Stänkereien von Nils rechnen. Er stand nämlich neben mir und blickte genauso bedröppelt drein, wie ich.

„Ruhe bitte, Leute“, appellierte Frau Hellman in einem routinierten Genervter-Lehrer-Tonfall. „Eure Klassenkameraden Miguel uns Nils möchten euch etwas mitteilen.“

Die Blicke schienen uns nun zu durchbohren. Der Drang, zur Klassenzimmertür zu gehen und so weit davonzulaufen, wie mich meine Füße tragen konnten, war nun unwiderstehlich. Aber mein Blick fand an Sophies Augen halt, die mir mit gerunzelter Stirn fragend, aber auch empathisch anschaute. Die fünfsekündige Pause, die nun folgte schien sich zu einer Ewigkeit zu ziehen.

„Nun?“, fragte Frau Hellmann mit sanftem Druck und dann war ich es selbst, der das Schweigen brach.

„Nils und ich sind schwul. Wir sind zusammen und wir lieben uns.“

Das leise Hintergrundgemurmel, das bis dahin geherrscht hatte, verstummte und es herrschte eine unnatürliche Stille im Klassenzimmer. 24 Augenpaare starrten uns ungläubig an und Sophies Augen glänzten vor Rührung.

„So sieht's aus“, hängte Nils mit einer gespielt selbstbewussten Verlegenheit an.

Es klang schon fast ein bisschen seltsam, wie nach dem Schweigen der Geräuschpegel zu einem chaotischen Durcheinandergemurmel anschwoll, so als ob jemand die Lautstärke aufdrehen würde. Wortfetzen wie „Das kann nicht sein“, „Schwuchteln?“ oder „...ziehen eine Show ab“, drangen dabei durch.

„Iiiiih, Alter. Das ist ja voll Gay“, lästerte Heiko laut, unser Möchtegern-Klassenclown, der immer versuchte, irgendwie lustig zu sein und erntete sogar etwas peinlich berührtes Gekicher von manchen Klassenkameraden.

„Mann, halt die Klappe, Heiko. Oder hat jemand Null gewählt?“, nörgelte nun Nils mit seinem typischen Temperament zurück und kam damit der Rüge von Frau Hellmann für Heiko zuvor. Das Lachen der Klassenkameraden war daraufhin weniger befangen und brachte für mich eine Spur Normalität zurück, die mir gut tat.

Etwas ernster fragte Laura: „Das ist doch jetzt eine Verarsche. Oder? Ihr zwei hasst euch doch.“

„Nein. Nicht mehr. In den letzten Tagen haben wir euch nur noch etwas vorgespielt.“ Ich seufzte, weil die Augen, die Nils und mich anschauten, immer größer wurden. „Okay... Wenn ihr Fragen habt, stellt sie einfach.“

Das Frage-Antwort-Spiel, das nun folgte, war für mich sehr unangenehm. Es war so eine Art Seelen-Striptease vor meinen Klassenkameraden, zu denen ich Großteils noch keinen richtigen Zugang gefunden hatte und die mir dementsprechend fremd waren. Trotzdem war ich, genauso wie Nils, bemüht, offen zu sein und zumindest die meisten Fragen ehrlich zu beantworten.

„Wie ist das gekommen, dass ihr euch jetzt liebt...“ - „Seit wann wisst ihr, dass ihr schwul seid?“ - „Was sagen eure Familien dazu?“ - „Ist Nils jetzt kein Nazi mehr?“ - „Findet ihr das nicht abnormal?“ - „Wer hält beim Ficken den Arsch hin?“

Wie gesagt, nicht jede Frage wurde beantwortet (wobei wir bis dahin auch noch gar nichts anales gemacht hatten). Wir versuchten irgendwie, den Spagat hinzubekommen, ehrlich zu sein und trotzdem nur das Nötigste zu erzählen. Von Nils' prügelndem Vater, den nächtlichen Fensterklettereien und dem Göppingen-Ausflug erzählten wir nichts. Das konnten wir immer noch machen, falls uns unser Kuss-Foto einholen würde. Ein paar Tage oder Wochen waren da wahrscheinlich noch Zeit, vermutete ich.

Aber ich muss auch sagen... Obwohl ich dieses Klassen - Coming Out für einigermaßen gelungen hielt, konnte ich nicht behaupten, dass es mir gut getan hätte. Es kam aus einer Zwangslage heraus und genauso fühlte es sich auch an. Ich mochte es nicht, wie die Klassenkameraden auch in der nächsten kleinen Pause Nils und mich ausfragten, teilweise mit indiskreten Fragen. Es war zwar keine Homophobie zu spüren, trotzdem fühlte es sich an, als ob die Stimmung umschlagen könnte, sobald die erste Neugier befriedigt war.

Während in der großen Pause die neue Sensation auf dem Schulhof über unsere Klasse hinaus die Runde machte, zogen Nils, Sophie und ich uns in den Bio-Garten hinter der Schule zurück, wo wir uns ein Stück weit ins Gebüsch verkriechen konnten.

Sophie war ein bisschen eingeschnappt: „Ihr hättet mich übers Wochenende ruhig besser auf dem Laufenden halten können.“

„Das war einfach alles zu viel. Und jetzt weißt du es ja“, redete ich mir heraus und handelte mir einen kritischen Blick von Sophie ein.

Aber sie beließ es dabei. Ihr Blick fiel auf Nils, der schweigend und in sich versunken bei uns stand: „Was ist los, Nils?“

Nils verzog das Gesicht: „Wie lange soll ich das eigentlich noch ertragen? Kein Mensch hat mir gesagt, was nach der Schule eigentlich aus mir wird. Was ist, wenn die mich wieder zu meinen Eltern schicken?“

„Das können die doch gar nicht machen“, versuchte ich Nils zu beruhigen, ohne überhaupt richtig zu wissen, wer 'die' eigentlich waren. „Weißt du was? Wir gehen jetzt noch mal ins Rektorat und fragen beim Gerstner nach.“

„Zu dem Arsch geh ich bestimmt nicht noch mal rein. Der Direx will sich doch nur aufblasen und dann wird’s noch blöder.“

Sophie lächelte zuversichtlich: „Wieso macht ihr euch eigentlich so einen Stress. Falls sich nichts tut, gehst du einfach wieder mit Miguel heim.“

„Damit mich die Bullen abholen?“

„Oder du gehst mit zu mir. Da finden sie dich nicht.“

„Genau. Wir verstecken dich die nächsten eineinhalb Jahre bei Sophie im Keller, bringen dir zweimal am Tag etwas zu Essen und schwuppdiwupp bist du 18“, scherzte ich und schaffte es tatsächlich, Nils zum Lachen zu bringen.

„Depp.“

Letztendlich einigten wir uns darauf, es auszusitzen und darauf zu hoffen, dass sich wirklich nichts tun würde und Nils mit mir nach Hause gehen konnte.

Der Weg über den Schulhof ins Klassenzimmer erschien mir nach der großen Pause wie in einem schlechten Film. Alle Schüler schienen uns anzustarren. Vieles war vielleicht auch nur Einbildung, aber unser Outing hatte sich nun sicher auch schon herumgesprochen. Ich bekam mit, wie mit Blicken auf uns getuschelt wurde, konnte aber nicht verstehen, was da geredet wurde. Im Klassenzimmer ging es dann weiter.

„Da kommen ja die Turteltäubchen“, witzelte unser Klassensprecher Jan und ich konnte nicht heraushören, ob das humorvoll oder abwertend gemeint war.

„Turteltäubchen“, wiederholte sein bester Kumpel Steve dumpfbackig lachend das Wort, so als ob es der beste Witz wäre, den er jemals gehört hatte.

„Mann, seid ihr Idioten“, lästerte Sophie zu den Beiden, während Nils und ich inzwischen zu bedient waren, um uns auf solche blöden Sprüche einzulassen.

Und Basti, ein etwas grobschlächtiger Proll, dem ich das am wenigsten zugetraut hätte, sprang Sophie zur Seite: „Ey lass sie doch in Ruhe, du Arschloch. Wir können froh sein, dass Nils jetzt kein Nazi mehr ist. Und du schimpfst dich Klassensprecher, Jan.“

Basti erntete zustimmendes Gemurmel, was Jan zu einem: „Das war doch nur ein Witz“, verleitete. Die Zustimmung von einigen Klassenkameraden kam mir zwar halbherzig vor und eher, weil Basti ein bisschen ein Meinungsmacher in der Klasse war (was mich bis dahin eher gestört hatte), aber immerhin.

Ich hatte nicht einmal die Zeit, gerührt zu sein. Da krähte Timo, ein kleiner, schmächtiger Dauerquassler mit seiner Stimmbruch-Krächzerei dazwischen: „Hey Leute. Guckt mal, was Leo von der 10b gefunden hat.“ Stolz und überdreht hielt er sein Smartphone hoch und drehte es in alle Richtungen, damit es jeder sehen konnten. Und da war es. Das Kussfoto aus Göppingen.

„ALTER... Kannst du mir das mal schicken?“, rief jemand (ich weiß gar nicht mehr, wer es war). Nils und ich tauschten einen verzweifelten Blick. Aber immerhin wurden wir bestätigt, dass das überhetzte Coming Out die richtige Entscheidung war.

Viel konnten wir zwar nicht mehr erzählen, bis es zum zweiten Mal läutete und drei Minuten später Herr Thoma kam, aber nun machte es auch keinen Sinn mehr, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Was mich wunderte war, dass, nachdem wir auch in den nächsten beiden kleinen Pausen noch eifrig Fragen beantwortet hatten, so etwas wie Bewunderung die vorherrschende Stimmung war. Ich glaube, zumindest ein paar Mitschüler waren bei der Vorgeschichte stolz darauf, uns in der Klasse zu haben. Wobei ich mir darüber im Klaren war, dass diese Stimmung auch schnell kippen konnte.

Dann kam die letzte Stunde. Mathe bei Herrn Bosch. Der Unterrichtsstoff war zwar anspruchsvoll, trotzdem schafften es Nils und ich nicht, aufmerksam zu sein. Je näher der Zeiger der altmodischen Wanduhr auf 13 Uhr zurückte, umso mehr juckte es unter der Haut. Nils schien tatsächlich vorerst davongekommen zu sein. Wir tuschelten darüber, was Mom wohl zum Mittagessen machen würde (und ob sie überhaupt etwas machen würde, weil sie um Elf das Bewerbungsgespräch gehabt hatte) und ob wir mittags noch Eis essen gehen sollten. Es war nun 12:42 Uhr, da wurde die Klassenzimmertür ohne vorheriges Anklopfen von außen geöffnet und unsere Wünsche und Pläne fielen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Es war der Rektor Gerstner, der eintrat. Gemeinsam mit einer Frau in einem Hosenanzug, die eigentlich ganz hübsch war, aber deren Auftreten auch zu spießig war. Die Dame war so zwischen 35 und 40, hatte die Haare zu einem Dutt gesteckt, trug eine moderne, schmale Brille und sah so aus, als ob sie nur selten lachen würde.

„Scheiße. Die Gewitterziege vom Jugendamt“, murmelte Nils zu mir, im nächsten Augenblick hatten ihn sowohl der Rektor, als auch die Gewitterziege mit den Augen fixiert.

„Nils Lange? Würdest du bitte mitkommen?“, fragte Gerstner in einem rhetorischen Ton. Und als Nils widerwillig aufstand und seinen Platz verließ, fügte der Rektor noch an: „Du kannst deine Sachen gleich mitnehmen.“

Es zerriss mir das Herz, wie Nils nun unnatürlich langsam seine Bücher zusammen schob und in seinen Rucksack steckte. Die Jugendamt-Tusse betrachtete ihn dabei noch ungeduldiger als der Rektor. Dann warf er mir einen verzweifelten Blick zu, der eine pure Hoffnungslosigkeit ausdrückte und der vermuten ließ, dass er mit dieser Frau schon schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Als er aufgestanden und den ersten Schritt gegangen war, hielt ich Nils noch einmal am Handgelenk fest: „Alles wird gut. Wir seh'n uns“, sagte ich aufmunternd.

Ohne ein Wort zu sagen nickte Nils mir zu. 'Das bezweifle ich', drückte dieser Blick aus. Sekunden später verließen Nils, der Rektor und die Gewitterziege vom Jugendamt das Klassenzimmer.

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