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Die Bielefeld-Verschwörung...oder mach bitte das Licht aus

Teil 2 - Wenn das Licht ausgeht

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Informationen

Vorwort

Diese Story ist eine von sechs Stories, die im Rahmen des ersten Nickstories-Workshops 2017 in Neuss entstanden sind.

Als Vorgabe dient ein Zeitungsartikel über einen Schüler, der einem anderen Jungen mit Hilfe von WhatsApp das Leben rettet. Auf Grundlage dieser realen Geschichte haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, mit unserer Phantasie daraus eine Erzählung zu schreiben.

Die Teilnehmer des Workshops haben im Rahmen einer kleinen Challenge ihre Lieblingsstory gewählt. Das Ergebnis wird hier nicht verraten. Lest selbst die Geschichten und macht euch eure eigenen Gedanken.

Wir Workshop-Autoren freuen uns auf Feedbacks und eine rege Diskussion im Nickstories-Forum.Viel Spaß beim Lesen.

Vorwort der Redaktion

Liebe Leser,

die folgende Geschichte befasst sich unter anderem mit der Thematik Suizid. Dies ist ein sensibles Thema, das Nickstories.de nicht unkommentiert lassen kann und will. Deshalb haben wir uns entschieden diese Geschichten generell mit einem Vorwort zu versehen.

Für uns ist dieses Thema in Stories kein Tabu, aber wir wollen deutlich machen, dass Selbstmord mit Sicherheit kein Weg ist, um ein Problem zu lösen. Jeder, der sich in einer scheinbar aussichtslosen Lage befindet, sollte wissen, dass er Hilfe finden kann.

Wenn du jemanden kennst, der über diesen Schritt nachdenkt oder ihn geäußert hat, solltest du das nicht auf die leichte Schulter nehmen und versuchen mit dieser Person zu reden. Erst dann wird deutlich, wie ernst die Lage wirklich ist.

Wenn du über Selbstmord nachdenkst, bitten wir dich, Kontakt mit einer Hilfseinrichtung aufzunehmen, bevor du etwas tust, das für deine Freunde und deine Familie ein unwiederbringlicher Verlust sein wird.

Informationen und Notrufnummern findest du z.B. unter: www.telefonseelsorge.de

 

In den nächsten Tagen bin ich beschäftigt. Paulchen fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Den lieben langen Tag spielen wir gemeinsam mit seinen Weihnachtsgeschenken oder sind draußen in der winterlichen Umgebung. In diesem Jahr empfängt sie uns tatsächlich zu Weihnachten mit einigen Zentimetern Schnee und wir rodeln, wie die Verrückten, immer und immer wieder den kleinen Berg hinunter.

Der Kleine ist kaum müde zu kriegen, ich dagegen schon. Es ist anstrengend und doch sehr schön. Immer wieder umarmt er mich. Seine Freude, diese Tage unbeschwert mit mir verbringen zu können, ist ihm regelrecht anzusehen. Es tut uns beiden gut.

Der Junge ist so lieb, die ganzen Tage über. Nie ein Widerwort. Immer fragt er nach, wenn er etwas anderes möchte, als ich es gestatte. Er will es verstehen. Und anscheinend verstehe ich es, mich mit passenden Antworten verständlich zu machen.

Paulchen ist einfach ein Engelchen, ein echter Engel, Paul Engel. Darüber, dass ich mich nach seiner Geburt bei der Namensgebung mit meinem Nachnamen für ihn durchsetzen konnte, bin ich sehr froh.

Passt doch gut: Alexander & Paul Engel. So steht es nun auch am Namensschild meiner, oder besser unserer Wohnung.

Und darauf ist auch Paulchen stolz. Alle Leute im Haus kennen ihn mittlerweile, denn er macht jedem deutlich, den wir im Treppenhaus begegnen, dass er der Paul Engel ist, der hier mit seinem Papa wohnt.

Und seit er die ersten Worte lesen und schreiben kann, befühlt er, vor jedem Betreten unserer Wohnung, jeden einzelnen der gravierten Buchstaben des Türschildes mit seinen zarten Fingern.

 

Jeden Abend gibt es bei uns das gleiche Ritual. Nach dem Abendessen geht es duschen oder baden. Wir beide gemeinsam, das machen wir schon immer.

Danach rubble ich ihn kräftig ab und wir wickeln uns in unsere Bademäntel. Anschließend trinken wir noch einen guten Tee, tauschen die Bademäntel mit den Schlafanzügen und legen uns in sein Bett. Jetzt darf ich ihm noch eine Geschichte vorlesen, neuerdings jeden Abend ein Kapitel aus seiner Lieblingsbuchserie. Er kuschelt sich an mich und lauscht, oft auch mit geschlossenen Augen.

Anschließend wünschen wir uns eine gute Nacht: "Gute Nacht Paul Engel."

"Gute Nacht Alexander Engel."

Und mit einem Küsschen beenden wir den Tag: "Ich liebe dich, Paulchen."

"Ich liebe dich auch, Papa."

Dabei decke ich ihn bis zu den Ohren zu und verlasse sein Zimmer: "Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes."

"Du auch."

Meist sitze ich dann noch ein wenig in der Stube und lese oder schaue einen schönen Film oder höre einfach etwas Musik, bevor ich selbst ins Bett verschwinde und ruck, zuck eingeschlafen bin.

 

Doch nicht so in den letzten Wochen und Monaten.

Jeden Abend denke ich über diesen einen Traum nach, welchen ich vor einem Jahr hatte. Immer wieder erscheinen mir die gleichen Bilder, erinnere ich mich an das Gesicht dieses Jungen, dem ich offensichtlich mein Herz schenkte. Mittlerweile bin ich geneigt zu glauben, dass ich das wirklich erlebt haben könnte. Doch wie hätte dies geschehen können? Wie konnte ich derart außerhalb meines Bewusstseins so eine Reise antreten, so unglaublich gefühlsreich, so außergewöhnlich einprägsam und doch so fern meiner täglichen Realität.

Wenn ich dann endlich eingeschlafen bin, läuft immer der gleiche Film ab. Ein aufregender, schöner Film. Es ist, als wäre ich in die Haut eines anderen geschlüpft und könnte für diesen ein Stück seines Lebens erleben.

Und wäre ich nicht abrupt in meine Welt zurückgeholt worden, was wäre dann gewesen? Wäre ich dort geblieben? Hätte ich irgendwann später den Sprung zurück getan?

Mir ist so, als ob diese Geschichte noch nicht zu Ende sein würde, als würde da noch etwas Wichtiges auf mich warten, als hätte ich noch etwas zu erledigen.

Seit meiner Rückkehr aus diesem Traum wache ich fast jede Nacht um 04:04 Uhr auf und fühle diesen silbernen Ring an meinem Finger, den ich seitdem trage, und dessen Herkunft in mir große Zweifel an einen einfachen Traum schürt.

Wie zum Zeitpunkt des Abbruchs der Reise, klettert Paulchen dann auch fast jede Nacht zu mir ins Bett unter meine Decke. Manchmal bemerke ich ihn gar nicht und erwache früh, er eng an mich gekuschelt. Ein verdammt schönes Gefühl.

Ein Gefühl, dass mir nun eine Weile fehlen wird, die diesjährigen Weihnachtsferien sind morgen vorbei. Paulchen geht dann wieder in die Schule, wohnt wieder bei Mama. Doch jeden Abend werden wir telefonieren und uns eine gute Nacht wünschen: "Ich liebe dich, Engel."

 

Mein Traum ist geblieben, fast jede Nacht. Vielleicht nicht mehr ganz so intensiv, dennoch ist er da, begleitet mich. Ab und an setzt er mal aus. Dann vermisse ich ihn, sobald ich den Ring berühre, und wünsche mir, ihn zu träumen. Oder einen anderen, schönen, intensiven Traum.

Kann man sich einen Traum erträumen?

Glaubt ihr an Parallelwelten? Oder Wiedergeburt? Oder Doppelgänger? Oder Gedankenübertragung? Oder Vorhersehung? Oder könnt ihr euch vorstellen, welchen Geist ihr besitzen oder wer ihr sein würdet, wenn einer eurer Eltern eine andere Person wäre? Oder wie es wäre, in einer anderen Zeit geboren und aufgewachsen zu sein? Oder ihr könntet die Zeit beliebig zurückdrehen? Oder euer Alter zurückschrauben? In einer anderen Generation leben und so alt sein, wie die Menschen, mit denen ihr euch gern umgebt?

Ich auch nicht.


Langsam, ganz langsam bildet sich die Umgebung in meinen Augen ab.

Halbdunkel ist es wohl. Der Raum ist nicht sehr groß, aber auch nicht besonders klein.

Allmählich erkenne ich mich liegend in einem Zimmer, ein Jugendzimmer würde ich es nennen. Ein paar große Poster hängen an den Wänden, ein unaufdringlicher Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit darauf liegendem Schreibkram, Laptop und stehenden Ordnern, ein Regal, in dessen Fächern Bücher, CDs und noch mehr Ordner Platz gefunden haben und ein Bett, auf dem ich liege, verteilen sich im Raum.

Die Schreibtischlampe sendet spärliches, warmes Licht aus. Das Rollo am Fenster ist herabgelassen und lässt keinen Blick nach außen zu.

Langsam richte ich mich auf. Etwas benommen fühle ich mich, so als hätte ich den halben Tag verschlafen.

In meinem Kopf dreht sich alles, weiß nicht, was ich hier mache. Es ist alles so unbekannt.

Ich stemme mich hoch und tapse zur Tür, die ich gegenüber sehe.

Die Klinke gibt nach und öffnet mir den Weg in Dunkelheit.

Ich taste nach einem Schalter, finde ihn, drücke ihn. Augenblicklich erhellt sich ein Flur, in dem ich stehe, von dem mehrere Zimmertüren abgehen.

Ich bewege mich, etwas wacklig auf den Beinen, zum anderen Ende und erreiche einen größeren Raum.

Nachdem ich den Lichtschalter betätige, erweist sich dieser als Wohnzimmer mit gemütlich erscheinender Sitzecke und einem Essbereich, an den sich eine offene Küche anschließt. Hinter der großen Fensterfront erstrecken sich ein Balkon, über die gesamte Breite des Zimmers, und dahinter der Ausblick in eine Siedlung hoher Neubauten.

Ich erkenne an den Beleuchtungen der Hausaufgänge im Block gegenüber, dass die Wohnung, in welcher ich mich befinde, eher in einer mittleren Etage liegen muss.

Ich fühle ich mich fremd, obwohl ich meine Umgebung ohne Überraschung akzeptiere. Nichts Ungewöhnliches. Trotzdem ist mir, als würde ich nicht hier hergehören.

Im Küchenschrank finde ich ein Glas. Ich fülle es mit Wasser aus der Leitung und trinke zaghaft ein paar Schlucke. Vielleicht geht es mir dann besser.

Nichts wird besser. Irgendwie fühle ich mich fehl am Platz, geschwächt, irgendwie total hinüber. Ich schleppe mich zum Bad.

Bad? Licht. Ja doch, richtig.

Wasser ins Gesicht! Boah, kalt.

Ein Blick in den Spiegel - Wer zum Teufel ist das da?

Ich weiche zurück und stoße an eine Waschmaschine. Sie gibt mir Halt.

Was blickt mich da an? Wer ist das im Spiegel?

Dem Anschein nach, ein 15-, 16-jähriger Bengel, schmales Gesicht, dunkle Haare.

Ich taste mit beiden Händen mein Gesicht ab. Der Junge im Spiegel auch. Irgendwie kommt mir diese Szene bekannt vor.

Mein Spiegelbild sieht schlecht aus, sehr schlecht. Blasse Haut, trübe Augen, tiefe Augenringe. Lustlos, krank, aufgegeben. So sehe ich das Spiegelbild und so fühle ich mich auch. Schmal, dünn, wenig zuzusetzen. Schwach, so würde ich mich bezeichnen, wenn ich an mir herunterblicke.

Dieser Anblick, mein Zustand machen mich müde. Ich verlasse das Bad und wanke in das Zimmer zurück, aus dem ich kam, in dem das Bett steht. Ich setze mich darauf.

Ich bin immer noch verwirrt, was mache ich hier, wer bin ich? Was hat das zu bedeuten?

Der Laptop fällt mir auf. Er ist eingeschaltet, aufgeklappt. Ich bemühe mich hinüber zum Schreibtisch, lasse mich auf den Stuhl sinken und berühre die angeschlossene Maus, ganz mechanisch.

Der Bildschirm erhellt sich. Ein Schreibprogramm ist geöffnet, es zeigt einen geschriebenen Text. Als ich die letzte Zeile lese, fange ich an zu zittern: "Es ist genug! Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr."

Ich muss mich am Tisch festhalten, damit ich nicht vom Stuhl falle. Zögernd scrolle ich nach oben. Ein paar Wortfetzen lese ich. Mein Herz rast. Die paar Gedanken, die ich aufnehme, künden von Schmerz, Angst, Traurigkeit, Aussichtslosigkeit und Wut.

Ich lese den Dateinamen: Mein Tagebuch.

Der Versuch zu erfassen, was ich da vor Augen habe, scheitert. Es gelingt mir nicht, mich zu konzentrieren. Alles verschwimmt, ich bekomme es nicht geordnet.

Erschöpft mühe ich mich hoch und tapse zum Bett, lege mich hin, umarme das Kissen und drücke es ganz fest an mich heran. Um mich herum dreht es sich, wirbeln Gedanken durcheinander, um dann in grenzenloser Leere zu verschwinden. Ich fühle mich allein, allein und verlassen. Tränen möchten gern heraus, doch sie schaffen es nicht. Nur das Gefühl ist da, als würde ich weinen, doch meine Augen bleiben trocken, ausgeweint. Langsam schwinden meine Sinne, der Körper trennt sich vom Bewusstsein, ich gleite hinüber in einen Traum.


"So ein Quatsch. Da habe ich garantiert Besseres zu tun, als bei jedem Scheißwetter rumzustehen und zu warten, bis so ein Ding kommt.", höre ich einen der Jungs aus der Gruppe meiner Klassenkameraden reden.

"Der ist doch blöd, was soll daran schon Besonderes sein? Ich glaube kaum, dass der damit was aufreißen kann. So nach dem Motto: 'Komm mal mit rauf, ich zeig dir mal meine Bilder von der Bimmel!' Ich kann mir nicht vorstellen, dass da eine drauf fliegt."

Das hämische, dämliche Grinsen kann ich fühlen und weitere bescheuerte Sprüche noch hinter mir hören, während ich sie stehen lasse. Noch mehr Sprüche folgen und ich weiß, dass ich sie hasse.

Eben hab ich ihnen von meiner Leidenschaft erzählt, die mich seit einiger Zeit umtreibt. Tramspotting nennt man das, was mich den Alltag vergessen lässt, etwas, wofür ich bereit bin, alles um mich herum zu vergessen.

Irgendwie haben es mir die gelb-blauen und silber-blauen Gefährte angetan, die sich inmitten des Verkehrs durch unsere Straßen schlängeln. Ich finde es faszinierend, wie sie die Fahrbahnen und Autoströme teilen, sobald sie sich in Bewegung setzen, wie flink sie trotz ihrer Größe sind, wie flott sie beschleunigen, sich ihren Weg bahnen. Ganz besonders eindrucksvoll finde ich die extralangen Gelenkzüge, wenn sie enge Kurven meistern oder auch die alten, dreiteiligen Großzüge, wenn sich Wagen für Wagen um die Ecke bewegen.

Ziemlich viele Bilder habe ich bereits davon gemacht, sie ausgewählt, sortiert, zugeordnet und archiviert. Einige Fahrzeuge, die ich so verewigte, sind vor Kurzem verschrottet worden. Kein Mensch wird sich an sie erinnern können. Aber ich habe sie, noch im Dienst auf Strecke und auch auf ihrem allerletzten Gleis.

Es tat weh zu sehen, wie sie mit einer hydraulischen Schere von einem Kran mit riesigem Ausleger wie Pappe zerschnitten worden sind, damit die einzelnen Teile in einen Container passten. Es war, als würde ein Stück von mir zerschnitten werden. So sehr erinnerte es mich an meinen Schmerz.

Aber jetzt ärgere ich mich über mich selbst, dass ich davon erzählte.

"Jetzt zieht er den Schwanz ein und dackelt ab. Der ist doch schwul. Wer weiß, ob der überhaupt schon mal ein Mädchen richtig von nahem gesehen hat, der Loser", ist es, was ich noch höre, als ich mich endgültig entferne.

"Was wisst denn ihr schon. Ihr Blödmänner habt doch keine Ahnung. Und euch werde ich es auch nicht auf die Nase binden, niemals!", denke ich wütend, als ich hinter dem Gebäude verschwinde. Ich habe lange aufgehört, den Mädchen nachzugucken, längst aufgehört, mir Gedanken über sie zu machen. Es gibt nichts, was ich mit ihnen anfangen könnte.

Keiner weiß, wie es in mir aussieht, keiner. Keiner weiß davon und es wird nie einer je erfahren. Versteht doch sowieso keiner. Niemand versteht mich und wird mich je verstehen.

Tränen hätte ich heulen können, ganze Ströme davon, vor Wut, vor Aussichtslosigkeit, vor Hass, vor was-weiß-ich-was noch. Aber ich heule nicht mehr. Es geht nicht mehr. Früher hatte es mir noch Erleichterung verschafft. Doch nun, wo die Tränen wegbleiben, verschafft es mir auch keine Erleichterung. So bleiben in mir nur noch Wut und Hass, gegen diese Idioten, gegen Mama, gegen alle, gegen mich.

Ich erwische mich, wie ich mit den Nägeln meine Narben kratze am Handgelenk. Sie jucken, ich möchte sie aufreißen. Ich würde wenigstens den Schmerz spüren, wie schon ein paar Mal, würde nicht an die Schmach denken müssen, nicht an mein Anderssein, nicht an das, was keiner versteht, selbst wenn ich versuchen würde, darüber zu reden.

Es gibt auch niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte. Mit wem denn auch? Vater ist tot, Mama nur noch unterwegs. Sie muss für uns beide sorgen, sagt sie.

Nein, ich hasse sie doch nicht. Ihr geht es nicht besser als mir. Aber ich bin verzweifelt, ich weiß nicht, wie ich mit ihr reden sollte, wenn ich es könnte. Aber ich kann es nicht, sie schmerzt es doch selbst so sehr, dass es Papa nicht mehr gibt. Ich kann sie doch nicht auch noch mit meinem Schmerz belasten, oder mit dem Scheiß in der Schule oder überhaupt mit dem, was ich fühle.

Eigentlich ist doch alles so sinnlos. Weshalb tue ich mir das überhaupt alles an, weshalb mache ich dem nicht sofort ein Ende? Es wäre doch so einfach. Es wäre doch einfacher für alle, einfacher für Mama. Und diese Idioten würden blöd aus der Wäsche gucken, hätten niemanden mehr, dem sie dämliche Sprüche nachrufen, den sie fertig machen könnten. Denen würde jedes Wort in ihren ekligen Hälsen stecken bleiben. Das wäre gerecht.

Nur einen gibt es, dem könnte ich das erzählen. Der tickt so wie ich, glaube ich. Kann sein, er ist vielleicht so gestrickt wie ich.

Auch er mag die Könige der Großstädte, auch er fotografiert sie. Des Öfteren haben wir uns im Chat getroffen, haben Bilder ausgetauscht.

Ab und zu habe ich ihm angedeutet, wie es in mir aussieht. Jedes Mal hat er mich dann getröstet. Ja, so kann ich es nennen. Und obwohl ich nie genau gesagt habe, was ich meine, habe ich das Gefühl, dass er mich genau versteht.

Die letzten Chats, die wir miteinander hatten, erweckten in mir den Eindruck, dass er mir etwas erzählen wollte, mich etwas fragen wollte. Er hat es aber letztendlich nicht getan.

Ich weiß, wie es ist, wenn man nicht genau beschreiben kann, was man fühlt. Und doch glaube ich zu wissen, was er versuchte, mich zu fragen.

Leider hat er es nie ausgesprochen. Aber das ist ja jetzt auch egal. Was würde es bringen? Ich könnte ihm auch nicht helfen, genau so wenig, wie er mir.

Langsam werde ich müde, schließe meine Augen.


Mein Kopf dröhnt, das Geräusch wird immer lauter. In meinen Ohren hämmert es. Es macht mich verrückt, reißt mich hoch. Verdammt!

Es hämmert weiter. Es schlägt. Jemand schlägt. Jemand donnert an die Tür. Was soll das?

Ich quäle mich hoch, schleppe mich in die Richtung, aus der das Donnern kommt. Stimmen höre ich. Stimmen und Donnern. Das heftige, mit Fäusten an die Tür donnern, höre ich.

Ich stehe vor der Tür. Das laute Klopfen hört nicht auf. Ich höre meinen Namen. Ich soll öffnen. Warum? Wer ist das? Was wollen die von mir? Ich versuche durch den Spion der Tür zu schauen, ich sehe nur Wirrwarr.

Immer noch Rufe, immer noch Klopfen. Mir wird schwindlig.

Als ich den Schlüssel im Schloss drehe, versiegt das Klopfen. Ich drücke die Klinke.

 

Langsam komme ich wieder zu mir. Ich höre meinen Namen. Immer deutlicher. Aber ich erkenne die Stimme nicht, die ihn spricht. Wer ist das.

Ich öffne meine Augen. Ein fremdes Gesicht schaut mich an. Er lächelt. Ein sehr hübsches Lächeln, ehrlich, offen, erleichtert.

"Wer bist du?", quäle ich mir mehr krächzend als sprechend heraus.

"Ich bin Felix."

In meinem Kopf rattert es: "Felix? Der Tramflix?"

"Genau der. Ich freue mich, dass du mich erkennst."

"War ja nicht schwer, kenne doch nur einen Felix, dich. - Was mache ich hier, wo bin ich? - Und was machst du hier? Du bist doch so weit weg, oder von so weit her, oder bin ich..."

"Nein, ich bin bei dir. Du hast mich gebraucht."

Dabei fühle ich die Wärme seiner Hand auf meinem Arm...

Ehe ich noch weiter mit ihm sprechen kann, drängen Ärzte und Schwestern dazwischen und fragen mich allerlei Sachen, über die ich gar nicht sprechen will. Doch sie geben keine Ruhe, bis ich Ihnen antworte. Ständig sehe ich aber zu Felix, der nun etwas abseits steht.

Dann steht auf einmal Mama an meinem Bett. Sie küsst mich und weint. Plötzlich weine ich auch. Ich kann wieder weinen. Eine Last fällt von mir ab. Ich liebe Mama. Und ich vermisse Felix, den ich eigentlich nur aus dem Chat kenne, der 500 km weit weg wohnt und den ich jetzt nirgends entdecke. Er scheint jetzt nicht mehr im Zimmer zu sein.

 

In den nächsten Tagen geht es mir immer besser, ich kann aufstehen und umherlaufen. Felix ist jeden Tag lange bei mir. Seine Eltern sind auch hier, sie sind sehr nett.

Ein Polizist in Zivil war auch da und hat mich aufgeklärt: Felix hat mir das Leben gerettet. Er hat die Polizei über einen Bekannten alarmiert, nachdem ich wohl ziemlich niederschlagende Dinge geschrieben und mich nicht mehr im Chat unserer Tramspotter-Gruppe gemeldet habe.

Die Beamten fanden ziemlich schnell heraus, wo ich wohne. Anscheinend bin ich ihnen, in total schlechter Verfassung, nahe dem Ende, regelrecht in die Arme gefallen.

Jetzt geht es mir viel besser, muss regelmäßig Gespräche mit einem Psychologen führen. Doch sie tun mir gut. Der Mann hat Ahnung.

Mit Felix habe ich auch lange geredet. Er hat mir beschrieben, wie sich alles zugetragen hat. Wie er an jenem Tag aufgrund meines Wegbleibens im Chat keine Ruhe fand und solange gedrängt hat, bis die Suche nach mir gestartet wurde, in so weiter Entfernung. Ausgerechnet war es der Tag, an welchem er seinen 16. Geburtstag feierte.

Auch eröffnete er mir, dass er seine Eltern hartnäckig bat, hier her zu fahren und sich selbst von meiner Genesung zu überzeugen, nachdem er erfuhr, dass ich gefunden und in die Klinik gebracht worden war, was sie ihm zu liebe dann auch zusammen taten.

Und er hat mir dann auch endlich von dem erzählt und mich gefragt, was ich schon geahnt hatte, dass er es mir längst erzählen, mich längst fragen wollte.

Ich bin mir ganz sicher, er ist wie ich. Und er ist mutiger.

Es gab auch noch lange, sehr lange Gespräche, ich mit meiner Mama und er mit seinen Eltern. Wir waren uns einig und haben uns Ihnen anvertraut, uns beide gemeinsam dabei unterstützt.

Zuerst erhielten wir ungläubige Reaktionen. Aber es ist nun mal, wie es ist.

Mama hat es verstanden und mich fest in die Arme genommen, sie liebt mich trotzdem.

Und Felix' Eltern haben es ebenso verstanden. Sie lieben ihren Sohn auch sehr.

Ich bin Felix ungeheuer dankbar, dass er mich zurückgeholt hat. Und dass er mir, so wie ich ihm, Gewissheit geben konnte, was uns selbst betrifft. Wir sind nicht allein und sehr gute Freunde geworden.

Bevor er wieder nach Hause gefahren ist, schenkte er mir noch eine goldene Anstecknadel, die eine seiner Lieblingsbahnen in grüner Farbe zeigt.

Jetzt schreiben wir uns ständig, tauschen uns aus. Wir wollen uns auch gegenseitig besuchen und gemeinsam auf Tramspotting-Tour gehen.


Boah!

Von eiskalten Füßen werde ich aus meinem Traum gerissen. Sie stemmen sich unter der Bettdecke gegen meine Oberschenkel. Ein kleiner Rücken drückt sich dicht an meinen Bauch.

Verwirrt ertaste ich den Schalter der Bettlampe und betätige ihn. Ein Blick auf meinen Wecker sagt mir, dass es 04:04 Uhr ist, wieder einmal.

"Papa, mach bitte das Licht aus!", vernehme ich es unter meiner Bettdecke, aus der vor mir nur ein Büschel Haare herausschaut.

Ich lösche die Lampe und streiche zart über das vor mir liegende Köpfchen, welches nun wieder von der Decke befreit ist.

Paulchen, der dieses Wochenende bei mir ist, atmet hörbar tief und gleichmäßig, während mir die Bilder meines letzten Traumes vor den Augen vorbeiziehen, alles so lebhaft und fast wirklich, dass ich schwören könnte, ihn selbst erlebt zu haben, so unglaublich gefühlsreich, so außergewöhnlich einprägsam.

 

Am Montag fällt mir plötzlich eine Schlagzeile in der Zeitung ins Auge:

'Notruf auf Umwegen: 16-jähriger rettet Jugendlichen per WhatsApp'

Ich greife mir hastig das Blatt und lese den Artikel:

'Felix ist Fan von Trams - durch diese Leidenschaft lernte er auch den gefährdeten Jungen kennen.

Ein 16-jähriger Gymnasiast machte sich Sorgen, als ein Bekannter ihm über einen Nachrichtendienst seine Selbstmordgedanken schilderte.

Da er den 15-Jährigen nur über das gemeinsame Chatten kannte, verständigte er die Polizei, die den Jungen in seiner Heimat orten konnte.

Die Beamten fanden den labilen Jugendlichen und brachten ihn in eine psychiatrische

 

Völlig platt über das gerade Gelesene, lasse ich mich auf den Küchenstuhl fallen. Das beigefügte Foto des jungen Helden lässt mein Herz rasen. Das ist genau das Bild des Felix, den ich in meinem heftigen Traum an meinem Bett sitzen sah. Genau von dem Felix, der mir im Traum das Leben rettete, dem ich half, zu sich zu stehen und sich seinen Eltern anzuvertrauen. Wie ist das möglich?

Und als wäre das alles nicht schon genug, finde ich anschließend beim Anziehen eben jenen gold-grünen Anstecker mit der Darstellung von Felix' Lieblingsbahn in meinen Sachen.

Verwirrt halte ich ihn in der Hand und fahre mir unbewusst wieder und wieder durch die Haare.

 

Das ist nun schon die zweite Geschichte, die ich so lebhaft geträumt habe und die mir so intensiv in Erinnerung ist. Wie kommt das? Weshalb erfahre ich das? Wieso kann ich das nicht verstehen? Weshalb springe ich da hinein?

Könnt ihr das erklären?

Glaubt ihr an Parallelwelten? Oder Wiedergeburt? Oder Doppelgänger? Oder Gedankenübertragung? Oder Vorhersehung? Oder könnt ihr euch vorstellen, welchen Geist ihr besitzen oder wer ihr sein würdet, wenn einer eurer Eltern eine andere Person wäre? Oder wie es wäre, in einer anderen Zeit geboren und aufgewachsen zu sein? Oder ihr könntet die Zeit beliebig zurückdrehen? Oder euer Alter zurückschrauben? In einer anderen Generation leben, so alt sein, wie die Menschen, mit denen ihr euch gern umgebt?

Ich auch nicht.

Nachwort

Hallo liebe Leser, es ist schon verwirrend, wenn man einen Traum erlebt, oder?

Ich freue mich sehr auf eure Feedbacks und vielen Dank für eure Meinungen zu Teil 1, die mich zu weiteren Teilen motivierten.

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