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Die Bielefeld-Verschwörung...oder mach bitte das Licht aus

Weihnachtschallenge 2016

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Glaubt ihr an Parallelwelten? Oder Wiedergeburt? Oder Doppelgänger? Oder Gedankenübertragung? Oder Vorhersehung? Oder könnt ihr euch vorstellen, welchen Geist ihr besitzen oder welche Persönlichkeit ihr sein würdet, wenn einer eurer Erzeuger eine andere Person wäre? Oder beide? Oder wie es wäre, in einer anderen Zeit geboren und aufgewachsen zu sein? Oder ihr könntet die Zeit beliebig zurückdrehen? Oder euer Alter zurückschrauben? In einer anderen Generation leben, so alt sein, wie die Menschen, mit denen ihr euch gern umgebt?

Ich auch nicht.

Kann es denn wirklich sein, dass man die Gefühle, die ein anderer Mensch erfährt, miterlebt, an ihnen teilhaben kann? Ich weiß nicht.

Dennoch, mit der Zeit gewinne ich den Eindruck, dass diese Fragen nicht nur meinem Geist entspringen, sondern dass es möglich ist, selbst Teil dieser Unerklärlichkeiten zu werden.

Natürlich stellt der klar Denkende fest, dass die Wahrscheinlichkeit, in den Geist einer anderen Person zu schlüpfen und das auch bewusst wahrzunehmen, höchst unwahrscheinlich und absolut unbegreiflich sein würde. Selbstverständlich wäre es möglich, sich mit Lektüre und sogenannten Erfahrungsberichten vollzustopfen, um sich zu überzeugen und tatsächlich andere Dimensionen, andere Zeiträume bei klarem Bewusstsein zu erleben. Um vielleicht dann doch davon überzeugt zu sein, dass alle diese Gedanken ins unerklärliche Nichts führen. Oder festzustellen, dass die Gedanken, die ich gerade äußere und die Worte, die ich gerade spreche, gar nicht meinem Geist entspringen, sondern dem, der ich in Wirklichkeit bin oder war oder gewesen sein könnte, wenn eine der Fragen sich überhaupt als eine mögliche Alternative bewahrheiten würde.

Wahrscheinlicher wäre es, dass ich das gerade gar nicht denke, sondern mein Ich, in der Zeit, die ich gerade verlassen habe oder das Ich, welches ich in Wirklichkeit bin. Nur welches Ich ist jetzt das wirkliche? Das, welches ich gerade glaube zu durchleben? Oder das, welches dem Ich in der anderen Zeit verständlich diese Zeit als die wirklich tatsächlich zu durchlebende darstellt?

-Filmriss-

Der Zug rumpelt über die Gleise. Mein Kopf schlägt heftig an. Völlig verdreht und unrealistisch erkennt mein Auge die Umrisse. Langsam schaltet sich mein zweites Auge dazu, die Reflexionen auf meinen Netzhäuten werden in erkennbare Bilder übersetzt. Anscheinend habe ich gerade Bekanntschaft mit dem aluminiumverkleideten Blendrahmen der Abteilfensterscheibe gemacht und mich so ins Bewusstsein zurückgeholt.

Immer wieder dreht sich alles um mich herum, wie in einem Karussell. Mehrfach müssen meine Halsmuskeln ein weiteres Anschlagen meines Kopfes an dem Rahmen verhindern.

Irgendwie habe ich einen Fensterplatz in Besitz genommen. Meine rechte Kopfseite schmerzt. Unwillkürlich führe ich meine Hand an die schmerzende Stelle. Es fühlt sich komisch an. Und wieder ein Rempler. Zum Glück hatte ich die Hand dazwischen, so dass zu der schmerzenden Schläfe auch noch zwei schmerzende Finger kommen. So ein Geschuckle! Mit halb geöffneten Liedern sehe ich Büsche, Bäume, Masten und irgendwelche Zeichen an meinem Fenster vorbeiflitzen. Zu schnell, um annähernd genau bestimmen zu können, in welcher Reihenfolge sie das tun, wie viele es sind, wer auf wen folgt, welche Abstände sie haben...

Wo bin ich? Anscheinend in einem Zug. Aber wieso und wohin?

Langsam, ganz langsam fügen sich die Fragmente meiner Umgebung zu einem halbwegs gefügigem Bild zusammen. Ein Zugabteil, für sich abgeschlossen, getrennt vom Rest des Zuges, sechs Plätze. Nein! Acht Plätze, also 2. Klasse. Ziemlich glatte Sitze, blaues Kunstleder, leicht abgegriffen, besser abgesessen. Ich sitze am Fenster, in Fahrtrichtung rechts. Auf meiner Reihe an der Abteiltür ein Mann, schätze in meinem Alter, in ein Buch vertieft. Mir gegenüber eine ältere Frau, sie könnte meine Mutter sein. Sie trägt einen grauen Rock, der ihr gerade über die Knie geht. Feinstrumpfhosen, geschlossene schwarze Damenhalbschuhe mit einem Riemchen darüber. Wer trägt heute noch solche Röcke? Eine beige Bluse bekleidet sie, langärmlig, mit einer einfachen Rüschenkrempe an den Manschetten und am Kragen. Eine goldene Kette hängt ihr darüber, der Anhänger ist eine in einen goldenen Rahmen gefasste Uhr. Ihre silbergrauen Haare trägt sie frisch frisiert, auftupiert. An ihren Ohrläppchen hängen schaukelnde goldene Ohrhänger, passend zu ihrer Kette und dem Ring an ihrer rechten Hand. Genau so habe ich meine Omi in Erinnerung. Omi, weil sie die Mutter meiner Mutter war. Die Mutter meines Vaters war meine Oma. Aber sie leben beide nicht mehr. Aber mir ist, als säße mir Omi gegenüber. Das gleiche runde Gesicht, silbergraue Augenbrauen, ohne Brille. Die braucht sie nur zum Lesen. Ihre lieben Augen schauen mich an.

"Alles in Ordnung mit Ihnen junger Mann?", höre ich sie fragen, "Sie sehen gar nicht gut aus."

Wie auch, so wie mein Kopf dröhnt. Unwillkürlich fühle ich die Anschlagstelle an meinem Kopf ab. Eine leichte Schwellung ertaste ich. Nicht dramatisch, aber dieser Brummschädel ...

Und überhaupt, was mache ich in diesem Zug?

"Sie sollten einen Schluck Wasser trinken!", gibt sie mir zu verstehen und deutet auf das Tischchen an meiner Fensterseite. Haha, das ist nicht wahr. Anscheinend ist die Zeit stehen geblieben. Als ich die Wasserflasche sehe, werde ich glatt fünfzehn bis zwanzig Jahre zurück versetzt. Selters-Wasser aus der Glasflasche. Wer kauft noch Wasser in einer

Nullkommasiebenliter-Glasflasche, viel zu schwer für unterwegs. Ich schraube den Deckel auf, gieße mir einen halben Pappbecher voll ein und trinke ihn in einem Zug

aus. "Vielen Dank, sehr nett von Ihnen", bedanke ich mich bei Omi.

"Wofür?", fragt sie, "das ist doch Ihre Flasche junger Mann."

Meine? Wieso meine? Ich verstehe sie nicht. Trotzdem nicke ich höflich. "Und", fragt sie, "besser?" Wenn ich meine Verwirrung mal nicht bewerte, ja. Ich nicke nochmals und lächle Omi

zu. Sie lächelt zurück: "Meinen Enkel habe ich auch immer zum Trinken bewegen müssen. Er ist auch so ein zarter Typ, genau wie Sie. Ihr jungen Leute trinkt einfach zu wenig."

Nun ist es gut! Ich und ein zarter Typ, Omi, du veralberst mich doch. Aber kann man Solch einem lieben, omihaften Lächeln widerstehen? Und Enkel - vielleicht hab ich mich ganz gut gehalten, aber so jung bin ich nun doch nicht mehr. Trotzdem lieb von ihr. Ich lasse mich zurückfallen in meinen Sitz, naja, auf den Teil meiner Sitzbank und schaue aus dem Fenster. Omi lehnt sich auch zufrieden zurück. Sie ist sehr nett. Ich vermisse meine Omi.

Der Zug wird langsamer, fängt wieder an zu schuckeln. Ich halte einen respektablen Abstand zum Alurahmen. Die Gleise teilen sich, ein Bahnhof scheint zu folgen. Noch eine Weiche, noch ein weiteres Gleis. Und noch eins. Der Zug bremst ab, immer langsamer wird er. Die Bremsen quietschen. Was für ein alter Wagon. Längst werden doch die Züge mit Scheibenbremsen ausgestattet. Wird wohl ein Ersatz sein für einen defekten Zug. Hat die Bahn noch in irgendeiner Ecke stehen gehabt, für den Notfall. Klar muss ja, die Ausstattung hier ist ja auch noch aus den achtziger oder

neunziger Jahren. Der Bahnsteig beginnt, die ersten Lichtmasten, ein Bahnhofsname.

"Herford".

Was? Wo alles in der Welt ist Herford?

"Wieso Herford?", höre ich mich laut fragen.

Der Mann an der Abteiltür schlägt geräuscherzeugend sein Buch auf seinen Schoß. Er hebt an und will etwas sagen. Sicher kommt jetzt irgendein blöder Spruch. Doch Omi ist schneller: "Weil der da durch muss nach Bielefeld." "Hmm!", knurrt der Mann und hebt sein Buch wieder in Leseposition. "Aber wieso Bielefeld?", sage ich zu mir selbst. "Weil Sie dahin wollen?", meint Omi und schaut mich mit ihren lieben Augen an. "Sie haben doch eine Karte dahin gelöst. Hat zumindest der Schaffner vorhin erwähnt", fügt sie an und ist scheinbar peinlich berührt, wegen des mitgehörten Gesprächs mit dem Schaffner. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. "Er hat sie gelocht, als er das sagte", wirft sie noch ein, als sie meinen ungläubigen Blick erkennt.

Klick! Die Fahrkarte, genau. Wo habe ich meine Fahrkarte? Ich beginne mich abzutasten. "In Ihrer Hosentasche, hinten links!", hilft mir Omi. Wenn ich sie nicht hätte. Richtig, genau da ist sie. Hat gut aufgepasst. Hm. Ungläubig, immer noch, schaue ich darauf. Zielort: Bielefeld. "Bielefeld", lese ich vor. Der Zug setzt sich mittlerweile wieder in Bewegung. "In zehn Minuten sollten wir da sein, wenn wir freie Einfahrt haben. Die bauen ja da schon ewig. Ob die jemals fertig werden? Ich musste da mal umsteigen in Bielefeld im letzten Jahr. Das war nur Chaos. Keiner wusste, wo der Anschlusszug abfahren würde und Verspätung hatten wir sowieso. Die Baufirma soll Pleite gegangen sein, habe ich die Leute reden hören. Es ist eine Schande", informiert mich Omi. Ich erwische mich dabei, wie ich sie anstarre. "Bielefeld? Was um Himmels Willen will ich da? Weshalb habe ich eine Fahrkarte dahin gelöst? Und seit wann fahre ich Zug?

Ohne mein Auto bewege ich mich doch sonst keinen Meter", denke ich bei mir. Ich versuche ein freundliches Gesicht zu machen, blicke auf die Uhr an ihrer Kette, um die Zeit zu erkennen. Nur hängt sie verkehrt herum. "Egal, weiter fahren kann ich ja nicht, ich muss gleich aussteigen." Ich greife meine Tasche, meinen Rucksack? Liegt in der Gepäckablage über meinem Sitzplatz, muss also meiner sein. Vorsichtig beobachte ich meine Mitreisenden, keiner protestiert. Ich stelle ihn zwischen meine Beine, nachdem ich mich nochmal gesetzt habe.

"Vergessen Sie Ihr Wasser nicht", sagt Omi, "und nehmen sie dann noch einen kräftigen Schluck! Sie sehen immer noch sehr blass aus." "Danke!", antworte ich ihr, nehme den Pappbecher, hänge ihn verkehrt herum über den Flaschenhals, öffne den Rucksackriemen und verstaue die Flasche an der Seite, indem ich die Sachen mit einer Hand beiseiteschiebe und mit der anderen die Flasche in die Lücke bis hinunter gleiten lasse. Wieder zugeschnürt nehme ich den Rucksack mit beiden Riemen auf eine Schulter, stehe auf, greife die Jacke in meiner Ecke, von der ich annehme, dass sie meine sein muss, und hänge sie mir über den Arm. "Für Sie noch eine gute Reise!", wünsche ich Omi direkt in ihre Augen blickend und ehrlichen Herzens. Sie war so lieb zu mir. Sie weiß wenigstens, wo sie hin fährt. Ich weiß im Augenblick gar nichts, nur dass ich jetzt aussteigen werde an einem Ort, der mir weder bekannt ist, noch ich weiß, was ich hier will.

"Ihnen auch junger Mann und passen Sie bitte auf sich auf!" Omi steckt mir ihre Hand entgegen, worauf ich sie ergreife. Sie streicht mir mit der Linken den Handrücken, während sie mit der Rechten zudrückt. Solch kräftigen Händedruck hatte ich nicht erwartet, was mich veranlasst auch kräftig zurück zu drücken. Daraufhin lächelt sie noch einmal so, dass ihre Zähne blitzen und lässt meine Hand los.

Emotionen jagen mir über den Rücken. Bevor mir die Tränen kommen, wende ich mich schnell der Abteiltür zu, ziehe sie mit kräftigem Ruck auf. Das war auch nötig, denn sie geht schwer. Beim Heraustreten auf den Gang nicke ich dem Mann an der Abteiltür noch zu, er entgegnet mir ebenso. Mit Kraft schließe ich die Abteiltür wieder und beobachte Omi, wie sie mir nachsieht und winkt. Ich hebe die Hand noch einmal zum Gruß und laufe in Richtung Wagonende. Der Zug schuckelt wieder mächtig auf den Gleisen, man hört ihn Weichen überfahren und fühlt ihn das Tempo verlangsamen. Wie ein Seemann mit breiten Schritten stapfe ich den Gang entlang. Vor mir tritt ein anderer Fahrgast mit seinem Koffer in den Gang und läuft vor mir her. Die Bremsen fangen wieder an zu quietschen, ich muss mich an einem Griff festhalten, um der Bremsverzögerung entgegenzuwirken und aufrecht zu bleiben. Mit einem Ruck bleibt der Zug stehen. Die Wagentür wird geöffnet und einer nach dem anderen verlassen wir den Zug.

Auf dem Bahnsteig empfängt mich ein eisiger Wind, der durch die Menschenmenge fegt. Sofort beginne ich zu frieren. Ich laufe noch ein Stück in Bahnsteigmitte und stelle meinen Rucksack zwischen die Beine. Die Jacke über meinem Arm ziehe ich mir schnell an. Sie passt wie angegossen. Einen Reißverschluss hat sie, ich schließe ihn und setze den Rucksack auf. Die Riemen passen gut, er sitzt in angenehmer Traghöhe.

Ich schaue mich um. Viele Menschen, einige laufen dem Ausgang entgegen, andere steigen in den Zug. Entweder stellen sie den Koffer zuerst hinein und klettern die Stufen hinauf oder sie zerren die Taschen hinter sich her in den Zug. Ebenerdiges Ein- und Aussteigen scheint hier noch nicht möglich zu sein, der Bahnsteig liegt zu tief, der Einstieg in den Wagon ist zu hoch. Von außen sieht man dem Zug das Alter an. Was mich wundert, deutlich erkenne ich, dass der DB-Aufkleber neu ist und wie es scheint über den alten DR-Schriftzug geklebt wurde. Dass die Wagen überhaupt noch auf den Schienen sind. Ich schüttle den Kopf und schaue mich weiter um. Eine Bahnssteigsdurchsage verheißt baldiges Abfahren für den Zug, Leute fangen an zu rennen. Weit vorn sehe ich einen Schaffner aus einer Wagontür hängen. Er hält sich mit einer Hand am Einstieg fest, in der anderen hat er die Kelle, bereit sie zu heben. Eine Tür nach der anderen wird zugeschlagen. Ein anderer Mitarbeiter läuft den Zug ab und schließt die noch offenstehenden Türen mit Schwung. Mehrfaches Türklacken ist zu hören, dann gibt es einen Abfahrtspfiff vom Schaffner. Er hebt die Kelle und signalisiert dem Lockführer die Abfahrtbereitschaft. Ich höre die sich lösenden Bremsen und ein Anrucken des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzt. Plötzlich

erkenne ich Omi hinter einer Abteilfensterscheibe. Sie winkt mir wieder zu. Spontan winke ich zurück und folge ihr mit den Augen, soweit ich sie noch erkennen kann. Noch zwei Wagons, dann ist der Zug an mir vorbei. Hinten an ihm leuchten am hellen Tag die beiden roten Lampen und aus einer Kupplung pfeift weißer Dampf. Der Zug entfernt sich.

Kurze Zeit später ist es ruhig auf dem Bahnsteig. Einige wenige Menschen, die von ihren Angehörigen oder Bekannten abgeholt wurden, heben ihr Gepäck an und laufen zum Ausgang, an mir vorbei. Ich beobachte ein Pärchen, welches sich gerade voneinander löst und nun auch mit den Gepäckstücken in meiner Richtung dem Ausgang zustrebt. Der Mitarbeiter des Bahnhofs kommt hinter ihnen her.

Als er neben mir ist, bleibt er stehen. "Alles gut mit Ihnen?", spricht er mich an, "Sie sehen nicht so toll aus, kann ich Ihnen helfen?"

Vor Schreck, gar nicht damit rechnend, gemeint worden zu sein, drehe ich mich zunächst um. Vielleicht steht ja noch jemand hinter mir. Nein. Bevor ich noch etwas entgegnen kann, hat mich der nette Mann am Arm gefasst und zieht mich leicht zur Treppe: "Bitte, ich bringe Sie ins Bahnhofsgebäude, hier ist es kalt. Leider müssen wir Treppen steigen."

Unwillkürlich setze ich mich in Bewegung und laufe neben ihm her. Er hält immer noch meinen Arm. Als er merkt, dass ich ganz gut allein die Treppen herab steigen kann, lässt er los und

lächelt. "Zum ersten Mal in Bielefeld?", will er wissen. Ich nicke ihm zu. "Wusste ich es doch", grinst er überzeugt von seiner Annahme. "Ich bin nun schon so lange hier, ich erkenne das inzwischen. Auch, wenn jemand auf einen Abholer wartet oder einen Ankommenden sucht. Sie machen mir, verzeihen Sie, wenn ich das sage, einen leicht verwirrten Eindruck. Kann es sein, dass Sie noch nicht genau wissen, wohin Sie wollen?" Sein Gesicht bekommt fragende und sorgende Züge. "Stimmt!", antworte ich ihm knapp. Wieder setzt er sein wissendes Lächeln auf: "Das kriegen wir schon", spricht er, während wir die Treppen zum Bahnhofsgebäude erklimmen, "Ich bringe Sie in den Waschraum, da können Sie sich etwas frisch machen und dann sehen wir, wie ich

Ihnen weiterhelfen kann."

"In den Personalwaschraum, keine Sorge, da ist es sauber, da passen wir schon auf", setzt er noch nach, nachdem er meinen entgeisterten Blick sieht.

Im Bahnhofswärterbüro, welches wir nach dem Schlüsselöffnen der Eingangstür durchqueren, lächelt mir eine junge Frau in Dienstkleidung zu, als sie meinem Blick begegnet. Und wirklich, augenblicklich entspanne ich mich etwas und lächle ihr dankend zurück.

Er hat nicht zu viel versprochen. Der Waschraum ist echt sauber, keine aufdringliche Neonbeleuchtung, die ich erwartet hatte, sondern warmes Licht aussendende Lampen über den zwei Waschbecken und an den Wänden. Einen angenehmen parfümierten Geruch nehme ich wahr. "So“, sagt der Mann neben mir, "hier können Sie ablegen und da auch Ihre Jacke anhängen. Die Toiletten sind gleich hier. Alles in Ordnung soweit?" "Ja, danke!", gebe ich zurück. Er dreht sich um und geht hinaus zur Kollegin, die Tür hinter sich anlehnend.

Mir ist immer noch keine Idee gekommen, was ich hier will. Zumindest stehe ich nicht

in der Kälte draußen. Na gut, mich etwas frisch machen, eine gar nicht so schlechte Idee. Ich stelle meinen Rucksack auf die Bank an der Wand, lege die Jacke ab und hänge sie an. Meinen Pulli sollte ich ausziehen, nassspritzen möchte ich ihn nicht. Ich trete ans Waschbecken. Wasserhähne, die auch schon eine gute Weile ihren Dienst getan haben dürften. Doch alles ist sauber, Seife liegt bereit und ein Handtuch hängt ebenso in der Nähe. Es scheint frisch zu sein. Ich öffne die leichtgängigen Ventile der Mischbatterie, aus dem Auslauf kommt sogleich auch warmes Wasser. Ich reguliere es lauwarm, ganz kalt, das ist mir nichts. Ich benutze die Seife, wasche meine Hände und spüle das Stück Seife noch einmal ab, bevor ich es an seinen Platz zurücklege. Dann

lasse ich meine Hände voll Wasser, beuge mich über das Becken und tauche mein Gesicht in beide Hände ein. Noch einmal und noch einmal. Mir wird es spürbar angenehmer. Ich schließe die Hähne und nehme das Handtuch vom Haken. Kräftig rubble ich mein Gesicht trocken und die Hände. Einen prüfenden Blick in den Spiegel ...

Schlagartig wird mir schlecht. Mein Herz fängt an zu rasen, als ich die Gestalt im Spiegel erblicke. Unbewusst gehe ich zwei Schritte zurück. Der zweite Blick in den Spiegel macht es nicht besser. Alles um mich herum fängt an sich zu drehen, meine Umgebung verschwimmt, mir wird schwarz vor den Augen...


Lichtpunkte. Irgendwer drückt auf mein Auge: „Au!“

„Ach, da schau einer an, sind wir wieder anwesend? Wie ist Ihr Name? Woher kommen Sie? Wo wohnen Sie?“

Das sind mir eindeutig zu viele Fragen. Und was soll das helle Licht?

„Haben Sie Drogen genommen?“

Ich? Drogen? Eindeutig nein: „Nein!!!“

„Na, das war doch mal eine klare Antwort. Wie geht es Ihnen?“

Ich versuche mich aufzusetzen, denn ich scheine zu liegen.

„Langsam, langsam, Ihr Kreislauf muss sich erst mal wieder stabilisieren!“

Ich sitze. Auf einer Trage. „Was ist passiert? Wo bin ich?“, frage ich leise die Umherstehenden.

„Sie sind zusammengerutscht, mit lautem Aufschrei, als ich Sie im Waschraum ließ. Erinnern Sie sich?“

Ich schaue in die Runde und bleibe an dem freundlichen Bahnmitarbeiter hängen, der mich begleitet hat: „Ja, danke noch mal!“

„Geht’s Ihnen besser? Wie heißen Sie?“, fragt er mich.

„Alex, ähm ... Alexander“, antworte ich spontan.

Erstaunte Gesichter ringsum.

„Nicht?“, frage ich vorsichtig.

„Nun ja, Ihr Ausweis sagt was anderes.“

„Oh!“, war das einzige, was ich sagen konnte. So langsam kommen die Erinnerungen zurück. Ich stand vor dem Spiegel und wer mich da ansah … das konnte unmöglich ich sein. Doch wenn nicht ich, wer dann? Ich muss noch mal schauen.

Umständlich bemühe ich mich aufzustehen. Hat schon mal jemand versucht von so einer Trage aufzustehen?

„Warten Sie, warten Sie, wir helfen Ihnen.“ Zwei kräftige Männer greifen mir unter die Arme und helfen mir ganz langsam auf. Der Eisenbahner und einer in blauer Weste mit einem Aufnäher mit Kreuz auf der linken Brust.

Als ich stehe, geht’s mir eigentlich gut: „Danke, ich möchte bitte in den Waschraum.“

„Ist gut, da sind ja auch noch Ihre Sachen. Ich begleite Sie wieder“, antwortet der Bahner. Und nimmt mich schon wie auf dem Bahnsteig am Arm. Ich folge ihm.

Wir treten ins Freie, kalter Wind. Ja meine Jacke hängt noch drüben. Der andere Mann begleitet uns. Als die Tür rumschlägt lese ich „Bahnhofsmission“. Aha.

Plötzlich ein lautes Rufen: „Jo! Hallo Jo! Jo! Joa!“

Wir drehen uns alle dem Rufer entgegen. Ein junger Mann kommt auf uns zugestürmt: „Joa!“ Er ist völlig außer Puste, als er vor uns stehen bleibt und beide Hände nach mir ausstreckt. Dann nimmt er mein Gesicht in seine kalten Hände und küsst mich auf die Wange. Instinktiv hebe ich meine Hände und greife seine, die immer noch mein Gesicht halten.

„Entschuldige Jo, ich hab es nicht eher geschafft.“ Er atmet noch ein paar Mal tief durch.

„Sie kennen diesen jungen Mann?“, fragt der Bahnhofsmissionar.

„Ja, das ist Jo, Joa, also Joscha. Joscha Kreiner. Weshalb fragen Sie? Was ist passiert?“ Der junge Mann nimmt seine Hände von meinem Gesicht, greift dabei meine Finger und lässt seine Arme sinken. Er sieht auf einmal sehr besorgt aus.

„Ihm scheint es nicht allzu gut zu gehen, er ist uns vorhin in unserem Waschraum zusammengerutscht“, meint der Bahnbeamte. „Sie wollen ihn abholen?“

„Ja, er besucht mich. Tut mir leid, hatte eine Vorlesung, hab es nicht eher geschafft.“

„Dann ist es ja gut. Kommen Sie mit, wir haben noch seine Sachen hier!“

Wir betreten alle die Diensträume, so steht es draußen dran. Der junge Mann hat meine Hand bislang nicht los gelassen. Irgendwie ist mir auch nicht danach, ihn loslassen zu wollen. Der Beamte holt schnell meine Jacke und den Rucksack. Ich habe gar nicht mehr die Gelegenheit, noch mal in den Spiegel zu sehen. Weshalb auch, dieser nette Mansch scheint mich ja zu kennen. Ist zwar ein wenig komisch, in meinem Alter von einem so jungen Menschen an der Hand geführt zu werden, aber es fühlt sich irgendwie gut an.

„So hier, bitte sehr! Am besten, Sie ziehen sie gleich an“, höre ich und sehe, wie er mir die Jacke gleich so hält, dass ich hineinschlüpfen kann. Nun muss ich mich doch trennen von der Hand, die mich hält. Die Jacke schließe ich dann auch gleich.

Als ich den Rucksack nehmen will, kommt mir mein Bekannter zuvor: „Den nehme ich! Viel hast du ja nicht mit.“ Er lächelt mich an, greift den Rucksack, so wie ich vorhin im Zug, mit einer Hand an beiden Riemen und hängt ihn sich über seine Schulter. Dann reicht er den beiden Herren die Hand, ich folge seinem Beispiel. Der Bahner hält meine Hand noch einen Augenblick länger, worauf ich ihm in die Augen schaue: „Alles Gute, für Sie beide!“ Dann lächelt er verschmitzt und zwinkert mir zu.

Ich bekomme rote Ohren, das spüre ich. Doch wieso? Das junge Mädchen in Dienstuniform grinst auch so wissend und winkt mir zu. Ich versteh es nicht. Ich versteh sowieso nichts. Kein Plan, was hier passiert.

„Passen Sie gut auf ihn auf“, sagt der Bahnbeamte zum Abschied noch zu meinem Begleiter.

„Mache ich, ganz bestimmt!“, antwortet dieser, beugt sich zu mir, küsst mich auf die Wange, fasst wieder meine Hand und zieht mich zur Tür hinaus.

Ich laufe immer noch wie benebelt neben ihm her, unfähig mich gegen seine Hand zu wehren, seiner eingeschlagenen Richtung zu widersprechen. Ich weiß wirklich nicht, was ich von alldem halten soll. So willenlos kenne ich mich gar nicht. Kenne ich mich denn überhaupt? Ich bleibe stehen. „Kneif mich bitte ganz kräftig!“, bitte ich meinen Begleiter.

„Joa, was ist mit dir? Du bist heute so sonderbar. Es tut mir leid, dass ich nicht da war, als der Zug eintraf. Ich hab versucht dich anzurufen, aber dein Handy scheint aus zu sein. Also sei mir nicht böse … bitte!“ Dabei schaut er mich traurig an, so dass es mir Leid tut, weil ich mich so blöd anstelle.

Seine blauen Augen und sein liebes Gesicht lassen mich für einen Augenblick alles vergessen, ich versinke in ihm. Ich mag ihn nicht traurig sehen: „Entschuldige, ich bin heute total von der Rolle.“

Sofort klärt sich sein Blick. Er nimmt mich fest in seine Arme. Ich bin nicht sicher, ich bin mir mit nichts mehr sicher. Es macht mir aber auch nichts aus. Nicht, dass er knapp einen halben Kopf größer ist als ich, nicht, dass er mein Sohn sein könnte, nicht, dass ich scheinbar einen totalen Blackout habe, nicht, dass ich mich an irgendetwas erinnern kann, was hiermit zu tun hätte. Ich genieße es nur eben in seine Arme geschlossen zu sein.

Nur langsam löst er seine Umklammerung.

„Was hältst du davon, wenn wir jetzt was essen gehen? Du wirst sicher hungrig sein, nach dieser langen Fahrt.“

Jetzt, wo er das erwähnt, fühle ich mich tatsächlich etwas flau im Magen.

„Lass uns in die Uni gehen, die Essen in der Mensa sind in Ordnung und preiswert. Außerdem habe ich noch meinen Einsatzplan abzuholen, weißt ja, die 30-Jahr-Nachfeier für alle Akteure. Dann wissen wir, wann wir uns etwas vornehmen können oder Zeit für uns haben“, gibt er mir zu verstehen, „einverstanden?“

Was soll ich tun, ablehnen? Nein. „Ja, eine gute Idee!“, bestätige ich seinen Vorschlag.

An seinem erfreuten Lächeln erkenne ich seine Zufriedenheit. Gut. Er fasst wieder nach meiner Hand: „Komm, lass uns los laufen. Du hast mir einen mächtigen Schreck eingejagt vorhin. Aber jetzt ist ja alles gut. Ich freue mich, dass du es wirklich wahr gemacht hast. Hatte schon gezweifelt, doch meine Sehnsucht war größer. Bin wirklich froh, dich hier zu sehen.“

Ich lasse mich bereitwillig führen. Was sollte ich sonst tun, solange ich noch keinen roten Faden gefunden habe, mit dem ich an mein bisheriges Leben anknüpfen kann. Das scheint alles irgendwie in meinen Gehirnwindungen verschwunden zu sein. Woher kenne ich diesen Menschen? Wer ist er? Wie heißt er? Wieso kennt er mich und ich kann mich nicht an ihn erinnern? So Jemanden kann man doch nicht vergessen oder doch? Wie nennt er mich: “Jo?“

„Ja“, antwortet er mir, „bin ich zu schnell?“

„Äh, nein. Wie weit ist es?“, frage ich schnell, als ich merke, dass ich laut gesprochen habe. Aber wieso Jo? Er nennt mich doch Jo. Wieso reagiert er auf Jo, wenn ich es sage?

„Wenn man zügig geht, ist man in gut einer halben Stunde am Campus. Heute früh war Blitzeis, da hatte es auf den kalten Boden geregnet, aber jetzt geht es schon wieder. Nicht ganz vier Kilometer sind es. Bald soll die Vier, die Stadtbahnlinie Vier bis hin fahren. Aber das verschieben die immer wieder. Zuletzt hatten sie gesagt, zum 18.12. sollte sie fahren. Wer’s geglaubt hat? Mit der Bauerei kriegen die das hier nicht auf die Reihe. Schau dir den Bahnhof an. Beginnen überall und bekommen es nicht fertig. Da macht hier eine Firma Pleite, dann protestieren da die Anwohner, die Stadtwerke werden sich nicht einig mit dem Stadtrat, die sitzen nur alle in ihren dicken Sesseln und quatschen. Ich bin sicher fertig mit dem Studium, bevor die -Linie tatsächlich mal fährt, dann ist mir das auch egal.

Weißt du Jo, ich bin schon so oft zum Bahnhof gelaufen mit Sack und Pack, ‘n armer Student fährt ja nicht Taxi. Dein Beutelchen hier ist ein Klacks dagegen. Du hast echt wenig dabei. Wie lange kannst du bleiben?“

Wenn ich das wüsste. Ich zucke erst mal mit der Schulter. Was soll ich denn antworten? Soll ich sagen: „Solange du willst oder solange du mich erträgst?“

Jo bleibt mit einem Ruck stehen: „Das ist nicht wahr? Du hast wirklich hingeschmissen?“

Äh, wenn man das so sieht, könnte es fast so sein. Ich habe wohl alles hingeschmissen…

„Ich glaub es nicht. Du hast es wirklich getan? Ich liebe dich!“, ruft er und umarmt mich wieder. So kräftig, dass ich fast keine Luft mehr bekomme. Wozu auch, vielleicht ist es besser so …

Als er mich wieder frei lässt, bin ich bestimmt schon ganz blau. „Ich glaube es immer noch nicht Joa, es ist der Wahnsinn“, haucht mir Jo ins Ohr.

Gänsehaut überzieht meinen Körper. Ein ganz warmer Kuss auf meine Wange folgt und ich könnte heulen, weil ich es nicht zuordnen kann. „Kann mir bitte jemand helfen?“, bete ich im Stillen, irgendwer muss mir doch sagen können, was hier läuft. Warum will mir das nicht klar werden? Ist das eine Verschwörung, die Bielefeld-Verschwörung?“

Jo nimmt meine Hand und ich wische mir mit der anderen die Augen. Wir laufen weiter. Ich bin so emotionsgeladen. Das war ich nicht mehr, seit wir meine Omi neunzehnhunderteinundachzig zu Grabe getragen haben. Wieso erinnere ich mich daran? Und an Omi im Zug? Tränen beginnen zu drücken. Ich wische wieder. Doch das hilft nicht, verstärkt es nur. Tränen rollen mir die Wangen herab. Ich kann sie nicht halten. Ich fange an zu schluchzen, meine Beine versagen. Ich gehe in die Knie, Jo lässt mich los. Beide Hände halte ich vor mein Gesicht und heule. Ich heule, wie ein kleines Kind. Alle Emotionen brechen aus mir heraus. Ein Weinkrampf schüttelt mich, ich kann es nicht kontrollieren. Ich spüre, wie mich kräftige Arme umschließen, mein Kopf an eine Brust gedrückt wird. Immer wieder schütteln mich Tränenausbrüche. Hände streicheln mich. Eine über meinen Rücken, über meinen Kopf. Es fühlt sich so gut an, so geliebt, so ehrlich.

Nach einiger Zeit beruhige ich mich wieder. Ich wische mit dem Ärmel über mein Gesicht. Als ich hoch schaue, blicke ich in zwei wundervolle Augen. Augen, die mir liebevoll Verständnis vermitteln. Augen, die mir zeigen: „Ich bin bei dir.“ Augen, die sagen: „Ich bin für dich da!“

Ich kann nicht anders, ich streiche mit beiden Händen über das Gesicht, zu dem diese liebenden Augen gehören, wieder und wieder. Und dann passiert es. Diese Augen füllen sich mit Tränen, ganz langsam werden sie voller und laufen über. Herzklopfen beginne ich zu spüren, immer stärker. Als die Tränen rollen, versuche ich sie aufzufangen, mit meinen Daumen zu verwischen. Immer noch halte ich dieses Gesicht in beiden Händen. Ich schließe meine Augen und taste mich mit meinen Lippen über die Gesichtshälften und nehme die leicht salzigen Tränen auf. Erst rechts, dann links und wieder rechts und wieder links. Als ich glaube, dass ich sie alle habe, bleiben meine Lippen auf den anderen Lippen liegen. Sie schmiegen sich aneinander, öffnen sich, Zungen berühren sich. Elektrostatische Entladungen durchzucken die feuchten Sinneszellen, reiben aneinander, schmecken, kosten, tauschen Energien aus. Atem bleibt stehen. Alle Sinne schalten auf diesen einen Moment, alles ringsum ist ausgeblendet.

Nur langsam finden wir uns wieder, erkennen den Gegenüber, die Umgebung, unsere Lage, die Situation. „So lange habe ich darauf gewartet, so lange Joa. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach diesem Augenblick verzehrt habe. Um nichts in der Welt hätte ich diesen Moment verpassen wollen, es ist unglaublich“, flüstert mir Jo ins Ohr.

Das weckt mich auf. Was hab ich getan? Ich habe einen Jungen geküsst. Zum ersten Mal, glaube ich. Nichts ist dabei was ich bereuen würde, gar nichts. Mein Herz sagt, dass es genau das wollte, genau das gebraucht hat. Nichts Falsches fühle ich. Nur mein Kopf ist sich nicht sicher: „Ist das wirklich so in Ordnung? Ist es das, weshalb ich hier bin? Ist es das, was ich erleben soll? Ist das der Grund, weshalb ich das tue, was ich fühle?“

Jo steht auf und zieht mich zu sich hoch. Er setzt mir noch einen Kuss auf die Stirn. Nimmt mich an die Hand. Wir gehen weiter. Ein bisschen Glück in der Brust, ein wenig Liebe im Herzen. Wie ist so was nur möglich? Wie kann ich mir das nur erklären?

Ich fühle die Wärme seiner Hand in meiner, jedes einzelne Fingerglied ertaste ich. Die Verbindung, die zehn Finger eingehen, übertragen Energien. Ein Meer von Gefühlen.

Jo führt mich zum Campus, ohne ein weiteres Wort. Braucht er nicht, seine Hände sprechen Bände. Festhalten was du jetzt hast, genießen, einfach nicht mehr loslassen!

Im Augenblick bin ich wahrscheinlich total neben der Spur, bekomme nichts sortiert. Ich muss einen unglaublichen Blackout gehabt haben. Keine meiner Erinnerungen stimmt mit den augenblicklichen Erlebnissen überein, es gibt einfach keine Verbindung hierher. Doch es ist mir gerade egal, neben Jo schwebe ich daher und es fühlt sich gut an.

Wir betreten die Mensa, nachdem wir einige Schleichwege benutzt haben, Jo sagte: „Wir kürzen ab, ich hab mächtigen Hunger.“

An der Essensausgabe hängt ein Speiseplan, den ich nur kurz überfliege, richtigen Hunger hab ich nicht, ein wenig Appetit vielleicht. Jo bekommt fast einen Lachkrampf, als er den Speisezettel liest: „Die sind hier doch immer noch für Überraschungen gut. Das ist eine Zusammenstellung, schau hier! Matjes oder Schweinshaxe. Die Suppen lass ich mal weg. Aber hier der Nachtisch oder Dessert: Handkäs mit Musik oder Topfenpalatschinken mit Marillen und Schlagobers. Junge, Junge, das ist schon heftig. Aber die sind in der Weihnachtszeit besonders einfallsreich, da gibt es fast jeden Tag eine Überraschung. Na gut, was möchtest du?“

Ich zögere.

„Ich nehme den Matjes“, gibt Jo der Bedienung hinter dem Tresen bekannt, „und mein Freund Joa, der nimmt …“

„… die Spaghetti mit der Bolognese“, antworte ich schnell, weil ich den Matjes nur an der See esse und mir die Haxe zu viel Fleisch wäre.

„Was hältst du von dem Palatschinken?“, fragt mich Jo.

„Sieht gut aus“, gebe ich zu, „schaffe ich aber sicher nicht.“

„Dann teilen wir die Portion“, beschließt er und zieht das Tablett weiter zur Kasse. „Magst du einen Kaffee?“

„Ja, bitte mit Milch.“

Jo lässt uns beiden einen Pott Kaffee ein. „Deinen nur mit einem Schluck Milch, richtig?“

Ich nicke. Er scheint mich zu kennen. Ich überlege schnell, wie er wohl seinen Kaffee trinkt. Schwarz und mit Zucker. Falsch! Er gießt sich die Tasse bis zum Rand mit Milch auf. Milchkaffee mag er also.

Wir ziehen weiter zur Kasse. "Hi Jo!", begrüßt uns das lächelnde Mädchen, "Und du bist ...?"

"Jo, auch Jo", beeilt sich Jo zu antworten, nachdem er kurz in mein Gesicht sieht.

"Jo und Jo, wie praktisch", grinst sie uns an, worauf ich beschließe, wieder leicht Farbe anzunehmen.

"Geht alles auf mich", bestimmt Jo und dreht seine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger locker aus dem Handgelenk einmal über das Tablett. Und er legt ihr dann seinen Ausweis, wohl seinen Studentenausweis hin, worauf sie eine Nummer eintippt. Ich schiele auf den Ausweis und erkenne das Jahr, Neunzehnsechsundsiebzig.

"Ok“, sagt sie, ich höre die Tasten klimpern, "Fünfzehnfünfzig!" Sie schiebt ihm den Ausweis zurück, stutzt, nimmt ihn noch einmal und springt auf. "He Jo! Komm her!", schreit sie plötzlich, hechtet über den Tresen, hängt sich an seinen Hals, zieht ihn zu sich herüber, so dass ich Angst haben muss, dass er auf dem Tablett landet und deutet links und rechts einen Kuss an. "Alles Gute mein Großer, bleib hübsch gesund und eine tolle Feier! Den Rest kann ja Jo übernehmen oder ist er nicht ...?"

"Doch, ist er“, antwortet Jo ihr leise, "und danke für die Wünsche!"

"Ha, ich wusste es gleich als ihr hier herein kamt", gibt sie bestätigend bekannt und grinst mich wieder so wissend an. Dann wendet sie sich der Kasse zu.

Ich bin im Begriff zum Chamäleon zu werden, erst verwirrtmattblass, dann ahnungslosverschämtrosa, dann erschreckendweiß, wieder erwischtrötlich. Gleichzeitig wechselt meine Hauttemperatur von glücklichwarm auf schweißnasskalt.

Ich sehe, wie Jo bezahlt. Was sind das für Scheine und Münzen? Noch ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken.

"Eine Mark Fünfzig zurück," meint sie, reicht sie Jo, "und, Party heute Abend bei dir?"

Jo steckt seine Geldbörse weg, nimmt das Tablett: "Nein, erst nach den Feiertagen, wenn alle wieder da sind. Wir werden heute auf den Markt gehen und ordentlich Punsch schlürfen."

"Dann wünsche ich euch viel Spaß!", sagt sie leicht enttäuscht, dann aber irgendwie verständnisvoll.

Sie greift meine Hand, als ich Jo hinterher gehen will, der bereits nach einem Tisch schaut. Sie zieht mich heran: "Pass gut auf ihn auf Jo!" Sie drückt mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. "Der ist für Jo, gib ihn ihm! Du hast mehr Glück bei ihm, als ich. Mach was draus!" Dann entlässt sie mich mit einem liebevollen Blick direkt in meine Augen.

Wieder fährt eine Hitzewelle durch meinen Körper. Ich laufe Jo nach, der schon zielsicher einem Tisch auf der Fensterseite der Mensa und hinter einer vor Blicken schützenden Säule zustrebt. Dafür bin ich ihm dankbar.

Wir nehmen Platz. Jo verteilt die Speisen und stellt das Tablett zur Seite.

"Das war Sandra, sie war mal total verschossen in mich. Es hat lange gedauert, bis sie eingesehen hat, dass aus uns nur Freunde werden würden. Aber sie ist lieb. Und sie ist eine der wenigen, die um mich weiß. Seit dem beschützt sie mich, hält mir die anderen Mädchen vom Hals, spielt dann die Eifersüchtige und verscheucht sie", erklärt mir Jo mit leiser Stimme und feixt ein wenig, "auf sie kann man sich verlassen."

Ich nicke Jo zu und kann ihre Beweggründe verstehen, als sie mir den Kuss übergab.

"Aber nun lass es dir schmecken Joa!", wechselt Jo das Thema und übernimmt seinen Matjes.

Ich ziehe mir den Teller Bolognese heran. Sogar Parmesan haben sie mit drauf und ein paar zarte grüne Blättchen. Sieht wirklich lecker aus. Ich fische mit der Gabel Spaghetti heraus, ziehe sie durch die Soße und wickle sie in meinem Löffel mundgerecht zusammen. Die erste Gabel dieser Speise lege ich mir in den Mund, meine Zunge nimmt den Geschmack auf und vervollständigt das Bild mit dem Geruch zu einem ganz angenehmen Erlebnis. So mag ich die Spaghetti, diesen Geschmack habe ich schon im Voraus auf der Zunge gehabt, als ich diesen Teller wählte. - Daran kann ich mich erinnern, den kenne ich, habe ich sicher schon hunderte Male geschmeckt. Doch woher nur? - Und doch ist es, als würde dieser Geschmacksmoment das erste Mal auf meinem Gaumen explodieren.

Ich öffne meine Augen und blicke geradewegs in die leuchtenden meines Gegenübers.

"Ich habe noch nie jemanden gesehen, der seine Spaghetti so genießt, wie du. Auch wie du sie aufgerollt hast. Die meisten hier schlürfen die nur so hinein. Bei dir gab es kein Geräusch, dafür kann ich in deinem Gesicht lesen, wie gut sie dir schmecken", lächelte mich Jo an. "Weißt du, wie glücklich ich gerade bin, mit dir hier zu sitzen? Seit der Messe im Oktober habe ich mir das gewünscht. Seit zwei Monaten, fast auf den Tag, habe ich mein Herz an dich verloren. Und es kommt mir vor, als hätte ich zwei Jahre auf dich warten müssen."

Und schon fehlt mir die Verbindung wieder zwischen meinem Kopf und dem Hier und Jetzt. Aber ich sehe in zwei glückliche Augen. Allein dafür lohnt es sich hier zu sein. Zwangsläufig steckt seine Freude an, ich merke, wie ganz automatisch die Anspannung mein Gesicht, meinen ganzen Körper verlässt. Wie schafft er das nur? Noch einen Augenblick verweile ich in seinen glänzenden Augen, dann gibt er einen leichten Wink mit seinem Kopf und sein Blick wandert auf meinen Teller.

"Lass sie nicht kalt werden!", holt er mich zu meinen Spaghetti zurück.

Das lasse ich auch nicht. Wir genießen beide unsere Mahlzeit. Jo legt sich gekonnt seinen Fisch auf die Gabel. Ich beobachte, wie er ihn im Mund, zwischen Zunge und Gaumen zergehen lässt. Er hat Recht, man kann den Wohlgeschmack im Gesicht lesen. Er muss grinsen, während er kaut und mich bei meiner Beobachtung ertappt. Anscheinend haben wir beide den gleichen Gedanken: "Gut gewählt, schmeckt ausgezeichnet!"

Gabel für Gabel verschwindet in unseren Mündern.

Ich denke gerade über den Koch nach. Wie bekommt er solch schmackhaftes Essen in einer so einfachen Mensa hin? Ob er das auch hinbekommt, wenn der Saal voll ist, alle Studenten da sind? Sind wohl Semesterferien, viel ist nicht los heute.

Fast gleichzeitig schieben wir unsere Teller von uns weg. Kein Krümelchen mehr darauf.

"Und jetzt das Beste!", bestimmt Jo und stellt die Palatschinkenrollen genau zwischen uns. Er reicht mir ein Messer und eine neue Gabel, "und los!"

Die puderzuckerbestreuten Rollen lassen sich ganz leicht zerteilen. Die Zinken der Gabel gleiten durch das Stück. Die Schnittstelle zeigt einen hauchdünnen Teig, gerollt, gefüllt mit schneeweißer Creme und leuchtendem Fruchtfleisch. Die Zunge ahnt schon, welche Rezeptoren jetzt aktiv werden müssen, als mein Röllchenstück darauf liegt. Topfenpalatschinken mit Schlagobers und Marillen. Einfach ein Genuss! Dazu ein Schluck aus dem Kaffeepott. Der süße, sahnig fruchtige Eindruck wird nun abgerundet durch einen mittelkräftigen Kaffeegeschmack mit einer leichten Schokoladennote. Köstlich.

Mir fällt der Spruch "Liebe geht auch durch den Magen" ein. Heute bekommt er endlich einen Sinn. Denn ich fühle in den ganzen Geschmacksmomenten seine Liebe zu mir ganz deutlich. Ich habe jetzt nur ihn im Herzen, alles andere ist ausgeblendet und ja, mein Magen grummelt, will mehr, hat noch nicht genug.

Jo‘s Hand berührt meine: "Lass uns gehen, wir sind schon fast anderthalb Stunden hier. Sandra hat schon drei Mal geschaut".

Ich lächle ihn zufrieden an: "Einverstanden!"

Und noch während wir aufstehen und unsere Jacken von den Stuhllehnen nehmen, kommt Sandra angeschnipst: "Lasst stehen, ich räume für euch ab!" Dann schiebt sie uns vom Tisch weg: "Nun los! Habt einen schönen Abend ihr zwei Jos! Und eine noch schönere Nacht!"

Jo grinst dankbar zurück, schnappt meinen Rucksack und legt einen Arm über meine Schulter, als wir hinausgehen. Da waren sie wieder, die aufsteigende Hitze und der eiskalte Schauer über den Rücken, doch nicht mehr so heftig.

Wir laufen durch die Eingangszone der Uni. Haufenweise Tafeln hängen hier, überall Zettel der Fachrichtungen, Einschreibelisten, Auswertungen, Ergebnisse. Jo strebt zu einer Tafel auf der linken Seite. Dort hängen Abreißzettel, solche, die man sich abtrennt und mitnimmt, ohne eine Nummer aufschreiben zu müssen oder einen Termin, weil er bereits darauf steht. Jo‘s ist etwas größer. Es ist der Ablauf für die Dankeschön-Einladung der Uni an die Akteure zum dreißigjährigen Jubiläum. Einige wenige Termine sind zwischen den Feiertagen. Die große Party ist dann am ersten Januar-Wochenende Zweitausend.

Ich sehe mich erschrocken um. Tatsächlich. Überall steht Neunzehnhundertneunundneunzig drauf, jeder Zettel trägt diese Jahreszahl, an der nächsten Tafel auch, an der nächsten wieder. Ich fahre mir durch die Haare. Ich spüre ihre Länge und hinten zum Zopf gebunden.

"Ahhhh ....!" Ein Stich in meinem Kopf ...

Sofort ist Jo bei mir und hält mich an den Schultern fest, während ich mir immer wieder über das Gesicht fahre: "Ist dir nicht gut Joa? Willst du dich setzen?" Besorgt schüttelt er mich ein klein wenig, bis ich ihn ansehe.

Ich schüttle meinen Kopf: "Nein, nur in den Waschraum möchte ich."

"Ok, der ist gleich im ersten Stock." Jo nimmt wieder meine Hand und lenkt mich durch das Haus. Durch eine breite Tür ins Treppenhaus, eine Etage nach oben und dann zwei mal links. Durch die Toilettentür direkt zum Waschbecken. Hahn auf und Wasser ins Gesicht. Kaltes, egal! Ich muss doch mal zu mir kommen. Jo reicht mir ein Papiertuch.

Ich reibe mir das Gesicht ab und lasse das Tuch in einen Korb neben mir fallen. Jetzt. Es geht nicht anders, ich muss in den Spiegel schauen.

Zuerst sehe ich Jo, der dicht hinter mir steht und den ich auch hinter mir fühle. Ok, das Spiegelbild stimmt. Jetzt ich. ... Ich sehe einen Jungen, meine Größe, jedoch ein schmales Gesicht. Die mittelbraunen Haare glatt nach hinten gekämmt, sauber zu einem Zopf gebunden. Liebes Gesicht, schmale Nase, dünne Augenbrauen, dunkle Augen, blass, hohe Stirn, Grübchen und ... Miniohrstecker auf beiden Seiten, winzige Silberperlen, kaum zu sehen. Zwangsläufig fasse ich mir an mein rechtes Ohr, der Typ im Spiegel an sein linkes. Jo grinst. Da, der Typ hat eine kleine Beule an seiner linken Seite. Sofort spüre ich meine Kontaktstelle mit dem Fensterrahmen im Zug und fühle auf meiner rechten Seite die Beule ab. Der Typ fühlt die seine. Jo schlingt seine Arme um den Typ und umschließt mich mit seinen Armen komplett. Dann säuselt er mir ins Ohr: "Du bist so hübsch ... und die hier, sind echt geil." Dabei schnappt er mit seinem Mund nach meinem rechten Ohrläppchen und lässt es darin verschwinden. Ich spüre, wie seine Zunge den Ohrstecker umspielt. Das kitzelt und ich ziehe die Schultern hoch und kichere. Dabei lässt er mein Ohrläppchen wieder los. Der Typ im Spiegel kichert auch. Das gleiche Spiel mit dem anderen Ohrläppchen, nur da bin ich schneller mit meiner Schulter. Gänsehaut.

Das bin also ich. Jo. Joa. Joscha. Hm. Ich schätze mich auf zweiundzwanzig/dreiundzwanzig Jahre. Unglaublich. Ich sehe an mir herab. Kein bisschen Bauch, Jo hält seine Hände darüber.

"Lass uns gehen, ich zeige dir mein Zuhause." Jo gibt mir von hinten noch einen Kuss hinter mein linkes Ohr, noch mal Gänsehaut.

Schon läuft er mit mir die Treppen hinab und den Flur Richtung Ausgang, vorbei an den Tafeln. Ich schiele nochmals nach den Jahreszahlen. Daran hat sich nichts geändert. Hier ist es nach wie vor Neunzehnneunundneunzig.

Draußen ist es heute diesig und kalt, es will gar nicht richtig aufklaren, die Sonne kommt nicht durch. Jo führt mich weg vom Campus. Händchenhalten wird eine angenehme Angewohnheit, aus zwei Gründen: Erstens ist schließlich Winter und so verschwindet nur eine Hand in der Jackentasche und zweitens erzeugt es Wärme für Herz und Seele.

Ich muss mich erst dran gewöhnen, dass ich als Zweiundzwanzigjähriger in einer fremden Stadt mit meinem wahrscheinlich geheimen Freund Hand in Hand durch die Gegend ziehe, wohl alles hingeschmissen hab, um bei ihm zu sein. Überhaupt stehe ich anscheinend auf Jungs, besser auf Jo, und hab wohl alles ausgeblendet, was in der Vergangenheit liegt, weshalb auch immer. Und wir haben jetzt das Jahr Neunzehnhundertneunundneunzig, Dezember Neunundneunzig, dreiundzwanzigster Dezember. Und mein Freund Jo, der mich allem Anschein nach besser kennt, als ich mich selbst, hat heute Geburtstag. Habe ihm noch nicht mal gratuliert, habe es gar nicht gewusst und ein Geschenk habe ich auch nicht. Irgendwie ist mir das peinlich und irgendwie auch wieder nicht. Denn er ist der, der mich mit überzeugender Zuneigung mit sich nimmt und keinen Eindruck aufkommen lässt, er wäre enttäuscht oder so. Ohne ihn säße ich sicher noch in dieser Bahnhofsmission fest und würde mir dämliche Fragen nach meinem Geisteszustand stellen lassen müssen oder gar Schlimmeres, obwohl ich mir die selbst stelle.

Gar nicht weit von der Uni betreten wir einen Park. Park, so wie ich ihn bezeichnen würde, hier heißt das Wald. Zumindest weist ein Schild darauf hin. Die Wege schlängeln sich, man sieht, dass sie auch als Radwege benutzt werden. Bald verschwinden die Gebäude hinter den Bäumen. Die Bahnstrecke haben wir vorher auch überwunden, sicher die, die später die Uni-Linie werden soll. Es ist schlecht auszumachen, in welche Richtung wir gehen, ohne Sonne keine Orientierung am Himmel. Zum Glück habe ich in der Schule aufgepasst, zumindest kann ich die Nordwestseite eines Baumes ausmachen, an denen oft Moos wächst, zumindest ein grüner Belag dran ist. - He, ich kann mich an etwas erinnern! -

Wir laufen also, meiner Beobachtung zufolge, südwestlich durch den Stadtwald. Allerdings sind da schon ein paar Höhenmeter zu überwinden. Bielefeld und flaches Land, meine Erwartung muss ich komplett revidieren: "Das geht ja ganz schön bergauf hier!"

"Ja!“, antwortet Jo, es ist sein erstes Wort, seit wir die Uni verlassen haben. "Wir überqueren gerade einen nördlichen Ausläufer der Teutoburger Waldes. Du wirst sehen, die Aussicht vom Balkon der Wohnung ist grandios. Dann schaust du direkt in die Berge."

Darauf bin ich wirklich gespannt. Bald haben wir den Scheitel des Stadtwaldes erklommen und lassen uns bergab treiben. Wir wechseln die Hände, denn die anderen sind verschwitzt. Jetzt werde ich übermütig, denn ich fange an zu rennen. Jo kichert. Und wir werden schneller, immer schneller. Die Schritte werden größer, wir rasen den Weg hinunter. Endlich wird es wieder seichter, der Weg begradigt sich, wir laufen aus.

"Du bist ja eine richtige Sportskanone Joa", lobt Jo.

"Ja, ich laufe gern", antworte ich und weiß nicht genau, ob ich jetzt schwindle oder ob das eine Erinnerung ist.

"Ist nicht mehr so weit", fordert Jo meine Aufmerksamkeit. "Zweimal links, einmal rechts, da ist der Schäferdreesch."

Und wirklich, nach zehn Minuten schnellen Schrittes durch eine Siedlung überqueren wir noch eine Hauptstraße und laufen diesen Schäferdreesch entlang. Einmal rechts.

Am dritten Haus angekommen, öffnet Jo zunächst den Briefkasten, holt die Post heraus: "Für Jana, für Jana, für Leon, nochmal Jana, für Florian, der wohnt gar nicht mehr hier, nochmal Jonas, für mich von meiner Oma, wieder für Jonas, ah, von meinem Bruder und noch was für Jana. Das war's."

Jo öffnet die Haustür des modernen Baus, entgegen der anderen Siedlungshäuser hat man sich hier für ein Flachdach entschieden. Wir steigen in den zweiten Stock. Nur eine Tür in diesem riesigen Haus auf dieser Etage.

"Zieh bitte deine Schuhe aus, Jana tobt sonst, die kann sowieso keine Fremden leiden. Sie ist die Freundin von Sandra, du weißt, Mensa?"

Brav gehorche ich, nehme meine Schuhe ebenso in die Hand, wie Jo und laufe ihm durch die aufgeschlossene Wohnungstür nach.

"Hehe, da seid ihr ja doch noch, fast hätten wir uns verpasst!"

Eine flotte Blondine kommt auf uns zugewirbelt und bleibt wie angewurzelt vor uns stehen. "Die hättest du anbehalten können", meint sie, zeigt auf meine, zugegebener Maßen teuer aussehenden, Treter und fängt sich dabei einen überraschten Blick von Jo ein. "Das ist er also, dein Joa?", setzt sie nach und mustert mich noch einmal von oben bis unten. "Hut ab!“, meint sie, "Geschmack hast du."

Sie fällt mir um den Hals: "Herzlich willkommen Joa! Ich bin Jana und das ist Leon." Sie gibt mich nach dieser herzlichen Umarmung gleich wieder frei und damit auch den Blick auf Leon, der hinter ihr steht.

Leon reicht mir seine Hand, hält sie nach unserem Gruß eine Sekunde länger fest als nötig und lächelt eigenartig: "Hallo Joa!"

"Ihr seht, wir sind abfahrbereit“, mischt sich Jana ein, "ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch! Wir sehen uns nach Allerheiligen?"

"Ja genau", antwortet Jo, der nach diesem kleinen Überfall noch seine zarte Röte wegstecken muss, die ihm ins Gesicht gestiegen ist. Damit sind wir uns zumindest farblich ähnlich. Jana umarmt Jo, flüstert ihm noch etwas ins Ohr, dann umärmelt sie wieder mich und flüstert: "Wird Zeit, dass du kommst Joa, Jo war nicht mehr Jo. Sei lieb zu ihm und bleib solange du kannst!"

"Dann macht‘s gut ihr zwei!", sagt sie laut und bittet, "wäre schön, wenn ihr dem Tannenbaum noch eine Spitze verschafft, der sieht so kahl aus da oben."

Dann greift sie eine Tasche, während Leon drei auf einmal schleppt, beim Hinausgehen noch frohe Weihnachten wünscht und Jana die Treppen hinunter folgt.

Jo schließt die Tür: "Die fahren zu ihren Eltern über Weihnachten und über Sylvester weiter zu seinen."

"Sturmfreie Bude!", ruft er laut und feixt so kräftig, dass man meinen könnte, seine Ohren bekämen vom Mund Besuch. Gleich legt er wieder an Farbe zu und lächelt mich lieb an.

"Komm, ich führe dich herum!"

Wir gehen in ein Zimmer, direkt gegenüber der Eingangstür. Dort steht gleich um die Ecke ein kleines Schuhregal, in welches er erst seine Schuhe stellt, dann mir meine abnimmt und ebenfalls dort unterbringt: "Jana hätte mich gelyncht, wenn ich die Schuhe anbehalten hätte, du hast Eindruck gemacht. Und Hausschuhe brauchst du keine hier. Alles Fußbodenheizung, die haben nicht gespart. Nur für den Balkon, aber da habe ich dicke Filzpantoffeln stehen.“

Ich bin schon ein wenig beeindruckt.

"Nicht, dass du denkst, dass ich hier kräftig zahlen muss. Im Gegenteil, ist echt günstig. Werde oft beneidet von den anderen, die sich manchmal sogar zu dritt eine Bude teilen müssen.“

Ich muss da immer an die Feuerzangenbowle denken, mit Rühmann: "Bude? Was ist denn das für ein Ausdruck? Eine Bude ist etwas Ungehöriges, ich möchte fast sagen Unmoralisches! Der Schüler einer höheren Lehranstalt hat keine Bude, sondern, sofern er nicht zu Hause wohnt, eine ordentliche Kammer bei anständigen, rechtschaffenden Leuten!" Dabei ahmt er die tiefe Stimme des Direktors im Film nach und greift sich an seinen Kinnbart, den er nicht hat: "Kennst du das?"

"Klar, kenne ich, wer wohl nicht?", antworte ich ohne zu zögern und muss heftig lachen.

"Stimmt, der ist bekannt. Wir spielen den Film zur Weihnachtszeit bestimmt fünf oder sechs Mal im Kino. Und in der Mensa gibt es jedes Jahr einmal einen Abend in der Vorweihnachtszeit, auf der großen Wand, ohne Ton und da wird der Text mit verteilten Rollen gesprochen. Das ist immer ein kräftiges Hallo. Und den Direx, den spricht Rektor Ricki immer selbst, das lässt er sich nicht nehmen."

Ich stelle mir das gleich bildlich vor und bekomme ein tolles Gefühl dazu, als wäre ich selbst dabei. "Den würde ich auch gern mal wieder sehen!", sage ich und blicke in Jo‘s belustigte Augen.

"Wirklich? Können wir, da ist im Kino noch eine Vorstellung. Das machen wir, das wird cool."

Jo zeigt mir erst einmal die Wohnung: "Hier, das ist das Bad mit großer Dusche, daneben das Gäste-WC und hier ist die Küche."

Ich stehe in einer super modern eingerichteten Kochecke, die Geräte sind alle oben verbaut. Bücken nicht nötig. Der Herd und die Spüle stehen mitten im Raum, mit Abzug darüber und Arbeitsfläche. Der sich anschließende Esstisch ist in gleicher Höhe, zu dem hohe Stühle mit niedriger Lehne gehören.

"Hier ist Janas Reich, zwei Zimmer mit Balkon auf der Ostseite des Hauses," führt Jo mich weiter und zeigt auf eine Tür, "und hier hat Leon sein Zimmer, wir teilen uns den Balkon zur Südseite hin. Die Wohnung gehört Janas Vater, der ist Zahnarzt in Dortmund. Er hat die gekauft, ursprünglich weil seine Jana allein darin komfortabel wohnen sollte und wohl auch als Geldanlage. Das wollte sie aber nicht. Deshalb hat sie Mitbewohner gesucht. Sandra hat mich da eingeschleust, weil ich mir vorher im Studentenwohnheim mit noch einem ein Zimmer geteilt habe, sie nie zu mir konnte, ich nicht zu ihr. Und als beste Freundin hatte sie sich was ausgerechnet, wenn sie mich hier unterbringt. Witzigerweise hat Janas Papa gedacht, ich würde mit Jana zusammenkommen und wollte mich umsonst hier wohnen lassen. Das habe ich aber abgelehnt und so hat er sich überreden lassen, dass ich wenigstens das bezahle, was ich im Wohnheim hätte auch zahlen müssen. Ich versteh mich mit ihm nach wie vor ganz gut, auch wenn ich nicht zu Jana gehöre."

So stehen wir jetzt wieder in Jo‘s riesigem Zimmer. Das ist so groß, dass er auf einer Seite, mit Blick nach Westen, ein richtig großes Bett so neben dem Fenster stehen hat, dass es mit Kleiderschrank und Raumteiler vom Wohn- und Arbeitsbereich gut abgetrennt ist.

Wir betreten den Balkon, zu dem also auch Leon Zutritt hat. Vorher sind wir in die dicksohligen Filzpantoffel geschlüpft und blicken über eine Reihe niedriger Häuser hinweg in die Ferne. "Habe ich zu viel versprochen? Panoramablick auf den Teutoburger Wald", dabei lässt Jo seinen Arm über den Horizont gleiten. Ein tolles Bild, trotz des winterlich trüben Wetters.

"Du hast es wirklich sehr schön hier und vor allem ruhig", stelle ich ehrlich fest.

"Ja, stimmt!", höre ich ihn sagen, ganz dicht hinter mir. Mit beiden Armen umfängt er mich und legt mir seine Hände auf den Bauch. Ich lehne mich etwas zurück und genieße den Augenblick, der wirklich sehr schön ist.

"Ich hätte mich vorhin bei Jana entschuldigen müssen", sagt er leise. "Als du heute früh anriefst, war ich so aufgekratzt, ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Ich bin dann aufgestanden, hab aufgeräumt, meine schmutzigen Klamotten in die Maschine gesteckt. Aber als ich dann angefangen habe zu saugen, kam Jana angestürmt und hat mich gefragt, ob ich einen Knall habe, so früh solchen Krach zu machen. Ich bemerkte, dass es erst um halb sieben war und musste ihr erklären, weshalb ich so munter war. 'Also doch, ich habe es geahnt', waren ihre Worte. Dann hat sie mich gedrückt und gebeten, das Staubsaugen bis nach ihrem Frühstück zu verschieben."

"Hast du Appetit auf eine heiße Schokolade?", wechselt er abrupt das Thema.

"Ja gern!"

Wir gehen hinein, ziehen unsere Jacken aus, hängen sie an die Garderobe. Jo verschwindet kurz in die Küche, durch die offenen Türen höre ich ihn werkeln.

Bald kommt er mit zwei dampfenden Tassen des heißen Getränks zurück. Ein Duft von süßer Weihnacht zieht durch den Raum. Jeder für sich schlürft diese Schokolade, hängt seinen Gedanken nach. Ich bin mit meinen Gedanken bei Jo. Wie kommt dieser unglaublich liebenswerte Mensch denn gerade auf mich? Wie sind wir überhaupt zueinander gekommen, wie haben wir uns kennen gelernt, sind uns begegnet?

Trotz dieser Ahnungslosigkeit genieße ich diese Minuten. Ist das mein Sehnen, ist das meine Bestimmung, ist das mein Schicksal? Wenn dem so ist, ich nehme es an! Weshalb Gedanken machen, weshalb Zweifeln, weshalb Gründe finden? Es ist einfach so, es ist schön, es ist einfach nur erfüllend.

Wir sitzen uns gegenüber auf Jo’s Eckcouch. Ich betrachte ihn, er betrachtet mich. Beide halten wir unsere Hände um die warmen Tassen und nippen bedächtig Schluck für Schluck.

"Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du jetzt hier sitzt", meint Jo.

"Ich auch nicht", gebe ich zu. "Heute früh hatte ich noch keine Ahnung, wo ich heute Abend sein werde", ergänze ich wahrheitsgemäß.

"Du bist unglaublich!", behauptet Jo, "Und genau deswegen liebe ich dich!" Jo stellt seine Tasse ab und rückt ganz dicht zu mir auf. "Was immer dich dazu bewegt hat, heute Nacht meine Nummer zu wählen, ich bin dafür dankbar!"

Seine Hände erfassen meine Tasse, stellen sie neben seine auf den Tisch. Dafür bekomme ich ihn. Jo nimmt meine Hände und legt sie sich auf sein Gesicht. Dann machen sie sich selbstständig, ziehen ihn an mich heran, führen sein Gesicht an meines und setzen seine Lippen auf die meinen. Völlig gleichwillig halten wir diese Position inne, tauschen uns aus, geben uns Bestätigung, Verständnis und ... Liebe. Ja, genau das!

Jo umarmt mich nach diesem Kuss und drückt mich ganz fest: "Ich möchte dich einladen, gleich mit mir auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Heute ist er den letzten Tag bis spät geöffnet."

"Einverstanden!", sage ich, denn ich bin wirklich in Weihnachtsstimmung gekommen. Wärme im Magen, Wärme im Herzen, einen lieben Menschen neben mir. Vor mir ein hübscher Weihnachtsbaum, wirklich toll behangen mit traditionellen, roten Kugeln und schwerem Lametta, elektrische Kerzen. Beleuchtet sieht er dann bestimmt sehr anheimelnd aus.

"Lass uns in einer Stunde losziehen, dann ist der Markt schön beleuchtet, das ist immer ganz besonders romantisch."

Ich nicke. Jo gleitet an meiner Brust hinab und legt seinen Kopf auf meinen Schoß, seine Beine auf die Couch. Da ich in der Ecke sitze, nehme ich meine Beine auch hoch, strecke sie nach der anderen Richtung aus. Jo dreht sich auf die Seite und schließt seine Augen. Er sieht so glücklich aus. Ich streichle ihn, fahre ihm über die Haare, seine Wange, sein Ohr. Zufrieden lächelt er. In wenigen Minuten höre ich ihn ganz ruhig atmen. Ich habe einen schlafenden Freund auf meinem Schoß.

Die hohe Lehne der Couch lädt zum Anlehnen ein, mein Kopf fällt in die Ecke und meine Lider zu. Absolute Ruhe umfängt mich. Kein störendes Geräusch. Mit geschlossenen Augen lasse ich diesen Tag Revue passieren: Mir ist heute nur Gutes widerfahren. Und obwohl ich nicht weiß, wie ich in den Zug kam und weshalb, kann ich nur sagen, dass ich mich wohl fühle und nirgends lieber wäre, als hier bei Jo.

"He, wach auf!", höre ich es ganz leise an meinem Ohr. "Wach auf mein Lieber!"

Dabei werde ich ganz zart gestreichelt. Dunkelheit umgibt mich.

"He, wir sind eingepennt", höre ich Jo, "es ist bereits dunkel draußen. Wenn wir noch etwas erleben wollen, dann müssen wir jetzt los."

Ich merke und sehe im schwachen Licht einer Straßenlaterne, die etwas entfernt des Hauses stehen muss, wie Jo sich erhebt und in Richtung Tannenbaum tapst. Klick. Die Wärme der Beleuchtung erhellt den Raum, das Lametta und die Kugeln spiegeln das Licht der Kerzen.

Und wahrlich ein wunderschöner Christbaum erleuchtet matt das Zimmer.

Jo kehrt zurück und gibt mir einen Kuss auf den Mund: "Komm, es wird Zeit!"

Ich erhebe mich und laufe Jo bis zur Garderobe nach. "Ich brauche meine Mütze", sage ich, ohne zu wissen, ob ich überhaupt eine habe.

Jo reicht mir den Rucksack vom Boden.

Ich öffne ihn und wühle darin. "Ich hab keine", stelle ich fest.

"Nicht schlimm, ich gebe dir meine Lieblingsmütze", antwortet Jo und fischt sie von der Ablage. Er stülpt sie über seine Hände und zieht sie mir über den Kopf. "Du siehst toll aus damit", bestätigt er mit kontrollierendem Blick und küsst meine Stirn.

"Wenn du meinst", antworte ich und lache ihm zu.

Wir ziehen unsere Jacken an, sie sind sich sogar farblich fast gleich stelle ich fest, schnappen die Schuhe und gehen aus Jo’s Zimmer, dann durch die Eingangstür der Wohnung hinaus ins Treppenhaus.

Schuhe an und los: "Ein gutes Stück ist zu laufen, dafür aber nicht durch den Stadtpark, sondern nur immer der Hauptstraße folgen."

Wir biegen um zwei Ecken und laufen den Gehweg entlang in Richtung Stadtzentrum, vermute ich, im Allgemeinen habe ich einen sehr guten Orientierungssinn.

- So? Habe ich den? Stimmt das? -

Unterwegs bewundern wir die beleuchteten Fenster. Einige Schwibbögen zieren sie. Manche haben beleuchtete Figuren vor dem Haus, bei anderen kann man einen Tannenbaum in der Wohnung leuchten sehen. Es ist eben Weihnachten, alle Welt freut sich darauf.

Das Wetter hat sich gehalten, kein Regen, der Himmel ist stellenweise sogar aufgerissen und gibt einen Blick auf das Firmament frei. Die Abstände der Laternen lassen immer wieder einen ungestörten Blick auf die Sterne zu. Händehaltend laufen wir in gemäßigtem Tempo die Straße entlang. Zahlreiche Autos befahren sie, trotzdem sind wir auch ab und an ganz allein unterwegs. Ich fühle mich an Jo’s Seite unglaublich wohl, warme Ohren, warme Hände, warmes Herz.

Bald erreichen wir die Magistrale, wie sie Jo nennt. Es ist die Hauptstraße, die von Brackwede nach Herford geht. Über irgendeinen Schleichweg unterqueren wir sie und sind im Bielefelder Zentrum, die Beleuchtung lässt auf ein altes Stadtzentrum schließen, außerdem ist festlich geschmückt.

"Wir sollten uns schnell eine Glühweinbude suchen, denn wir sind recht spät, weil wir solche Schlafmützen sind", rät Jo und grinst mich zufrieden an.

"Ok", erwidere ich und frage, "haben die hier auch einen Stand vom Winzer?"

Weshalb ich das frage wird mir selbst nicht ganz klar, dennoch muss ich feststellen, dass mich Jo zielgerichtet durch die Gassen führt und ziemlich bald einen passenden Stand ansteuert: "Ich bin vor ein paar Tagen hier auf diesen Stand aufmerksam geworden und hab mir heute Mittag vorgenommen, dich genau hierher zu führen. Ich hab da auch schon probiert. Mal sehen, ob er dir schmeckt."

Jo bestellt uns zwei Glühwein. Der junge Mann in der Winzerhütte ist schnell. Und bevor ich andeuten kann, dass ich gern bezahlen würde, hat Jo bereits einen Schein rüber gereicht.

Auf meinen überraschten Blick hin meint er: "Keine Sorge, da ist Pfand auf den Bechern, da gibt's die Hälfte zurück."

Das habe ich zwar nicht fragen wollen, aber ich bedanke mich bei Jo, der mir über mein Gesicht streicht, worauf ich glaube, im Augenwinkel einen vielsagenden Blick des Winzers erkannt zu haben. Farbwechsel ist wieder angesagt.

Wir prosten uns zu und gehen mit den Bechern ein paar Schritte weiter durch die Gasse, von einer Hütte zur nächsten. Ich bemerke, dass bereits hier und da zusammen gepackt wird. Leute flitzen um uns herum, bestimmt, weil sie noch das eine oder andere besorgen wollen, bevor der Markt schließt. Trotzdem können wir beschaulich schlendern und die verschiedenen Auslagen betrachten. Ein Stand mit Schmuck zieht mich an, ich überblicke die verschiedenen Ständer und Kästchen und entdecke ein zartes, goldenes Kettchen mit einem zierlichen J als Anhänger, das mit einem noch zierlicheren Steinchen besetzt ist. Leider wird gerade auch hier eingepackt, so dass ich meinen Wunsch, es zu erwerben, begrabe. Im gleichen Augenblick erinnere ich mich selbst daran, dass ich unbedingt den Inhalt meines Portemonnaies prüfen muss, bevor ich überhaupt etwas kaufen kann.

Ich bemerke, dass Jo selbst interessiert schaut und mich wohl auch beobachtet, wohin sich mein Augenmerk richtet. Dann sagt er: "Lass uns die Becher abgeben. Ich möchte dich noch ins Kino einladen, was meinst du?"

Ins Kino? Eigentlich keine schlechte Idee: "Ja gern, was spielen sie denn?"

"Ich weiß nicht, um ehrlich zu sein hab ich gar nicht danach geschaut, obwohl ich es eigentlich wissen sollte“, antwortet er. "Aber das finden wir gleich heraus."

Wir spazieren noch ein Stück durch die Stadt, betrachten die Schaufenster und die Festbeleuchtung überall. Dann sind wir schon am Bahnhof, da wo meine erste Begegnung mit Jo stattfand. - Die erste? Nein, aller Wahrscheinlichkeit nicht. Wenn ich nur wüßte, woher wir uns kennen, weshalb ich hergefahren bin und warum ich keine Erinnerung an all das habe. An den heutigen Tag kann ich mich doch auch erinnern, an jede Kleinigkeit. Denn als wir den Bahnhof durchqueren, erinnere ich mich z.B. an Omi und wie sie mir noch aus dem Abteil zuwinkt, während der Zug weiterfährt.

"Da ist es schon!" Jo deutet auf das Cinemax-Kino und erklärt: "Das ist erst neu und ich verdiene mir hier nebenbei etwas dazu. Komm!"

Mit einem Lächeln auf den Lippen lässt er mich vor und betritt nach mir das Foyer des Kinos. Wie in eine kleine andere Welt taucht man hier ein. Ringsum eine tolle Beleuchtung. Weihnachten spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig sind hier die Filme, die neu im Spielplan sind. Doch halt, was sind denn das für Filme? End of Days, 007 - Die Welt ist nicht genug ... Blair Witch Projekt ... Rendezvous mit Joe Black ... Die Braut, die sich nicht traut. Alles alte Filme. Die sind doch schon gut fünfzehn Jahre alt. - Stop, weshalb erinnere ich mich an diese Filme, weshalb glaube ich, sie wären alt? -

"Welchen Film möchtest du sehen, das sind die neuen?", fragt Jo und deutet auf die Plakate, die ich soeben betrachtet habe.

Ich bin mir nicht sicher, ob er mich gerade veralbern will oder es ernst meint. Seinem Blick nach zu urteilen ist es wirklich sein Ernst.

"Joe Black ist sehr melodramatisch. Der 007 war nicht schlecht und ..."

"Wieso war Joa, der ist cool. Ich habe eine Vorschau gesehen, wirklich gut!", unterbricht mich Jo und schaut mich überrascht an. "Hast du den etwa schon gesehen?"

"Ähm, naja ...", druckse ich rum, wie soll ich es ihm nur beschreiben? Dabei zucke ich mit den Schultern.

Jo deutet das wohl als ein Nein und bestimmt: "Gut, dann in den 007!"

Ok, weshalb nicht, wenn er denn möchte. Wie gehen zu einer Kasse.

Ich versuche meine Geldbörse aus der Jacke zu angeln, als mir plötzlich jemand kräftig auf die Schulter schlägt, so dass ich mich heftig erschrecke: "He Jo! Was machst du denn hier? Ich denke, du bist in der Heimat?"

Ich drehe mich langsam um und blicke in leuchtende Augen und ein verschmitztes Gesicht, welches sich augenblicklich in ein erstauntes verwandelt.

"Kenne ich dich?", frage ich.

"Oh, äh ... Verzeih! Du siehst mit der Mütze aus wie Jo."

Ach die Mütze: "Ja, es ist seine. Jo ist dort", antworte ich und zeige auf die Kasse, zu der Jo schon weitergelaufen ist, aber noch nicht erreicht hat, weil er mich plötzlich vermisste.

"Silvio!", ruft Jo, als er meinen Gesprächspartner erkennt.

"Jo, wie kannst du Leute mit deiner einmaligen Mütze herumlaufen lassen, so dass man fast den falschen Freunden um den Hals fällt?"

"Oh, tut mir leid, dass du mich nur an meiner Mütze erkennst Silvio“, amüsiert sich Jo, "aber so falsch lagst du gar nicht. Darf ich vorstellen, das ist Jo. Jo, das ist Silvio."

"Das wird ja immer verrückter!“, lacht Silvio, während er mir die Hand reicht, "Noch ein Jo. Und ein Jo in Jo’s Mütze. Und das hier ist Andrea, die kennst du ja Jo. Äh nein, kennst du nicht. Doch, du Jo kennst sie und du Jo kennst sie nicht. Verrückt. Egal ihr Jo’s, das ist Andrea!" Silvio scheint immer noch ein wenig überrascht zu sein. Verwirrt ist er bestimmt.

Andrea tritt heran und begrüßt Jo mit einem Küsschen links, dann mich mit Handschlag. Doch sie lässt mich nicht wieder los. Als sie mir in die Augen sieht, lacht sie, zieht mich zu sich heran und begrüßt mich mit einem Küsschen rechts: "Damit du nicht benachteiligt bist."

Zeit für mich, mal wieder die Farbe zu wechseln.

"Wollt ihr auch in den 007?", unterbricht Jo die leichte Peinlichkeit.

"Nein!", antwortet Andrea bestimmt, "Wir wollen in Rendezvous mit Joe Black ihr Jo’s, in was Romantisches. Und ihr wollt in 'Die Welt ist nicht genug'?", fügt sie noch an.

"Ja!", antworte ich schnell, bevor Jo seine Meinung noch ändert, denn auf einen Pärchen-Abend habe ich wirklich keine Lust und auf so sentimental, romantisches mit Tod ebenso wenig.

"Stimmt!", bestätigt Jo meine Antwort, "Die zwei Jo’s schauen sich den neuesten 007 an."

"Dann solltet ihr euch beeilen, die Vorstellung beginnt gleich, wir haben noch eine viertel Stunde Zeit", ermahnt uns Silvio.

Mit einem Blick zur Uhr erfassen wir, dass es bereits zwanzig Uhr zehn ist und wir wirklich schnell hinein sollten. Wir verabschieden uns und machen uns an die Kasse, während Andrea, nachdem sie mich mit einem gewissen Lächeln entließ, ihren Silvio einhakt und ihn zur nächsten Kasse zieht. Was haben die Mädchen nur immer mit mir? Weshalb schauen die so?

"He Jo", ruft uns der Kassierer entgegen.

"Hallo Frank", erwidert Jo.

"He, schön, dass du da bist! Ich dachte schon, du arbeitest gar nicht mehr hier, hab dich eine Weile nicht gesehen."

"Ja, stimmt schon. Hatte anderes im Kopf. Aber ich bin sicher bald wieder da, ganz sicher. Hast du bitte für uns noch zwei Karten jetzt für den 007?"

"Oh, der ist voll."

"Ach bitte! Da geht doch bestimmt was."

"Naja, da sind noch reservierte, aber die kommen sicher gleich noch."

"Komm, mach mal, hast auch was gut bei mir", bettelt Jo, während ich schon befürchte, dass wir nun doch in Joe Black müssen.

"Na gut, wenn die in fünf Minuten nicht kommen, dann bekommst du sie. Und ja, du kannst dich sofort bei mir bedanken, ich wüsste da was", reagiert Frank schnell.

"Ja? Was, sag schon!"

"Könntest du morgen für mich einspringen hier? Die Vormittags-Kindervorstellungen von zehn bis dreizehn Uhr? Da könnte ich nämlich heute Abend noch nach Hause fahren und wäre morgen pünktlich zu Mittag bei meinen Eltern. Das wäre dann eine echte Überraschung, habe nämlich schon abgesagt, weil ich Dienst habe. Ich lade euch auch heute ein, das wäre wirklich ganz toll von dir." Frank ist dabei mit seiner Stimme immer leiser geworden und auch bittender. Dabei schaute er wechselseitig von Jo zu mir und wieder zu ihm.

Jo sieht mich an, überlegt kurz, dann spricht er zu Frank: "Ist gut, ich übernehme deine Schicht. Von zehn bis eins? Das geht."

"Klasse! Ich danke dir. Du bist meine Rettung, Karin hat mir schon die Hölle heiß gemacht, weil ich mich nicht frei machen konnte. Danke, danke!", damit springt er fast über den Tresen und umarmte Jo. "Und jetzt wünsche ich euch einen wunderschönen Abend. Was trinkst du Jo, Cola wie immer?"

"Yes Sir!", gibt Jo zurück.

"Und du bist ... trinkst ...?", fragt Frank mich unsicher.

"Auch Jo und auch Cola, danke!", gebe ich schnell bekannt.

"Wie praktisch, Jo und Jo", grinst Frank und wird förmlich und laut, so dass es die hinter uns Stehenden hören können, "Nehmen Sie derweil Platz, hier sind Ihre Karten, V I P-mäßige Premiumplätze für die Herren. Ihre Getränke werden gebracht." Damit drückt er mir die Karten in die Hand.

"Danke dir, hab schöne Feiertage und grüß Karin!", bedankt sich Jo bis über beide Ohren grinsend. Ich nicke ihm errötend zu, wie denn sonst, und Frank streckt seinen Daumen in die Höhe, während Jo mich bereits in Richtung Treppe zieht.

Ich sehe auf die Karten und lese vor: "Saal 7, Reihe 6, Plätze 10 und 11, 'James Bond 007 - Die Welt ist nicht genug' 20:15, Donnerstag, 23. Dezember 1999 ... Das ist nicht wahr! ..."

"Doch, ganz sicher, da lassen wir uns nicht Lumpen, wenn ein Angestellter einen Gefallen braucht, geht hier fast alles, da sind wir uns einig", bestätigt mir Jo.

Ich hatte eigentlich etwas ganz anderes gemeint und deswegen bekomme ich schlagartig weiche Knie. Gerade noch rechtzeitig erfasse ich das Geländer und kann meine Schwäche überspielen. Das ist doch nicht wahr. Wir haben wirklich den 23. Dezember 1999? ... Musste ja wohl sein, steht ja drauf und ist tagesaktuell. Und der Film ist nagelneu? Ich könnte schwören, ich habe ihn schon mindestens zwei Mal im TV gesehen. ... Was ist hier los?

Jo führt mich zielsicher in den Saal auf unsere Plätze. So kurz vor Beginn ist er schon voll besetzt, so dass wir bis zur Mitte der Sitzreihe an einigen Gästen vorbei müssen: "Wenn die erst noch mitbekommen, wenn die Getränke gebracht werden, dann sind wir hier die ganz großen", kichert Jo hinter mir.

Und so kommt es auch. Frank hatte ganz offensichtlich einen weiteren Mitarbeiter beauftragt, denn wir werden zielgerichtet angesteuert und mit Getränken und Chips versorgt, wobei unterdessen ein anderer Kollege im Saal nach Wünschen fragt. Ganz zuvorkommend werden wir befragt, ob alles soweit in Ordnung wäre oder wir noch einen Wunsch hätten. Auf unsere Bestätigung und Verneinung hin, wünscht uns der nette Junge, er wird wohl in Jo's Alter sein, noch eine angenehme Vorstellung, nicht ohne wissentliches Grinsen, dass auch wir uns nicht verkneifen können. Das Getuschel ringsum zeigt uns die entstandene Wirkung. Und während Jo mich zufrieden anlächelt, mir einen der Chips in den Mund schiebt, habe ich damit zu tun meine aufgestiegene Röte verblassen zu lassen.

"Ich danke dir, dass du heute da bist", flüstert Jo in dem mittlerweile abgedunkelten Saal, zu mir herübergebeugt ins Ohr, als die ersten Werbungen über die Leinwand flimmern. Angenehmer Schauer durchzieht meinen Arm, als Jo meine Hand berührt, die soeben nach einem Chip sucht.

Der Film erweist sich als das, was er ist. Für Jo eine aufregende neue 007-Action, welche er gefesselt verfolgt und für mich eine Wiederkehr bekannter Sequenzen, die mir in der Abfolge sehr geläufig sind, allerdings durch den besonderen Kinosound doch zu einem angenehmen Erlebnis werden. Immer wieder werde ich in Erinnerungsfetzen getaucht. So erinnere ich mich unter anderem an eine Geschichte, die ich gelesen haben musste, in welcher ein ähnlich mittelalterliches Folter- und Tötungsinstrument mitten auf einem Marktplatz eingesetzt wurde, wie hier in dem Film bei Bond. Ab und zu kann ich meine Sitznachbarn und Jo beobachten, die angespannt dem Film folgen. Dann wieder ein Gedankenfetzen, bei dem ich mich fast ebenso wie Bond auf dem Schlitten in der Pipeline fühle, ich mich am Steuer eines Gerätes sehe, doch dies ist eine Baumaschine. Immer wieder nur kurze Einblicke in die Erinnerungswelt. Und plötzlich kommt mir der Titel des Nachfolgestreifens des heutigen Films in den Sinn. 'Stirb an einem anderen Tag' heißt der. Verrückt.

Immer wieder berühren sich unsere Hände. Es wird schon zu einer gewollten Angewohnheit, denn jedes Mal erhalte ich einen kleinen elektrischen Schlag, der durch meinen Körper fährt und Wärme in mir erzeugt. Und ich erinnere mich nicht, sie schon einmal so gespürt zu haben. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Fast enttäuscht bin ich, als in diesem Film der neue Assistent von Q den Laptop mit dem Wärmebild der sich Liebenden schließt und die Vorführung ihr Ende findet. Ganz langsam wird die Saalbeleuchtung angeschaltet und die Augen an das hellere Licht gewöhnt. Wir sitzen beide noch ruhig auf unseren Plätzen, ringsum beginnen sich die Reihen zu leeren. Ich habe noch einen leichten Schleier meiner durchlebten Kurzerinnerungen vor Augen. Jo beobachtet mich, doch er stört mich nicht. Erst als es zusehends leer wird, gibt er mir einen Kuss auf die Wange und holt mich in sein Hier und Jetzt zurück: "Wir sollten gehen Joa, sonst müssen wir hier putzen!" Dazu sein fröhliches Lachen, wer kann dazu schon nein sagen?

"Ist gut", sage ich und hebe mich aus dem wirklich bequemen Sessel, streife meine Jacke über und nehme Jo's Lieblingsmütze in die Hand. Als ich aus der Reihe trete, sehe ich Jo unsere leeren Getränkebecher tragen. Ich hatte meinen einfach stehen gelassen. Peinlich: "Danke!", sag ich noch schnell entschuldigend.

"Kein Ding", meint Jo, "ich will es meinen Kollegen nur nicht schwerer machen, weiß ja wie es ist."

Am Saaleingang angekommen sehen wir grinsende Gesichter der Servicegruppe, unter ihnen auch unsere freundliche Bedienung vom Beginn: "Wir hoffen, die Herren hatten einen angenehmen Kinoabend. Herzliche Grüße von Frank, er lässt nochmals danken und ist bereits losgedüst, um seine Sachen zu holen und seinen Zug zu bekommen. ... Und wir sehen uns morgen früh wieder?"

Wir verbeugen uns dankend, erwidernd ihren Verbeugungen und Jo antwortet: "Ja, wir haben den Abend auf das Angenehmste verbracht, stimmt's Joa? Wir bedanken uns für die überaus zuvorkommende Gastfreundschaft und vielen Dank für die Grüße. Bis morgen dann!"

Alle grinsen immer noch und sehen uns noch einen Augenblick lang nach, bevor sie sich an die Reinigung des Saales machen.

Jo hat auch plötzlich Farbe im Gesicht, was mich animiert, die meine noch etwas aufzubessern.

Auch die Kassierer grinsen uns an, während wir das Foyer durchqueren

"Bei der Truppe bin ich nun wohl geoutet", meint Jo, wohl etwas peinlich berührt, "Doch mit dir an meiner Seite soll es mir Recht sein", schließt er das Thema gleich wieder ab, greift demonstrativ meine Hand, noch bevor wir aus dem Kino sind.

Ja, das ist er wohl, zumindest spätestens jetzt. Und ich gleich mit. Und es ist mir auch egal, augenblicklich.

Silvio und Andrea sehen wir nicht noch einmal, deren Film läuft noch und warten wollen wir ganz sicher nicht.

"Lass uns bitte noch etwas trinken gehen Jo", bitte ich.

"Na klar, gern", bekomme ich zur Antwort. Gleich um die Ecke gibt es eine Bar, in die er mich führt.

"Hallo Jo!“, werden wir begrüßt, "lange nicht gesehen."

"Ja stimmt, wir wollen gern was trinken."

Jetzt ist es an mir die Führung zu übernehmen: "Hallo, wir hätten gern zwei Kamikaze Cocktail!"

Der Keeper macht große Augen: "Was möchtest du?"

Oh, das war sicher etwas, was meiner Erinnerung entsprang: "Zwei Kamikaze Cocktail bitte, das ist je ein Drittel Wodka, Curacao und Limettensaft."

"Das ist mir neu, krieg ich aber hin."

"Dazu bitte noch ein wenig Crushed Ice und eine Limettenscheibe!", sage ich bestimmt.

"Geht klar Chef!", bekomme ich zur Antwort und ein erstauntes Gesicht von Jo.

"Alle Achtung, damit kennst du dich ja aus!"

Schlagartig wird mir klar, dass ich etwas bestellt habe, dass meiner Erinnerung entspringt und bislang noch keiner hier kennt und zucke nur mit den Schultern. Unglaublich!

Nur einen kurzen Moment dauert es, dann werden uns die Drinks an den Bartisch, an dem wir Platz genommen haben, serviert: "Ich hoffe, das ist so in Ordnung." Der Barmann schaut mich gespannt an.

Ich koste den Drink: "Der ist perfekt!"

Der Barmann freut sich, zieht ein dritten Drink hinter dem Tresen hervor, den er sich bestimmt gemixt hat, um ihn selbst zu kosten.

Wir prosten uns zu, jeder nimmt einen kleinen Schluck.

"Der ist gut!", bestätigt der Barmann, lacht noch einmal, "Ich danke dir für den Tipp! Der geht aufs Haus. Wie ist dein Name?"

"Joa", antwortet Jo für mich, "das ist Joa Sven!"

"He Joa!", grüßt Sven und prostet mir mit seinem Kamikaze nochmals zu.

Ich proste zurück und wende mich Jo zu: "Herzlichen Glückwunsch Jo! Alles, alles von Herzen erdenklich Gute und immer nur das Beste wünsche ich dir! Bitte verzeih, dass ich dir erst jetzt gratuliere." Ich stoße mit ihm an, sehe ihm tief in die Augen und in diesem Moment habe ich nur noch ein Bedürfnis. Wir kommen aufeinander zu und unsere Lippen treffen sich. Ich schließe meine Augen, ebenso wie er. Es wird ein unglaublich zärtlicher, langer Kuss, unsere Zungenspitzen berühren sich und kleine Blitze senden Energien hin und her.

"He, das ist ja mal eine Neuigkeit Jo!", unterbricht uns der Barmann, "ich schließe mich den Glückwünschen an und wünsche euch beiden wirklich alles Gute! Die nächste Runde übernehme ich selbstverständlich auch!"

Ein Chamäleon würde echt neidisch werden, so schnell wechsle ich die Farbe. In dieser Beziehung könnten wir aber auch gleich als Duo auftreten, Jo nämlich auch.

"Dich liebe ich von ganzem Herzen Joa!", gibt mir Jo zu verstehen, "nichts habe ich mir sehnlicher gewünscht zu meinem Geburtstag, als dass du bei mir bist. Ich kann dir nicht sagen, welche Sehnsüchte ich die letzten Wochen durchlebt habe und wie oft ich mir unsere Nacht zurückgewünscht habe. Jedes deiner Worte im Chat hat in mir den gleichen Wunsch erzeugt. Nie hast du mich glauben lassen, dass es jemals anders sein würde. Einzig der heutige Tag bestätigt mir, es war alles echt, jedes geschriebene Wort, jeder einzelne Atemzug seit diesem bewussten Tag, jeder Hauch meiner Sehnsucht brachte mich ein Stück näher an dich!"

Ich bin so gerührt, dass ich meine Tränen nicht zurück halten kann. Sie laufen einfach drauf los. Verzweifelt wische ich sie weg, doch es folgen immer mehr.

Jo nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mir die Tränen weg: "Ich danke dir, dass es dich gibt!"

"Jungs!", holt der Barmann uns zurück in seine Welt, "Hier ist meine Runde."

Wir tauschen die Gläser, stoßen an und wissen beide, dass ab heute alles anders sein wird, viel besser wird als bislang.

Nachdem wir ausgetrunken haben, habe ich es auch endlich geschafft aus meiner Börse einen Geldschein zu ziehen. Ich gebe dem Keeper zehn D-Mark Trinkgeld, worauf er uns noch die Tür aufhält und mit den allerbesten Wünschen verabschiedet. - D-Mark. Verrückt. -

Diesmal nehme ich Jo in den Arm und er lacht mich glücklich an. Dann rückt er mir die Lieblingsmütze zurecht und dirigiert mich auf den Weg nach Hause, sein Zuhause. Kein Wort fällt auf diesem Weg, es gibt nur uns beide und den Wald. Zugegeben, der liegt einige hundert Meter abseits, aber egal, es ist dunkel, man riecht die Waldluft und wir sind uns nah. Was gibt es Schöneres?!

Die beiden Drinks wirken, mir ist warm. Ich bin irgendwie ganz zufrieden, wie der Tag gelaufen ist. Auch Jo, er springt neben mir her und küsst mich immer wieder. Hätte nie gedacht, dass mir das gefallen würde. Obwohl, schon möglich dass es mir schon lange gefällt, würde ich sonst so unverkrampft darauf reagieren?

Es ist mir recht, ich freue mich, ich freue mich, weil Jo sich freut, Jo geht es gut, mir geht es gut und ich habe einen kleinen Schwips. Weshalb unnütze Gedanken machen. Irgendwann wird es sich schon ergeben, wird die Erinnerung da sein. Vielleicht will ich mich auch gar nicht erinnern, vielleicht ist es besser so, so wie es jetzt ist.

Gerade jetzt nimmt mich Jo wieder in den Arm, knuddelt mich, hält mich ganz fest und küsst mich leidenschaftlich. Die Welt ist schön und dreht sich, meine Sinne wollen jetzt auch nur Jo.

Recht bald sind wir zu Hause angekommen, Jo kichert, als er den Schlüssel nicht gleich ins Schloss bekommt. Oben benimmt er sich übertrieben behutsam und leise, dabei ist die WG leer. Erst als wir hinter seiner Zimmertür sind wird das anders, ganz anders. Die Schuhe fliegen vor das Regal, seine Jacke landet auch da. Dann hilft er mir aus der Jacke, lässt sie auf seine gleiten, meine Schuhe daneben. Seine Hände halten meine fest, als ich die Mütze abnehmen möchte: "Behalte sie bitte auf, ich liebe es, dich darin zu sehen!"

Er streicht mir über mein Gesicht, über meinen Hals, über meine Brust. Mit den Augen verfolgt er den Weg seiner Hände und schaut mir nach deren Rückkehr tief in die Augen. Er hält meinen Kopf: "Du weißt gar nicht, wie schön du bist und wie außergewöhnlich liebevoll dein Blick ist. Du bist meine erste wirkliche Liebe Joa, so etwas wie mit dir habe ich noch nie gefühlt und ich weiß, dass ich niemand anderen möchte, als dich."

Seine Worte rühren mich sehr und er hat verdient zu hören, was ich für ihn in diesem Moment empfinde: "Dich liebe ich auch Jo, mein Herz gehört dir."

Dann gibt es kein Halten mehr, unsere Münder treffen aufeinander und unsere Zungen führen einen wilden Kampf der Zuneigung. Über kurz oder lang finden wir uns auf der riesigen Couch wieder, Jo hat mich schon halb entkleidet, bevor auch er seine Sachen von sich wirft. Jeden Zentimeter meiner Haut bedeckt er mit seinen Lippen, mir läuft ein Schauder nach dem anderen über den Rücken. Heiß wird mir, unglaublich heiß, was bewirkt, dass ich mich ihm entgegenstrecke, um noch mehr Berührungen von ihm zu bekommen. Jo lässt keinen Augenblick Zweifel daran, dass er alles will, alles von mir und ich bin dabei es ihm zu überlassen. Er spielt mit mir, reizt mich, hat mich fest im Griff. Wir gleiten miteinander, übereinander, untereinander und immer wieder geben wir uns gegenseitig Küsse auf jeden Zentimeter unserer Körper. Ich bin für jeden einzelnen seiner Küsse dankbar, das Kribbeln nimmt kein Ende, es wird immer stärker, mein Verlangen ebenso. Mein Liebster reibt sich über meinen Rücken, zupft mir von hinten mit seinen Lippen an den Ohrläppchen, gleitet zwischen mich. Mein Kopf weiß, was er vorhat, etwas unsicher bin ich, was passiert. Jedoch mein Körper hat sich längst entschieden, gibt jedem Druck nach, lässt außergewöhnliche Gefühle in mir aufsteigen. Er lässt mich die Luft anhalten und in kurzen Stößen ausatmen, im Gleichtakt mit seinen Bewegungen. Immer höher treibt er die Reize, die ich fast nicht mehr kontrollieren kann, immer heftiger werden die Bewegungen, seine Hände sind auf meine gestützt, unsere Finger fest miteinander verschränkt, sein Zähne beißen in meinen Nacken, so fest, dass es kaum auszuhalten ist. Dennoch durchfährt eine riesige Welle von Schauern meinen Körper, ich schreie sie hinaus, während der Biss in meinem Nacken immer fester wird. Wie auf Kommando verkrampfen wir beide, um Sekunden später erleichtert zu entspannen. Heftig atmen wir, holen Luft.

Ich spüre seine Zunge meinen Nacken benetzen, sie leckt mit einer Zärtlichkeit die frische Wunde, die jeden Schmerz vergehen lässt. Sein Mund tastet immer weiter hinauf bis zu meinem, während er mich ganz behutsam verlässt. Eng umschlungen liegt er auf mir und ich spüre seine Wärme. Immer noch spielen unsere Zungen und geben jeder Geschmackszelle Zeit zum Schmecken. Jo gleitet sich zur Seite, legt sich hinter mich, mein Kopf bleibt auf seinem Arm liegen. Mit gekonnter Bewegung legt er die flauschige Decke über uns und zieht mich wieder fest an sich heran. Die Lichter des Tannenbaumes sind die einzigen Lichtpunkte im Raum. Ich fühle mich sicher, auf der einen Seite die Lehne, auf der anderen gehalten von Jo. Ich spüre die Wärme, die Zuneigung, die Liebe, die dieser Junge für mich empfindet. Ich umfasse seinen Arm, halte ihn ganz nah an mich gedrückt, kuschle mich an ihn und wünsche mir, dass nichts davon vergeht. Sein leiser Atem streicht mir über mein Gesicht, ab und zu spüre ich das zarte Kitzeln seiner Lippen an meinem Ohrläppchen. Stück für Stück schwinden meine Sinne, ich tauche ab und lasse die Gefühle auf mich nachwirken.


Im Hauptbahnhof, ich sehe auf die große Bahnhofsuhr, sie hat vor einer Minute genau vier Uhr angezeigt. Auf dem Querbahnsteig war es ziemlich leer und einsam, deshalb sitze ich nun mit angezogenen Beinen, in meine Jacke gehüllt auf einer Bank neben dem Pizzarestaurant im unteren Geschoss. Es ist zwar geschlossen, dennoch ist es hier am angenehmsten. Es riecht gut, ist wärmer und zieht nicht, wie in den anderen Teilen des Bahnhofes, man kann schnell in alle Richtungen weiter. Trotzdem ist es ein bedrückender Platz. Schlafen ist schlecht, ab und zu kommt wer vorbei. Die Bahnhofswache dreht auch ihre Runden und war auch schon zwei Mal bei mir. Beim letzten Mal wollten sie wissen, wie alt ich bin. Wollten mir meine Zweiundzwanzig nicht abnehmen, musste den Ausweis zeigen. Zum Glück hatte ich überhaupt einen dabei. Doch bevor ich die das nächste Mal sehe, muss ich mir eine Fahrkarte besorgen, egal wohin.

Ich quäle mich wieder hoch, greife meinen Rucksack und ziehe los. Ich muss ein paar kleine Stufen und dann die Rolltreppe hinauf. Die führt mitten in die Vorhalle. Die Uhr zeigt mittlerweile Vieruhrachtunddreißig. Ich schleiche zum Reisecenter, durch die große Tür des Vorraumes und dann in den Schaltersaal.

Nur ein Schalter ist geöffnet, drei oder vier Leute stehen davor. Im ganzen Raum verteilt stehen Informationstafeln mit Zugverbindungen und Werbungen für die Bahnkarte und was weiß ich noch alles. Am anderen Ende stehen Automaten. Ich steuere darauf zu.

"Was soll ich eingeben?", frage ich mich und bestimme, "den nächsten Zug in die richtige Richtung, am besten weit weg."

Gegenüber steht eine Abfahrtstafel...

04:42 nach Lübeck. Das wäre ein Ziel, doch der Zug ist weg. 04:51 nach Frankfurt (M). Das wird knapp. 05:25 auch nach Frankfurt, InterRegio. Ja, aber was will ich in Frankfurt? Also nein. 05:41 nach Köln. Was will ich denn da? Der Nächste! Prag. Nein! Dresden. Nein, auch nicht, da kann ich auch gleich hier bleiben. Berlin, noch mal Berlin, noch mal Dresden, noch mal Lübeck. Ja, vielleicht den. Dann folgen noch Frankfurt, Dresden, Dresden, Cottbus, Passau. Hm Passau, das wäre genau die andere Richtung. Wann? 07:41 und ist da um 20:39. Was? Wo fährt der denn lang? Halle - Magdeburg - Braunschweig - Hannover - Minden - Bielefeld - Wuppertal - Köln - Bonn - Frankfurt - Würzburg - Nürnberg - Regensburg - Passau. Der macht ja eine Weltreise. Nein, da werde ich ja arm dabei. Moment mal, Bielefeld? Da wohnt doch Jo. Da will ich doch unbedingt mal hin. Warte, den muss ich anrufen. ... Mist, nicht erreichbar. Na klar, nachts, kurz vor fünf. Student, der schläft doch bis zum Vormittag, geht zu einer Lesung und legt sich wieder hin, damit er abends fit ist für die Partys.

Ich schicke ihm eine SMS, da kann er zurückrufen, sind ja noch zwei Stunden Zeit: "Hi Jo, bin auf Achse, wollte dich in Bielefeld besuchen. Hast du Lust, dann komme ich heute? Grüße Joa."

Ob der überhaupt da ist? Ist doch bestimmt nach Hause zu den Eltern gefahren, Weihnachten feiern. Die machen doch auch Ferien oder wie heißt das bei den Studenten? Mist. Naja, mal sehen. Wenn nicht, dann eben woanders hin. Fahren ja den ganzen Tag Züge.

Pieep-Pipipip-Pieep-Pieep: "Bist du verrückt? So früh? Ja, du bist verrückt JOA! Aber JAAA!! Bitte komm! So schnell du kannst!! Mit dem Zug? Sag bitte, wann dein Zug kommt! Freu mich, JO"

Oh, das ging aber schnell. Na dann, bin ich um ... 11:41 da. Das sind sieben Stunden?! Ach, das ist der Weltenbummler-Zug. Warte mal, da war doch noch ein anderer, der über Bielefeld...

Ja hier, 05:41 nach Köln: Halle(Saale) Hbf 06:10 — Köthen 06:30 — Magdeburg Hbf 07:00 — Braunschweig Hbf 07:51 — Hannover Hbf 08:30 — Minden (Westf) 09:08 — Bad Oeynhausen 09:20 — Herford 09:31 — Bielefeld Hbf 09:41 — Gütersloh Hbf 09:52 — ...

Tarifhinweis: EC/IC-zuschlagpflichtig;

Verkehrstage: täglich

Ok, der ist besser. Der fährt in einer dreiviertel Stunde.

Ich wähle den Zug aus, Platzkarte? Nein, brauche ich nicht. Ich schiebe dem gierigen Automaten meine Scheine ein und kriege nur Klimpergeld zurück und meine Fahrkarte.

Ok, dann hoch zum Bahnsteig. Der Zug steht schon da. Das passt. Ich schaue von außen nach einem guten Platz. Es ist sehr früh, nur wenige Leute da, noch weniger schon im Zug. Prima. Ich steige ziemlich in der Mitte ein, suche mir ein leeres Abteil in der Mitte des Wagons, setze mich in Fahrtrichtung ans Fenster und mache es mir halbwegs gemütlich.

In den nächsten Minuten steigen noch einige Leute in meinen Wagon zu. Ab und an schaut jemand in mein Abteil, geht dann aber weiter. Der Zug fährt pünktlich ab. Die nächsten Minuten verfolge ich, es ist stockdunkel draußen, ab und zu sind ein paar Laternen von Straßen in Ortschaften zu sehen, auch ein paar Autos. Das Geschuckel im Zug kommt meinem Gemütszustand zu Gute, meine Augenlieder fallen zu. Ich tauche ab und träume.


"He, he Jo! Wach auf Jo! Joa!"

Ich fühle mich leicht gerüttelt und ich fühle mich umarmt. An meinem Ohr spüre ich heißen Atem: "Joa, alles ist gut, du bist bei mir. Ich halte dich fest, du kannst dich beruhigen, ich bin bei dir. Du hast nur schlecht geträumt."

In meinem Kopf rattern die Räder. Allmählich komme ich zurück. Hinter mir liegt Jo und hält mich an sich gedrückt. Ich bin schweißgebadet, merke, dass ich sehr schlecht geträumt haben muss. Ein verschwommener Blick auf den Radiowecker auf Jo’s Seite, der Seite auf der ich jetzt liege: "4:44". Die Pünktchen blinken zuverlässig, regelmäßig in ihrer roten Farbe. Ich versuche nachzudenken, was ich träumte. Doch der Traum, die Erinnerung daran ist weg. Jetzt bin ich froh, dass Jo bei mir ist, alles ist gut. Merklich entspannt sich mein Körper. Jetzt spüre ich auch Jo’s Körper, jedes Körperteil, das mich berührt, wirklich jedes. Daraufhin muss ich schmunzeln, es ist einfach unglaublich, unglaublich schön, warmherzig, vertraut, geborgen.

Leise höre ich Geräusche. Geräusche die in eine Küche gehören.

Als ich meine Augen öffne, scheinen ein paar zarte Sonnenstrahlen in das Zimmer. Ich bin eingewickelt in die mollige Decke. Etwas fehlt. Jo fehlt. Langsam richte ich mich auf. Oh, keine Sachen, ich bin ganz ohne. Ich kann meine Sachen nirgends entdecken. Stattdessen liegt ein Bademantel neben der Couch. Ich ziehe ihn an, passt. So allmählich müsste ich mal wohin. Ich tipple zur Tür, eine Fußbodenheizung ist etwas tolles, sie ist nur angelehnt. Die Geräusche werden deutlicher. Als ich im Flur bin, sehe ich Jo in der Küche stehen, er steht mit dem Rücken zu mir. Ah, da ist das Bad. Leise schlüpfe ich hinein und schließe die Tür. Das Licht geht von allein an. Oje, sehr nobel eingerichtet. Dennoch eine Toilette ist eine Toilette, die brauche ich. Ich sehe mich um. Eng ist das nicht hier drin. Kein Fenster, ok, aber eine geräumige Dusche mit halbrundem Einstieg. Einstieg ist Quatsch, Tür ist richtig, sie ist bodengleich. Das habe ich noch nie in einem privaten Bad gesehen. Und da ist eine Wanne. Nein, ein Sprudelbad, besser Whirlpool. Und warme Bodenfliesen. Ich liebe warme Bodenfliesen, mag gar nicht aufstehen. Wohlfühlzone pur. Naja, irgendwann muss man ja doch mal hoch. Die Dusche lockt mich. Über einer Stange hängt ein frisches Badetuch. Service pur. Ich liebe Jo immer noch. Ich drehe das Wasser an, stelle meine Wohlfühltemperatur ein, ein Novum an Komfort.

Als das Wasser über mich läuft, brennt es am Hals: "Au! Jo, du Tier!"

"Es tut mir leid! Wirklich!", erschrickt mich Jo’s Stimme.

"He, erschrick mich nicht so!", gebe ich zurück.

"Oh, verzeih!"

"Du hast es echt schön hier", bestätige ich Jo.

"Ja, ich weiß, unsere studentischen Gäste sind auch meist ganz neidisch, wenn sie an ihre Gemeinschaftsduschen denken. Deswegen bin ich Jana und ihrem Paps sehr dankbar, dass ich hier wohnen darf. So toll habe ich es nicht mal bei meinen Eltern. Die waren echt hin und weg, als sie mich hier besuchten."

"Kann ich gut verstehen", bestätige ich, "hast du bitte ein Duschgel für mich, schätze, das hab ich mir nicht mitgebracht."

"Ja, warte!", Jo langt in einen Schrank, holt eine schwarze Flasche heraus, "Hier bitte, hoffe du magst das."

"Wenn es deins ist, auf jeden Fall!"

"Ist meins und nur für den Fall hab ich hier noch eine frische Zahnbürste für dich." Grinst Jo und stellt sie mir in ein Glas am Waschbecken.

"Danke!"

"Ich möchte dich nicht drängen, aber wenn du mit mir Frühstücken möchtest, dann wäre es lieb von dir, wenn du nicht so lange brauchst. Weißt ja, muss um zehn im Kino sein und in einer dreiviertel Stunde los."

"Stimmt, ist gut, ich beeile mich", antworte ich und sehe Jo noch beim Rausgehen nach. Er hat wieder dieses glückliche Lächeln auf seinen Lippen. Ich mag meinen glücklichen Jo. Ich lasse aus der Duschgelflasche einen Klecks Gel auf meine Hand fließen und Seife mich damit ein. Überall. Au! Da gibt es noch eine Stelle, die brennt sehr. Jo! Ich glaube, darüber muss ich mit ihm reden. Verdammt, das tut weh. Erst als das Wasser sämtlichen Schaum von mir gespült hat, lässt das Brennen am Hals und an der bewussten Stelle allmählich nach. Aber es ist ok. Das war es wert. Als ich an unsere Nacht denke bekomme ich Herzklopfen. Ich liebe Jo! Ja ich bin sicher, das ist Liebe.

Ich trockne mich ab, ach ja, meine Sachen. Bademantel.

Ich verlasse das heilige Bad und geselle mich zu Jo, der mich schon am gedeckten Frühstückstisch erwartet: "He, du glänzt ja so!", höre ich ihn sich amüsieren. Und er strahlt, steht auf, kommt mir entgegen, gibt mir einen Kuss, während er mich fest umarmt. "Guten Morgen Schatz!"

"Guten Morgen! Ich danke dir Jo, ich danke dir für alles. So wohl habe ich mich schon ewig nicht mehr gefühlt", gebe ich ehrlichen Herzens zurück. Und irgendwie bin ich mir sicher, dass es stimmen muss.

"Dann greif zu, ist alles da. Jana hat den Kühlschrank vollgepackt, als sie hörte, dass ich zu Weihnachten nicht zu Hause bin, dass du kommst."

"Sie mag dich sehr, was?", frage ich neugierig.

"Ja, ich weiß. Ich habe manchmal das Gefühl, fast mehr, als ihre aktuellen Kerle. Aber ich will nicht meckern. Bin froh, dass es so ist und vor allem, dass Janas Papa so großzügig ist. Ich weiß nicht weshalb. Er weiß, dass aus Jana und mir nie ein Paar wird, wir sind gute Freunde, sehr gute sogar. Aber vielleicht ist es das, was er an unserer Beziehung schätzt, dass jemand da ist, der ein wenig auf Jana aufpasst. Denn bevor sie Entscheidungen trifft, fragt sie immer mich. Auch bei ihren Beziehungen, die sie führt. Natürlich mische ich mich nicht ein, aber zwei drei Typen hab ich ihr sicher schon ausgeredet. Da ist sie irgendwie ein bisschen zu gutgläubig."

"Sie vertraut dir", stelle ich fest.

"Ja. Manchmal zu sehr. Habe Angst, dass ich mal daneben liege und sie eine Pleite erlebt."

"Du solltest ihr das so sagen!"

"Meinst du? Sicher hast du Recht. Stimmt, jetzt wo du es laut aussprichst Na mal sehen. Aber, sie ist auch für mich da. Sie wusste nicht, dass ich auf Jungs stehe, habe ich nie erzählt. Dafür gab es bisher ja auch noch keinen echten, lebenden Grund. Dennoch hat sie mich oft aus meinem seelischen Tief geholt und dermaßen abgelenkt, dass ich überhaupt nicht mehr über meine Sorgen nachdachte habe. Nur die letzten zwei Monate hat sie es nicht geschafft. Seitdem ich dich kenne, ist alles anders. Du bist meine große Liebe Joa!"

"Ich weiß Jo. Und du bist auch die meine. Ich bin mir sicher."

"Ich glaube, das hast du mir diese Nacht deutlich gezeigt. Doch du hast dann schlecht geträumt. Das hat mich ein wenig unsicher gemacht."

"Jo, das hatte nichts mit dir zu tun. Oder vielleicht doch. Ich kann mich nicht ganz genau erinnern, nur dass ich träumte, ich wäre etwa früh um vier auf unserem Bahnhof. Keine Ahnung weshalb, keine Ahnung, was vorher war, keinen Schimmer, was danach."

"Früh um vier? Das ist verrückt", reagiert Jo sofort, "ich bin gestern so gegen vier Uhr geboren, naja vor 23 Jahren. Und kurz vor fünf hast du mich versucht anzurufen, dann kam deine SMS."

"Oh", war das einzige, was ich erwidern kann.

Wir frühstücken die leckeren Dinge, die uns Jo aufgetischt hat. Sogar selbstgemachte Marmelade von Jo’s Oma war dabei. Und mein Lieblingsfrühstück, ein weichgekochtes Ei, kein flüssiges Eiweiß, nur halbflüssiges Eigelb. Küchenprofis würden es ein Viereinhalb-Minuten-Ei nennen. Und um das hinzubekommen ist es interessant, wie frisch das Ei ist. Es sollte schon mindestens 14 Tage alt sein, denn dann hat es erst den richtigen Geschmack. Davor schmeckt es nach nix. Das ist wirklich so. Ganz frische Eier sind toll, da weißt du die sind gerade erst gelegt. Aber als Frühstücksei ungeeignet, die schmecken noch nicht. Jo kann echt perfekte Frühstückseier kochen, so wie ich sie liebe. Er kennt mich besser, als ich mich selbst. Es ist einfach toll, hab ich ihm schon gesagt, dass ich ihn liebe?

"Also", beginnt Jo, "falls du deine Sachen suchst, die sind sicher gleich trocken."

Im selben Augenblick sage ich: "Dafür liebe ich dich!", während ich das letzte Stückchen Ei aus der Schale löffle.

"Entschuldige?", fragt Jo und sieht mich erstaunt an.

Ich kann auch nur große Augen machen, so sehen wir uns beide an. Dann müssen wir lachen.

"Ich meine das Ei", sage ich, beuge mich zu ihm hinüber und gebe ihm einen Ei-Kuss.

"Nur wegen dem Ei?", grinst er.

"Natürlich nicht!"

"Du bist süß!"

Und da war es wieder, das wohlige Schauern. Sie hören sich einfach nur großartig an, diese liebkosenden Worte.

"Ich sah, dass du so gut wie nichts mitgebracht hast", fährt Jo fort, "deswegen hab ich deine Sachen heute früh schnell in die Maschine und vorhin in den Trockner gesteckt. Und sollten sie nicht ganz trocken werden, dann nimm dir einfach was aus meinem Schrank."

"Danke Jo!", kann ich nur sagen und bedanke mich nochmal mit einem Kuss, der etwas länger dauert. "Hmmmm, ein Frühstück ganz nach meinem Geschmack."

"Du bist ein Genießer, kann das sein? ... Leider kann ich das heute nicht auskosten, denn ich muss ins Cinemax. Du weißt, die Schicht für Frank", bedauert Jo mit einem Blick auf die Uhr.

"Schaffst du das denn? Wir sind bestimmt gut und gern eine dreiviertel Stunde gelaufen gestern."

"Ich nehme das Rad, da schaffe ich das in fünfzehn Minuten. Trotzdem muss ich jetzt los. Sei bitte so lieb und leg das Verderbliche in den Kühlschrank, den Rest machen wir dann.

Und wenn du möchtest, dann mach es dir den Vormittag gemütlich. Gegen eins hab ich Feierabend. Ich bringe uns was zu Mittag mit." Damit steht er auf, beugt sich noch einmal zu mir für einen Kuss.

Er geht ins Zimmer, um seine Jacke, die Schuhe, Mütze und Handschuhe zu holen. An der Wohnungstür verabschiede ich ihn.

"Bis dann mein Schatz!", trennen wir uns küssend, "du siehst echt verführerisch aus im Bademantel. Und ich liebe deine langen Haare!"

Gänsehaut.

Ich sehe ihm die Treppen hinunter noch nach. Ein unglaublich schönes Gefühl habe ich dabei. Ich liebe Jo!

Zurück in der Wohnung trinke ich meinen Kaffee noch aus, stelle alles in den Kühlschrank, was da hinein gehört. Und natürlich räume ich richtig ab. Wozu gibt es einen Geschirrspüler? In dem lasse ich unser bisschen Geschirr verschwinden.

Noch mal ins Bad, Haare trocknen. Dabei muss ich zwangsläufig den Spiegel benutzen. Während ich Föne mache ich mich mit meinem Äußeren bekannt. Naja, wenn ich Jo wäre, ich würde mich auch mögen. Ich versuche verschiedene Frisuren. Letztendlich lasse ich meine Haare offen. Noch die Zähne putzen und ein wenig Deo. Jetzt dufte ich wie Jo.

Irgendwo piept es. Ich laufe dem Geräusch entgegen und lokalisiere einen weiteren, einen kleinen Raum, in dem stehen die Maschinen und Reinigungsgeräte. Aha, der Trockner ist fertig. Ich hole meine Sachen heraus. Hm, die Hose ist noch leicht feucht. Na gut, auf die Heizung damit. Äh Heizung? Geht schlecht bei Fußbodenheizung. Ich suche in Jo's Zimmer eine warme Stelle. Ah, hier vor dem Fernsehschrank. Dahin lege ich die Hose, wird schon gehen.

Und nun? Noch mal unter die Decke? Ich schlage sie zurück und will gerade hinein kriechen. Oh nein, lieber nicht. Das Laken hat ein paar Gebrauchsspuren von der letzten Nacht. Peinlich. Ich werde es waschen. Also ziehe ich das Bettzeug ab und tipple damit zur Waschmaschine. Rein damit. Steht ja alles hier was ich brauche. Also schalte ich sie an.

Zurück ins Zimmer. Ein schöner Weihnachtsbaum. Zarte Kugeln zieren ihn. Ach ja, die Spitze, die sollten wir besorgen, Jana hatte darum gebeten. Und ich brauche noch ein Geschenk, heute ist Weihnachten. Ich muss in die Stadt. Ich will unbedingt was für Jo besorgen.

Ich schlüpfe schnell in meine Klamotten. Mist die Hose. Jo’s Schrank muss herhalten. Als ich ihn öffne, bin ich überrascht, wie ordentlich alles ist und er hat echt tolle Klamotten da. Ich suche mir eine Jeans aus. Sie passt nicht perfekt, aber gut. Mit Gürtel einwandfrei. Unten noch einen kleinen Umschlag machen, ok. Schuhe, Jacke, Jo’s Lieblingsmütze und einen passenden Schal. An der Wohnungstür überlege ich, ob ich alles habe. Geld? Ja. Handy? Nein. Also noch mal zurück. Ich krame im Rucksack. Nichts. Ich Taste mich ab. Nichts. Oder doch? In einer Ärmeltasche hinter einem Reißverschluss spüre ich es. Ich schaue nach. Nokia 3210. Es ist aus. Na gut. Wieder zurück. Schlüssel? Einen Schlüssel! Jo wird seinen hoffentlich mit haben. Da eine Schlüsselleiste im Flur. Da hängen ein paar kleine und einer mit einem Schlüsselband. Den nehme ich und probiere ihn an der Wohnungstür. Passt, ok.

Ich schließe ab, laufe hinunter. An der Haustür passt er auch. Ich hänge ihn mir um den Hals und verstecke ihn unter Jo’s Pullover, den ich mir auch noch ausgeliehen habe. - Weshalb habe ich mir nichts Warmes zum Anziehen eingepackt, weshalb bin ich nur mit dem Rucksack unterwegs? -

Dann also auf in die City! Ich gehe zügig, weshalb ich nur knapp die dreiviertel Stunde benötige, um vor der Innenstadt zu stehen. Leider, so stelle ich fest, gibt es nur wenige Stände des Weihnachtsmarktes, die heute noch offen sind, nur direkt um die Kirche und da gibt es nur Glühwein, Naschwerk und Speisen. Also muss ich mich an die Geschäft halten, die vermutlich noch geöffnet haben werden, um auch den letzten Suchenden Angebote zu machen. Zuerst denke ich, ein Einkaufszentrum wäre der ideale Ort, doch die unerwartet vielen Menschen halten mich dann ab hinein zu gehen. So suche ich die Straßen ab. Eine Idee habe ich schon, denn es soll etwas Besonderes sein für einen besonderen Menschen, über den ich viel zu wenig weiß.

In zwei Geschäften war ich jetzt schon, aber da sah ich keine Chance, dass ich mit meinen bescheidenen Mitteln, die ich mittlerweile in meiner Geldbörse erspäht habe, zum Ziel käme. Im letzten Laden hat mir aber der junge Verkäufer einen Tipp gegeben, hinter vorgehaltener Hand, als der Chef mit einer Kundin beschäftigt war. Dem gehe ich nach und wirklich, das ist genau das, was ich suche. In einem kurzen Gespräch mit dem Verkäufer entscheide ich mich für seine Empfehlung und nach wenigen Minuten Warten habe ich dann ein bezahlbares und einmaliges Geschenk, hübsch verpackt und bereit unterm Tannenbaum ausgepackt zu werden. Ich bin happy, als ich das Geschäft verlasse. Auf jeden Fall eine Empfehlung wert. Auf dem Rückweg in die Altstadt entdecke ich noch einen Laden mit Baumschmuck. Herabgesetzt, heute ist ja schon Heilig Abend. Ich gehe hinein und entscheide mich spontan für eine silbern/rote Engelsspitze für unseren Baum. Glücklich packe ich das schmale Kästchen in die tiefen Taschen meiner Jacke.

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass ich noch ein Stunde Zeit habe, bevor Jo Feierabend haben wird. Natürlich werde ich ihn abholen. Bis dahin gönne ich mir nun doch einen Glühwein, Shoppen macht durstig. Ich nehme einen vorsichtigen Schluck. Oha, der hat es aber in sich. Als ich ungläubig über den Inhalt zu meinem Ausschenker hinüber sehe, grinst der mich an. Er zwinkert mir zu und legt sich den Zeigefinger über die Lippen, wohl ein heimlicher Schuss zusätzlich im Glühwein. Sofort werde ich rot, zumindest fühlt es sich so an. Und der Junge lässt keinen Blick von mir, auch nicht während er andere Kunden bedient. Wenn das Gebräu nicht so heiß wäre, dann würde ich es hinter stürzen und verschwinden. So trinke ich in kleinen Schlucken und versuche nicht mehr hinzusehen. Irgendwie verwirrend das Ganze. Mit beharrlichem Schlürfen ist der Becher bald leer und ich kann ihn zurückgeben. Der Junge wartet nur darauf, dass ich komme: "Und hat er geschmeckt? Bin noch bis 16:00 Uhr hier, also wenn du einen möchtest ...?"

"Ich danke dir!", sage ich höflich, worauf ein Lächeln über sein Gesicht zieht.

Naja, zumindest habe ich ihm vielleicht einen netten Tag gebracht und denke an Jo, an seine Nähe und seine Wärme. Sofort fehlt er mir, was mich bewegt augenblicklich den Weg zum Kino einzuschlagen. Erst als ich unmittelbar davor stehe, merke ich, dass ich gerannt bin und nun nach Luft schnappe. Bin ich etwa geflohen? Oder hat mich die Sehnsucht getrieben? Ich beschließe Letzteres als Grund gelten zu lassen, atme ein paarmal durch und betrete das Foyer. Mein Blick geht suchend über die Kassen. Kein Jo. Ich gehe weiter und bin nicht sicher wohin ich will, denn ohne Karte komme ich nur bis zum Einlass.

"He, was machst du denn hier?", fragt mich der Einlass. Und ich bin gleich hin und weg. Mein Jo, mit diesem Hut hätte ich ihn fast nicht erkannt. Und überhaupt, diese Uniform steht ihm klasse. "Komm doch damit mal nach Hause!", grinse ich ihn zweideutig an, worauf er mir kurzerhand einen Kuss aufdrückt.

"Hehe, werden hier alle Gäste so begrüßt?", höre ich eine Mädchenstimme hinter mir.

Boah, jetzt bin aber auf alle Fälle puterrot.

Genau wie Jo, der überrascht antwortet: "Selbstverständlich nur die Besten!" Jo lässt mich zur Seite treten, umarmt das Mädchen und deutet einen Kuss auf ihre Wange an. Ihrem Begleiter reicht er höflich die Hand.

Ich erkenne das Mädchen als die Sandra aus der Mensa. Sie kommt auf mich zu, drückt mich und flüstert: "He, ihr seid aber schnell voran gekommen, wenn ihr schon hier so öffentlich seid."

"Ja, ich liebe ihn", gebe ich zu.

Dafür ernte ich gleich noch ein Küsschen auf die Wange: "Das sieht man euch an und ich freue mich für euch, ihr passt gut zusammen."

"Schöne Weihnachten euch!", ruft sie dann laut, nimmt ihren Begleiter an die Hand, der mir grüßend zuzwinkert.

Ich drehe mich zu Jo um, der wieder mit weiteren Gästen beschäftigt ist. In einem kurzen Moment zwischendurch sagt er: "Ich freu mich, dass du da bist. Hole dir doch was zu trinken und warte in der Lobby, siehst ja was hier los ist." An seinem Lachen sehe ich, dass er sich wirklich freut und ich mich auch.

Trinken mag ich jetzt nichts, weshalb mich die Kinoplakate in den Schaukästen ringsum mehr interessieren, als die Bar. Alle Filme, die ich kenne. Doch weshalb nur? Bringen die die Filme bei uns, also da, von wo ich herkam, früher als hier? Nein, das ist Quatsch! Filmstarts sind deutschlandweit immer gleich und immer donnerstags. Und trotzdem hab ich den "007" schon mehrfach gesehen und auch "Die Braut, die sich nicht traut". Ich komme einfach nicht dahinter.

"He, hast du schon Feierabend?", erhalte ich einen Schlag auf die Schulter.

"Oh verzeih, ich habe dich verwechselt", entschuldigt sich mein Gegenüber, als ich mich umdrehe.

"Die Mütze?", frage ich und ziehe sie mir gleich vom Kopf.

"Ja!"

"Kein Thema, Jo muss noch arbeiten, er steht am Einlass", erkläre ich.

"Achso, danke! Frohe Weihnachten!"

"Danke, dir auch!"

Zum zweiten Mal. Diese Mütze muss Jo’s Zeichen sein, sie ist Jo. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir damit einen Gefallen getan hat. Doch, hat er. Seine Lieblingsmütze für mich. Ich hätte sonst sicher erfrorene Ohren. Zurzeit glühen sie jedoch. Ich liebe Jo.

Jo hat zu tun. Ich suche mir einen bequemen Patz, ziehe meine Jacke aus und lege sie neben mich. Dabei fühle ich etwas Hartes in der Jacke. Achso, das Geschenk. Nein, im Ärmel. Ach, das Handy. Ich fummle es heraus. Jetzt bin ich auf einmal neugierig, wen ich alles im Adressbuch habe. Ich schalte es ein. Pin. Hm, ich gebe meine Lieblingszahlenkombi ein. "Code akzeptiert" steht da. Oh! - Wie habe ich das denn gemacht. Woher wusste ich ... ? -

Klingeling .... Klingeling .... Klingeling ....

Zum Glück ist es leise gestellt, so dass nicht gleich die ganze Lobby aufschreckt. Ich schaue auf das Display. "Oma". Oma? Das Handy bimmelt weiter.

Ich drücke auf 'Annehmen': "Ja?"

"Hallo? Ist da Joscha?"

"... Äh ... Ja?"

"Dann melde dich doch Junge, hier ist Oma."

"... Hallo Oma!", begrüße ich die unbekannte Stimme vorsichtig.

"Hallo Joscha, wie geht es dir mein Junge?"

"Äh ..., danke, gut."

"Wirklich? Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Sie meinte, sie wisse nicht, wo du bist."

"Nicht?"

"Nein! Sie meinte, es hätte Ärger gegeben zu Hause und du seist einfach verschwunden. Wo bist du?"

"Bei einem Freund."

"Junge, geht's dir wirklich gut? Das ist so laut bei dir."

"Ja Oma, mir geht es wirklich sehr gut. Wir sind im Kino."

"Wirklich? Heute zum Heiligen Abend?"

"Ja!"

"Sehen wir uns morgen zum Essen?"

"Oh ..., ich fürchte nein Oma."

"Nicht? Da bin ich wirklich traurig, weshalb denn nicht?"

"Weil ich nicht zu Hause bin Oma, tut mir leid", versuche ich mich zu entschuldigen.

"Ist alles in Ordnung bei dir? Ich mache mir Sorgen", fragt sie noch einmal nach und ich höre ihr die Enttäuschung und ihre Sorge an.

"Nein wirklich, es geht mir wirklich gut. Im Augenblick könnte es mir gar nicht besser gehen. Glaub mir bitte. Ich bin sehr glücklich gerade."

" ... Ich glaube dir, du warst immer ehrlich zu mir. Trotzdem schade, dass ich dich nicht sehe zu Weihnachten. Aber ich bin erst einmal froh, dass es dir so gut geht, wie du sagst. Ich werde Opa sagen, dass du in Ordnung bist, er fragt auch nach dir Joscha."

"Danke Oma!"

"Was soll ich deinen Eltern sagen, wenn sie mich fragen? Ich muss sie doch nicht beschwindeln?"

"Ich weiß nicht? Aber nein, musst du nicht."

"Na gut Junge, bleib schön gesund! Und bitte melde dich bald bei uns! Du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst, egal was gerade ist. Hier hast du immer ein zu Hause."

"Danke Oma!"

"Ich wünsche dir schöne Weihnachten bei deinem Freund Joscha!"

"Mit meinem Freund Oma", rutscht es mir heraus.

"Mit? ... Ok, muss ich mir Gedanken machen?", schaltet Oma sofort.

"Nein Oma, alles ist gut."

"Na dann, ich freue mich auf deinen nächsten Anruf mein Junge, hörst du? Wir haben dich lieb!"

"Danke Oma, euch auch schöne Weihnachten und liebe Grüße an Opa!", verabschiede ich mich.

"Ist gut, danke! Mach es gut Joscha!" ... Klick. ...

"Sie liebt dich?", vernehme ich eine warme, einfühlsame Stimme neben mir. Jo. Er hockt neben meinem Sessel.

Ich schaue ihm direkt in die Augen: "Ich glaube schon."

"Ich dich auch!", meint er, beugt sich zu mir und legt mir den Beweis direkt auf meine Lippen.

Ich bin glücklich, umarme ihn und küsse ihn zurück, bevor ich ihn wieder frei gebe.

"Ich habe jetzt Feierabend. In drei Minuten bin ich umgezogen" flüstert er, steht auf, streicht mir kurz über meine Wange und läuft los.

Für einen Augenblick habe ich alles um mich herum vergessen. Langsam rückt die Umgebung wieder in mein Bewusstsein. Ich habe Beobachter, denn ich sehe mehrere Augenpaare auf mich gerichtet. - Chamäleonreaktion. -

Zwei Jungs, ein Stück weiter drüben an einem Stehtisch, heben fast gleichzeitig die Hand mit Daumen nach oben. - Eine andere Farbe bitte! -

Dann sehe ich, wie sie sich näher kommen und küssen. Oh. Dann stelle ich fest, dass hier mehrere "Pärchen" stehen und sitzen.

Jo kommt zurück.

"Was ist heute besonderes?", frage ich ihn.

"Wie meinst du das Joa?"

"Naja", druckse ich herum, "hier sind eine ganze Menge Paare."

"Ja und?", scheint Jo meine Frage noch nicht verstanden zu haben.

"Na solche wie wir", versuche ich ihn auf die Spur zu bringen.

"Achso, ja stimmt. Richtig beobachtet. Trotzdem täuscht das", erklärt Jo, "Jetzt ist 'Pärchenstunde', bedeutet einer zahlt, zwei kommen rein. Eine gute Idee vom Chef. Sonst ist Heiligabend eher wenig Betrieb ab dem frühen Nachmittag. Deswegen gibt's auch noch zwei Getränke für einen Preis. Vor dem Film. Daher ist es schon jetzt ganz schön voll. Weshalb glaubst du, sind Sandra und Ingo hier? Also ganz normale Pärchen oder die sich für heute zusammen gefunden haben. Die trinken jetzt was und dann gibt's die Roberts. Oder den Pitt."

"Das sieht hier aber ganz anders aus", sage ich leise und deute mit meinen Augen auf die umliegenden Paare.

Jo schaut sich um. Die beiden von vorhin grüßen und heben auch für Jo den Daumen. Dann sieht er noch weitere Pärchen, die sich nicht nur mit Trinken beschäftigen und auch nur einem Geschlecht angehören.

Sein Blick kommt wieder zu mir zurück. Inzwischen hat sein Gesicht die gleiche Farbe, wie meins eben noch: "Du hast recht, ist mir vorher gar nicht aufgefallen. ... Umso besser!" Damit hat er einen Grund mich fest in die Arme zu nehmen und richtig zu küssen.

Und ich genieße es. Ich habe meine Oma nicht beschwindelt. Mir kann es nicht besser gehen.

"Lass uns etwas essen gehen, ich habe Hunger", fordert Jo, "Wir haben noch Zeit, bevor unser Film beginnt."

Ich sehe ihn mit großen Augen an.

"Hast du vergessen? Die Feuerzangenbowle?"

Sofort bin ich wieder auf dem Laufenden: "Ach ja, dachte nur nicht, dass der heute ...!"

"Ja doch“, unterbricht mich Jo, "Und ich habe für uns die besten Plätze ergattert." Mit leuchtenden Augen zieht er die Tickets hervor. "So, nun aber los!"

Damit greift er meine Hand und führt mich in Richtung Ausgang.

"Frohe Weihnachten!", rufen uns die beiden Jungs zu, an denen wir eben vorbei gehen.

"Euch auch!", antworten wir beide wie aus einem Mund, was zu heftigem Lachen unter uns vieren führt.

"Vielleicht sieht man sich mal", meint der eine von ihnen noch.

"Vielleicht?", lasse ich eine Antwort offen.

"He, genüge ich dir schon nicht mehr?", grinst Jo mich an.

"Doch!", bestätige ich ihm meine Antwort noch mit einem Kuss. Ich liebe Jo.

Draußen geht er mit mir zielstrebig durch den Bahnhof in die Altstadt. Es scheinen weniger Menschen unterwegs zu sein, als heute Vormittag.

Als wir in der Nähe des Kirchplatzes sind, fragt Jo: "Ich habe Appetit auf Gebratenes. Wie steht es mit dir? "

"Eine Bratwurst könnte ich schon vertragen."

"Und einen Glühwein vom Winzer?"

"Ich hatte vorhin schon einen“, gebe ich zu, "doch ich denke schon, ja!"

"Also, dann holst du den Glühwein? Ich gehe das Essen holen. Dann dort an dem Tisch?", weist er auf einen überdachten Stehtisch inmitten der Stände, an dem genügend Platz ist.

"Ist gut."

Wir trennen uns und ich gehe zum Winzer.

"Oh, da bist du ja wieder“, höre ich den Ausschenker erfreut, "magst du noch einen?"

"Zwei bitte!"

"Ich hab aber noch nicht Feierabend", lacht der mich an.

Ich zucke mit den Schultern: "Trotzdem zwei bitte!"

"Ist gut", bestätigt mir der Junge und ich sehe, dass er noch jeweils einen Rum in jeden Becher gibt. "Dann lass es dir schmecken!", flüstert er mir zu.

Ich bezahle: "Danke, lieb von dir!"

Ich nehme die Becher und gehe an den Tisch. Wenige Momente später ist auch Jo da. Ich reiche ihm einen Becher. Wir stoßen an und nehmen einen Schluck, ich einen vorsichtigen, denn ich weiß ja was mich erwartet.

"Boah, der ist aber heftig Joa, was hast du denn da drin?"

"Einen kräftigen Schuss Rum", antworte ich wahrheitsgemäß.

"Das hättest du aber nicht machen müssen, der ist doch teuer."

"Ja weißt du, ich habe einen Spender", gestehe ich peinlich berührt. Dabei gebe ich ihm die Richtung zum Winzer und proste dem Jungen am Stand zu. Dieser hat mich natürlich beobachtet und prostet zurück.

"Dich darf man auch keinen Augenblick allein lassen", reagiert Jo und ich weiß nicht, ob seine Worte jetzt spaßig oder ernst gemeint sind. Dann hebt er seinen Becher und prostet dem Jungen auch zu, bevor er mit mir anstößt: "Ich glaube, ich muss besser auf dich achten mein Schatz!", resümiert Jo, kommt mir nahe und gibt mir einen zuckersüßen Zungenkuss, der mich fast wegschmelzen lässt.

Im Augenwinkel sehe ich die Reaktion des Jungen. Er schlägt sich die Hände vor sein Gesicht und dreht sich weg. Ein anderer Mitarbeiter, der die ganze Szene beobachtet haben muss, klopft ihm bedauernd auf die Schulter und spricht ihm ein paar Worte zu, worauf der Junge nur leicht mit dem Kopf schüttelt. Irgendwie tut er mir leid, doch ich liebe Jo, der sich ebenso zu mir umdreht, wie ich mich zu ihm.

"Er hat sich wohl Hoffnungen gemacht", stellt er fest.

"Ich habe doch dich! Und dich liebe ich!", bestätige ich Jo sicherheitshalber.

"Ich weiß, dich liebe ich auch sehr!"

"Glückwunsch! Habt schöne Weihnachten ihr zwei!", lächelt uns ein junger Mann an. Er und sein Mädchen sind gerade fertig mit Essen und wollen unseren Tisch verlassen. Auch das Mädchen lächelt.

"Danke", erwidern wir, "euch auch!"

Wieder so ein Gänsehautmoment. Wenn man verliebt ist, bekommt man eben nur wenig um sich herum mit. Dieser Tag ist einfach nur schön. Wir genießen unsere gebratene Wurst, die noch ein wenig leckeres Sauerkraut und ein deftiges, frisches Stück Schwarzbrot zur Beilage hat. Es schmeckt hervorragend. Dazu der kräftige Glühwein. Liebe geht auch durch den Magen oder? Mit Sicherheit, ja!

Nachdem wir gesättigt sind, bringe ich die Becher zurück an den Stand. Der andere Mitarbeiter nimmt sie mir ab: "Es tut mir leid", sage ich zu diesem, als ich dem Jungen, der ein Stück entfernt steht und nicht zu mir blicken möchte, seine Traurigkeit ansehe, "trotzdem schöne Weihnachten!"

"Euch auch!", erhalte ich verständnisvoll zurück.

Auch Jo nickt zustimmend. Er ist mir gefolgt. "Na komm, du Herzensbrecher!", fordert er mich auf, ohne dass ich einen Anflug von Schadenfreude oder Häme in seiner Stimme spüren kann, eher Mitleid für den anderen und Erleichterung für sich.

Schweigend gehen wir ein paar Minuten zurück. Ich muss erst einmal mit der neuen Rolle des Zurückweisenden klar kommen. Sie gefällt mir nicht. Doch ich habe Jo an meiner Seite. Ich bleibe unvermittelt stehen, umarme Jo sehr fest und küsse ihn von ganzem Herzen. Ich brauche ihn, ich liebe ihn. Ich weiß nicht, ob es an dem Glühwein liegt, aber kräftige Hitze steigt in mir auf. Oder ist es dieses Glücksgefühl, einen Menschen zu lieben und zurückgeliebt zu werden? Vermutlich eine gesunde Kombination von beidem.

Händehaltend marschieren wir wieder zum Kino.

Schon im Foyer ziehe ich mir die Mütze vom Kopf, um nicht als Jo erkannt zu werden. Am Einlass werden wir begrüßt: "Hallo Jo, dann stimmt also das Gerücht?" Dabei weist der fesche Uniformierte auf unsere Hände, deren Finger immer noch fest miteinander verschränkt sind.

"Scheint ganz so", antwortet Jo, "das ist Joa. "

"Hallo und herzlich willkommen Joa!"

"Danke, hallo!"

"Ah, zur Feuerzangenbowle wollt ihr. Dann viel Spaß!", wünsche uns der Einlass.

Worauf Jo antwortet: "Danke Steffen, den werden wir haben."

Bevor wir uns noch ein Getränk und ein paar Chips holen, drängt mich ein Bedürfnis zu einem bestimmten Örtchen. Jo schließt sich gleich an.

Nach dem Händewaschen nimmt mich Jo in den Arm: "Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich hoffnungslos verliebt bin?"

"Jetzt, wo du es erwähnst, glaube ich so was vermutlich schon gehört zu haben. In wen denn?", spiele ich belustigt den Ahnungslosen.

"Ganz furchtbar, ich hoffe, du verkraftest es. In dich mein herzallerliebster Schatz."

Ich komme gar nicht erst dazu eine erstaunte Miene zu spielen, denn Jo’s Lippen pressen sich auf meine, wir umspielen uns und für einen Augenblick könnte ich schwören, dass wir schweben.

Das Klappen der Tür holt uns wieder auf den Boden.

"Komm, hier hinein!", hören wir ein kräftige Männerstimme.

"Hast du gesehen Papa, die Jungs haben sich geküsst. Dürfen die denn das?", fragt eine Kinderstimme.

"Heute ist Weihnachten", antwortet der Papa.

"Und da darf man Jungs küssen?", vernehmen wir noch beim Hinausgehen.

"Na, ob Papa aus der Nummer wieder raus kommt?", raune ich Jo leise zu.

"Wird schwer", feixt er zurück.

Wir bestellen uns eine Cola für zwei und eine Tüte Popcorn. "Viel Spaß Jo und Joa!", erhalten wir bei Übergabe unserer Bestellung gewünscht. Tja, Buschfunk ist nichts dagegen. Sogar mein Name ist mit rum. Mittlerweile gewöhne ich mich schon daran, erröte nur noch leicht. Wir grinsen uns beide an und winken dem Mädchen hinter dem Tresen zum Gruß.

Im Kino haben wir wie gestern die besten Plätze. Der Saal ist nicht ganz so groß, die Sitze aber gemütlich. Als ich meine Jacke ausziehe, berühre ich wieder das Handy im Ärmel. Sollte ich vielleicht besser ausschalten, könnte sonst peinlich werden. Dann geben wir uns ganz dem Film und unseren Bauchmuskeln hin. Das eingeübte Händespiel ist wieder mit von der Partie.

In der Szene, als Pfeiffers Geliebte den Diener in der Wohnung auf das leere Glas hinweist und behauptet, er wäre betrunken, und der Diener antwortet: "... wer hat denn das dahin gestellt?", muss ich herzlich lachen, denn irgendwie macht sich der Schuss Rum in meinen Glühweinen kräftig bemerkbar. Ich fühle mich einfach nur gut.

Witzigerweise werden von den Zuschauern viele Passagen mitgesprochen. Auch die zum Beispiel, in der der Professor die Papierkugel entfaltet: "... Da sich der Öbeltäter nicht meldet, werde ich ihn feststellen. Aha! Das Stöck Papier ist aus einem Scholhefte gerissen. Treten Sie vor und zeigen Sie Ihre sämtlichen Scholhefte! ..."

Es macht echt Spaß. Und der Sprecherchor wird immer synchroner. Bald wird jeder Text mitgesprochen und das steckt an. Wir kommen gar nicht zum Trinken und Knabbern, wir sprechen nur mit und lachen uns krumm und schief. Eine klasse Idee den Film zu schauen. Ich sollte das zur Tradition machen. Jedes Jahr am Heiligen Abend: "Die Feuerzangenbowle". Aber nur mit Jo und im Kino!

Ruckzuck ist der Film vorbei und alle im Saal sind fröhlich, begeistert, jeder grüßt jeden beim Hinausgehen. Man wünscht sich gegenseitig frohe Weihnachten. Mir fällt auf, dass kaum Becher und Tüten stehenbleiben im Saal. Da ist es wohl vielen so ergangen, wie uns. Sie nehmen die Dinge mit hinaus. Auch wir und wir beschließen in der Lobby auszutrinken, damit wir nichts mitnehmen müssen. Das denken viele, die Lobby ist gut gefüllt. Begeisterte Gespräche über die eine oder andere Szene sind zu hören und die Stimmung ist nach wie vor gelöst und lustig. Zwei Plätze an einem Stehtisch sind noch frei. An dem stehen zwei Mädchen, die uns einladen heran zu kommen. Wir bedanken uns höflich. Nach und nach entwickelt sich ein Gespräch. Es läuft wohl darauf hinaus, dass die beiden noch Begleiter für die Weihnachtsparty heute Abend suchen. Erst als sie bemerken, dass wir beide aus dem gleichen Becher trinken, wird ihnen wohl klar, dass wir nicht die Begleitung sein würden, die sie sich erhofften.

Als sie nach ein paar zaghaften Nachfrageversuchen nicht weiter kamen, übernahm Jo das Wort: "Ihr wollt wissen, ob wir beide zusammengehören?"

Ihr Nicken bestätigt die Frage, die Jo mit einem Kuss auf meinen Mund beantwortete.

"Schade", meinte die eine, "entweder sind die hübschen Jungs vergeben oder schwul." Ihre leichte Enttäuschung konnten Sie nicht verbergen.

"Tut mir leid", gab ich zu.

"Mir nicht, sonst hätte ich dich nicht. Nicht auszudenken, wenn einer von uns beiden nicht auf Jungs stehen würde", spricht Jo leise und mit verliebtem Blick zu mir.

"Da hat er recht", spricht das andere Mädchen zu ihrer Freundin. Und zu mir: "Ihr seid ein hübsches Paar, ihr zwei passt zusammen. ich wünsche euch alles Glück der Welt und frohe Weihnachten. Ihr seid nette Jungs. Was meint ihr, ob wir uns auch mal so treffen können? Mit euch kann man sich prima unterhalten."

"Warum nicht?", antwortet Jo.

"Hast du ein Handy?"

"Ja!"

"Gib mal meine Nummer ein! Ich bin übrigens Ria und das ist Anne." Dann diktiert sie Jo ihre Nummer und Jo gibt ihr seine.

"Das ist Joa und ich bin Jo."

"Ok, Jo und Joa. Das passt zu euch!" Dann verabschieden sich die beiden von uns.

Zeit auch für uns nach Hause zu gehen. Draußen ist es dunkel. Und nachdem Jo sein Rad geholt hat, schiebt er es neben mir her, bis wir die Vierspurige hinter uns haben.

"Komm steig auf!", bittet er mich.

Er schwingt sich auf sein Rad und hält den Lenker mit einer Hand, damit ich auf der Stange Platz nehmen kann. Dann tritt Jo kräftig in die Pedale. Ich fühle mich wie ein kleiner Junge. Oder zurückversetzt in meine Schulzeit, da fuhr ich auch ab und zu mit einem Klassenkameraden nach Hause. Er kam täglich mit dem Rad, während ich immer zu Fuß in die Schule ging, hatte es ja nicht so weit. Aber mit Jo ist es anders. Es geht leicht bergauf und Jo muss kräftig strampeln. Sein heißer Atem bläst mir in den Nacken. Jeder Atemstoß ist Gänsehaut. Zwanzig Minuten später sind wir vor dem Haus. Ich muss Jo erst mal küssen, obwohl er außer Atem ist. dennoch zieht er mich glücklich an sich heran. Erwähnte ich schon, dass ich Jo liebe?

Schnell sind wir oben in der Wohnung. "He, du hast ja richtig aufgeräumt", bedankt sich Jo.

"Natürlich!"

Irgendwas piept.

"He, du hast auch gewaschen?", fragt mich Jo überrascht.

"Naja, die Bettwäsche hatte es nötig", erkläre ich errötend.

Ohne Worte küsst mich Jo wieder und nimmt die Bettwäsche aus der Waschmaschine und legt sie in den Trockner.

"Komm, lass es uns gemütlich machen, gleich ist Bescherung!", verkündet er.

Wir legen unsere Sachen ab, wobei ich unbemerkt das tief in der Tasche steckende Geschenk herausnehme und unter dem Tannenbaum ablege.

"Hast du eine Leiter und ein scharfes Messer, am besten ein Cuttermesser?", bitte ich Jo.

"Wozu?"

Ich zeige ihm die Schachtel. Jo öffnet sie und bekommt große Augen: "Daran hast du gedacht? Ich liebe dich!"

Nach dem heißen Kuss holt er mir die Leiter und das Messer: "Bitte sei vorsichtig, ich brauche dich noch!"

"Bin ich, versprochen!" Ich steige hinauf und prüfe die Dicke der Baumspitze. Nur wenig muss sie angespitzt werden. Ich fahre die Klinge aus und bin wirklich besonders vorsichtig, immer weg vom Körper. Die Klinge ist scharf und deshalb ist es 1,2, fix erledigt. Vorsichtig stecke ich die Engels-Glasspitze auf. Von unten betrachten wir beide das Ergebnis.

Jo hat einen Arm auf meiner Hüfte und zieht mich zu sich heran: "Die hast du toll gewählt, passt hervorragend auf den Baum. Nie wieder werde ich eine andere Spitze auf einen Baum stecken. Sie passt und ich liebe dich! " Der erwartete Kuss folgt und nimmt kein Ende.

Irgendwann später darf ich wieder Luft holen: "Ich mache uns die Würstchen warm, dann können wir die mit Opas Kartoffelsalat gemütlich unterm Tannenbaum futtern."

Damit spricht er mir aus der Seele, besser aus dem Magen. Liebe macht hungrig. Und ich freue mich schon auf sein Gesicht, wenn er das Geschenk dann öffnet. Ich folge ihm in die Küche, suche Teller, Besteck und Gläser für uns zusammen, trage sie ins Zimmer und stelle sie auf den Couchtisch. Dann verschwinde ich im Bad. Ich dusche kurz und mache mich frisch. Meine Haare lasse ich offen, Jo hat mich heute viel mehr geküsst.

Als ich heraus komme, treffen wir uns vor der Zimmertür. Jo trägt ein Tablett mit allerlei bekannten und unbekannten Dingen darauf: "Was hast du vor?"

"Das wird eine Überraschung. Bitte nicht ohne mich anfangen, ich möchte auch erst noch mal unter die Dusche springen. Ich will auch so gut riechen wie du!" Dabei kommt er dicht an mich heran und zieht geräuschvoll und tief meinen Duft ein.

Ich muss grinsen, nehme ihm das Tablett ab und empfehle: "Dann aber schnell!"

Seinem Kuss folgen ein zufriedenes Lächeln und ein blitzartiges Verschwinden in der Nasszelle.

Ich betrete das Zimmer und bin überrascht, wie Jo in der kurzen Zeit Weihnachtsstimmung gezaubert hat. Im ganzen Raum brennen Kerzen, es riecht nach Räucherkerze und auf dem Tisch, an dem ich angekommen bin, brennt ein Spiritusbrenner unter einem riesigen Krug mit rot leuchtender Flüssigkeit, die zart dampft und einen Geruch von verdunstendem Alkohol dem Duft der Räucherkerze, es wird wohl Tanne sein, beimischt. Ich versuche die Dinge zu sortieren, die ich auf dem Tablett habe. Eine abgedeckte Schale, in der sich die Wiener Würstchen befinden, die Schüssel mit dem Kartoffelsalat, der auch einen sehr appetitlichen Duft verströmt, eine Zange, auf der ein Zuckerhut liegt, bauchige Gläser mit Henkel und ein kleines Karussell mit Gläschen, gefüllt mit allerlei Kräutern und Gewürzen, Salz und buntem Pfeffer.

Passende Weihnachtsservietten und eine Schale mit verschiedenen Knabbereien, darunter Erdnüsse zum selber Knacken, sind die zwei letzten Dinge, die ich auf dem Tisch drapiere. Das Tablett lasse ich unter dem Beistelltisch verschwinden, auf dem auch noch verschiedene andere Gläser auf ihren Einsatz warten.

Für einen Moment lasse ich die Umgebung auf mich wirken. Leise spielt Weihnachtsmusik. Es ist anheimelnd und richtig weihnachtliche Atmosphäre.

Dabei bemerke ich gar nicht, dass Jo bereits wieder im Zimmer ist. Er legt mir von hinten ganz sanft seine Arme um den Leib, stellt sich ganz nah hinter mich. Und als er bei dem gerade beginnenden "Stille Nacht, heilige Nacht" - Knabenchorgesang einstimmt und jeden Ton treffend mitsingt, brechen in mir alle Dämme:

"Stille Nacht, heilige Nacht!

Alles schläft, einsam wacht.

Nur das traute hochheilige Paar,

Holder Knabe im lockigen Haar,

Schlaf in himmlischer Ruh,

Schlaf in himmlischer Ruh."

Die Tränen rinnen mein Gesicht herab und ich muss schluchzen. Meine Knie werden weich, doch Jo hält mich fest und singt. Leise beginne ich mitzusingen:

"Stille Nacht, heilige Nacht

Hirten erst kundgemacht.

Durch der Engel Halleluja

Tönt es laut von fern und nah:

Christ, der Retter ist da,

Christ, der Retter ist da."

Das habe ich schon so lange nicht getan. Ich singe die zweite Stimme und unser Gesang vereint sich so herrlich miteinander, dass die Wellen der Emotionen nicht nachlassen:

"Stille Nacht, Heilige Nacht -

Gottes Sohn, oh, wie lacht

Lieb' aus deinem göttlichen Mund.

Da uns schlägt die rettende Stund

Christ, in deiner Geburt,

Christ, in deiner Geburt."

(Text und Initiator: Joseph Mohr - Hilfspfarrer/Melodie: Franz Xaver Gruber - Dorfschullehrer und Organist 1816/1818)

Meine Tränen laufen immer noch und wenn ich es richtig spüre an meinem Hals, auch die von Jo.

"Ich wusste gar nicht, dass du eine solch fantastische Singstimme hast Joa", flüstert mir Jo jetzt zu. "Ich weine heute das erste Mal beim Singen, es ist so wunderschön."

"Du singst auch so klar und sauber, unsere Stimmen passen ganz toll zueinander, hast du das gemerkt?"

"Ja und ich habe Lust noch weiter zu singen!"

"Dann lass uns singen Jo!"

Wir lassen uns anstecken vom weihnachtlichen Gesang und begleiten den Chor viele weitere schöne Lieder lang. Manchmal singen wir sogar die zweite und dritte Stimme dazu. Es hört und fühlt sich unglaublich gut an. Und es braucht keine Nachfrage, wir beide haben unser gemeinsames Hobby entdeckt - Singen. Bei einem Lied singen wir sogar einen Kanon. Perfekter geht es nicht.

"Ich bin so happy Schatz, dass du das Singen magst und dass du auch noch so eine fantastische Stimme hast. Ich kann einfach nicht genug von dir bekommen", schwört Jo und hängt sich an meine Lippen, so wie ich sofort auch an seinen, ich küsse Jo voller Hingabe. - Egal wer da oben dafür gesorgt hat, dass ich nur das Hier und Jetzt begreife, ich danke ihm, dass er mich zu Jo geführt hat. -

"Joa, das ist sicher der schönste Weihnachtsabend, seitdem ich klein war! Ich liebe dich von ganzem Herzen und ich danke dir, dass du dich auf den Weg gemacht hast, um mir dieses Weihnachten zu bescheren!", dabei langt Jo unter den Tannenbaum und holt ein kleines, süß verpacktes Geschenk hervor. Er hält es mir mit beiden Händen hin.

Doch bevor er noch etwas sagen kann, revanchiere ich mich, denn auch ich hole das Geschenk hervor, welches ich Jo machen möchte: "Und ich danke dir, dass es dich gibt, dass du mich vorbehaltlos aufnimmst und mir deine Wärme und deine Liebe schenkst!"

Wir tauschen die Päckchen, die sogar ähnlich eingepackt sind.

Es ist unbeschreiblich. Welche Freude könnte größer sein?

Ich entferne vorsichtig das Geschenkpapier und erkenne eine wohlbekannte Geschenkbox, zumindest sieht sie der gleich, die auch Jo gerade in den Händen hält, muss schmunzeln und bin gespannt. Ich öffne das Kästchen und entdecke einen goldenen Anhänger, bestehend aus zwei halben Herzen. Er trägt die Gravur 'Jo & Joa'. Als ich ihn in die Hand nehme, ziehe ich eine zarte, goldene Kette heraus und dabei klappt das rote Samtkissen hoch, unter dem sie lag. Ein weiterer Anhänger mit den gleichen halben Herzen kommt zum Vorschein, auf dem 'Joa & Jo' graviert ist. Mein Herz klopft heftig, als ich beide Ketten in den Händen halte und in Jo's glänzende Augen schaue.

"Da hatten wir beide den gleichen Gedanken und wie ich sehe, haben wir uns auch das gleiche Geschäft ausgesucht", strahlt Jo mich an. Dabei schaut er in das Kästchen mit den beiden Ringen, die im gleichen Gold und im gleichen Stil, wie die Ketten gefertigt sind.

"Jetzt verstehe ich auch, weshalb mich der Verkäufer so besonders beraten hat, er empfahl mir nämlich nachdrücklich diese Ringe und gab mir noch einen Rabatt, als ich ihm den Inhalt der Gravur nannte. Ursprünglich wollte ich zuerst auch eine Kette für dich machen lassen", erklärte ich ihm. "Er drängte mich förmlich zu diesen Ringen. Ein weiterer Grund war auch, dass er mich direkt fragte, ob es denn für meinen Freund wäre."

Jo zieht einen Ring heraus und liest die Gravur auf der Innenseite vor: "Joa & Jo 24.12.1999." Natürlich im gleichen Gravur Stil gefertigt, wie auf den Anhängern.

Ich öffne den Verschluss einer der Ketten und lege sie Jo an, dann nehme ich ihm den Ring ab, greife nach seiner Hand und schiebe ihn über seinen kleinen Finger.

Jo macht das Gleiche bei mir, wobei er beim Anlegen der Kette an meinem Hals entlang streicht, um hinter meine langen Haare zu gelangen. Das verursacht bei mir wieder eine Gänsehaut. Ich muss Jo küssen, unbedingt und lange.

Mit verliebten Augen sehen wir uns an und setzen uns auf die Couch. Jo legt den Zuckerhut auf die Zange welche auf dem dampfenden Bowlekrug liegt, übergießt ihn mit Hochprozentigem und zündet ihn an. Zarte Flammen gleiten zuerst über den Zucker und werden dann zu einem fackelnden, helleren Licht. Ein ganz besonderer Geruch erfüllt den Raum, es riecht nach Zuckerwatte und nach Wein.

Plötzlich klingelt das Telefon. Und es lässt nicht locker. Jo geht hinaus, ich höre ihn sprechen, wenige Minuten.

"Das war Oma, sie wünscht uns frohe Weihnachten. Sie hat mir auch diesen Wein empfohlen und die Utensilien für die Feuerzangenbowle mitgegeben, als ich sie diese Woche nach einer Idee fragte. Meine Großeltern haben immer so etwas da, sie führen ein Gasthaus mit Hotel. Allerdings wusste ich da noch nicht, dass ich diesen Abend hier und mit dir verbringen werde. Ich sollte ihr noch versprechen, nicht zu viel und zu schnell von dem Sud zu trinken", grinst Jo und muss mich gleich wieder küssen. "Du schmeckst so gut, bevor ich mir gleich die Zunge verbrenne, will ich mir noch mal deinen Geschmack einprägen." Dem stimme ich voll und ganz zu.

Nachdem wir uns irgendwann wieder voneinander trennen können, schenkt uns Jo von diesem köstlichen Getränk ein und wir stoßen an. Oha, die Feuerzangenbowle hat es in sich. Aber gut, wir wollten es ja so. Hitze fühle ich aufsteigen. Und Hunger. Ganz mit Genuss lassen wir uns den leckeren Kartoffelsalat und die Würstchen schmecken.

"Der schmeckt ja wirklich ganz toll. Hast du den gemacht?", frage ich Jo.

"Nein, solch einen herrlichen Kartoffelsalat kann nur mein Opa, ich kenne keinen, der besser schmeckt. Mein Opa ist ein begnadeter Koch."

"Wirklich Jo! Ganz ohne Quatsch, das ist echt der beste Kartoffelsalat, den ich je gegessen habe. Das war eine ausgezeichnete Idee", behaupte ich überzeugt, obwohl ich mich an andere Salate nicht wirklich erinnern kann. Dennoch fühle ich, dass es so sein muss.

"Freut mich, dass er dir schmeckt. Hat mich auch was gekostet ... "

"Dein Opa lässt sich bezahlen?", frage ich erstaunt und wage gar nicht weiter zu essen.

"Naja, nicht wirklich, aber ich musste Oma was versprechen", druckste Jo herum.

"Echt? Was denn?"

"Das ist ja das Problem. Bitte sei mir nicht böse ... ", bat er ängstlich.

"Weshalb sollte ich böse mit dir sein? Es gibt keinen Grund!"

"Du weißt ja noch nicht, was ich versprechen musste ... "

"Nein stimmt, was denn?"

"Ich musste Oma versprechen, dass ich mit meinem Weihnachtsgast, mehr habe ich ihr nicht von dir verraten, zum Gänsebratenessen komme. Meinst du, das ist was für dich Joa?"

"Gänsebraten? Aber na klar! Ich weiß nur nicht, wie ich das wieder gut machen kann, was du mir hier bietest, wie ich mich revanchieren kann."

"He Joa, noch mal: Ich liebe dich über alles und ich bin der glücklichste Junge im ganzen Universum, weil du hier bist. Und wehe, du zweifelst daran oder willst mir etwa nicht glauben!"

"Nein, ... ich meine ja!", berichtige ich, "ich glaube dir und du bist ganz sicher das Beste, was mir je passiert ist Jo!"

"Morgen schon, zu Mittag ist das Gänsebratenessen."

"Oh!", entfuhr es mir, "naja, hatte ich jetzt nicht erwartet, aber ok. Und da willst du mich mitnehmen?"

"Wenn, dann nur dich! Das Gänsebratenessen ist eine Tradition im Gasthof, viele Hotelgäste buchen inzwischen nur wegen dieses Essens. Und wenn es sich einrichten lässt, dann ist von der Familie da wer kann."

"Ok!"

"Weißt du Joa, ich habe noch nie jemanden zu meiner Familie mitgebracht."

"Hm, ich vermute mal, du wirst immer bei deiner Familie gewesen sein zu Weihnachten?"

"Ja stimmt!"

"Ich übrigens auch. Bin dieses Jahr das erste Mal nicht da, glaube ich. Und ich habe eine gute Ausrede, denn ich habe Weihnachtslieder vor einem wunderschönen Weihnachtsbaum gesungen, zwei und dreistimmig. Und einen Kanon", lache ich und das Gefühl von vor ein paar Minuten ist wieder da.

"Und ich bin dir so unglaublich dankbar, dass du so bist, wie du bist, das macht es mir um einiges leichter."

"Weshalb leichter?", fragte ich leicht irritiert.

"Weil niemand von mir weiß. Weil niemand von dir, von uns weiß. Weil niemand aus der Familie weiß, dass ich ... Naja, dass ich nie Kinder oder Enkel zeugen werde", beendet Jo jetzt sein Geständnis. Und ich habe den Eindruck, dass er ganz heftig mit sich kämpft. Er ist also ungeoutet. Nicht ganz. Jana hat eine ernstzunehmende Ahnung, Sandra weiß es, seine Kollegen im Kino wissen es, jetzt garantiert. Aber vor der Familie? Ich kann mir vorstellen, dass das der schwierigste Teil ist.

Ich weiß in diesem Moment, ich will ihm beistehen, ihm helfen, ihn lieben und ihm vertrauen, in allen Lebenslagen: "Jo, egal was du versprochen hast. Wenn es das ist, was du möchtest, von dem ich glaube, dass du es möchtest, wenn du deiner Familie sagen möchtest, dass du, ich sag es einfach, obwohl ich dieses Wort nicht mag, 'schwul' bist, dann bin ich gern dabei, stehe dir zur Seite. Ich liebe dich über alles, ich will dich nicht im Stich lassen!"

Jo fällt mir um den Hals, ich spüre Erleichterung. Und das sicher mit Recht. Wem würde es schon leicht fallen sich zu outen? Das wird interessant morgen.

Wieder klingelt das Telefon. Es sind Jo’s Eltern. Zunächst die üblichen Wünsche zum Weihnachtsfest, dann die interessierende Frage, wie er denn nun seinen Heiligen Abend begeht und vor allem mit wem. Das Gespräch lenkt Jo ganz geschickt, verrät nichts von mir, will sich anscheinend nicht am Telefon öffnen. Er lenkt es zu den Großeltern und seiner Zusage dort morgen zum Gänsebratenessen zu erscheinen. Das wird wohlwollend aufgenommen, auch weil die Eltern selbst nicht kommen werden, sie möchten lieber ganz privat die Großeltern besuchen, denn Opa würde in der Küche werkeln und Oma die Gäste bedienen. Dann wird das Telefon an Jo’s Schwester weitergereicht, die zu Hause die Stellung bei den Eltern hält und sich verwöhnen lässt. Auch sie versucht heraus zu bekommen, wer denn nun jetzt bei Jo ist. Ich habe die Vermutung, dass sie mehr ahnt, als sie im Gespräch laut äußert. Denn sie lässt nach den lieben Wünschen Jo versprechen, dass er von ihr einen lieben Kuss übermitteln soll. Einem Mädchen gegenüber würde sie sicher liebe Grüße bestellen lassen.

Und ich bekomme den Kuss, mit allem Drum und Dran: "Mein Schwesterchen lässt dich ganz herzlich grüßen und sie wünscht uns den allerschönsten Weihnachtsabend."

"Nein, sie lässt dich mich küssen Jo! Sie kennt dich besser, als du glaubst, sie ahnt etwas."

"Meinst du? Vielleicht hast du Recht. Wenn ich darüber nachdenke, hat sie mich schon lange nicht mehr nach einer Freundin gefragt. Nur, ob sich in Sachen Liebe schon etwas getan hat. Und heute hat sie dich von mir in ihrem Namen lieb küssen lassen, stimmt. Ich bin auf sie herein gefallen, die ist schlau!" Einen Moment lang überlegt Jo: "Aber eigentlich ist es gut so. Morgen möchte ich, dein Einverständnis vorausgesetzt, sowieso reinen Tisch machen. Zuerst bei den Großeltern, mit denen konnte ich schon immer besser reden."

Ich stimme zu und pflichte Jo bei, indem ich ihn wieder leidenschaftlich küsse.

Und bald haben wir nicht nur unsere Herzen, sondern auch unser Mägen randvoll gefüllt. Denn wir essen weiter und nehmen jeder noch ein Glas Feuerzangenbowle dazu, bis wir keinen Bissen mehr schaffen. Jetzt meldet sich das Kuschel-Gen und das wird erhört. Ich lege mich ganz bewusst auf Jo’s Brust und lausche seinem Atem. Jo hat beide Arme um mich geschlungen und streicht mir über den Kopf. Dabei küsst er meine Stirn und schmiegt seinen Kopf an meinen. Es ist einfach nur herrlich.

Bald liegen wir auf dem Sofa, vor der leuchtenden Weihnachtstanne. Es ist schon weit nach Mitternacht, wir werden von den weihnachtlichen Gerüchen und der nur sacht vor sich hin dampfenden Feuerzangenbowle eingehüllt. Ganz eng aneinander gekuschelt und mit einer dicken Decke zugedeckt, beobachten wir beruhigt die Flamme des Brenners ausgehen. Der rote Sud zeigt seine Wirkung auf unser Gemüt. Langsam, ganz langsam schweben wir davon, schwinden uns die Sinne, gleiten wir hinüber in die Traumwelt und genießen die Wärme des anderen.


Die Sonne scheint, es ist ein warmer Vormittag, der Chef hat gerade seine Anweisungen gegeben, noch ist etwas Zeit. Ich stehe inmitten von sieben Leuten meines Alters, Mädchen, Jungs, zwei Teams. Gekleidet sind wir in traditioneller Uniform der Kellner.

Wir werden die Gäste der Architekturbüros an diesem Stand bedienen, die hier auf Aufträge und neue Mitarbeiter hoffen, indem sie Referenzen bieten, Modelle zeigen, Erfahrungen demonstrieren und mit Service buhlen, den wir heute bieten sollen. Es ist ein guter Job, wird gut bezahlt. Alle sind gut drauf, das Ambiente ist in Ordnung, da wurde viel Grün in die Halle geschafft, niemand mag den blanken Beton. Einige Fernseher, besser Monitore oder Flachbildschirme wurden aufgehängt, auf denen sich in Endlosschleifen die Architekturbüros präsentieren. Gleich wird die Messe öffnen, die Stände werden sich füllen und wir werden zu tun bekommen. Es dauert eine geraume Zeit, dann kommen die ersten Neugierigen an die Stände. Fachpublikum, so wurde uns gesagt, wäre das heutige Klientel, also Bauunternehmer, öffentliche Auftraggeber, Finanziers, Vertriebler und Studenten. Auf Letztere freue ich mich besonders, sie würden weniger hochnäsig, anspruchsarm und vor allem freundlicher sein. Das kenne ich schon von anderen Messen. Mit denen konnte man flachsen, ein wenig plaudern, die freuten sich über Kleinigkeiten. Das macht mir das Arbeiten einfacher, da würde aus dem Auftrag Spaß werden.

So ist es tatsächlich auch heute. Die Chefs bekommen Leckerlis vorgesetzt, also Häppchen und alkoholische Zungenlöser, wie wir die edlen Schnäpse nennen, mit denen wir sie verwöhnen. Die Architekten fachsimpeln, loben ihre Arbeiten selbst in den höchsten Tönen, biedern sich an, stellen ihre Büros in den Mittelpunkt, bezirzen ihre Gesprächspartner, bekommen reihenweise Visitenkarten und Angebote zu Teilnahmen an Ausschreibungen und Ähnlichem. Nach und nach mischt sich das Publikum. Die Leute werden jünger, die Bäuche der Gäste kleiner, die Gespräche weniger geschwollen, das Interesse der Architekten geringer. Die Antworten werden einsilbiger, die Bestellungen alkoholfreier und unser Service einfacher. Die Gäste werden dafür angenehmer, freundlicher, gesprächiger, natürlicher. Auch wir Servicemitarbeiter erhalten jetzt ein 'Danke', die Atmosphäre wird zusehends entspannter für uns, obwohl mehr Leute unterwegs sind. Wieder ist eine kleine Gruppe Studenten am Stand. Sie stellen recht präzise Fragen, holen die gerade zur Verfügung stehenden Gesprächspartner aus der Reserve. Sie scheinen gut vorbereitet, denn die Gespräche ziehen sich, werden speziell und anscheinend nicht langweilig. Das erkenne ich, weil nicht viel von uns nachgefragt wird, sich die Konzentration voll auf die Standbetreuer richtet, die sich alle Mühe geben, Rede und Antwort zu stehen. Ich weise meine drei Leute an Getränke vorzubereiten, obwohl keine Anforderung kam. Auf deren verständnislosen Blick hin, bat ich sie einfach loszulegen. Ganz unaufgefordert und leise bedienen wir die Anwesenden mit alkoholfreien Getränken, was mir das wohlwollende Zunicken des Standleiters einbringt. Die Situation lockerte ein wenig auf, die Standbetreuer atmeten etwas durch.

Ein 'Danke, sehr freundlich!' höre ich plötzlich an meinem Ohr.

Mit einem einfachen 'Gern' antwortete ich mechanisch und drehte mich zur Quelle der Anerkennung um. Wie vom Blitz getroffen, verharre ich in den Augen, die mich ansehen. Ich kann mich nicht losreißen. So ein erwartungsvolles, erfreutes Leuchten. Ich bin sofort hin und weg, mein Herz beginnt heftig zu klopfen.

Die folgende Frage 'Wann hast du Feierabend?' meines Gegenüber, nehme ich wie in Trance auf und verrate den Zeitpunkt mit 'kurz nach sechs, etwa viertel oder halb sieben', ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Das 'Ich warte vor dem Presseeingang auf dich' flüstert mir dieser unglaublich anziehende Mensch noch schnell zu und bevor er mit seinen Kommilitonen den Stand verlässt, schickt er noch ein 'Und danke noch einmal!' laut hinterher.

Ich blicke ihm noch nach, bevor ich bemerke, dass ich regungslos verharre, meine Kollegen inzwischen abgeräumt haben und sich nach hinten begeben.

Ob etwas mit mir wäre, werde ich gefragt und ob ich den gekannt hätte. Dass ich es nicht wüsste und es aber annehmen würde, antworte ich und dass ich es aber erfahren würde, wenn wir uns später träfen.

Der nächste Schwung Interessenten kommt, wir sind anschließend rundum beschäftigt. Es läuft ähnlich, wie vorhin. Ich warte eine gespannte Situation ab, bevor ich diese mit erfrischenden Getränken entspanne. Das klappt gut, die Zeit vergeht im nu, mein Team arbeitet vortrefflich. Der Chef ist äußerst zufrieden und meint, ich hätte ein Blick für Situationen, würde seine Leute fordern, aber nicht in Verlegenheit bringen. Sprich, ich würde genau zum richtigen Zeitpunkt angenehm die Aufmerksamkeit der Besucher von den Referenten nehmen. Deshalb belohnt er mich mit einem extra Scheinchen direkt in die Hand, als wir uns nach getaner Arbeit nach sechs Uhr voneinander verabschieden. Er freue sich, einen so aufmerksamen Servicepartner in mir zu sehen und wünsche sich, dass am folgenden Tag ein ebensolch unkomplizierter Service an seinem Stand stattfinden würde, worum ihn die umliegenden Stände bereits jetzt schon heftig beneiden würden. Ohne, dass mein Team etwas davon mitbekommt, wünscht er mir noch einen ereignisreichen Abend und läd mich für den nächsten Tag ein, mit ihm in der Nachmittagspause eine Leipziger Lerche zu verkosten. Als ich ihn verdutzt ansehe, zwinkert er mir nur zu und überlässt mich meinen Gedanken. Das bringt mir meine Begegnung von heute Mittag wieder in Erinnerung, lässt mein Herzklopfen wieder aufkommen. Ich hatte gar keine Gelegenheit, seitdem darüber nachzudenken.

Unser Team bekommt das Lob vom Chef natürlich von mir zu hören, weshalb sollte ich denn das auch für mich behalten, sie waren einfach allesamt klasse. Mir wurde vom Team beste Führungseigenschaft bezeugt, ohne mich hätten alle nur auf irgendwelche Winke der Standbetreuer gewartet. Sie würden sich alle auf morgen freuen, es sei ein toller Tag gewesen. Das nehme ich doch gern an. Habe also alles richtig gemacht. Obwohl es keinen Teamleiter gibt, fühle ich mich vom Team zu einem erwählt. Dann soll es so sein. Es tut niemandem weh und wir alle hatten unseren Spaß heute.

Nach der Verabschiedung trennen sich unsere Wege für heute, wir gehen jeder zu unseren Verkehrsmitteln, die uns heimbringen werden. Für mich wird es die Linie sechzehn sein, mit der ich direkt von einer Endstelle zur anderen fahren werde, einmal quer durch die Stadt, vom Norden in den Süden.

Bis zur Abfahrt habe ich noch etwas Zeit, trete also gemütlich aus der Eingangszone, blicke in die grade untergehende Herbstsonne, genieße die letzten Strahlen und ziehe einmal ganz tief die frische Luft ein, um sie dann ebenso wohltuend aus den Lungen heraus zu lassen.

Mit einem Mal fühle ich den Atem eines Anderen. Ich wende mich dem zu und blicke in die gleichen, erwartungsfrohen Augen, die bei mir heute schon einmal heftiges Herzklopfen verursacht haben.

"Guten Abend, du scheinst die Herbstsonne ebenso zu lieben wie ich."

"Ja, das tue ich. Ein Freund sagt mal 'ich liebe den Herbst, weil man sich da schön zu Hause einkuscheln kann, auf dem Sofa in die Decke, 'nen heißen Tee oder Kakao, ein gutes Buch dazu oder schöne Musik hören. Und außerdem wird die Natur zu einer Leinwand der Farben'. Und ich gebe ihm recht", antworte ich.

"Ich bin Jo", stellt sich mein Gesprächspartner vor.

"Und ich Joscha."

"Das klingt hübsch, passt zu dir. Darf ich Joa sagen?", fragt mich Jo.

"Klar, die meisten nennen mich Josch, aber Joa klingt gut. Ja, also bitte."

"Was hast du heute noch vor Joa?"

"Eigentlich nach Hause, den Abend genießen, damit ich morgen wieder fit bin für den Tag", erkläre ich.

"Ich bin nur heute hier. Vielleicht kannst du mir etwas von der Stadt zeigen? Es würde mich freuen, wenn du mich begleitest" und sieht mich dabei zweifelnd und bittend an.

Ich überlege kurz. Weshalb sollte er gerade mich danach bitten: "Wo ist deine Truppe? Habt ihr nichts geplant heute Abend?"

"Doch, aber ich konnte da nicht mit", antwortet er leise und leichte Röte steigt ihm ins Gesicht.

"Nicht?", frage ich, "Wo sind die denn hin?"

"Wieder nach Hause, mit dem Nachmittagszug, wir hatten nur diesen Tag."

"Oh, da bist du jetzt allein hier?", stelle ich erstaunt fest.

"Ja ...", spricht er noch leiser, "wegen dir."

Jetzt ist es an mir zu erröten.

"Vielleicht war es ja auch ein Fehler und ich weiß ja auch gar nicht, ob du ..., naja ..., ich weiß auch nicht ... " resigniert er und dreht sich weg.

Ich bekomme Angst, Angst, dass er das nicht aussprechen würde, was er denkt, was ich denke, dass er es gern sagen würde. Ich lege meine Hand auf seine Schulter: "Wo kommst du eigentlich her und wieso kommst du auf die Idee, dass ich ..., naja was eigentlich?"

Jo dreht sich zurück und ich sehe Tränen in seinen Augen: "Es tut mir leid Joscha ..."

"Du kannst Joa zu mir sagen, wirklich! Das ist in Ordnung."

"Joa", beginnt er noch einmal, "es tut mir leid, ich kann einfach nicht anders. Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist, wenn ich dir das jetzt sage. Doch wenn ich es nicht mache, dann werde ich mich vielleicht ewig dafür hassen, deswegen tu ich es. Joa, ich habe mich verliebt. Ich habe mich in dich verliebt. Es war wie ein Pfeil, den Amor in mein Herz schoss, als ich dich am Stand vorhin sah. Und ja, ich stehe auf Jungs. Doch du bist der erste, bei dem mich dieser Pfeil traf, ganz unvorbereitet und mitten hinein. Bitte verzeih mir. Ich weiß ja nicht mal, ob du eine Freundin hast. Ach was rede ich. Du musst eine Freundin haben. Weshalb solltest du denn keine haben, welcher Junge wie du, würde denn allein sein wollen." Dabei atmet Jo heftig, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus. Er konnte nicht einmal richtig Luft holen.

Ich bin völlig platt nach diesem Geständnis und ich ringe nach einer Erklärung, nach einem Satz, der beschreibt, was ich gerade denke. Doch den finde ich nicht: "Jo, ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll. Das ist alles sehr überraschend für mich. Und auch wieder nicht." Ich suche nach Formulierungen. Es fällt mir schwer in Worte zu fassen, was ich sagen möchte. Das verzweifelte Gesicht Jo's, sein gesenkter Blick tun ihr übriges, bringen mich dazu etwas zu machen, was ich in meinem Leben noch nie getan habe. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände, drehe es so, dass ich ihm direkt in die Augen sehe. Fast schon aufgegeben fühlt sich Jo an. Seine Schultern hat er fallen lassen, seine Arme hängen bewegungslos an ihm, sein Gesichtsausdruck ist traurig. Er kann meinem Blick nicht standhalten und schließt seine Augen. Ich kann aber nicht anders. Egal was mein Kopf mir sagt, es ist mir auch egal, dass er mich an meine Freundin Sabine erinnert. Mein Herz sagt etwas anderes, dieses Gefühl ist stärker und dem vertraue ich. Ich streiche mit meinen Daumen über Jo's Wangen, lege ganz vorsichtig meine Lippen auf seine und forme sie zu einem Kuss. Kleine Blitze funken augenblicklich vor meinen Augen. So etwas habe ich noch nie gespürt, sie kribbeln auf den Lippen, schicken Energiestöße durch meinen Körper, zu meinem Herz, lassen es so heftig schlagen, das ich es ganz oben im Hals fühle.

Leben kommt in Jo’s Gesicht, der Kontakt zu seinen Lippen wird enger. Leben kommt auch in seinen Körper, er nimmt seine Arme hoch und hält meine Hüften. Unsere Münder öffnen sich, während sich meine Augen schließen. Unsere Zungen berühren sich sanft, ertasten sich, nehmen Geschmacksproben. Ich kann im Augenblick keinen klaren Gedanken mehr fassen, mein Gehirn scheint ausgeschaltet zu sein. Meine Reaktionen auf Jo werden immer heftiger, unsere Zungen umschlingen sich, während mein ganzer Körper seine Energie auffängt. Ich glühe förmlich, hitzig streiche ich über den Kopf, ziehe ihn an mich heran, während wir unsere Münder aneinander pressen. Ich brenne.


Ich brenne, lege meine Beine über Jo, fasse nach seinem Po, ziehe ihn fest an mich heran, reibe mich an ihm, gebe alles, um ihm noch näher zu sein. Verzweifelt zerre ich an seinem Shirt, ich will seine Haut spüren. Es gelingt mir nicht. Ich bin außer Atem, muss unterbrechen, um Luft zu holen. Ich stütze mich hoch und blicke in glänzende Augen, in denen sich noch die Lichter des Baumes spiegeln. Ich ringe nach Luft, will das aber nicht beenden, will weiter, bin so erregt, dass ich mich nicht bremsen kann. Ich streife mein Shirt ab, lasse meine Hände unter seines gleiten und ziehe es ihm aus. Meine Lippen landen auf seinem Hals, sie beginnen sich abwärts über seine Haut zu küssen. Ich umspiele seine Brustwarzen mit meiner Zunge, Jo biegt sich unter mir, atmet heftig. Immer weiter gleite ich hinab, öffne ihm die Hose, welche er sich bereitwillig ablegen lässt. Ganz vorsichtig berühre ich ihn, setze einen Kuss neben den anderen, übertrage meine Liebe vollständig auf ihn. Jo streckt sich mir entgegen, lässt keinen Zweifel an seiner Bitte um Aufnahme. Ich erfülle sie ihm und fühle allerhöchste Hitze, schmecke erste Vorboten, ergebe mich völlig seinem Drängen und gleite über ihm auf und ab.

Langsam gebe ich ihn wieder frei und küsse mich zurück zu Jo's Mund, wo mich seine Zunge schon sehnsüchtig erwartet. Wir ringen um die Vorherrschaft im Gebiet des anderen, während ich von Jo's Händen geschickt meiner restlichen Sachen entledigt werde. Nicht nur das, Jo gibt mir mit wenigen Handgriffen deutlich zu erkennen, welche Richtung ich einschlagen muss, um in ihn einzutauchen. Beide lassen wir unseren Gefühlen freien Lauf. Jo hält mich und animiert mich zu Bewegungen, die ihm heftigste Töne entlocken. Unsere Körper reiben sich im Schweiß aneinander, ich spüre unglaubliche Reize, die mich immer heftiger werden lassen. Ich fühle Jo, treibe ihn an, spanne meine Bauchmuskeln, um ihn mit auf und ab zu nehmen. Jo krallt sich an mich, schlingt seine Beine um mich und hebt sich mir entgegen. Ich spüre ihn so nah an seinem Höhepunkte, dass es mich sofort in eben den gleichen Zustand katapultiert. Ehe ich die Gelegenheit habe mich zurückzuziehen, verhindert Jo das mit festem Griff. So geben wir uns gleichzeitig den Beweis unserer Liebe. Und die Entlastung scheint kein Ende nehmen zu wollen, zahlreiche Schübe heißer Liebe verlassen unsere Körper, um sie dem anderen zu spenden. Völlig erschöpft liegen wir minutenlang aufeinander, immer noch vereint. Jo hält mich fest, ich küsse seinen Hals. Bald streicht er zart über meinen Körper und erst als unsere Atmung abgeflacht ist, das Herzrasen zu einem vernünftigen Herzschlag zweier Liebender geworden ist, lege ich mich neben ihn, ohne jedoch den engen Körperkontakt zu unterbrechen.

"Du bist einfach der Wahnsinn", säuselt mir Jo ins Ohr, "mich einfach so, mitten in der Nacht zu überfallen ..."

"Entschuldige!", stammle ich wenig ernst gemeint.

"Nichts da! Niemals kannst du das ungeschehen machen, keine Sekunde möchte ich verpasst haben und daran werde ich mich ein Leben lang erinnern, an die schönste Weihnachtsnacht aller Zeiten", flüstert er zu Ende.

"Dich liebe ich über alles Jo! Für dich werde ich da sein, immer dann, wenn du mich brauchst", hauche ich ihm zu und liebkose dabei sein Ohr.

"Und ich dich erst", kommt es zurück, "von mir aus kannst du mich jede Nacht um vier so wecken mein herzallerliebster Joa."

Jo greift nach der Wolldecke, zieht sie über uns und küsst mich noch einmal intensiv, bevor er sich an meine Schulter schmiegt und sanft seine Augen zufallen lässt.

Im Augenwinkel sehe ich die Ziffern des Leuchtweckers, 4:44 zeigt er an. Ich bin immer noch etwas aufgewühlt von meinem Traum und der Realität, kann nicht schlafen. Jo's unsicheres Gesicht vor dem Hintergrund der untergehenden Herbstsonne sehe ich wieder vor meinem geistigen Auge erscheinen. So lieb, so bittend er mich ansah, so nah und angekuschelt, so warm und so zufrieden liegt er bei mir. Ich fühle mich glücklich. Und froh, vor allem darüber, ihn angenommen zu haben im Oktober, meinen Gefühlen gefolgt zu sein. Um Nichts in der Welt möchte ich es jetzt anders haben. - Ist das wirklich alles wahr, was ich hier erlebe? -

Es wird gegen elf sein, als ich merke, wie Jo sich reckt. Mühsam öffne ich meine Augen, blinzle in Jo's Gesicht, dass nur wenige Zentimeter entfernt ist.

Er sieht so süß aus, wenn er verschlafen zurück blinzelt: "He mein Liebster!"

"He mein Allerliebster!", toppt er meine Anrede.

"Was hältst du davon, wenn wir uns heute gar nicht hier wegbewegen, sondern uns kuschelnder Weise durch diesen Feiertag schleichen?", frage ich, denn genau das ist es, was ich jetzt möchte. Kuscheln bis zum Gehtnichtmehr. Und das stelle ich auch unter Beweis. Und an Jo's heißen Körper kann man sich ankuscheln, das ist sicher.

"Gern“, kommt es zurück, "aber es wäre unfair. Unfair Oma gegenüber, die für diesen unvergesslichen Abend und für diese unvergesslichere Nacht gesorgt hat."

Ich kann ihm nicht ganz folgen.

"Irgendetwas hat sie mit dem Wein gemacht. Diese Feuerzangenbowle hatte etwas Magisches. Ich könnte schwören, sie hat mich dazu gebracht, von der schönsten Nacht meines Lebens zu träumen. Oder war es am Ende gar kein Traum?", spielte er den Unsicheren, hob dabei die Decke etwas an, tastete zwischen uns herum, berührte mich an empfindlicher Stelle. "Oh nein, kein Traum! Ich bin sicher, dass ich dies heute Nacht gespürt habe, aber in ganz anderer Position." Dabei hatte er ein schelmisches Grinsen drauf und hielt mich umfasst. "Ich glaube, eine Dusche würde dem Geschundenen gut tun, bevor wir den Weg zu der allerleckersten Gans dieses Weihnachtsfestes auf uns nehmen."

"Du bist unmöglich", kichere ich zurück und hole mir, was ich seit Augenaufschlag schon holen wollte.

Es folgt eine wilde Knutscherei, die nicht ganz ohne Folgen bleibt. Heißt, nachdem wir ansatzweise wiederholt haben, was uns die herrlichste Nacht nennen lässt, droht uns die Uhr mit der nahenden Mittagsstunde. Natürlich hätten wir gern den Tag hier verbracht, doch Jo will seine Großeltern nicht enttäuschen, hat es ihnen versprochen. Und es wäre wirklich unfair, nicht pünktlich um eins zu Mittag zu erscheinen, zumal seine Eltern schon nicht dabei sind.

Also verlassen wir das warme Nest und steigen unter die Brause, wobei uns das gestartete Kurzprogramm der Waschmaschine den Zeitpunkt der Vernichtung unserer nächtlichen Spuren und unseren Startzeitpunkt ankündigen wird. Deshalb nutzen wir beide gleichzeitig die geräumige Dusche, lassen es uns aber nicht nehmen, uns bei dieser Gelegenheit gegenseitig einzuseifen und zu verwöhnen. Selbst das gegenseitige Rasieren unserer Gesichter lässt sich in dieser knapp bemessenen Zeit erledigen. Und beim Abrubbeln mit den extrem weichen Badetüchern, streifen mich schon wieder Schauer, die meine Haare am ganzen Körper aufstellen lassen.

"Joa, das geht nicht!", feixt Jo, "wenn ich dich so mitbringe, dann bekommst du am Ende von Opa die knusprige Honigkruste übergebraten. Und was speise ich dann in der kommenden Nacht?"

Dafür muss ich ihn einfach küssen. Habe ich schon gesagt, dass ich diesen Jungen über alle Maßen liebe?

Dann geht alles schnell. Jo's geübter Griff befördert für uns beide festliche Sachen zu Tage, die auch mir passen und nach Meinung Jo's ausgezeichnet stehen. Passend dazu entscheide ich mich heute für einen Pferdeschwanz, worauf Jo nur mit dem Kopf schüttelt und mich küsst, weil ich so großartig aussehe. Nebeneinander vor dem Spiegel geben wir zwei prima aussehende Jungs ab, die drauf und dran sein könnten, den Festtagsgästen die hübschen Töchter zu entführen, wenn sie nicht selbst schon miteinander verbandelt wären. Ein prüfender Blick, Kontrolle der mitzunehmenden Dinge, und schon sind wir die Treppe hinunter. Auf Grund der knappen Zeit schnappen wir uns die Fahrräder der WG, ich darf das nutzen, mit welchem sonst Leon unterwegs ist.

Die Wege sind gut ausgebaut, weshalb wir recht schnell vorankommen. Wir sind auch die einzigen, die am ersten Feiertag mit den Rädern durch den Teutoburger Wald fahren. Die perfekt funktionierende Gangschaltung des Rades hält meine Anstrengung in Grenzen. Es fährt sich gut, wenn man nur folgen muss. Ob ich mich so ohne weiteres zurückfinden würde?

Schon bald ist wieder Zivilisation in Sicht. Den Wald hatte ich mir größer vorgestellt.

Jo steuert zielsicher durch die Straßen und biegt dann in einen Hof ein, im welchem wir unsere Räder abstellen: "So, da wären wir."

Wir betreten den Hintereingang und kommen direkt an der Rezeption vorbei, die, so meint Jo, ungewöhnlicher Weise unbesetzt ist. Darum würde sich sonst Kerstin kümmern.

Wir gehen in Richtung Küche, aus welcher schon heftige Ansagen zu hören sind, keine bösen, aber bestimmte.

Als wir von hinten durch die Küche gehen, schreckt ein Mann auf: "Jo, dich schickt der Himmel!"

"Oh, eigentlich hat mich Oma eingeladen", reagiert Jo witzig.

"Ja hat sie sicher. Bei uns ist Land unter." Keine Reaktion auf den Witz.

"Oh!"

"Aber komm erst mal her mein Junge!"

Opa wischt sich die Hände an der Schürze ab und umarmt Jo: "Claudia hatte einen Unfall und Markus ist auch noch nicht von da zurück. Es klemmt mächtig. Kerstin hilft mir hier sehr gut, nur vorn in der Gaststube ist Chaos. Ich weiß, dass du eingeladen bist, aber vielleicht kannst du uns helfen, Oma steht Kopf da vorne. Geh mal zu Oma und hilf ihr, bitte!" Opa macht einen verzweifelten Eindruck, weist aber Kerstin gleich korrekt an, was ihre nächsten Schritte sind. Sie hat nicht mal Zeit uns zu begrüßen, lächelt nur und hebt kurz die Hand.

"Klar Opa, keine Frage", antwortet Jo und bestimmt, "Joa hilft auch mit, der kennt sich aus!"

"Oh, entschuldige Junge, habe dich gar nicht bemerkt," entschuldigt sich Opa bei mir, "ich danke dir schon mal, es soll auch nicht umsonst sein. Aber bitte macht los, dass wir die Essen raus bekommen!"

Ich nicke Opa zu. Und schon während wir nach vorn gehen, ziehe ich meine Jacke aus und schaue mich nach einer Garderobe um. Ah, gleich hier.

Wir kommen hinter dem Tresen raus und ich sehe eine ältere Frau hinten durch die Gaststube laufen.

Als sie uns sieht, steuert sie sofort geradewegs auf uns zu: "Jo, hallo! Hast du mit Opa gesprochen?"

"Hallo Oma! Ja, haben wir und wir helfen gleich mit, sag bitte, was Joa und ich machen können!"

"Ja hallo, bitte verzeih, ich komme einfach nicht nach. Und du bist ...?"

"Joscha, aber bitte sagen Sie Joa zu mir", antworte ich und ergreife ihre Hand, die sie mir hinhält.

"Ist gut, bitte verzeih Joa, aber ich brauch euch, hoffentlich überfordere ich dich nicht. Jo hat schon zwei, drei Mal ausgeholfen, der weiß wie es geht, Aber du ...?"

"Oma, Joa kennt sich aus!", unterbricht Jo ihre Zweifel energisch.

"Oh, ok. Dann bitte: Zwei Minuten. Ihr seht klasse aus! Bitte legt ab, schnappt euch zwei Fliegen. Jo, du weißt wo sie liegen, denn ein bisschen Stil muss sein! Und dann erst mal das Essen auf die Tische!"

Ein kurzes Nicken, wir verschwinden in 'Privat' und Oma greift sich drei Teller und geht in den Gastraum. Jo wirft seine Jacke ab und öffnet eine große Schublade. Dort liegen allerlei Kleidungsstücke, Barschürzen mit Rüschen, Haarspangen mit Kranz und so weiter und auch Fliegen.

Er kommt auf mich zu: "Tut mir leid Joa, sieht so aus, als wären wir die letzte Rettung, also geht das jetzt vor. Bist du dabei?"

"Selbstverständlich!", betone ich und lasse mir von Jo schnell die Gummizugfliege unter den Hemdkragen legen. Ungewohnt ist das nicht für mich. Ich helfe Jo mit dem Kragen, dann sind wir schon wieder draußen bei Oma.

"Eigentlich ganz einfach Joa. Im Uhrzeigersinn die Tische abzählen, die Nummern stehen hier an den Tellern. Einfach raus damit und fragen, was für wen. Die Zettel dann hier auf den Tresen und dann die nächsten. OK?"

"Ja, kein Problem!", kommentiere ich und folge Jo zur Ausgabe. Jo nimmt zwei Teller. Ich erkenne sofort, dass das für einen Sechsertisch ist, lege mir kurzerhand drei Teller auf den linken Arm und den letzten nehme ich in die Rechte und ab geht's. Oma macht große Augen. Erst will sie zugreifen, aber als sie sieht, dass ich die Teller sicher habe, geht sie sofort ein Schritt zurück.

Ruckzuck ist der Tisch bedient.

Auch Jo war erstaunt, als ich ihm mit vier Tellern gefolgt bin: "Du hast das aber drauf!"

"Gelernt ist gelernt, gibt ja nicht immer nur Häppchen und Schnäpschen", grinse ich ihn an.

"Ich bekam aber nichts von beidem!"

"Tja", zucke ich mit den Schultern, "dafür aber ein Aufputschgetränk."

"Cola gab es!"

"Richtig, eine echte Vita mit dem Schuss Zitrone, ostdeutsches Kultgetränk!", kann ich mir nicht verkneifen und muss mich fast ausschütten vor Lachen, als ich Jo's Gesicht sehe.

"Jungs, los!", treibt Oma an.

"Immer noch lachend verteilen wir die Teller weiter. Und das steckt an. Die Gäste grinsen und geben lustige Kommentare. Alle sehen, dass es jetzt fix geht und sind entsprechend entspannt. Kurze Zeit später ist der Stau abgearbeitet und jetzt hat die Küche zu tun, dass sie nachkommt. Das nutzt Oma, um sich bei den Gästen für die Geduld zu bedanken, erklärt kurz die Situation. So erfahre auch ich, dass sich Claudia beim Weihnachtsrodeln den Arm gebrochen hat und sich ihr Partner Markus noch um sie kümmert, denn sie sind in Österreich, wollten normaler Weise am frühen Vormittag des Heiligen Abends zurück sein. Wir werden vorgestellt als Enkel Jo und als Joa, ein Freund. Zufriedenes Murmeln ist zu hören. Und als Oma als Dankeschön für die Geduld allen Gästen ein Freigetränk spendiert, gibt es sogar Applaus und mein leiser Kommentar: "... sein Freund ..." geht unter.

Für uns bedeutet das jetzt hintereinander weg zu bedienen.

Als ich sehe, dass Oma, getrost dem Motto 'Tisch eins als Erster, Tisch zwei als Zweiter ...' Getränkebestellungen aufnimmt, gebe ich Jo die Anweisung weiter das Essen auszuteilen, welches in der Ausgabe ankommt. Jo nickt mir zu, während ich mir einfach einen Zettelblock und einen Stift schnappe und zuerst dort Bestellungen aufnehme, wo noch kein Essen ist, denn die müssen ja noch etwas warten. Tischnummer auf den Zettel, vorsichtshalber für die Getränkewünsche keine Abkürzungen, sondern ausgeschrieben, damit nichts Verkehrtes ankommt.

Unterwegs treffe ich Oma, die überrascht die von mir geschriebenen Zettel annimmt: "Bitte gehen Sie hinter den Tresen, ich mache hier weiter!"

Oma stutzt und sagt: "Klasse! Und bitte sag Marlis zu mir und Günter ist mein Mann, der Koch!"

"Geht in Ordnung Marlis!", und schon bin ich am nächsten Tisch. Nach den nächsten beiden Bestellungen bringe ich die Zettel nach vorn und kann mit dem Tablett schon die ersten Getränke servieren.

Mit dem Bier dauert es ein wenig, ein gutes Bier muss eben sieben Mal gezapft werden. So habe ich Zeit Jo beim Austragen zu helfen und weitere Tische abzufragen. Es geht jetzt zügig, vier Hände merkt man eben. Neue Gäste kommen, ich begrüße Sie, bitte sie nach deren Namennennung an die reservierten Tische, die Namen hatte Oma schon platziert. Es waren auch Gäste für das Hotel dabei. Die bitte ich erst einmal Platz zu nehmen und zu speisen, Einchecken könnten sie dann anschließend, denn ich weiß ja, dass Kerstin in der Küche steckt. Das lässt sich niemand zwei Mal sagen, so füllt sich der sowieso schon gut besuchte Gastraum schnell.

In der Küche läuft es wie beim Brezelbacken, die hat Opa im Griff. Zwischendurch springt Jo immer mal wieder an die Zapfanlage und füllt das Bier nach, wenn sich der Schaum gesetzt hat. Bald ist bei fast allen Gästen nur das zufriedene Schmatzen zu hören, Opas Gänsebraten muss wirklich der Geheimtipp hier sein. Außer ein paar Kindern, bestellen die allermeisten Gäste die halbe Gans. Oder eine Keule oder Brust. Dazu Kräuterklöße nach Hausmanns Art und deftiger Rotkohl mit gespickter Zwiebel.

Allein die Soße ist eine Offenbarung. Ich kann sie schon einmal mit einem halben Kloß probieren, denn Oma besteht darauf, dass wir zwischendurch genug trinken und eine kurze Pause machen, um etwas zu essen, als sie erfährt, dass wir gar nicht gefrühstückt haben.

Wir haben unseren Rhythmus gefunden, jeder sieht, wo gerade mehr zu tun ist und unterstützt. Ansonsten nehme ich die Bestellungen auf, serviere die Getränke, räume ab, hole Nachschub und fülle auf. Jo bringt das Essen, wobei wir aufpassen, dass alle an einem Tisch zur gleichen Zeit bedient werden, dann gehe ich mit. Außerdem hat Jo die Zapfanlage unter Kontrolle, während Marlis die anderen Getränke ausschenkt, den Überblick behält und kassiert.

Jetzt wollen die ersten Hotelgäste für heute einchecken. Ich frage Marlis danach, doch sie kann nicht weg, bittet mich aber einfach im Anmeldebuch nachzusehen und die Schlüssel heraus zu geben. So einfach wollte ich es aber nicht machen. Ich serviere nur schnell die Bestellungen und geleite dann die Gäste hinaus zur Rezeption. Das Anmeldebuch liegt bereit. Ein kurzer Blick sagt mir, dass sich die Gäste eintragen müssen. Das verschafft Zeit. Inzwischen habe ich den Schlüssel und die Zimmernummer gefunden. Davon ausgehend, dass alles wie bisher tadellos vorbereitet ist, geleite ich die Gäste durch das Haus. Zimmer vierzehn, also erste Etage Zimmer vier. Ganz leicht. Ich öffne das Zimmer übergebe den Schlüssel. Ein Handgeld lehne ich höflich ab und bitte die Gäste, sich dafür lieber später bei der Wirtin zu bedanken, das wäre der schönste Lohn an einem solchen Tag.

Unten steht schon das nächste Tablett mit Getränken bereit.

Nach und nach ebbt das Mittagsgeschäft ab. Trotzdem wird es nicht langweilig. Gleich heißt es: Frisch eindecken für die Kaffeetafel. Andere Laufgäste und die aus dem Hotel werden erwartet. Die Weihnachtsmusik wird stimmungsvoller und besinnlicher.

Es bleibt nur kurz Zeit zu verschnaufen. Für zwei knusprige Flügel und endlich auch für den duftenden Rotkohl ist aber Zeit. Alle zehn Finger möchte ich mir ablecken, so geschmacklich perfekt ist dieses Essen.

Jo ist kurz verschwunden. Ich sehe ihn durch das Küchenfenster auf dem Hof telefonieren, als ich mein Geschirr zurück bringe.

"Hi, woher kommst du? Was machst du? Weshalb kommst du mit Jo? Bleibst du heute bis nach dem Weihnachtsabendtrunk? Hast du das schon öfter gemacht? Wo ist deine Familie? Studierst du auch? Wohnt ihr zusammen? Hast du ne Freundin? Wo kommst du überhaupt her? Hat die schon mal jemand gesagt, dass du geil aussiehst mit dem Zopf? ...", überschüttet mich Kerstin in der Küche ohne Luft zu holen.

"Ähm ... Ja!", sage ich nur, werde aber sogleich von Jo erlöst.

"Komm mal her, ich muss dir was sagen!", winkt er mich ins Privatzimmer.

Ich habe da eben etwas eingerührt. Ich habe, besser wir haben ja nichts für Oma und Opa zu Weihnachten mitgebracht. Und dafür, dass sie uns einladen wollten, möchte ich mich in unser beider Namen bedanken. Deshalb kam mir die Idee, eine Spontan-Gesangs-Einlage zu organisieren. Ich habe das mal an der Uni mit ein paar Leuten gemacht, als wir einer Kommilitonin zum einundzwanzigsten Geburtstag gratuliert haben. Das war megageil.

Ein paar Jungs aus dem Knabenchor habe ich angerufen, in welchem ich früher mal aktiv war und heute ab und zu mal verstärke, wenn es klemmt. Ist übrigens inzwischen ein gemischter Chor, zu wenig Jungs. Die müssen alle mal raus in den Feiertagen und hinter dem Tannenbaum vorkriechen.

Die rufen jetzt weiter rum und bringen noch andere mit. Heute Abend werden sie zum traditionellen Weinachtstrunk hier aufschlagen, singen und einfach wieder verschwinden. Das wird ein Gag. Habe auch meinen Kumpel angerufen, der ab und an mal was für die Bielefelder Zeitung schreibt. Der soll das rausbringen, zu den Feiertagen passiert sonst nicht viel Berichtenswertes. Was meinst du?"

"Das ist eine klasse Idee! Darf ich da auch mitsingen?"

"Aber na klar, ich bitte sogar darum! So wie gestern. Hauptsächlich die amerikanischen Weihnachtslieder."

"Ok, danke!"

Die Kaffeezeit beginnt, die bekannte und beliebte Stolle vom ortsansässigen Bäcker und eine Vielzahl verschiedener Kekse werden den Gästen angeboten, dazu Kaffeespezialitäten und heißer Kakao. Bis kurz nach siebzehn Uhr läuft das so, reichlich entspannter als zu Mittag.

Und dann heißt es schon wieder: Umbauen und Umdecken für das Abendmahl.

Der berühmte Kartoffelsalat, den wir gestern Abend schon hatten, und die traditionellen heißen Würstchen in allen Varianten werden heute auch für die Küche einen eher ruhigen Ausklang geben. Und diese Speise wird gemütlich in Sitzgruppen um den Tannenbaum, der in der Gaststube steht, angeboten. Feuerzangenbowle, für den der mag und darf, oder dunkles Bier vom Fass oder natürlich alle antialkoholischen Getränke werden bereit stehen.

Abgemachter Maßen wird es Jo's und meine Aufgabe heute Abend sein, uns um den Nachschub für die Gäste zu kümmern. Die Großeltern sollen sich ein wenig entspannen können.

Kerstin wird sich um die Hotelgäste kümmern, zumindest ist das unser Plan.

Nach dem Kaffee und dem Umbau tritt ein wenig Ruhe ein, Opa kann endlich mal die Schürze weglegen und zu uns kommen.

"Jungs, das habt ihr großartig gemacht!", lobt er mit begeisterten Augen. "Hatte schon das Schiff sinken sehen heute Mittag. Ich bin euch unendlich dankbar. Ich glaube Marlis hätte das nie und nimmer allein geschafft. Und du Joa, du warst einfach eine Wucht! Ich habe dich wirklich in mein Herz geschlossen. Das lief wie am Schnürchen. Kein Gast hat auch nur in irgendeiner Weise was zu bemängeln gehabt, nur positives Feedback. Komm her und lass dich umarmen!"

Ich bin gerührt, Opa nimmt seine kräftigen Arme und drückt mich fest an sich. Er ist ehrlich erleichtert, alles hat gepasst.

Dann legt er Jo den Arm um die Schulter: "Na Junge, wie steht's bei dir? Wirst du uns bald deine Freundin präsentieren?"

'Ups, falsches Thema', denke ich und Jo blickt auch gleich verstohlen, hilfesuchend zu mir.

"Nein!", klare Aussage.

"Wieso? Ein junger Mann wie du, muss sich doch längst verliebt haben", provoziert Opa.

Für mich wäre hier jetzt Schluss gewesen, ich würde gar nicht reagieren, doch Jo sieht das anders. Er scheint entschlossen zu sein: "Natürlich, das hab ich mich auch Opa und zwar bis über beide Ohren!"

"Und du willst uns nicht sagen, wer sie ist?"

"Kann ich nicht."

"Wie, kannst du nicht? Ist deine Liebe nicht vorzeigbar?", Opa scheint jetzt neugierig geworden zu sein.

"Doch, sehr sogar."

"Ja und?"

"Naja, du kennst sie schon."

Mein Herz schlägt bis zum Hals.

"Ich kenne das Mädchen schon?"

"Nein, kein Mädchen, ein Junge!"

"Was? Ein Junge? Du willst mich veralbern!"

"Nein Opa, ich liebe einen Jungen, von ganzem Herzen!"

Meine Aufregung bei diesem Wortwechsel erreicht schlagartig ihren Höhepunkt. Nämlich in dem Augenblick, als nach Jo’s letztem Wort Opas Hand das Gesicht meines Geliebten trifft. Nur einmal und bestimmt auch nicht hart, aber für mich war es, als hätte ich diese Hand abbekommen. Plötzlich ist Ruhe.

Jo bricht sofort in Tränen aus und rennt aus dem Raum.

Auch mir stehen die Tränen in den Augen und ich weiß nicht, was ich tun soll. Jo hinterher laufen oder Günter verprügeln, wie konnte er das tun? Doch ich bin wie gelähmt, kann mich nicht bewegen. Ich stehe da und mir laufen die Tränen.

Günter blickt auf seine Hand und scheint nicht zu fassen, was eben passiert ist. Er hebt an, um etwas zu sagen, bricht jedoch ab, als Marlis hereingestürmt kommt.

"Was ist hier los?", fragt sie erzürnt, "Was habt ihr mit Jo gemacht? Wieso rennt der Junge heulend hinaus?"

Als sie mich weinend und erstarrt stehen sieht, greift sie Günter an: "Was hast du gemacht Günter? Sind die Pferde wieder mit dir durch gegangen?"

"Der Junge ist schwul!", verteidigt er sich.

"Ja und?", fragt Oma scharf.

"Was na und, der steht auf Kerle! Er sagt mir ins Gesicht, dass er einen Kerl liebt. Sicher so einen abgewrackten Idioten, der Drogen schnüffelt, Jungs anmacht und sie verdreht. Und von so einem lässt er sich ... was weiß ich, was die machen. ... Da glaubst du, alles ist in Ordnung, und da sagt er dir, dass er schwul ist!"

Ich schluchze laut auf, das tut so weh ... nicht das Wort ... doch das auch, ich hasse es! ... Aber noch viel mehr schmerzt es mich, dass der, auf den ich eben noch so große Stücke gehalten habe, dass gerade der sich gegen meine Liebe stellt, meinen Jo verletzt und sich als ..., dafür fehlen mir die Worte, entpuppt.

"Ja und das glaubst du?", stellt ihn Marlis zur Rede.

"Er hat es doch gerade gesagt."

"Ja na und? Der Junge gesteht dir sein intimstes Geheimnis und du drehst durch?"

"Aber, wenn er sich doch von solch einem verkorksten Individuum begrapschen lässt und sowas auch noch liebt und meint ich würde den auch noch kennen?"

"Du bist ein Hornochse Günter!", schreit Marlis ihn an, "Und du glaubst noch an den Schwachsinn, den du hier erzählst?"

"Na wenn es doch wahr ist ..."

"Was ist wahr? Dass unser Jo auf Jungs steht? Na und!! Und dass er in einen verliebt ist? Ja, unter Garantie!", Marlis ist voll in Fahrt, "Und dass du ihn kennst!? Natürlich kennst du ihn! Und er ist der liebenswürdigste Mensch, der mir in den letzten Wochen begegnet ist. Und er hat uns hier den Arsch gerettet, verdammt noch mal!"

Günter blickt verwirrt auf.

"Du bist ein riesiger Hornochse, verdammt! Du bist der Idiot und sowas von blind Günter!"

"Wieso?", fragt Günter wohl wirklich ahnungslos.

"Weil du davor stehst!", fast unbemerkt hat sie sich neben mich gestellt. Sie fasst meine linke Hand und hebt sie sacht an.

"Joa? Er liebt Joa?", Günter ist völlig entgeistert.

"Was glaubst du denn, weshalb der Junge mit seinem Weihnachtsgast, mit diesem Weihnachtsengel hier zu uns kommt? Dass er uns zuerst den Menschen vorstellt, den er am meisten liebt? Und das noch vor seinen Eltern? Weil er das schon immer so getan hat. Er hat uns immer zuerst ins Vertrauen gezogen. Wir waren seine Ratgeber. Und er hat sich nicht damit versteckt. Schau!" Dabei weist sie auf den Ring, der an meinem kleinen Finger steckt. "Den haben beide Günter, hast du das nicht gesehen? Sie sind ein Paar und Jo hat sich dir heute geöffnet, er war herzensehrlich zu dir. Und die Jungs haben uns heute hier vor einer elenden Pleite bewahrt, alle beide! Und du brichst dem Jungen das Herz und zerstörst ihn und machst seinen Freund hier nieder?!"

Marlis lässt meine Hand sinken, dreht sich von Günter weg und nimmt mich jetzt ganz fest in beide Arme. Ich heule immer noch, unfähig zu einer körperlichen Bewegung.

Günter ist soeben blass geworden. Er ist auf einen Stuhl gerutscht und rauft sich die Haare: "Ich bin ein gottverdammter, blöder Idiot. Was habe ich da angerichtet? Das darf doch alles nicht wahr sein."

Ein paar Minuten später habe ich mich ein wenig beruhigt, Marlis' großmütterliche Hände tun ihr übriges, sie streichen sanft über meinen Rücken und über meinen Kopf.

Mit einem Mal steht Günter vor uns, Marlis tritt einen Schritt zur Seite: "Ich weiß, ich bin aufbrausend und impulsiv. Ich sage immer sofort, was ich denke. Das hat mir meist geholfen, aber auch schon in die Bredouille gebracht. Ich kann es oft nicht kontrollieren. Dann, wenn es schneller meinen Mund verlässt, als der Verstand es gefasst hat, war es nie gut. Doch den größten Mist habe ich heute verzapft und es tut mir außerordentlich Leid Joa. Eben noch drücke ich dich an mein Herz und eine Minute später beschimpfe ich dich auf das Übelste. Ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. ... Marlis hat recht, ich bin ein Hornochse und blind. Wie konnte mir das nur entgehen. ... Glaube mir bitte, ich habe überhaupt nichts gegen dich! Alles, was ich vorhin zuerst sagte, hat Bestand. Und wenn du es irgendwie kannst, vergiss alles, was ich dann gesagt habe, als ich Jo und dich beschimpfte. Ich nehme alles zurück und ich wünschte, es wäre mir nie über die Lippen gekommen."

Er streckt seine Hand in Richtung meines Gesichtes. Reflexartig zucke ich zurück, lasse ihn aber doch gewähren. Er legt sie auf meine Wange und streicht darüber: "Bitte verzeih mir!"

Ich spüre ehrliche Reue, seine trüben Augen und seine Schamröte spiegeln dies wieder. Ich nicke: "Aber was ist mit Jo?"

"Ich danke dir Joa, wirklich. Ich fühle mich so beschämt. Ich weiß nicht, weshalb ich so reagiert habe", entschuldigt sich Günter noch einmal bei mir, "ich möchte dich bitten, mich zu Jo zu begleiten. Ich denke, ich weiß, wo er ist. Ich möchte das jetzt gleich klären, und ich möchte, dass du dabei bist."

"Ist gut, ich bin dabei."

Marlis nimmt mich noch einmal kurz in den Arm: "Er ist ein guter Mann, seine Art Überzureagieren, ist sein einziger Fehler. Aber wenn er eingesehen hat, dass er im Unrecht ist, gibt er das sofort schnell zu. Deswegen sind wir auch schon so lange verheiratet. Vertrau mir Joa, er meint es wirklich ehrlich." Dann küsst sie mir die Stirn.

Ich nicke dankend und laufe Günter schnell nach. Er wartet auf mich.

Wir gehen hinten da aus dem Haus, wo Jo und ich heute Mittag hinein gingen, überqueren den Hof und treten in eine Tür neben dem Wohngebäude. Direkt dahinter führen schmale Stufen nach oben, wir gelangen auf einen Zwischenboden, über dem Leinen gespannt sind und reihenweise Tischdecken und Serviettentücher zum Trocknen hängen. An der einen Giebelseite geht eine weitere schmale Holztreppe hinauf auf den Oberboden. Auf der obersten Stufe erkenne ich Jo, der dort, das Gesicht in die Hände gestützt, sitzt.

"Jo, mein Junge", versucht Günter ihn anzusprechen.

"Was willst du, geh weg!", blafft ihn Jo an, ohne sich zu bewegen.

"Du hast allen Grund wütend auf mich zu sein."

"Ja, damit hast du ins Schwarze getroffen, das bin ich!"

"Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, was ich getan habe, es ist der größte Fehler gewesen, den ich je gemacht habe."

"Damit hast du verdammt nochmal Recht!"

"Jo, ich bitte dich, hör mir zu! ..."

Jo hebt seinen Kopf. Er blickt von dieser halbdunklen Stelle aus, mit seinem verweinten Gesicht die Stufen hinab.

"Du kennst mich", beginnt Günter, "schon seit du geboren bist. Und du weißt, dass ich immer mal überreagiere. So gern ich das vermeiden möchte, leider passiert es mir immer wieder. Aber du weißt auch, dass ich mich dafür immer entschuldige und ich es zugebe, wenn ich im Unrecht bin. ... Und heute ist so ein Tag. Ich habe dir Unrecht getan, ich habe euch Unrecht getan! Denn Joa ist ein großartiger Junge! ... Was ich sagen will, es ist alles so neu für mich Jo. In meinem Kopf habe ich dich schon mit einer Frau und deinen Kindern, meinen Urenkeln zu Weihnachten gesehen. Dass du uns einen jungen Mann mitbringst, und mein Traum mit einem riesigen Knall platzt, das war eine echte Überraschung."

"Opa," unterbricht Jo, der unerwartet schnell auf Günter reagiert, "du hast Recht, es ist eine Überraschung, doch das eine muss das andere ja nicht ausschließen."

"Wie meinst du das?"

"Naja, Joa und ich kennen uns jetzt gut zwei Monate und wir lieben uns wirklich sehr. Über unser weiteres Leben haben wir noch gar nicht gesprochen, doch es soll heutzutage auch schon gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern geben. Nur lass uns bitte Zeit damit!"

"Soll das heißen, dass du mir verzeihst?"

"Opa, ich kenne dich. Ich würde es nicht tun, jedenfalls nicht so schnell, wenn du nicht Joa im Rücken hättest. Das zeigt mir, dass er dir verziehen hat, weshalb sollte ich es dann nicht tun?"

"Ich danke dir Jo, ich danke dir von ganzem Herzen! Und bitte, gib mir noch etwas Zeit, mich daran zu gewöhnen."

Opa macht noch zwei Stufen auf Jo zu und umarmt ihn.

So dicht liegen Freud und Leid nebeneinander.

Ich freue mich, dass Opa ein so direkter Mensch und ehrlich genug ist, sofort seinen Fehler einzugestehen.

"Ihr habt natürlich den Abend jetzt frei", beendet Opa die Situation, der Geschäftsmann kommt jetzt durch, "Marlis, Kerstin und ich werden das da vorn schon schaukeln."

"Nichts da!", protestiert Jo, "Wir werden euch natürlich weiter unterstützen, richtig Joa?"

"Selbstverständlich!", bestätige ich meinen Liebsten.

Worauf Opa Jo's Wange streichelt, nämlich die, die er vorhin schlug: "Danke Jo, und verzeih, es tut mir wahnsinnig leid."

"Ist gut Opa, es tat nicht weh."

Opa kommt die Stiege herunter und umarmt mich noch einmal genau so herzlich, wie vorhin: "Herzlich willkommen in der Familie Joa!"

"Danke!", ist alles, was ich hervorbringe.

Opa sieht mir noch einmal in die Augen: "Sei lieb zu ihm! Ich vertraue dir!"

"Ganz bestimmt!", bestätige ich.

Damit geht Opa wieder hinunter und hinüber in die Wirtschaft.

"Komm hoch!", ruft Jo, "ich zeige dir mein Reich."

Dort oben ist es wirklich gemütlich. Unter dem Dach, mit zwei großen Dachfenstern, findet sich eine Lümmelecke, eine große Liegefläche also, mit 'zig Kissen und Decken, eine kleine Kommode, auf der ein Fernseher steht und ein in die Schrägen gebauter Kleiderschrank.

"Hier werden wir heute schlafen. Denn wenn das da drüben vorbei ist, sollten wir nicht noch im Dunkeln durch den Wald fahren."

"Das ist schön hier oben", gebe ich zu.

Jo umarmt mich, küsst mich. ... Wie hat mir das die letzten Stunden gefehlt. Und besonders jetzt. Doch nun ist ja alles wieder gut. Ich bin froh, dass sich Jo mit Opa wieder versteht. Und ja, ich werde mit Jo lieb sein, ganz bestimmt!

Wir nutzen die Zeit, um uns miteinander zu beschäftigen, vielleicht ein wenig zu viel. Denn wenige Berührungen genügen, um alle Anzeichen äußerster Erregung anzuzeigen. In den paar Stunden, seit dem wir uns wirklich füreinander bekannt haben, sind wir sehr sensibilisiert für diese Empfindungen. Es ist einfach nur schön. ...

Nicht lange, dann habe ich das Gefühl, dass wir in der Gaststube gebraucht werden könnten. Auch wenn jetzt sicherlich noch andere Beschäftigungen möglich wären, sind wir uns einig. Jo sowieso, weil er seinen Großeltern sicher einiges zu verdanken hat und ich, weil mich die Ehrlichkeit und der Wille für Eintracht von Günter und Marlis' resolute Art überzeugt haben, hier richtig zu sein.

"He Jungs", empfängt uns Marlis, "alles in Ordnung bei euch?"

"Ja, natürlich!", antwortet Jo, ich nicke bestätigend.

"Ok, dann lasst es uns angehen! ... Tradition bei uns bedeutet, dass es etwas Besonderes ist. Wir werden die Bowlekrüge nicht einfach so hinstellen, sondern wir werden sie kredenzen!" Oma fummelt uns nebenbei unsere Fliegen zurecht, meinen oberen Hemdknopf schließt sie.

Dabei lächelt sie mich irgendwie sonderbar an: "Du weißt schon, dass du was Besonderes bist? ... Niemals hätte Günter so schnell Frieden gesucht, wenn du ihm nicht bereits ans Herz gewachsen wärst. Das will etwas heißen. Und noch einmal, du bist uns herzlich willkommen Joa, ich bin froh, dass du es bist, dem unser Jo sein Herz geschenkt hat. Und ich hoffe, dass du es wirklich schätzt. Meinen Segen hast du! Sei dir sicher, wann immer ihr Sorgen habt, ich bin für euch da! Und ganz bestimmt auch Günter. So wie er vorhin von euch gesprochen hat, hab ich ihn noch nie von irgendwem sprechen hören. Er hat euch lieb, soviel ist sicher. Und das ist bei diesem 'Klotz' ein Meilenstein. Also, bildet euch was drauf ein!"

"Danke Marlis!", lasse ich sie wissen. "Sei so lieb und sag uns, was wir jetzt tun sollen, es soll doch ein gelungener Abend werden!"

Marlis grinst, sie ist eben Profi. Mit wenigen Worten sind wir eingewiesen. Die Stimmung in der Gaststube ist schon gespannt, denn das Licht wurde auf weihnachtliche Gemütlichkeit herunter gefahren, die Weihnachtsmusik ist außergewöhnlich stimmungsvoll gewählt. Günter hat schon die Gefäße befüllt, allerlei Zutaten kann man in den Krügen schwimmen sehen, sogar Ananasstücken, kleine Sterngewürze und Zimtrollenstückchen. Jetzt setzt er die Zuckerzangen mit den Zuckerhüten auf und übergießt sie. Ein Streichholz wird gezündet und dann brennen die ersten zwei Gläser, die wir bereits in den Händen halten und sofort in die Gaststube tragen. Ganz vorsichtig, bedächtig und ein wenig im Takt der Musik setzen wir sie dann in die vorbereiteten Ständer auf den flacher gestellten Tischen. Wir laufen zurück und holen die beiden anderen brennenden Gläser.

Die Hotelgäste haben sich um die vier Tische gruppiert, die Kinder ebenso mit ihrem Kinderpunsch oder heißen Schokoladen. Günter und Marlis kommen und gesellen sich dazu, jeder von uns übernimmt einen Tisch. Wir füllen die passenden Bowlegläser und wünschen beim Übergeben an die Gäste jedes Mal eine Frohe Weihnacht. Die Wirtsleute sprechen noch einen Dank aus und stoßen dann mit allen Gästen an. Eine wirklich gemütliche Stimmung herrscht.

Ich sehe Jo kurz verschwinden und nach zwei Minuten zurückkommen, in einem Umhang, der gewöhnlich von den Kirchenchorsängern getragen wird. Ihm folgen noch weitere Sänger in die Gaststube, was erstauntes Murmeln hervorruft. Günter und Marlis stehen mittlerweile beieinander und schauen verdutzt. Jo kommt jetzt auf mich zu, fast mich bei der Hand und führt mich inmitten der Sänger. Der Chor beginnt mit 'Silent Night, Holy Night':

"Bimm, Bamm, Bimm, Bamm ...", beginnen die Mitglieder.

Jo deutet mir, gemeinsam mit ihm den Einsatz an:

"Silent night, holy night,

Still the earth, lone the light

Where in Bethlehem watch the blest pair.

Curly haired Infant so tender and fair,

Sleep in heavenly peace,

Sleep in heavenly peace."

"Bimm, Bamm, Bimm, Bamm ...", bleibt der Chor im Hintergrund. Jo zeigt mir mit dem Fingern die zweite Stimme für sich an.

"Silent night, holy night,

Shepherds, hushed, saw the sight,

Heard the angelic Alleluia

Ring, proclaiming from far and near,

Christ the Saviour is here,

Christ the Saviour is here."

"Bimm, Bamm, Bimm, Bamm ...", im Augenwinkel sehe ich Marlis sich die Augen wischen, Arm in Arm mit Günter.

"Silent night, holy night,

Holy Babe, smiles alight,

Radiant, from thy innocent face,

In this saving hour of thy grace,

Christ, our Lord, at thy birth,

Christ, our Lord, at thy birth.", wiederholt der ganze Chor vielstimmig.

(Translator: Elizabeth Poston, ca. 1965)

Andächtige Ruhe herrscht. Doch plötzlich beginnt ein Gast zu klatschen und dann setzt ein Beifallssturm ein, den diese Gaststube ganz sicher noch nie gehört hat. Oma stürzt auf mich zu und umarmt mich überglücklich. Das Gleiche geschieht Jo, er wird von Opa geherzt.

Ach, ist das herrlich! Gänsehautmoment.

Und gut, dass wir gestern schon gemeinsam gesungen haben, so wissen wir, wie sich unsere Stimmen am besten ergänzen.

Inzwischen beginnt der Chor mit weiteren, heiteren, englischsprachigen Weihnachtsliedern, in die wir auch mit einstimmen.

Jo’s Kumpel macht Bilder und kritzelt sich Stichpunkte in seinen Block.

Wir animieren die Großeltern und dann die Gäste zum Mitsingen. Und wirklich, sogar die Kleinsten bleiben beeindruckend ernsthaft in Nähe ihrer Eltern stehen und singen mit. Deutsche und amerikanische Weihnachtslieder wechseln sich dann ab.

Jo kann den Chor sehr gut steuern, lässt die Lautstärke herunterfahren, während die Gäste nacheinander die Hauptstimme singen. Und auch wenn nicht jeder den Ton trifft, keiner hält sich zurück und jeder bekommt einen kurzen Beifall nach seinem Einsatz. Ungewöhnlich textsicher können die Gäste sein, denn die Liedtexte wurden so ganz nebenbei von den Chormitgliedern verteilt.

Jo flüstert mir ein bestimmtes Lied ins Ohr und sieht mich dann fragend an. Als ich ihm zunicke, springt er vor Freude.

Wir stellen uns in Position, der Chor umring uns, Jo hat seinen Umhang abgelegt und seinen Arm auf meiner Schulter platziert:

"I don't want a lot for Christmas

There is just one thing I need

I don't care about the presents

Underneath the Christmas tree

I just want you for my own

More than you could ever know

Make my wish come true oh

All I want for Christmas is you"

Ein unbeschreibliches Erlebnis, wenn der Chor den Background intoniert, wir abwechselnd die Textzeilen singen und dann zweistimmig. Doch ein Blick aus Jo's glänzenden Augen ergreift mich noch viel mehr und ich schmelze dahin.

"I don't want a lot for Christmas

There is just one thing I need, and I

Don't care about the presents

Underneath the Christmas tree

I don't need to hang my stocking

There upon the fireplace

Santa Claus won't make me happy

With a toy on Christmas day"

(All I Want for Christmas Is You - Mariah Carey/Walter Afanasieff 1994)

Jetzt ist es mit meiner Zurückhaltung vorbei. Diesen Jungen muss ich küssen, jetzt!

Der Chor singt das Lied zu Ende, mehrstimmig.

Die Leute johlen. Welch gigantisches Fest. Oma und Opa, wir beide auch, sind umringt. Wir bekommen von den Sängern allerhöchstes Lob und ich muss versprechen, dass ich in deren Chor eintrete und zumindest zu den Proben und Auftritten komme, wenn ich da bin. Das verspreche ich, wobei ich da vielleicht mehr verspreche, als ich halten kann. Wie es mit uns weitergeht, ist ja noch nicht mal besprochen. Doch wenn mich jemand fragen würde, ich würde im Augenblick alles dafür geben, um immer bei Jo zu sein.

Die Gäste prosten sich gegenseitig und uns zu. Oma lädt den Chor noch zu einem Drink und einem Imbiss ein, bevor sich die Mitglieder verabschieden, wieder im Ort verstreuen und den Weg zurück in ihre Familien finden. Die Überraschung war echt gelungen.

Die Weihnachtmusik kommt mittlerweile wieder vom Band und ich gehe ein Stück nach hinten, muss erst mal Luft schnappen. So viele Emotionen in so kurzer Zeit.

Hier überrascht mich Kerstin: "Ihr seid echt zusammen du und Jo?"

Was soll ich sagen? Ich zucke mit den Schultern.

Daraufhin fällt mir Kerstin um den Hals und drückt mich: "Schade, aber ich beneide euch! Und ich wünsche euch alles Glück der Welt. Es wurde Zeit. Insgeheim hab mir ja schon sowas gedacht, Jo hat überhaupt kein Interesse an Mädchen gezeigt, auch ich hab mir an ihm die Zähne ausgebissen. Nicht, dass er abweisend war, nein. Er war immer lieb, ist nur nie auf mich eingestiegen und auf andere Mädchen auch nicht. Und als ich dich heute Mittag sah, war ich mir fast sicher. Und das vorhin war ja wohl eindeutig. Also wie gesagt, viel Glück!"

Das wünscht sie und setzt mir noch einen dicken Schmatzer auf die Wange. Kerstin und ihr Redeschwall. Da brauchst du gar nichts mehr zu antworten, das macht sie auch gleich mit.

Ich muss zurück zu Jo. Er sucht mich schon. Als er mich erblickt, entspannt er sofort.

Der eine oder andere Gast hat noch einen kulinarischen Wunsch, den erfüllen wir ihm gern. Ansonsten finden Opas Würste und Kartoffelsalat reißenden Absatz, die Bowlekrüge leeren sich zusehends. Das ist aber auch ein wirklich leckeres Gesöff. Einmal wird noch nachgefüllt, das genügt dann aber auch, denn je weniger im Glas ist, desto höher der Zuckergehalt, was die Wirkung des Getränks erheblich verstärkt. Nichts für jedermann. Aber hier scheint man das zu mögen. Naja, nicht umsonst bucht man in diesem Hotel. Und es ist schon für nächstes Jahr fast komplett vorbestellt, hat mir Oma erzählt.

Der Abend geht irgendwann dann doch gemütlich zu Ende. Nach und nach verabschieden sich die Gäste auf ihre Zimmer. Wir räumen lautlos ab und bleiben bis zum Schluss. Kerstin hat sich längst zu ihrer Familie verabschiedet, so sind wir mit den Großeltern allein. Die Arbeit ist getan, der Geschirrspülautomat erfüllt seinen Dienst auch ohne unser Beisein.

"Ihr seid eine Welle des Wahnsinns“, lobt uns Oma, "ich war hin und weg bei eurem Gesang, hab schon geheult. Und auch hier in der Wirtschaft. Allein hätten wir heute mächtig alt ausgesehen und würden jetzt vermutlich halb tot ins Bett fallen. Doch im Moment bin ich ziemlich gut drauf. Also och einmal herzlichen Dank!"

Oma umarmt uns und küsst uns beide nacheinander: "Das war ein ereignisreicher Tag. So hatte ich mir den nicht vorgestellt. Aber er war phantastisch. Und ich bin wirklich froh, dass ihr beide zueinander gefunden habt. Und wenn zwei Jungs zusammen passen, dann seid ihr das!"

Opa steht neben Oma, hat sie im Arm und pflichtet ihr bei jedem Satz bei. So verrückt geht das manchmal zu. Jo hat mich auch im Arm, so genießen wir gemeinsam die Stille, in die die Gaststube getaucht ist.

"Wir wünschen euch beiden eine gute Nacht!", sagt Opa. Dann bekommen wir beide von beiden Großeltern noch einen Gute-Nacht-Kuss geschenkt.

"Joa, solltest du einen Job suchen, wir würden dich sofort einstellen. Einen wie dich, können wir hier sehr gut gebrauchen. Überleg es dir, das Angebot steht!", sagt Oma noch zum Abschied und ich bekomme von Opa ein zustimmendes Zuzwinkern dazu.

Oha, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Gut zu wissen.

Wenige Minuten später verschwinden auch wir beide in Jo's Reich. Viel passiert nicht mehr, ganz plötzlich hat uns die Müdigkeit übermannt. Wir schaffen es gerade mal noch kurz zu duschen, in einem niedlichen, kleinen Bad, das unscheinbar auch im Oberboden eingebaut ist. Dann kuscheln wir uns aneinander und küssen uns in den Schlaf.

Bevor ich aber wirklich hinübergleite, geht mir der ganze Tag noch einmal durch den Kopf. letztendlich bin ich angekommen, obwohl ich nicht weiß, wo ich hergekommen bin. Nur bruchstückhaft haben sich Erkenntnisse ergeben.

Ich wünsche mir, herauszufinden, was ich vor meiner Reise zu Jo getan habe, welche Gedanken ich hatte, wieso ich...


Etwas rüttelt an mir, zieht die Decke zurück, krabbelt darunter. Haaaa!!

Eiskalte Füße stützen sich auf meine nackten Oberschenkel: "Mir ist kalt Papa! Darf ich bei dir schlafen?" Eine schlaftrunkene Kinderstimme füllt meine Ohren. "Ich bin schon neugierig, was mir der Weihnachtsmann für mich bei dir gelassen hat. Mama hat gesagt, dass er hier war. Ich bin zwar schon sieben, aber gesehen hab ich den Weihnachtsmann zu Hause noch nie. Kannst du dem nicht mal sagen, dass ich ihn mal sehen will? Ich schau gleich mal nach morgen früh, was er gebracht hat. Gute Nacht Papa!"

Einen Moment brauche ich zur Orientierung. Ja, alles klar. Ich liege im Bett, bin Alexander Engel, mein Söhnchen verbringt die zweite Hälfte der Weihnachtstage bei mir. Prüfend fahre ich mir über den Kopf, kurze Haare, kein Ohrring, ohne Verletzung am Hals. Ich bin nicht dick, wohlgenährt würde ich eher sagen. Was einem Träume doch bescheren können?

Eben hätte ich geschworen, die schönsten Tage meines Lebens erlebt zu haben. An jede Einzelheit kann ich mich erinnern. Angefangen von der Zugsuche auf dem Bahnhof, die Begegnung mit Oma, in der Mission, in der Mensa, Jana, das Kino, der Winzer-Glühweinstand, die Feuerzangenbowle, die Gesangseinlage in Omas Gaststube, an alles! Und an die Nächte mit Jo. Unbeschreiblich!

Doch leider hat nichts von alldem mit meinem Leben zu tun. Nichts davon. Ich kenne nicht einmal die beiden. Das ist die Verschwörung, die mein Geist zulässt.

Ganz eng kuschelt sich Paulchen an meinen Bauch, liegt auf meinem Arm. Instinktiv decke ich uns richtig zu und streiche meinem kleinen Schatz über den Kopf und gebe ihm einen Kuss hinter das Ohr, worauf er zart kichert und die Schulter hoch zieht. Für ihn ist es sicher nicht leicht, so zwischen Mama und Papa aufgeteilt zu sein. Andererseits kennt er es nicht anders, ist schon Normalität. Immerhin schon das fünfte Weihnachtsfest, welches er so begeht, wir so begehen.

Ich schiele hinüber zur Wanduhr. Im Licht des Mondes erkenne ich die Zeiger, aber ich kann die Zeit nicht deuten. Ein Griff zum Wecker, der nach dem Druck auf den Knopf kurz nach vier anzeigt, genau 04:04 und 26-12-2015.

Was für ein verrückter Traum, eben war ich noch in 1999, habe mit Jo und dem Chor gesungen, habe mich an ihn gekuschelt. Alles war so lebendig, so echt. Ich spüre immer noch seine Hände auf meiner Haut, unter der Decke, die uns beide wärmt. Höre seine Worte, die er mir zugeflüstert, fühle, wie sich unsere Finger ineinander verschränken.

Ich taste über meine Hände. Was ist das? ... Ich knipse das Nachtlicht an. Ein Ring! Ein silberner Ring an meinem kleinen Finger? Ich ziehe ihn ab. 'Jo & Joa - 24.12.1999' lautet die Inschrift. Unmöglich! Ich greife nach dem Wecker: 04:06, 26-12-2015!?

Doch kein Traum? ... Vor mein etwas Bauch bewegt sich etwas: "Papa! Mach bitte das Licht aus!"


Kann es denn wirklich sein, dass man die Gefühle, die ein anderer Mensch erfährt, miterlebt, an ihnen teilhaben kann? Ich weiß nicht.

Dennoch, mit der Zeit gewinne ich den Eindruck, dass diese Fragen nicht nur meinem Geist entspringen, sondern dass es möglich ist, selbst Teil dieser Unerklärlichkeiten zu werden.

Glaubt ihr an Parallelwelten? Oder Wiedergeburt? Oder Doppelgänger? Oder Gedankenübertragung? Oder Vorhersehung? Oder könnt ihr euch vorstellen, welchen Geist ihr besitzen oder welche Persönlichkeit ihr sein würdet, wenn einer eurer Erzeuger eine andere Person wäre? Oder beide? Oder wie es wäre, in einer anderen Zeit geboren und aufgewachsen zu sein? Oder ihr könntet die Zeit beliebig zurückdrehen? Oder euer Alter selbst bestimmen? In einer anderen Generation leben, so alt sein, wie die Menschen, mit denen ihr euch gern umgebt?

Ich auch nicht.

Ich wünsche euch frohe Herzen, wünsche euch eure glückliche Zeit, soviel ihr davon wollt! Lasst uns sehen, wie es weiter geht.

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