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Christmas in July...

oder Profi-laktisch bei Crêpes

Weihnachtschallenge 2012

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins – Crêpes

Sebastian, Sebbi, Kirchner hatte ein ruhiges, gradliniges und vollkommen vernünftiges Leben vor sich. Seine Mutter Beate und sein Vater Doktor Horst Kirchner hatten dieses Leben für ihn bereits kurz nach der Geburt fertig geplant. Er hätte es eigentlich nur noch abnicken und leben müssen. Fairerweise muss man sagen, das wollte er eigentlich auch. Aber dann kam der Tag, an dem ihm ein trotziger, verächtlicher Blick aus dunkelgrauen Augen begegnete, darüber eine Matte dunkle Haare mit schrecklichem Schnitt nach der Marke Prinz Eisenherz, darunter eine perfekte Schnute.

Sebastian verliebte sich auf der Stelle in Kaspar Helmers, dank der Haare später Lord Helmchen genannt. Gleich als nächstes geriet Sebbi mit diesem herrlichen Kaspar in eine außerordentlich gepflegte Prügelei und zwar um die damals aktuelle Frage, wer das Feuerwehrauto als Symbol am Kleiderhaken im Kindergarten bekommen sollte.

Der Kampf wurde von seiner Mutter Beate und Kaspars Mutter Susanne beendet. Sebbi erinnerte sich später nur an drei Dinge. An die herrlichen dunkelgrauen Augen, an die verächtliche Stimme von Mama Beate, die spitz kommandierte "Sebastian! Komm da weg!" und zwar in der Art, in der man Jungs kommandierte, die an einem Hundehaufen stehen bleiben. Und er erinnerte sich daran, dass er nach dem Diktat der ätzenden Kindergärtnerin den Haken mit dem Polizeihubschrauber neben dem Feuerwehrauto nehmen sollte, weil er ein großer Junge sei. In gewisser Weise hatte sie ja Recht. Er war auf jeden Fall größer und kräftiger als Kaspar.

An diesem Tag lernte Sebbi den absoluten Vorteil kennen, den hübsche Augen und ein Schmollmund haben konnten. Außerdem lernte er, dass es Feindschaft gab. Diese bestand seit etlichen Jahren zwischen seiner Mutter Beate und Kaspars Mutter Susanne. Die Feindschaft bedingte, dass Sebbi genau einen Tag später in den anderen Kindergarten im Dorf gebracht wurde und dort das Feuerwehrauto haben konnte. Sebbi durfte nicht mit Kaspar reden, spielen oder sich hauen. Das 'warum' dieser Sache verstand er später. Viel später. Nach Auffassung seiner Mutter fiel das 'warum' in die Rubrik 'Aufklärung' und das war etwas, für das Sebbi über Jahre hörte: 'Dafür bist du noch zu klein'.

Von dieser merkwürdigen Feindschaft zwischen ihren Eltern abgesehen, wuchsen Sebbi und Kaspar aber sehr unbeschadet in dem kleinen Ort auf. Es gab hier alles, was man sich als Junge wünschen konnte... und, was für die Feindschaft ihrer Eltern wichtig werden sollte, vor allem gab es zwei von allem. Es gab zwei Kirchen, zwei Kindergärten, zwei Supermärkte und zwei Grundschulen. Es gab zwei Friedhöfe, zwei Schreibwarenläden und zwei Feinkostläden, zwei Eisdielen und zwei Kneipen. Das duale System setzte sich scheinbar unendlich fort. Es gab aber vor allen Dingen auch zwei Apotheken. Diese beiden gehörten einmal Sebbis Eltern und zum anderen Kaspars Mutter.

Kaum war Sebbi alt genug für das Aufklärungsgespräch, da erhielt er auch schon den Hinweis, dass er sich von der Helmers-Pest und von der verfeindeten Stern-Apotheke fern zu halten hatte. Es wurde ihm derart eingebläut, dass er sich angewöhnte, von der Helmers-Pest zu denken, wenn er Kaspar auch nur von Ferne sah. Da war Sebbi gerade etwa neun Jahre alt und in der einen der beiden Grundschulen am Ort... in der anderen verbrachte Kaspar seine Vormittage und festigte in der Zwischenzeit den Titel als 'Lord Helmchen'. Dazu hatte vor allen Dingen seine Mutter beigetragen, die ihm weiterhin diesen grauenhaften Haarschnitt verpasste, wann immer ihm die Haare in die Augen zu hängen drohten. Sein dichtes, dunkles Haar fiel ihm schwer wie ein Helm um den Kopf und somit konnte er sich dieses Titels nicht erwehren.

Doch dann wurden Kaspar und Sebbi zwölf und sollten mit der siebten Klasse in das Gymnasium am Ort wechseln. Sie näherten sich somit räumlich einander an. Allerdings waren sie in unterschiedlichen Klassen untergebracht. Aber im Sommer begannen sie beide mit dem Tennisunterricht und näherten sich noch mehr an, denn es gab nur einen Tennisverein, der über Hallen verfügte. Allerdings sahen Sebbi und Kaspar sich noch immer nicht oft, sie spielten an unterschiedlichen Tagen.

Kaspar entschied sich dann für eine Änderung des Äußeren. Vermutlich war er den Helmchentitel über. Die schönen dunklen Haare durchliefen zwischen den Jahren dreizehn und vierzehn ungefähr genauso viele Farben und wurden mal aufgepuschelt und mal stellenweise abrasiert. Die Kleidung nahm ebenfalls recht farbenfrohe Formen an, bis Kaspar dann über Monate nur noch in schwarzen, leicht zerrissenen Cargohosen und schwarzen Schlabberhemden in der Schule auflief.

Sebbi selber trug mit stoischer Ruhe die teuren Jeans und Markenturnschuhe, die seine Mutter ihm kaufte und nahm Kaspars Veränderung kaum wahr, weil die Änderungen an seinem Körper und auch in ihm selber zu der Zeit fast seine komplette Aufmerksamkeit verlangten. Seine Stimme senkte sich beträchtlich, er schoss in die Höhe und brauchte im Sommer neue T-Shirts, Shorts und Turnschuhe fast schon im Wochenrhythmus.

Als Sebbi und Kaspar mit fünfzehn in die zehnte Klasse einzogen, hatten sie sich beide über die Ferien deutlich verändert. Sebbi hatte sich ungefähr verdoppelt und musste sich gar hin und wieder rasieren, außerdem musste er wegen blöder Pickel zu einer total beknackten, immer verstörend fröhlichen Kosmetikerin. Kaspar war kaum gewachsen, war sein blasses, sehniges Selbst geblieben, dafür hatte er nun dunkelviolette Haare, die ihm asymmetrisch zerrupft in das Gesicht hingen und dazu sowohl ein Piercing in der Zunge, als auch am Mundwinkel.

Sebbis Mutter wies ihn auf die Verbindungen hin, in dem sie ihm sagte, dass es ja logisch war, wenn aus diesem Helmers nichts wurde. Immerhin war Susanne Helmers ja auch eine total unmögliche Person und außerdem alleinerziehend und dazu noch der Feind. Locker übergangen wurde der Umstand, dass Frau Helmers schon seit Jahren mit ihrem Lebensgefährten Lars Kiebek, auch Apotheker, zusammen lebte. Aber Sebbi war das auch total gleich. Erwachsene und ihre langweiligen Problem interessierten ihn nicht.

Und dann kam der Nachmittag mit dem Rettungskurs und Sebbi kam zu spät. Er wurde mit einem total mies gelaunten Kaspar zusammen eingeteilt, um die Reanimationsübungen an der Puppe zu machen. Einer sollte den Kopf überstrecken und beatmen, nachdem der andere die Herzmassage durchgeführt hatte. Ein kleines Gerät an der Puppe zeigte an, ob sie gut waren oder so eine Art Mörder.

Meist waren sie unfähige Mörder und das lag daran, dass Kaspar keinen Bock hatte und Sebbi sich über ihn ärgerte, diesen bescheuerten, gepiercten Arsch, den Feind. Und Kaspar hatte offenkundig keinen Bock, weil er in Sebbi den Feind sah, den turnschuhtragenden Langweiler. Doch dann gerieten sie in einen kleinen Kampf darüber, wer jetzt das Leben der Puppe am ehesten ausgehaucht hatte und in diesem Augenblick sah Sebbi erneut in diese großen, dunkelgrauen Augen. Er stockte mitten in der Beleidigung und erstarrte.

Kaspar hatte sich aufgerappelt und moserte "Du bist echt genauso beknackt wie deine Alten!"

"Die kennst du doch gar nicht!"

"Ach, aber ich darf mir immer anhören, wie die sich hintenherum das Ärztehaus gekrallt haben!"

"Wie sich deine Mutter hintenherum das Altenheim gekrallt hat!"

"Und wie diese Langweiler..."

Sebbi warf sich auf seinen Gegner und hielt ihm den Mund zu. "Hör auf, solchen Scheiß zu labern, du Freak!" Die Nähe zu Kaspar war ein Fehler. Der Geruch seiner Haut, das Gefühl seines drahtigen Körpers, der sich unter Sebbis Gewicht wand, machten Sebbi den Kopf leicht und die Hose verdammt eng. Davon abgesehen, dass der Kursleiter zu ihnen trat, um sie zu trennen, starrte Kaspar ihn erneut mit seinen großen grauen Augen an und dann leckte er Sebbi von innen über die Hand, bevor er herzhaft hinein biss. "Au! Scheiße!"

Sebbi sprang auf, im nächsten Moment schimpfte der Kursleiter "Ihr könnt eure Querelen anderweitig klären. Wenn ihr hier noch einmal auffallt, dann fliegt ihr raus! Verstanden?!"

Sebbi nickte, ließ den Blick nicht von Kaspars schlankem Gesicht, in dem ein höhnisch überheblicher Ausdruck ihn nur noch mehr zum Kochen brachte. Doch im nächsten Moment hatte er die Eingebung, wie er diesem Idioten das große Maul stopfen konnte... außerdem ihn wiedersehen. Zwischen den Zähnen befahl er "Wir tragen das aus... auf dem Tenniscourt."

Kaspar hatte offensichtlich nicht damit gerechnet. Blöderweise grinste er irgendwie siegesgewiss und nickte das ab. Sie gerieten nicht mehr aneinander und trafen dann zur Verabredung des Kampfdates beim Fahrradständer aufeinander. Kaspar war nicht nur in Person cool, sein Fahrrad war es auch. Ein schwarzes Rennrad, auf dessen Rahmen er den Schriftzug überlackiert hatte mit dem Wort 'Erlkönig'. Das restliche Rad war matt schwarz bis zu den Speichen. Mies drauf und neidisch befahl Sebbi "Freitagnachmittag."

Kaspar nickte und legte den Kopf schief, während er seinen Erlkönig neben sich her schob. "Vier Uhr", bestimmte er dann, "mehr als zwei Stunden hab ich nicht."

"Die werde ich kaum brauchen", versetzte Sebbi höhnisch und schwang sich hastig auf sein uncooles Rad.

Oh, wie hatte er sich da geirrt. Sebbi hatte viel mehr Kraft. Er konnte aus so ziemlich jedem Aufschlag ein Ass machen, seine Volleys konnte Kaspar oft nicht mehr kontern. Aber Kaspar war wendig und unglaublich schnell. Er war in einem Wimpernschlag am Netz und dort war er für Sebbi nahezu tödlich.

Nach zwei Stunden einigten sie sich auf unentschieden und krochen vollkommen fertig vom Platz. Sebbi schmerzte jeder Muskel und Kaspar stöhnte, dass er seine Probe mit der Band, bei der er mitspielte, auf jeden Fall vergessen könne, weil er nicht mal mehr die Gitarre würde halten können.

Irgendwie zufrieden grinsten sie einander an und wurden im nächsten Moment vom Trainer, der Teile ihres Kampfes verfolgt hatte, in ein Doppelteam gesteckt. Erstaunt über den Verlauf dieser Geschichte verheimlichte Sebbi dies seinen Eltern. Sein Herz jubilierte, denn Kaspar trug zum Tennis zwar seinen unmöglichen Helm beschissen gefärbter Haare, aber außerdem trug er noch diese total geilen knappen Shorts, die vor allem eines zeigten, Beine. Und dann noch eines, seinen Po.

Und den durfte Sebbi sich dank des Doppeltrainings in den folgenden Wochen reichlich betrachten. Er wurde nicht müde, die hübschen Beine und den angespannten Hintern anzugaffen, wenn Kaspar mal wieder wie von einer Feder geschnellt über den Platz hechtete, um einen nahezu unmöglichen Ball noch gerade so zu kriegen. Außerdem stand er total auf Kaspars Humor, seine Stimme kribbelte Sebbi bis in den Magen, sein Stil, von den Haaren abgesehen, war cool und absolut nachahmungswürdig.

Und somit begann Sebbi ganz intensiv und sehr heimlich, sich mit Kaspar anzufreunden. Weder Susanne noch Beate durften das wissen. Die Feindschaft blieb bestehen und eigentlich sollten sie einander nicht mal kennen.

Weil es ihnen beiden total blöde vorgekommen war, hatten sie aus Scherz begonnen, sich nicht nur zu siezen, nein, sie trugen die Anredekultur einander gegenüber noch in neue Höhen. Kaspar hatte dies begonnen, sein zynischer Humor war dafür verantwortlich gewesen. Er nannte Sebbi 'geschätzter Untertan' und redete ihn mit der Adelsanrede an. Sebbi wandelte den Spitznamen Lord Helmchen in 'Eure Lordschaft' ab und folgte ihm in dieser Sache.

Die Eltern bekamen mit, dass ihre Söhne sich auf dem Tennisplatz verstanden, aber sie ahnten nichts von der tiefen Einigkeit und Freundschaft, die sie darüber hinaus mehr und mehr zu verbinden begann. Das Thema Helmers brachte in Sebbis Zuhause einen Sturm der Tiraden über jedes Vergehen, das in den letzten sicherlich zwanzig Jahren passiert sein mochte. In Kaspars Heim schien es nicht anders zu sein. Daher schwiegen beide.

Kaspar war gerade sechzehn geworden und hatte dies auf Befehl der Eltern und auch aus Gewohnheit ohne Sebbi gefeiert, als sich etwas änderte. Sie trafen sich zwei Mal in der Woche zum Tennis, einmal in der Woche zum Schwimmtraining und täglich in der Schule, als Sebbi beschloss, dass er Kaspar einmal fragen sollte, was dieser von den komischen Gefühlen der Verbundenheit, der Sehnsucht nach Nähe und insgesamt von Sex oder etwas in der Richtung hielt. Er brachte es jedoch bis Weihnachten nicht über sich, Kaspar zu fragen. Er fürchtete viel zu sehr vor einer zynischen Antwort und davor, dass er damit ihre Freundschaft aufs Spiel setzte.

Die Weihnachtsferien waren ohne Kaspar einsam, langweilig und nichts wert. Außerdem war Sebbi klar geworden, dass er Kaspar liebte und das war verstörend. Er hatte derart mit sich selber zu tun, dass seine Familie ihn nicht selten als unerträglich bezeichnete. Das Fest musste Sebbi mehr ertragen, als dass er sich über Geschenke oder das Essen freuen konnte. Seine Großeltern nervten ihn mit Fragen nach einer Freundin und seine Eltern machten ein saures Gesicht, als er Kaspar und das Tennisspielen einmal erwähnte.

Sebastian hatte die Ferien über Kaspar nirgends gesehen. Im Tennisverein nicht, auf dem Weihnachtsmarkt nicht und auch bei allen Läden im Ort nicht. Abends war er zwischen den zwei Kneipen hin und her gegangen, aber da waren nur die erlaubten Freunde. Kaspar war über die Ferien verschollen. Als er dann nach Neujahr wieder in die Schule gekommen war, sah er etwas blass aus, als hätte er Grippe gehabt. Auf Sebbis Nachfrage hin sagte er, dass Weihnachten in diesem Jahr für ihn ausgefallen sei. In den nächsten Wochen fehlte er viel, aber sagte nur, dass er viele Termine bei Ärzten habe, wenn ihn die anderen fragten.

Sebbi spielte immer Freitags im Doppel mit Kaspar. Das war ein von Seiten des Sex gesehen für ihn sehr anstrengender Tag, weil Sebbi Kaspar nicht nur in der Schule in der Pause in die Augen sah, während Kaspar ätzende Sprüche über Lehrer machte, sondern am Nachmittag auch noch und nicht nur das. Für fast zwei Stunden Training sah er ihm eher auf den Hintern. Dazu noch in diesen knappen Shorts, nicht selten angespannt vornüber gebeugt. Der Freitag war für seine Zurückhaltung der schwierigste Tag und er wählte ihn daher aus, um zu reden. Per Zufall war es ein Freitag der Dreizehnte, aber am Morgen konnte Sebbi noch nicht ahnen, wie abergläubisch ihn das in Zukunft machen sollte.

Morgens vor dem Spiegel räusperte er sich und starrte sich selber fest in die leider langweilig blauen Augen, um diesen Satz zu sagen. "Hört zu, Eure Lordschaft, wir kennen uns schon seit immer. Ganz ehrlich, ich finde, ich sollte es Euch langsam gestehen. Seit genau dieser Zeit bin ich auch, und zwar vollkommen, in Euch verknallt." Sebbi wiegte den Kopf und fand sich gar nicht schlecht. Kaspars Eloquenz war um einige Stufen besser, das war sicher, aber der gradlinige Ansatz, ein ehrlicher, kurzer Anfang und die korrekte Ansprache, das konnte etwas werden. Er räusperte sich noch einmal und hob an "Daher wollte ich Euch ersuchen,..." Ein Hämmern an der Badezimmertür unterbrach ihn. Seine kleine Schwester verlangte Eintritt und motzte "Und hör mit diesen bescheuerten Selbstgesprächen auf, du Hirni!"

Sebbi schloss auf und gönnte ihr den Mittelfinger, knallte die Tür erneut vor ihrer Nase zu und wandte sich unter ihrem Gemotze und an die Tür Hämmern seinem Äußeren noch einmal zu. Er wuschelte sich die braunen Haare mit Wasser in die Stirn, um einen Pickel zu verstecken, den er laut der nervigen Kosmetikerin nicht anrühren durfte. Dann öffnete er die Tür wieder und ließ sie ein, aber warnte sie "Wehe du nimmst wieder meine Creme!" bevor er davon zog.

In der Schule kam die erste Ernüchterung. Kaspars Sitzplatz schräg links beim Fenster im Erdgeschoss blieb schon wieder leer. Ein wenig besorgte dies Sebbi schon, während er in seinem Klassenraum auf die nächste Pause und damit auch auf mehr Informationen zu seinem Freund wartete. Es lenkte ihn derart ab, dass er den Vokabeltest vollkommen verhaute, weil er viel zu langsam war und mehr als die Hälfte der Vokabeln nicht wusste. Beim Abschreiben zum Ausgleich der Wissenslücke wurde er erwischt und bekam einen Eintrag ins Klassenbuch und eine Sechs. Außerdem kündigte der beknackte Englischlehrer Müller an, dass er auf dem Nachhauseweg wohl mal wieder in der Apotheke seiner Mutter vorbeischauen musste. Still fluchend kochte Sebbi sich durch die nächste Stunde.

Als Sebbi nach der dritten Stunde im Sekretariat nachfragen ging, teilte ihm die mies gelaunte Tippse dort mit, dass Kaspar Helmers mal wieder krank gemeldet worden war. Dann teilte sie ihm ungefragt mit, dass sie ihn nicht mochte, wie sie alle Teenager nicht ausstehen konnte und darauf erteilte sie ihm den Auftrag, sich schleunigst unsichtbar zu machen.

Sebbi verbrachte die restlichen Schulstunden nicht mehr besorgt. Kaspar wurde ja echt oft krank gemeldet in letzter Zeit, aber er war nie richtig krank. Er hatte irgendwie viele Arztbesuche, die von Susanne, einer durch und durch verständigen und praktisch orientierten Mutter, auf die Vormittage gelegt worden waren. Am Nachmittag tobte Kaspar dann stets wieder über den Tennisplatz oder machte scheußliche Musik mit seiner Band. Nie sagte er etwas, also war es nicht weiter schlimm. Insgeheim hatte Sebbi angenommen, dass der arme Kaspar irgendwelche peinlichen Zahnarztsachen über sich ergehen lassen musste.

Doch als Sebbi sein Fahrrad vor dem Vereinshaus anschloss, fegte dort Frau Klunke den Gehweg und tratschte mit der Putzfrau von der nebenan gelegenen Kneipe. Sebbi wollte lässig grüßen und vorbei gehen, um nicht ausgefragt zu werden, aber erstarrte in der Bewegung, als er vernahm. "… ja, das ist ja furchtbar, der armen Helmers ihr Sohn."

"Kaspar? Was ist mit Kaspar?"

Die Klunke fegte ein paar Mal hin und her, dann lehnte sie sich erneut auf den Besen. "Du, das ist tragisch, Sebbi, der hat Crêpes, du."

"Wat?! Crêpes?" Spontan bekam Sebbi Hunger und erinnerte sich daran, dass er das Mittagessen verpasst hatte.

Geduldig lehnte die Putze von der Kneipe sich dichter. "Na... da hat Frau Helmers ihn doch zur Uniklinik schaffen müssen. Da muss er doch jetzt Kemo haben, der arme Jung."

Und erst in diesem Moment dämmerte es Sebbi und sein Herz blieb fast stehen. Sein Hirn jedoch erarbeitete bereits mehrere Pläne. Er fuhr herum und starrte zur Uhr. Es war halb fünf. Es war zu schaffen. Grußlos rannte er zu seinem Rad zurück und schloss auf, schwang sich drauf und legte einen Sprint hin, der sich selbst auf der Tour de France blicken lassen konnte. Er schaffte es um eine Minute knapp nicht, sondern blickte dem sich entfernenden Regionalexpress zur Stadt hinterher. Freitag der Dreizehnte hatte so richtig begonnen und nahm rasch an Tempo zu.

Sebbi wollte sich gerade wieder auf das Rad schwingen, um dann eben zur Bushaltestelle und von dort in die Stadt zu fahren, als ein Wagen neben ihm hielt. Seine Mutter Beate und seine dämliche Schwester. Auf dem Weg zum Ballettunterricht, wie es aussah. "Se-bas-ti-an!" So silbenförmig hieß er immer, wenn er Scheiße gebaut hatte. "Was machst du hier?!"

Sebbi seufzte, schob das Rad neben den Wagen seiner Mutter und verkündete trotzig. "Ich fahr in die Uniklinik und besuche einen kranken Freund."

Seine Mutter war auf Zack. Außerdem saß sie als Apothekerin an der Informationsquelle für Krankengeschichten. "Sebastian! Du wirst nicht zu Kaspar Helmers fahren! Wer weiß, was der hat!"

"Das ist bestimmt nicht ansteckend!"

"Du bist in einer halben Stunde, wenn ich zurück bin, in deinem Zimmer und lernst, klar?!" War ja klar, dass seine Mutter das Thema jetzt nicht ausdiskutieren würde.

"Der scheiß Müller kann auch nix als petzen!"

Seine Mutter holte Luft, aber Hannah machte sich nützlich, indem sie maulte "Mama, wir kommen zu spät!"

"Du fährst sofort nach Hause, Sebastian! Wir sprechen uns noch!"

Wütend blickte er dem Wagen nach. "Bäbäbäh", murrte er an seinen Lenker gewandt. Von wegen sprechen, seine Mutter würde ihn anschreien, ihm Hausarrest aufbrummen und vermutlich irgendwelche beknackten Gartenarbeiten und das war es. Kaum war der Wagen um die Ecke, als Sebbi auch schon auf das Rad sprang und zur Bushaltestelle am Markt raste, um den blöden Bus wenigstens nicht zu verpassen. Er dachte nicht darüber nach, was später kam. Er musste erst in Erfahrung bringen, was sein Lord hatte. Crêpes. Typisch Klunke, ihn auf so was zu bringen, jetzt hatte er nicht nur Sorge um Kaspar sondern auch echt Hunger.

Der Bus schaukelte ihn, gnadenlos überhitzt, eine gute halbe Stunde lang bis zum Bahnhof in der Stadt, von dort fuhr Sebbi weiter mit der grünen Linie zur Klinik. Eine Oma, die ihren Mann besuchen fuhr, half ihm netterweise mit der Wegbeschreibung.

Sebbi kam gerade an der Kinderklinik an und starrte auf die Glastüren mit den bunten Bildern von Zirkustieren, als seine Mutter sein Handy zum zwanzigsten Mal anrief und er es ausschaltete. Eine Frau in der Information verwies ihn auf die Station Zwölf im ersten Stock, die Krebsstation. In den Fluren und im Treppenhaus roch es nach Desinfektionsmitteln und Sauberkeit, der Linoleumboden quietschte unter seinen Turnschuhsohlen.

Die Krebsstation roch irgendwie gar nicht mehr nach Desinfektionsmitteln, sondern tatsächlich nach Kuchen. Sebbi grinste. 'Crêpes-Station' stimmte dann ja doch. Der Kuchengeruch führte ihn zu einer kleinen Küche, in der eine junge Frau, vermutlich eine Therapeutin mit einer kleinen Gruppe Kindern verschiedenen Alters Muffins gebacken hatte.

Sebastian fragte nach Kaspar und erhielt einen Muffin und den Auftrag bei den Schwestern noch einmal zu fragen. Mit Nahrung ging alles etwas leichter und Sebastian hatte Glück. Auf dem Weg zum Schwesternzimmer blickte er auf die Türen. Überall tanzende Pinguine und Flamingos auf Inseln. Es war zu ätzend. Aber als er an einer offen stehenden Tür vorbei kam, erblickte er auf einem der Krankenhausbetten Kaspar.

Der dichte Mop dunkler Haare fiel ihm in die Stirn. Das violett schimmerte kaum noch durch und war rausgewachsen und nicht mehr von etwas anderem ersetzt worden. Er saß mit seiner schwarzen Cargohose und einem Schlabberhemd bekleidet im Schneidersitz auf einer Bettseite, ein dicker Junge mit kahlem Kopf im Trainingsanzug ihm gegenüber. Sie spielten Karten. Sebastian stockte in der Bewegung und biss aus Versehen vom Muffin ab. Somit hatte er den Mund voll, als Kaspar den Kopf hob und ihn entdeckte.

"Mein Untertan! Kommt Ihr, um mir unnötige Hausaufgaben zu bringen? Ich werde länger fehlen. Die Klasse mache ich vermutlich noch einmal."

Unglücklich kauend hob Sebbi die Schultern. Als sein Mund frei war, hatte Kaspar den Zimmernachbarn vorgestellt. "Tobi, der hat ein Sarkom, die arme Sau. Ich hab nur Leukämie, damit hat man eine viel bessere Prognose", verkündete er schonungslos.

Der kahle Tobi knuffte ihn einmal gegen die Schulter und murrte "Kann ich nix für, Mann. Aber ich fahr mal eben rüber zur Küche, die Muffins sind wohl endlich fertig." Er sammelte die Karten ein, rutschte vom Bett erstaunlich agil in einen Rollstuhl rüber und sauste auf Sebbi zu, der erschrocken in Deckung sprang. "Soll ich dir einen mitbringen, Kaspar?"

"Nö... nachher krieg ich meinen ersten Kurs Chemo. Die anderen haben alle gemeint, dass ich davon sicherlich kotzen muss. Lass man lieber." Er grinste Sebbi an. "Gibt Dinge, die will man nicht zweimal sehen."

Mit schwachen Knien taumelte Sebastian in das Zimmer und schloss hinter Tobi und seinem davon sausenden Rollstuhl die Tür. "Eure Lordschaft... Ihr seid... wirklich, ich meine, die Klunke hat gesagt, dass du Crêpes hast... ich dachte schon 'Pfannkuchen? Was soll das denn?', aber da sagte die Putze von nebenan, dass man dir Kemo verabreichen wird." Er holte Luft und ließ sich auf den Stuhl zwischen den beiden Betten fallen. Misstrauisch starrte er auf den Infusionsständer neben Kaspars Bett. "Was issn das für Zeugs?"

Kaspar kicherte rum wegen der Klunke und grinste ihn an. "Crêpes, au lecker! Es ist alles unter Kontrolle, mein werter Untertan. Die Dienerschaft hier hat gesagt, dass ich die Chemo erhalte und dann in einem guten halben Jahr mit allen Unannehmlichkeiten durch bin. Nix zum Fürchten..."

Sebastian ballte die Hände zu Fäusten und starrte seinen Freund an. Er war zu geschockt für ihr Spiel und brüllte "Was?! Spinnst du total?! Leukämie ist nix kleines! Das ist Krebs! Davon geht man tot!"

"Nein!" Jetzt schrie Kaspar auch. "Natürlich nicht!" Er senkte den Blick auf seine Finger. "Nicht immer, okay? Ich hab Glück gehabt, sagen die. Über achtzig Prozent Heilungschance. Ich hab... nich so ein scheiß Sarkom wie Tobi."

"Was?"

"Der meinte, dass..." Kaspars Stimme kippte und machte Sebastians Magen eng. "… dass er bald stirbt. Er hat all das schon hinter sich gehabt. Chemotherapie, Operationen, eine Bestrahlung und so und dann... haben sie im Gehirn was gefunden. Jetzt geht das von vorn los für ihn, die Operation am Kopf soll nächste Woche sein. Aber er... weiß, dass es nix bringen wird." Kaspar holte ungeduldig Luft und biss sich kurz auf die Lippe, dann war seine Stimme wieder fest. "Seine Ärzte sagen das nicht, seine werte Frau Mutter auch nicht, aber er weiß das. Gestern Nacht haben wir darüber geredet. Wir kriegen beide gerade total viel Cortison und davon kann man nicht schlafen. Das ist in der Nacht nicht kurzweilig genug in diesen Hallen. Seine Eltern wohnen weit weg, haben einen Bauernhof, können nicht immer kommen. Ich wollte Susanne nicht hier haben. Die ist nervig bei so etwas. Ich leiste ihm Gesellschaft. Ich hab... Angst. Um ihn, aber nicht um mich."

"Na tolle Wurst! Um ihn, ja? Was soll die Scheiße denn?! Ihr seid genauso krank, oder nicht? Was ist, wenn Ihr... ich mein, mit wem soll ich denn Tennis spielen, außerdem bin ich... total..." Er brach ab und starrte aus dem Fenster, an Kaspars Gesicht vorbei. Er holte Luft, wollte es endlich sagen, aber Kaspar unterbrach ihn.

"Könnt Ihr mich mal bitte aufbauen, wenn es keine zu große Mühe bereitet? Ich bin krank, okay. Ich hab auch Angst vor der ganzen Scheiße hier, aber so einen Untertan, der hier angerannt kommt und vom Sterben spricht, den kann ich gerade voll nicht brauchen."

"Verzeiht mir." Unsicher blickte Sebbi auf seine Schuhe runter. "Wo weilt Eure werte Mutter, Eure Lordschaft?"

"Kauft ein. Ich brauch noch neue Schlafsachen für hier und sie wollte mir neue Spiele für den Laptop holen, weil ich nächste Woche vielleicht in Umkehr-Iso muss."

"Umkehr-was? Wasn das?"

"Da machen die meine Tür zu und ein Schild dran, dass keiner zu mir darf. Ha, da halte ich dann mal Audienzen ab, wie sich das für meinen Stand gehört." Er senkte den Kopf. "Nein, in Wirklichkeit hängt das von meinen Leukos ab, von meiner Abwehr, versteht Ihr mich jetzt? Die Leukos waren von vornherein total schlecht, so ist das mit der Krankheit ja erst rausgekommen. Wer mich dann sehen will, muss Kittel und Mundschutz und so weiter tragen. Ich muss Mundschutz tragen und mich verkleiden in sterile Kittel und so, wenn ich mal raus muss aus dem Zimmer. Wenn ich mich dann nämlich mit meinen miesen Leukos bei so einem Untertan wie Euch mit Schnupfen anstecke, dann sterbe ich wirklich!"

Erstarrt blickte Sebbi seinen Kaspar an. "Bitte... hör auf damit! Scheiße, ich.... scheiße. Kaspar, ich..."

Die Tür schwang auf und zwei Ärzte und eine Krankenschwester kamen mit einem neuen Infusionsständer herein. Daran hingen einige Flaschen und Beutel mit verschiedenen Lösungen.

Kaspar seufzte und beantwortete die Fragen nach seinem Befinden und ob sie noch auf seine Mutter warten sollten. Dann ließ er sich von der Krankenschwester an die Infusionen und Pumpen anstecken und schloss kurz die Augen. Sie schwiegen, obwohl die Ärzte und die Krankenschwester, nachdem sie Kaspar noch auf verschiedene Sachen hingewiesen hatten, wieder gingen.

Sebbi starrte auf die Lösungen, die durch Schläuche in Kaspar hinein liefen. Er fragte sich, ob Kaspar etwas fühlte, ob ihm kalt wurde oder schon übel oder so.

Kaspar durchbrach das Schweigen schließlich. "Hey. Es ist nicht ansteckend. Ihr könntet ruhig, ich mein... du kannst gern..."

Sebastian hob den Kopf und blickte in die grauen Augen, sein Herz machte den schon so lang gekannten Hüpfer und er grinste. "Ich komm jetzt jeden Tag, Kaspar, nur dass Ihr das wisst. Ich scheiß auf Umkehr-Iso, die kann mich mal! Dann zieh ich mir eben Kittel und Mundschutz und alles an, was die wollen."

"Und, wenn mir eine solche Frage erlaubt ist, wozu?"

"Ich..." Sebbi holte Luft. "Ich..."

Die Tür schwang auf und Tobi kam herein gerollt. Er hatte zwei Muffins abgegriffen und platzierte einen auf seinem Nachttisch. Sein rundes Gesicht verzog sich ein wenig, als er sich auf sein Bett hievte. Erst jetzt sah Sebbi, dass ihm beim linken Bein alles ab dem Knie fehlte. Gleich darauf setzte er sich Kopfhörer auf und Sebbi konnte dank der Lautstärke sogar erkennen, welches Lied gerade lief. Das fand er selber auch gut. Dieser Tobi konnte garantiert nix hören.

Kaspar starrte ihn mürrisch an. "Und was? Ihr wollt mir Hausaufgaben bringen? Wie ein braver Untertan? Lasst mich bloß mit der verdammten Schule in Frieden!"

"Nein! Lass mich ausreden, Kaspar, verdammt! Ich..."

Die scheiß verdammte Tür schwang auf und Susanne stand darin. Ein wenig abgehetzt und mit weiten Augen stürzte sie zu Kaspar. Ihre langen dunklen Haare hatten sich zum Teil schon aus der Hochsteckfrisur verabschiedet. "Schatz, tut mir so leid! Jetzt haben sie schon angefangen, ja? Ich hab mich total beeilt, aber der Verkehr..."

"Mama, jetzt mach halt mal Pause! Es ist noch nichts passiert. Sie lassen doch grade mal den Vorlauf tropfen!" Gereizt wies Kaspar auf Sebbi. "Außerdem hatte ich Besuch. War jetzt echt okay, dass du nicht da warst."

Susanne blinzelte, dann nickte sie etwas abweisend. "Gut. Du, ich räume jetzt deinen Schrank mal richtig ein. Hier sind die Spiele und ich hab dir noch was zu Naschen mitgebracht. Sebastian, nicht wahr? Ist alles in Ordnung? Wolltest du Kaspar die Hausaufgaben bringen?" Sie wandte sich dem schmalen Kleiderschrank an der Wand zu. "Das brauchst du erst einmal nicht. Die Therapie wird länger dauern."

Sebastian, frustriert von dem Mangel an Privatsphäre und seinen eigenen überkochenden Gefühlen, verschränkte die Arme. "Nein!"

"Nein?" Susanne faltete Kleidungsstücke und stapelte sie in den Schrank, legte zwei Handtücher weg und schob Turnschuhe in Reihe.

"Ich wollte sehen, wie es ihm geht."

"Das ist aber nett." Es klang wie 'Zieh mal schnell Leine.'

Kaspar hatte irgendwie auch keinen Bock auf seine Mutter. Er setzte sich mehr auf. "Mama, du störst. Fahr doch nach Hause. Ich ruf an, wenn ich mich nicht gut fühle."

Sie fuhr herum, starrte ihn unsicher an. "Kaspar, aber du..."

"Echt jetzt! Sebbi ist doch da. Fahr nach Hause. Luna will dich auch mal sehen und die ist noch viel jünger als ich."

Unsicher legte sie zwei Beutel auf seinen Nachttisch. "Wenn du meinst. Ich... soll ich heute Abend noch einmal kommen?"

"Nö." Kaspar verschränkte die Arme. "Wir telefonieren, okay? Ich hab es eingesteckt, heute geht der Akku nicht aus."

"Ich rufe an, sobald ich..."

"Ruf nicht so früh an. Tobi und ich wollen noch den Film schauen nachher, der geht so bis zehn etwa."

"Oh..." Sie verwand die Hände. "Zehn Uhr? Aber wenn du dich schlecht fühlst, dann ruf sofort an, Kaspar. Ich komme zu dir, ja?"

Genervt blickte er zum Fenster. "Klar."

Seine Mutter drückte ihn an sich und streichelte seine dichten Haare. "Du, ich hab dir den Langhaarschneider von Lars mitgebracht. Doktor Schultz sagte gestern ja, dass die Haare auf jeden Fall bald ausgehen werden. Im Schrank liegen die Mützen, alle neu, du hast die ja noch nie gebraucht."

"Machen wir morgen oder so. Ist nicht eilig. Er hat auch gesagt, dass das nicht sofort passiert. Grüß Luna von mir. Sag ihr, dass sie den Fernseher ausleihen darf." Mit verschränkten Armen blickte er ihr nach, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Dann sah er Sebbi an. "Geh du auch. Ich... will das jetzt alleine machen."

Sebbi verschränkte die Arme. "Du kannst mich mal, Kaspar! Ich komm jetzt jeden Tag. Von wegen allein. Vergiss es!"

Kaspar reagierte anders als Sebbi gedacht hatte. Er drehte sich zu seinem Nachttisch und kramte eine Schülersaisonkarte für den Nahverkehr hervor. "Dann nimm die. Die gilt ab Bahnhof, dann musst du nicht blechen. Die gilt noch für fünf Monate. Brauch ich erst mal nicht. Glaub nicht, dass die mich so schnell wieder raus lassen."

Als Sebbi die Karte entgegen nahm, berührten sich ihre Finger. Sebastian hob den Kopf und sah in die wunderschönen grauen Augen, er ließ nicht los, Kaspar ebenfalls nicht. Typisch, dass er gegen halten musste. "Hey. Wenn du durch bist, dann feiern wir, okay?"

Kaspar nickte einmal, aber wandte den Blick zum Fenster. Es war kalt und grau draußen. "Wenn ich durch bin, ist Hochsommer", murmelte er leise. "Eigentlich..." Er blickte auf ihre Finger runter und ließ endlich los. "Weißt du, ich hab meine Diagnose zwei Tage vor Weihnachten bekommen. Das Fest war voll im Eimer... eigentlich würde ich das gern nachholen, wenn ich dann durch bin."

Sebastian blickte in die grau-in-graue Nebelwelt raus, dann nickte er. "Das machen wir so. Wir feiern Weihnachten voll nach, wenn du fertig bist. Das wird geil!"

Eine total dicke, rothaarige Krankenschwester kam herein und sah nach den Infusionen. Sie lächelte Sebbi zu, dann stieß sie Kaspar in die Seite. "Na, du Wicht! Ich hab es getan, wollt ich dir nur sagen."

Kaspar blinzelte, dann lachte er. "Du bist so krass, Carmen! Geil! Zeig her!"

Sie wurde rot, dann lachte sie etwas "Hm, aber nur weil du das bist... okay, schau weg." Sie zupfte ihren Kasak hoch und entblößte zu Sebbis Erstaunen einen total dicken Bauch. Auf Höhe des Bauchnabels war ein Pflaster. "Da isses drunter. So, du schaffst das jetzt auch, klar?!"

Kaspar nickte und grinste froh. "Ich pack das. Mein Untertan Sebastian hilft mir", verkündete er und bescherte Sebbi knallrote Ohren. Dann sagte er optimistisch. "Wir feiern Weihnachten dann nach, haben wir gerade beschlossen."

"Au, das wird fein. Da mache ich auf jeden Fall mit! Mein letztes war auch im Eimer." Carmen lachte. "So, her mit dem Ohr. Einmal Temperatur, dann stell ich dir dein Gift gleich an."

Sie ging zu Tobi weiter und zwängte das Thermometer zwischen Kopfhörer und Ohr für eine Messung, bevor sie ihm die Tabletten hinhielt, die er noch nehmen musste. Als sie aus der Tür war, sagte Kaspar "Wir haben eine Abmachung gehabt, weil ich vor den Untersuchungen vom Kopf solche Angst bekommen hatte. Ich musste mein Zungenpiercing rausnehmen dafür und das in der Lippe. Die Lippe hab ich wieder reingekriegt, aber nicht das in der Zunge. Sie hat versprochen, sie macht sich das Bauchnabelpiercing, obwohl sie sich etwas zu mollig fühlt dafür und ich mach die Untersuchungen und Chemo wie ein echter Held und hör auf rumzuheulen wegen der scheiß Piercings."

"Wow, jetzt hat sie voll vorgelegt, Eure Lordschaft!"

"Hm. Die Carmen ist toll. Die ist echt nur so dick, weil es sie eigentlich zweimal geben sollte."

"Das Piercing ist echt raus? Ist die Zunge denn in Ordnung?"

"Natürlich." Und Kaspar streckte Sebbi seine Zunge raus, in deren Mitte man noch ein nicht ganz verheiltes kleines Loch sehen konnte. Sebbi blinzelte die Zunge an und dachte an seinen Plan mit dem Knutschen und dem Sex. Mit einem Mal war ihm heiß. Er holte Luft, aber wurde von Kaspar unterbrochen, der seine Arme verschränkte. "Jetzt brauch ich mal meine Ruhe hier. Tschüss."

Und damit musste Sebastian sich verabschieden, weil Kaspar ihm nach diesem recht gefühllosen Abschied mahnend in Erinnerung brachte, dass er sonst keinen Bus bekommen würde. Es klang auch ganz so, als wollte er ihn loswerden.

Sebastian fühlte sich merkwürdig als er auf dem Fahrrad wieder nach Hause fuhr. Sein Lord Kaspar Helmchen hatte Crêpes und zwar volles Pfund und so richtig dolle. Es machte ihm total Angst, aber zugleich hatte es ihn sicherer gemacht, als er gedacht hatte. Er würde es Kaspar sagen. Den eingeübten Satz würde er ihm sagen, wenn es passte und sie vielleicht mal fünf Minuten allein waren. Das Auf und Ab des Tages hatte ihn außerdem ziemlich ermüdet. Sebbi bekam eine neue Fönfrisur, so sehr schrie seine Mutter ihn an, kaum dass er durch die Tür zur Küche war. Aber er schnitt ihr das Wort mit nur einem Satz ab. Er musste nicht einmal zurück schreien. Er sah sie äußerst erschöpft an und sagte "Kaspar Helmers hat Krebs. Leukämie."

Das reichte hin, damit war sie sofort total still. Er konnte dann in aller Ruhe zu seinem Zimmer gehen, während hinter ihm am Esstisch die Hölle ausbrach. Das war ein echt heftiger Tag gewesen, aber alles in allem hätte Sebbi nur eine Sache gern anders gemacht. Den Satz, den er am Morgen vor dem Spiegel gesagt hatte. Diesen einen Satz hätte er doch gern auch wirklich zu Kaspar gesagt. Er blickte am Abend in den Spiegel und tupfte seine teure Creme auf den Pickel. "Dann sag ich das eben morgen."

Kapitel zwei - Helm ab

Sebbi sollte es nicht schaffen, seinen Kaspar über irgendwelche Gefühle zu informieren. Er verbrachte das Wochenende nicht so sehr in der Kinderklinik, wie er sich das gewünscht hatte. Kaspar wollte nicht. Zuerst bekam er noch tonnenweise Besuch von seinen Schulfreunden und Freunden aus der Band, dann lehnte er Besuch schlicht ab. Er wies auch Sebbi von sich, vor allen Dingen am Sonntag, als er leider mit dem Kotzen angefangen hatte.

Am Montag brachte Sebbi ihm und Tobi Musik mit, da ging es Kaspar etwas besser, aber sein Mund war kaputt, so dass er kaum essen konnte. Das Piercing hatte auch von der Lippe wieder gehen müssen, weil es sich zu entzünden drohte. Während Kaspar schweigend im Bett brütete und Salbeitee nippte, unterhielten Sebbi und Tobi sich erstaunlich angenehm über Musik.

Am Dienstag waren Kaspars Haare am Ausfallen, er konnte kaum essen und trinken, weil ihm der Mund und der Hals so sehr schmerzten. Übel war ihm auch noch etwas. Die Ärzte hatten Infusionen angesetzt und wollten das Schmerzmittel umstellen. Sebbi musste daher bald gehen, weil Kaspar schlafen wollte und drehte mit Tobi noch eine Runde durch den verregneten Park, bevor er zum Bus zurückging.

Am Mittwoch, als Sebbi vorsichtig um die Ecke blickte, fand er Kaspar mit dem Langhaarschneider in dem kleinen Duschbad vor. Tobi war unterwegs, weil endlich mal die Sonne schien. Susanne musste arbeiten.

Sebbi ließ seine Tasche fallen. "Wie sieht es aus?"

Kaspar hob müde den Blick, seine Strahleaugen wirkten matt. "Geht so." Mürrisch stellte er den Langhaarschneider an und wieder aus. Das Surren und die Stille untermalten seine Worte. "Heute haben sie mir Morphium gespritzt." An, es surrte. Aus, Stille. An. "Jetzt kann ich wenigstens was trinken." Aus. An. "Mir ist aber etwas schlecht davon und ich bin voll müde geworden." Aus. "Ich bekomm noch Infusionen mit Vitaminen und so." An, das Surren mischte sich mit seiner etwas heiseren Stimme. "Meine Leukos fallen, das ist äußerst unangenehm."

Sebbi nahm ihm gereizt von der Depristimmung den Langhaarschneider ab und stellte ihn aus. "Okay. Und die Haare fallen aus. Das ist scheiße... obwohl, die Frisur war auch echt Müll, Eure Lordschaft."

"Was?!"

"Na. Alle haben dich Lord Helmchen genannt wegen der Matte. Wenn ich so geile Haare hätte, würd ich die viel cooler stylen!"

"Wenn ich die nicht hätte, dann würden sie nicht ausfallen!"

"Seht es als Chance. Endlich könntet Ihr euch eine neue Frisur aussuchen, wenn sie dann wieder wachsen... Ehm, sie wachsen doch wieder? Bei Eurem Tempo seid Ihr Ostern schon wieder Lord Helmchen und alles ist gut."

Sebbis hilflose Beleidigungen hatten dann doch Erfolg. Kaspar lachte auf und nickte. Er grinste Sebbi im Spiegel zu. "Mein Untertan. Helft mir doch mit dieser Sache, seid Ihr so gut?" Er seufzte und fiel dann doch aus der Rolle. "Ich bin echt irgendwie zu müde und ich will Mama da nicht ran lassen. Zu peinlich. Die heult dauernd."

Sebbi blinzelte dumm, dann grinste er noch dümmer, schließlich nickte er und zog sich seine Jacke aus, um sie nebenan auf einen Stuhl zu werfen. Unsicher trat er näher, dann zog er den Hocker unter dem Waschbecken hervor. "Okay. Helm runter! Setzt Euch, dann komm ich gut an alles ran." Er sah sich um. "Haben die hier 'nen Besen, damit ich die Wolle dann wegfegen kann?" Er stieß Kaspar in die Seite. "Soll ich die Haare aufheben für alle Fälle? Wenn die doch nicht mehr nachwachsen, könntet Ihr Euch einen neuen Helm machen lassen."

Kaspar schnaubte noch immer nicht wieder in seiner Rolle "Besser du hörst mal auf Müll zu labern und legst los."

Und Sebbi legte los. Erst einmal unsicher... tastend. Er wagte es kaum, Kaspar zu berühren. Tatsächlich, die Haare konnte man schon büschelweise ausziehen. Einmal über den Kopf streichen reichte aus. Erschaudernd ließ Sebbi sie auf den Boden fallen. Er schob seine Finger dann jedoch mutiger in die Haare und genoss das Gefühl, Kaspar berühren zu dürfen. Er genoss es, die Gänsehaut zu sehen, die sich auf Kaspars Hals zeigte, als Sebbi sein Gesicht zur Seite schob, um von der Schläfe anzusetzen.

Die Haut zu berühren war immer schon schön gewesen. Meist aus Versehen, oft in eine Rangelei verstrickt oder wenn sie sich beim Tennis die Hand reichten nach einem Spiel. Nie einfach so, um einander zu berühren. Jetzt war es etwas Besonderes. So sachte zu streicheln, wie Sebbi sich das immer geträumt hatte, das war göttlich. Der Langhaarschneider surrte, die Haare segelten um sie her zu Boden und sie schwiegen. Sebbi strich durch die Haare, an Kaspars Ohren vorbei und seinen Hals entlang und liebte diesen Tag. Zugleich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil Kaspar diesen Tag sicherlich hasste.

Es dauerte verdammt lang, all das Haar herunter zu holen und am Ende, das musste Sebbi zugeben, sah Kaspar verdammt schlecht aus. Spitz und krank im Gesicht. Mies gelaunt wie eine Wespe Ende August und zugleich irgendwie ruhig. Seine Kopfform war aber für so kurze Sachen gut. Rund und lieb. Ein schöner Kopf.

Sebbi ließ den Apparat verstummen und gönnte sich eine letzte Berührung, als er mit den Fingern über den Kopf fuhr und letzte lose Haare fort strich. "Fertig. Steht Euch ausgezeichnet."

Mit etwas zitternden Fingern strich Kaspar sich über den Kopf. "Scheiße." Er stand mühsam auf und starrte sich selber im Spiegel an. "Das steht mir nicht... total nicht, Sebbi."

"Doch. Aber wenn Ihr das nicht mögt, Pech. So bleibt Ihr die nächsten Wochen." Sie sahen einander im Spiegel in die Augen und Sebbi knuffte ihn etwas. "Das wird wieder."

"Ich seh krank aus, Sebbi. Total als ob ich bald abkratze." Tränen bildeten sich in Kaspars Augen, liefen zusammen, machten Sebbi Panik. "Meine verdammten Leukos fallen und fallen und ich..." Jetzt liefen ihm die Tränen über die Wange.

Sebbi ließ den Langhaarschneider ins Waschbecken fallen und umarmte seinen Freund. Er hätte es nie gewagt, wenn es nicht so eine Stressreaktion gewesen wäre. Er zog ihn gegen sich und drückte seinen Kopf mit einer Hand gegen seine Schulter. Kaspar hatte noch nie geweint. Nicht in seiner Gegenwart jedenfalls. Nicht einmal, als er sich das Handgelenk verstaucht hatte bei einem Sturz auf dem Tennisplatz. Nicht einmal, als sein Hund überfahren worden war. Und jetzt war Sebbi herzlich froh darüber. Es tat ihm so sehr weh, diese Tränen zu sehen, nicht wirklich etwas dagegen tun zu können, dass er den Schmerz kaum beherrschen konnte.

Sie standen in dieser Umarmung wie eingefroren da. Und irgendwie wollte keiner von ihnen damit aufhören. Sebbi spürte, wie seine Wange die von Kaspar berührte. Er spürte, dass er ihm über den Rücken streichelte und er spürte, wie Kaspars Finger sich in seinen Pullover krallten. Es war wie in seinen Träumen nur schöner... und zugleich schlimmer. In seinen Träumen war Kaspar gesund und fröhlich gewesen. Zynisch und hochnäsig. Nicht müde, traurig und mutlos. Und zugleich wie ein zarter Vogel, zerbrechlich und wertvoll. Sebbi wollte ihn beschützen, aber wusste nicht, ob Kaspar ihn wirklich lassen würde. Zulassen. Schweigend genoss er daher die Nähe, so lang sie ihm erlaubt war.

Sie standen noch immer so da, Arm in Arm, als Carmen herein kam. Sie blickte in das Bad, nachdem sie Kaspar auf dem Bett nicht gefunden hatte und sah sie an. Dann lächelte sie und sagte leise an Sebbi gerichtet "Ihr habt es getan. Wow. Ich hol den Besen, bring du Kaspar zum Bett."

Und während Sebbi Kaspar ein Taschentuch aus seinem Nachtschrank holte und von Kaspar eine Tüte Gummibärchen geschenkt bekam, weil der keine mehr sehen konnte und sie einander nicht in die Augen zu sehen wagten und beide rote Ohren hatten, fegte Carmen die Haare zusammen und brachte sie fort. Dann kam sie zum Temperatur messen und Blut abnehmen und setzte sich ächzend auf das Bett neben Kaspar.

"Ich bin mir sicher, dass jemand, der solche Haare hatte wie du, so viel und wild, dass der auch wilde Leukos hat. So richtige Kampfkrabbler."

Kaspar hatte sich gefangen. "Hoffen wir es", flüsterte er leise und blickte starr auf die Röhrchen, die sich mit seinem Blut füllten.

Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Als Sebbi nach zwei Tagen, an denen er nicht hatte zu Besuch fahren können, am Samstag in die Klinik kam, war an der Tür das Schild angebracht. "Umkehr-Isolation, Besucher bitte im Schwesternzimmer melden" Und Sebbis Herz machte einen sehr unangenehmen Satz. Sein Kaspar war in Gefahr! Er war traurig, er musste leiden, er konnte sterben! Hysterisch lief Sebastian zu den Schwestern. Diese beruhigten ihn ein wenig. Er ließ sich voller Ungeduld zeigen, was er bedenken musste, bevor er im Laufschritt zum Zimmer stürzte.

Einen blauen Papierkittel anziehen, einen Mundschutz aufsetzen, eine vollkommen bescheuerte Mütze auf die Haare und die Hände gut desinfizieren, dann Handschuhe überziehen. Als er endlich so ausstaffiert in das Zimmer kam, war Tobi daraus verschwunden. Kaspar lag allein. Das zweite Bett war frisch bezogen und mit einer Schutzhülle abgedeckt. Kaspar hockte auf seinem Bett und schaute einen Film. Er hob den Kopf, den kahlen Kopf und blickte Sebbi an. Nicht einmal mehr Stoppeln waren da, alles glatt und wie neu. Seine Augen wirkten viel größer und sein Gesicht sah weich und verletzlich aus, wie das eines Babys. "Hey." Er grinste schwach. "Untertan! Ihr seht äußerst bescheuert aus. Ich mach gleich mal ein Foto."

"Ihr aber auch, Eure Lordschaft." Sebbi stockte und senkte den Kopf. So hatte er es nicht sagen wollen.

Aber Kaspar grinste ein wenig. "Die Wimpern und Augenbrauen sind das. Sie sind zusammen mit ganz vielen Haaren gestern ausgefallen. Mit einem Mal ging das los. Ich... schaue total beknackt aus, oder? Ich fühl mich so richtig krank, wenn ich mich sehe."

"Hm. Ja. Kommt hin. Die haben gesagt, dass du jetzt tatsächlich diese scheiß Umkehr-Iso hast. Weißt du schon wie lange?" Sebbi war zu hysterisch für ihre Rolle und wagte es nicht, näher an das Bett zu gehen.

Kaspar hob die Schultern, dann schüttelte er den kahlen Kopf. "Vermutlich eine Woche, dann müsste ich mich erholt haben. Ich brauch Leukos von über eins, besser eins Komma fünf. In zwei Wochen krieg ich den nächsten Kurs Chemo und dann noch zwei Male... in drei Monaten etwa bekomm ich die Bestrahlung und die Stammzellen."

"Was?!"

"Ich dachte auch bis gestern, dass ich ohne auskommen werde. Die Ärzte haben das gestern mit Mama und mir besprochen. Ich werde ja nach einem Studienprotokoll für Kinder behandelt. Das Protokoll ist wie eine Art Kochrezept. Danach bekomm ich an bestimmten Tagen meine Gifte und so. Und da steht dann auch die Stammzellsache an. Meine Zellen haben gut reagiert, aber eben nicht gut genug oder so."

Hilflos blickte Sebbi seinen Freund über den nervigen Mundschutz hinweg an. "Was wird denn da gemacht?"

"Erst machen sie mir mit Chemo all mein Knochenmark kaputt. Zur Sicherheit machen sie noch eine Bestrahlung hinterher. Gleich danach bekomm ich dann Stammzellen. Die sollen mein krankes Knochenmark dann ersetzen und mich gesund machen. Aber erst bekomm ich noch zwei Kurse Chemo."

"Scheiße ist das heftig!" Total erledigt ließ Sebbi sich auf den Stuhl fallen.

Kaspar hob den Kopf. "Was soll das denn jetzt? Kannst du mich bitte mal aufmuntern, wenn du mir hier schon dauernd auf den Geist gehen musst?!"

"Ich... mach das, bestimmt. Ich bereite das Weihnachtsfest vor, das ist doch was." Unruhig erinnerte sich Sebbi just daran, dass er nicht dazu gekommen war, sich etwas zu einem Sommerweihnachtsfest zu überlegen. Er hatte zwischen Schule, Tennistraining, den Besuchen bei Kaspar und dem Stubenarrest, den er dafür bekam, kaum noch Zeit für anderes.

Gnadenlos blickte Kaspar ihn an. "Hm. Besser Ihr macht das, mein Untertan. Habt Ihr einen Plan?"

Sebbi hatte keinen Plan, aber er hatte Panik, Angst um Kaspar und wollte ihn zugleich nicht sehen lassen, wie schlimm es um ihn stand. Anstelle etwas Sinnvolles zu sagen, rief er mit einem Mal verzweifelt "Ich liebe dich!"

"Eh? Willst du mich verarschen?!"

Sebbi kratzte sich den Kopf mit der dämlichen Stoffhaube und zuckte mit den Schultern, dann hob er den Blick und sah zu seinem Erstaunen, dass Kaspar sich selber einen Mundschutz umlegte. "Was soll das denn?"

"Du willst mich verarschen. Da steh ich voll nicht drauf. Ich mach jetzt einen Mundschutz um und dann sagst du das noch mal... aber ich seh dein Gesicht dabei."

Unglücklich und etwas wütend blickte Sebbi zu Boden. "Du bist so doof. Ich sag dir... das halt und du... du nimmst mich nicht ernst."

Kaspar schob die elastischen Bänder hinter seine Ohren und nickte Sebbi zu. "Nee. Natürlich nicht. Runter mit dem Mundschutz!"

Seufzend nahm Sebbi den Mundschutz ab und sah ihm in die großen Kulleraugen. "Ich sagte: Ich. Liebe. Dich." Er zuckte mit den Schultern. "Schon immer. Tut mir leid. Kann das doch auch nicht ändern, Kaspar. Ich wollte das nicht. Susanne und meine Eltern wollten das bestimmt auch nicht, aber ist eben so."

Kaspar starrte und blinzelte ihn an mit seinen etwas zu bleichen, etwas zu eingefallenen Wangen und dem dicken Pulli, der Sebastian echt gut an ihm gefiel. Er holte Luft, um etwas zu sagen, aber sagte dann nichts. Endlich fragte er etwas heiser "Was hast du dir denn für jetzt vorgestellt?"

"Vorgestellt?"

"Na, was wir nun machen?"

Sebastian ließ den Kopf hängen. "Ich hab an drei Möglichkeiten gedacht."

"So, drei gleich? Welche denn?"

"Keine hatte diese scheiß Mundschutzsache darin, also ist das jetzt egal."

"Nö. Erzähl trotzdem."

"Nummer eins. Du lachst mich aus und redest nie wieder mit mir. Nummer zwei, du haust mir ein paar und redest nie wieder mit mir."

"Hm. Das geht beides auch voll gut mit Mundschutz. Klingt außerdem nicht sonderlich optimistisch, wenn du mich fragst."

"Bin ich auch nicht. Schau mich doch mal an und dann dich... ich... bin..."

"Gesund? Und dann schau mich mal an, okay?!"

"Hm. Du bist eben sogar krank toll."

"Ach, halts Maul! Dein Romantikscheiß zieht nicht bei mir, klar? Was ist Nummer drei?"

Sebbi spürte, dass seine Ohren sich erhitzten. Heiser flüsterte er "Wir knutschen rum."

Genervt verschränkte Kaspar die Arme. "Nummer drei ist nicht. Das ist Müll, klar?!"

Es tat so weh, diese Worte zu hören, dass Sebbi sich voll und ganz fühlte, als habe sein Liebling, sein Schwarm und Ein und Alles die Nummer zwei gewählt und ihm eine reingehauen. Mit schweren Bewegungen stand er vom Stuhl auf und sah zu Boden, wagte es nicht, diese herrlichen Augen noch einmal anzublicken. "Hey, aber darf ich... noch hin und wieder vorbei kommen? Ich mach Euch das Weihnachtsfest, ganz bestimmt, Eure Lordschaft."

"Hä?!"

Sebbi scharrte ein wenig mit den Füßen und wandte sich ab. "Wenn Ihr das natürlich auch nicht wollt, dann..."

"Bist du doof?! Ah, aua! Verdammte Scheiße!"

Kaspar war vom Bett aufgesprungen und hatte dadurch zu heftig an der Infusion gerissen, der Ständer neigte sich zum Sturz. Entschlossen stürzte Sebbi nach vorn und warf sich dazwischen. Ein scharfer Schmerz an seinem Kopf informierte ihn darüber, dass er richtig gehandelt hatte. Er hatte den Kranz Metallhaken voll auf den Schädel bekommen, aber das war ihm lieber, als wenn Kaspar was abbekommen hätte. Ungeschickt stellten sie das Teil wieder auf.

Ächzend ließ Sebbi sich auf den Stuhl fallen und tastete seinen Kopf durch die Haube hindurch ab. Kein Blut, aber das gab bestimmt eine Beule. Kaspar friemelte an dem Gewusel aus Schläuchen, dann kam er samt dem etwas quietschenden Infusionsständer auf die andere Seite vom Bett. Er trug noch immer den Mundschutz, aber seine Augen starrten Sebbi derart direkt an, dass dieser hastig den Blick senkte.

"Habt Ihr Euch was getan?"

"Hm. Nur eine Beule."

"Geschieht Euch recht!"

"Wieso das schon wieder?!"

"Wieso rennst du denn weg?" Kaspar schob den Ärmel seines Pullovers hoch und ließ sich wieder auf das Bett fallen. "Ich war noch nicht fertig."

"Ich schon. Wenn du mich nicht magst... nicht so magst, dann..."

"Knutschen. Das geht nicht, Sebbi! Wo hast du denn dein Hirn?!"

"Was?!"

"Na, hallo? Schon mal den Mundschutz hier gesehen und deinen scheiß hässlichen Kittel und all den anderen Kram? Wenn wir jetzt knutschen, dann sterbe ich!"

"Immerhin. Stell dir vor, wir knutschen nicht und du stirbst."

Kaspar blinzelte, dann haute er Sebbi mit der flachen Hand auf den sowieso schon malträtierten Schädel. "Du Arsch! Seh ich aus wie die beknackte Julia oder was? Ich will leben verdammt noch mal!" Er wandte sich knurrig ab und verschränkte die Arme. "Außerdem... außerdem ist mein Mund kaputt, alles schmeckt und riecht nach Moder oder Öl für mich, ich hab voll Gewicht verloren, seh aus wie ein Alien und ich... ich..." Er brach ab und starrte aus dem Fenster.

Unsicher ließ Sebbi sich neben ihm auf dem Bett nieder. "Hey... Wenn du deine Cyberstrahlensache durch hast, dann feiern wir Weihnachten, ganz egal wann das ist und dann knutschen wir. Ja?"

Heiser flüsterte Kaspar endlich "Vorher. Hinterher sind meine Leukos bestimmt wieder im Arsch."

Mit einem Grinsen stimmte Sebbi zu. Da war er wieder, der praktisch orientierte Kaspar. "Okay. Vor der Cybersache feiern wir Weihnachten und knutschen. Das ist bestimmt gut, prophylaktisch."

Kaspar nickte, jetzt grinste er auch. "Profi-laktisch."

"Gegen Crêpes."

Sie lachten beide und Sebbi wagte es, eine Hand auf seine Schulter zu legen. Durch den von innen schon vollkommen verschwitzten Handschuh konnte er nichts fühlen, aber es tat ihm total gut, dass er da sein durfte. Er war außerdem erleichtert, dass die Vorstellungen Nummer eins und zwei irgendwie nicht mehr in Frage kamen. Sie schwiegen und hockten im dunkler werdenden Zimmer. Irgendwie war jetzt alles klar. Jeder hatte sein Ziel. Kaspar den Kampf gegen Cybercrêpes und Sebbi das profi-laktische Weihnachtsfest im Hochsommer und eine Knutscherei, die all das hoffentlich wert gewesen war.

Bevor er ging, beugte Sebbi sich kurz vor und lehnte sein Gesicht kurz gegen den kahlen Schädel. Die Haut war glatt und warm. Kaspar zuckte nicht fort, sondern seufzte einmal, aber drehte sich erst herum, als Sebbi sich den Mundschutz um bastelte, um sich zu verabschieden.

Mechanisch schaltete Kaspar das Licht ein und nahm den Mundschutz fort. "Bitte, sag niemandem was von unserem Abkommen."

Kapitel drei – Heiße Deko

Sebbi sagte niemandem etwas davon, dass Kaspar und er ein Date hatten, zu einem profi-laktischen Knutschen gegen Crêpes, aber das Wissen darum half ihm über die nächsten harten Wochen hinweg.

Kaspar musste tatsächlich noch eine Woche in der Klinik bleiben, dann konnte er nach Hause. Sie kamen trotz einigermaßen stabiler Leukos nicht dazu, auch nur an das Knutschen zu denken, weil Susanne sofort mit Kaspar auf Erholungsurlaub zu seiner Oma fuhr und sie nicht einmal miteinander sprachen. Als Kaspar wieder in seiner Residenz weilte, war er auch schon wieder auf dem Weg zum nächsten Kurs Chemotherapie.

Tobi hatte eine Operation am Gehirn und danach eine Bestrahlung, als Kaspar auf der Krebsstation für die Voruntersuchungen aufgenommen wurde, war auch er wieder mit im Zimmer. Seine Eltern und Geschwister kamen oft auf Besuch, sein Geburtstag wurde gefeiert am Tag, bevor Kaspar seine nächste Chemotherapie erhielt.

Sebbi schenkte Tobi Schokolade, weil er nicht viel Geld hatte, ihn aber nicht außen vor lassen wollte. Komischerweise war Tobi nach seinem Geburtstag ziemlich sauer auf seine Familie. Mit verschränkten Armen hockte er in seinem Bett und starrte auf Kaspar, der seine Chemo anstarrte. Die Atmosphäre war irgendwie gereizt und komisch, so dass Sebbi Tobi fragte "Ist was passiert?"

"Nee."

"Tobi ist sauer auf seine Eltern." Kaspar löste den Blick von seiner Infusion. "Er hat sich neue Turnschuhe gewünscht."

"Hm." Das war logisch, das Foto von der Werbung hatte Tobi ja wochenlang an seinem Nachttisch hängen. Die sahen außerdem total geil aus, da gab es keine zwei Meinungen.

"Sie haben ihm andere besorgt, viel günstigere. Und dann sagt sein Vater, als er nicht froh genug war, dass er ja nur einen braucht und dass das echt zu viel Geld wäre, ein Paar von diesen guten zu kaufen." Verächtlich blickte Kaspar zu den falschen Schuhen rüber.

Und Sebbi konnte voll und ganz verstehen, dass Tobi total sauer war, dass er von dem geschenkten Paar den Schuh nie tragen wollte und dass er wie die Inkarnation der schlechten Laune im Bett hockte. "Das tut mir leid, Tobi. Und was fängst du jetzt mit den Schuhen an?"

"Spenden." Grummelig stülpte sich Tobi die Kopfhörer über und ertränkte seinen Ärger und die Enttäuschung in lauter Musik.

Sebbi blieb nicht mehr lang, seine Eltern waren bereits schrecklich misstrauisch und kontrollierten die Zeiten, zu denen er nach Hause zurückkehrte. Er wagte es nicht, Kaspar zu berühren, bis er gehen musste und ihn kurz umarmte. Griesgrämig zog Sebbi von dannen und hoffte, dass Kaspar diese Runde mit dem elenden Gift besser überstehen würde. Die Hoffnung erfüllte sich leider nicht.

Dieses Mal rauschten Kaspars Blutwerte derart in den Keller, dass Sebbi ihn bei einigen seiner Besuche auf der Intensivstation sehen musste. Kaspar war derart schwach, dass er nichts dagegen sagte, als Susanne Sebbi mit ziemlich mieser Stimmung fort schickte. So konnte Sebbi nur selten und dann auch nur kurz seine Hand halten. Dazu dann auch nur durch die bescheuerten Gummihandschuhe.

Als Kaspars Leukos wieder stabiler waren, rutschte das Knutschen in weite Ferne, weil Sebbi nicht konnte. Und das lag daran, dass Sebbis Noten sich nicht so stabil verhielten wie die verdammten Leukos. Im Unterricht dachte er leider einen Hauch zu oft daran, wie schön es sein könnte, mit Kaspar zusammen zu sein oder wie es ihm wohl ging. Als Kaspar auf Intensiv lag, dachte er den Tag an nichts anderes als daran, wie die nächsten Nachrichten von Kaspar ausfallen mochten, wann sein Körper wieder stärker wurde, ob er es schaffen konnte. Er war von dem scheiß Müller erwischt worden, als er Kaspar eine Nachricht geschrieben hatte, was ihn sein Handy gekostet hatte. Erst für den Unterrichtstag, dann nachdem der Müller mal wieder petzen war, für den restlichen Monat. Er rauschte mit den Zensuren geradezu in legendärer Form ab, die Versetzung war kurz vor Ostern stark gefährdet.

Seine Mutter reagierte mit Nachhilfeunterricht, einer ganzen Reihe von Strafen und drei hysterischen Anfällen darauf. Sein Vater traktierte Sebbi mit besorgten Fragen, ob er eine Freundin habe und ob sie nicht mal so langsam 'diese Unterhaltung' haben sollten. Sebbi lehnte das ab, dachte kurz daran, ob er sagen sollte, dass er keine Freundin haben würde, weil er mit Kaspar Helmers zusammen war. Dann fiel ihm ein, dass Kaspar das nicht öffentlich machen wollte und er schwieg.

Das Schweigen, die schlechten Noten und seitens Kaspar die erneut schlechten Leukos zogen sich durch das Frühjahr. Sebbi hatte Zuhause einiges auszuhalten. Sogar seine Schwester Hannah hatte schließlich gar an einem Tag mal Mitleid mit ihm und fragte nach, was denn los sei. Unglücklich und zugleich misstrauisch blockte er sie mit einem "Dafür bist du noch zu klein." ab.

Doch endlich kam der Sommer und Kaspar hatte nach dem letzten Kurs Chemo dann ein paar Wochen Pause, bevor er sich auf die Stammzellen stürzen würde. Erst Induktionschemo, dann Bestrahlung des ganzen Körpers und endlich die restlichen Geschichten, die ihm dann hoffentlich das Leben retteten, die ihn unter Umständen aber auch umbringen konnten.

Sebbi hatte alles bereits oft gehört und kannte sich mittlerweile genauso gut aus wie Kaspar und Tobi, der erneut im Zimmer aufgetaucht war, um eine weitere Chemo und eine Bestrahlung des Kopfes über sich ergehen zu lassen.

Während Kaspar auf einer Erholungsreise mit der Mutter an der See weilte und dort, nach eigenen Angaben die miese Laune von seiner Mutter und seiner bescheuerten Schwester ertragen musste, hatte Sebbi vollkommen nutzlosen Nachhilfeunterricht über sich ergehen lassen, durfte nicht mehr zum Tennis und schon gerade nicht mit Kaspar telefonieren. Er wurde ziemlich streng überwacht und war in der Schule trotzdem schlecht wie nie zuvor. Sebbi war nervös. Seine Eltern waren vollkommen sauer auf ihn. Erst war er nämlich mit allem was dazu gehörte so gut wie dabei, sitzen zu bleiben, dann weigerte er sich, mit den anderen zusammen in den Urlaub zu fahren und endlich hatte er sich aus dem Haus geschlichen und die Nacht bei Kaspar auf der Intensivstation verbracht, als dieser einmal nicht nur keine Leukos mehr hatte, sondern auch Fieber.

Tobi und er hatten sich vor der Tür der Intensiv getroffen, als Sebbi da in der Nacht vorbei geschlichen kam. Tobi hatte sein eigenes schweres Los, die Bestrahlung am Kopf hatte gut gewirkt, auch wenn er davon müde geworden war. Aber die letzten Untersuchungen hatten gezeigt, dass die Herde in der Lunge wieder etwas größer geworden waren. Eine neue Chemo war angesetzt.

Sebbi bewunderte, mit welcher Gelassenheit Tobi ihn begrüßte und wie er sich Sorgen um Kaspar machte und nicht an sich selber dachte. Spontan lud Sebbi ihn zu ihrem Weihnachtsfest ein und erzählte in einem Anfall von Hysterie von den Plänen, die Kaspar und er hatten, ihr Fest nachzufeiern. Komischerweise fand Tobi den Gedanken total gut. Er stimmte sofort zu, dass es eine geile Idee war, mal im Sommer mit schönem Wetter und vielleicht auch guter Stimmung zu feiern und Tobis freudiges Zusagen gab Sebbi die Kraft, sich überhaupt mal wieder mit dem Gedanken an Kaspars Weihnachten zu beschäftigen.

Die restliche Nacht saß er, so er durfte, an dem Krankenhausbett und trug einen bescheuerten Kittel, eine grüne Haube, einen Mundschutz und Handschuhe während Kaspar unruhig schlief, schwitzte und schrecklich aussah. Seine Mutter war da gewesen und hatte Sebbi weg geschickt, aber der hatte nur in einem Versteck in der Eingangshalle vor der Intensivstation gewartet, bis sie nach Hause gefahren war, um wenigstens die zwei Stunden, die sie fort war, bei Kaspar sein zu können.

Geredet hatten sie nur wenig. Sie hatten beide eine Scheißangst gehabt, aber das Fieber war gegangen, die Infusionen hatten irgendwie ihr Ding gemacht und Kaspar wieder auf die Beine gestellt. Als die Intensivschwester am Morgen seine Blutwerte kontrollierte, hatte er sich etwas erholt. Und Sebbi war erleichtert wie nie zuvor, als er sich am Morgen nach Hause zurück geschlichen hatte.

Carmen hatte immer dicht gehalten, wenn Sebbi mal wieder aufgetaucht war, auch wenn das die Nacht betraf. Leider hielten nicht alle Schwestern so dicht wie Carmen. Als Sebbis Eltern von einer sehr aufgebrachten Susanne einen Anruf bekamen, dass sie ihren verdammten Sohn von ihrem schwerkranken Jungen fern halten sollten, damit Kaspar nicht noch mit irgendwelche Keimen infiziert und umgebracht wurde, kam es zum Höhepunkt der Strafen. Sebbi bekam am Nachmittag des gleichen Tages einen totalen Einlauf mitsamt zwei Reden über Vertrauen und einer über den Umgang mit den Helmers, außerdem das Taschengeld gestrichen. Da er bereits kein Internet mehr hatte und sein Handy ebenfalls gesperrt war, waren seine Ressourcen so allmählich ziemlich begrenzt.

Der Termin für das Fest der Feste rückte näher und näher und zugleich fielen Sebbi immer mehr Sachen ein, die von seinen Eltern erledigt wurden, so dass er die Illusion gehabt hatte, dass Weihnachten so nebenbei kam und nach den Geschenken auch schon wieder gehen durfte. So war das gar nicht. Die ganze Deko, der Baum, der Duft überall, die Fressalien und die Geschenke. All das kam nicht einfach so angeflogen, es kostete Arbeit. Im Sommer ziemlich schweißtreibende Arbeit. Sebbi hatte sich das echt einfacher gedacht.

Ab auf den Dachboden, die passenden Kisten rauswühlen und loslegen mit dem Kram. Das ging nicht so leicht. Er hatte sich nicht an der Dekoration beteiligt und wusste gar nicht, wo alles war. Seine beknackte Schwester wollte er nicht fragen, mit der stand er gerade auf Kriegsfuß. Die Eltern duften auf keinen Fall etwas wissen, also musste er selber loslegen. Auf ihrem Dachboden war er durchgekocht, bevor er unter den Skisachen die Schachteln mit dem Baumschmuck gefunden hatte. Weihnachtsdekoration im Sommer, war auf jeden Fall eine absolut heiße Sache! Die Lichterkette zu finden, kostete ihn gar einen nahen Hitzetod.

Die Hauptsache, die verdammte Tanne, war schon ein Riesenproblem. Erst als er Kaspar nach der letzten Chemo einmal besuchte, mal wieder mit Kittel und Haube und Handschuhen, in denen er im Sommer noch mehr schwitzte, fiel ihm die große Tanne vor dem Gebäude auf. Sie war ziemlich fett und bestimmt zu hoch, aber von allen Zimmer gut zu sehen.

Sebbi verabschiedete sich von Kaspar und traf vor der Tür auf Carmen. Sie grinste ihn froh an. "Na? Alles in Ordnung?"

"Nee. Ich... kannst du ein Geheimnis behalten?"

Sie stellte die Medikamentenschachteln im Arbeitsraum zur Seite. "Erzähl!"

Sebbi ließ sich neben dem Wäschesack auf dem Boden sinken. "Kaspar und ich haben das geplant, aber ich muss alles machen. Wir wollen Weihnachten feiern. Sein letztes war durch die Diagnose versaut. Sein nächstes... er hat Angst, dass es damit schief gehen könnte. Jetzt wollen wir das vor der Cybersache mit der Induktion machen. Eigentlich wollte ich hinterher, dann hätte ich noch etwas mehr Zeit für alles, aber so ist das doch wahrscheinlich besser."

"Wow." Ihr Blick glitt über die Regale mit den Waschlösungen und Handtüchern. "Am Tag davor?"

"Hm. Muss in der Nacht sein, wenn seine Mutter wech ist." Rasch erzählte Sebbi ihr von seinem Plan mit der Tanne. "Die Lichterkette hole ich, aber ich brauch noch..."

"Eine Verlängerungsschnur. Die haben wir hier. Außerdem brauchst du was Nettes zu essen, nicht?"

"Hm. Was Weihnachtliches wär schon gut. Aber im Sommer steht doch echt keiner auf Rotkohl oder Gänsebraten."

"Hm. Irgendwie nicht, hast Recht. Und Musik, Sebbi. Musik ist wichtig."

"Das ist kein Ding. Ich hab schon alles auf meinem Player drauf, Boxen hat Kaspar immer mit, wenn er hier ist. Deko vielleicht noch? Tannenzweige im Zimmer?"

"Nee. Einen Mistelzweig. Wolltet ihr nicht knutschen?"

"Was? Woher weißt du das denn?" Rot im Gesicht starrte Sebbi sie an.

Carmen lachte leise "Hat er mir erzählt. Neulich."

"Ach und ich muss dicht halten!"

"Nur mir und du hast mich jetzt ja auch eingeweiht. Hör zu, ich muss hier weitermachen. Ich besorge das Essen und den Mistelzweig. Du kümmerst dich um den Tannenbaum und... Geschenke? Wenn das letzte Fest im Eimer war, waren die Geschenke vermutlich nicht so dolle."

"Hm. Für Tobi auf jeden Fall."

"Die Turnschuhe! Das muss echt sein, oder? Ich geb dir Geld dazu, ja?" Konspirativ blickten sie einander an und Sebbi lachte mit einem Mal. "Kaspar hat so Recht gehabt, Carmen!"

"Womit hat er Recht gehabt?"

"Er meinte, dass du so dick bist, weil es dich zwei Mal geben sollte!" Fast hatte er Angst, dass er sie beleidigt hatte, doch dann grinste sie.

"Ihr Süßen! Nein!" Er wurde in eine wegen der Hitze eher unangenehme Umarmung gezogen und sie knutschte ihn auf die Wange, bevor sie aus dem Arbeitsraum in den Flur trat.

Sebbi hatte die nächsten Tage den totalen Stress. Seine Mutter war vollkommen sauer auf ihn, sein Vater verstand ihn nicht, seine Schwester zickte rum wo sie nur konnte und er selber war nervös und hatte viel zu viel zu tun. Die Lichterkette funktionierte nicht und er musste zu seiner Oma, um von ihr eine auszuleihen. Er wollte ihr nicht sagen, wozu er sie brauchte, aber hatte das Glück, dass sie einfach davon ausging, dass er in den Ferien allein Zuhause eine Party feiern wollte. Aber es kostete ihn drei Stunden, in denen er die Vorträge seiner Großmutter über seine Schulnoten und die Liebe aushalten musste.

Außerdem hatte seine Oma die Lichterkette auch auf dem Dachboden und Sebbi war noch einmal vollkommen durchgekocht, als er mit seiner Beute auf dem Fahrrad nach Hause fuhr. Als nächstes türmte er mal wieder mitten in der Nacht aus seinem Schlafzimmer, um die Lichterkette in den Baum zu basteln. Es war verdammt schwierig und Sebbi war hinterher vollkommen zerschrammt und hatte Harz an allen Klamotten, als er gegen fünf am Morgen vollkommen erschöpft in den ersten Bus nach Hause kletterte.

Nachdem er ausgeschlafen hatte, musste er erst den Zaun streichen, die Garage sauber machen und den Rasen mähen, um sich etwas Taschengeld zu erarbeiten. Von dem Geld kaufte er sofort eine Packung Gel für die Haare der Zukunft, für Tobi das Paar Turnschuhe und für Carmen ein Glitzerpiercing und packte alles Zuhause mit Resten des Weihnachtspapiers ein. Die grinsenden Rentiere auf rotem Grund sahen irgendwie total bescheuert aus, wenn man sie im Juli betrachtete. Nachdenklich klebte Sebbi noch einen kleinen Stern neben den Namen auf das Kärtchen. "Für Lord Helmchen und seinen neuen Helm" Er lächelte und freute sich darauf.

Nach einem guten halben Jahr, in dem er seinen Schatz fast nur müde, krank, traurig oder schwach gesehen hatte, nach den Monaten, in denen er sich alte Fotos im Tennisverein ansah, um sich zu erinnern, wie Kaspar noch einmal mit Haaren und ohne die vielen blauen Flecken und Schatten unter den Augen ausgesehen hatte, freute Sebbi sich unbändig darauf, nicht mehr der Gesunde zu sein, der den Kranken besuchte der da war und geduldig war.

Er wollte Kaspar nicht nur die Hand halten und das auch noch durch einen Handschuh. Er wollte ihn anfassen, richtig, überall. Er wollte ihn küssen... knutschen... schmecken. Sebbi strich über das ziemlich schlecht verpackte Geschenk und war sich sicher, dass er das bald konnte. Sie würden sich gegenseitig berühren können, ohne Desinfektionsmittel. Sie würden sich gegenseitig durch die Haare streicheln. Sie würden ohne Infusionen und mit reichlich Leukos an Bord zusammen sein.

Die restliche Deko kam als nächstes. Nach einem der blöden Bastelbücher seiner Mutter schnitt Sebbi ziemlich schlecht Nikoläuse aus dem roten Papier, das er sich für viel zu viel Geld pro Bogen im Bastelladen hatte kaufen müssen. Er malte ihnen hässliche Gesichter auf und klebte alberne Bärte aus der Schminkwatte seiner Mutter darauf. Irgendwie kriegte einer noch einen Zahn, der andere eine Augenklappe und ein dritter eine Narbe auf der Wange. Am Ende hatte er eine ziemliche Freakgalerie erstellt.

Als er am anderen Morgen wach wurde, hatte er schon eine Nachricht von Kaspar erhalten. Der war schon mit Susanne zusammen für die ersten Untersuchungen in die Klinik gefahren. Sebbis Handy war noch gesperrt, so dass er nicht antworten konnte, aber sein Herz wurde schwer, weil Kaspar die Abkürzung 'IFMD' darunter gesetzt hatte. Ich fürchte mich doch.

Als Kaspar die Vorbereitungen für die Bestrahlungen gehabt hatte, da hatte Sebbi auch schon eine solche Mail erhalten. Am Nachmittag war alles wieder gut gewesen und Kaspar hatte ihm lachend seine Tätowierungen gezeigt. Zwei kleine Punkte auf den Hüften, die für die Bestrahlung wohl als wichtige Markierung gebraucht wurden.

Aber übermorgen wurde es ernst. Da gab es nicht nur die paar Punkte, da gab es die volle Packung. Sebbi erschauderte, während sein Blick über den kopierten Plan der Therapie glitt. Die Abkürzungen für die Medikamente hatte er drauf mittlerweile und er kannte auch schon den Ablauf der Untersuchungen zwischendrin. Er wusste an welchen Tagen Kaspar scheiße drauf sein würde, an welchen vermutlich gut gelaunt. Die Knochenmarksstanzen, die waren immer schrecklich, die hatten gemein weh getan, trotz der kurzen Narkose, die sie Kaspar dafür verpasst hatten. Er hatte den ganzen nächsten Tag noch den dumpfen Schmerz gehabt, bei jedem Mal und war ziemlich schlecht drauf gewesen. Vor dem Kernspin hatte er hingegen keine Angst mehr. Es hatte im Verlauf der Therapie immer nur gute Neuigkeiten gebracht, allerdings hatte es ihn im Endeffekt sein Piercing an der Unterlippe gekostet, weil er es beim dritten Mal dann nicht mehr hatte reinfriemeln wollen. Die Blutwerte waren auch gut, wenn man den Ärzten Glauben schenken konnte. Alles lief nach Plan.

Für Sebbi auch. Am Vormittag verabschiedete er seine Familie, die auf Besuch zur Oma fahren wollte. Den Mittag über verbrachte er damit, ein Lebkuchenhaus zu backen. Das Scheißding hielt nicht vernünftig, bis er resigniert Carmen anrief und diese ihm riet, die Teile mit Zahnstochern zusammen zu tackern, die er dann mit reichlich Zuckerguss verstecken konnte. Die Nummer haute super hin, Carmen kannte sich echt aus. In kurzer Zeit stand das windschiefe und leicht angebrannte Haus und triefte lange Zuckergussnasen.

Während der Zucker trocknete, packte Sebbi seine hutzeligen, schrägen Männchen, einen Tannenzweig und eine Glitzergirlande in einen großen Karton. Der Kunstschnee, den er eigentlich an das Fenster hatte sprühen wollen, war leider alle. Er legte seine Geschenke dazu und stellte das Hexenhaus vorsichtig oben auf.

Mit dem Karton musste er zu Fuß zum Bus gehen, aber schaffte es tatsächlich, ohne alles fallen zu lassen. Es war total heiß im Bus und man merkte, dass die Ferien bevor standen. Sebbi bekam problemlos einen Sitzplatz, obwohl er zur beliebtesten Zeit fuhr, halb Fünf am Abend.

Kapitel vier – Auweia, Familienfeier

Während er über die Wiesen und in die Gärten blickte, in denen sich gerade Familien zum Grillen zusammen fanden und Kinder in Plastikpools mit Wasser spritzten, dachte er daran, dass er an Weihnachten in stille Gärten blicken würde, auf Eis oder, wenn es gut lief, etwas Schnee und kahle Bäume, aber auch in Fenster, in denen Bäume geschmückt und beleuchtet zu sehen waren.

Doch in der Hitze mit Shorts und Sandalen und dem merkwürdig anmutenden Karton auf dem Schoß, der durch den Lebkuchenduft zu Kommentaren von den anderen Fahrgästen führte, fühlte Sebbi sich weihnachtlicher als jemals zuvor. Er fühlte sich festlich, feierlich und so voller Vorfreude, dass er bald sicherlich davon platzen musste. Wie damals, als er noch klein war und seinen Eltern echt noch glaubte, dass der Weihnachtsmann kam und ihm Geschenke brachte.

Lächelnd blickte er auf seine nackten Zehen runter. Den Baum und das Licht hatte er vorbereitet. Das Kabel war gut versteckt, das würde so rasch niemand finden. Musste ja auch keiner mehr. Heute war der Tag. Nervös knibbelte Sebbi mit den Fingernägeln. Heute war der große Tag! Heute war... er blickte auf sein Handy nach dem Datum. Ja, eigentlich war der vierzehnte Juli. Aber nein, heute war Weihnachten! Und zwar nur für ihn und Kaspar... und für Tobi, der so zu ihnen gehalten hatte. Und für Carmen, weil sie genau so lieb wie dick war. Ihr ganz persönliches Fest und das machte es so wertvoll. Außerdem war Sebbi schon total scharf drauf, mit Kaspar zu knutschen. Ein besseres Geschenk konnte es für ihn gar nicht geben.

Sebbi schleppte den Karton bis zur Krebsstation rüber. Den Weg kannte er schon so gut, kannte jeden Strauch und auch die Abkürzung hinter den Glascontainern vorbei. An diesem Tag versteckte er seinen Karton hinter den Containern und schlich sich zu seiner Tanne. Sebbi seufzte einmal, bevor er sich daran machte, zwischen den besonders stachligen Ästen unten den Stecker zu suchen. Endlich hatte er ihn und warf ihn mit einigen Versuchen bis zu dem Balkon rüber, wo die Schwestern immer zum Rauchen hingingen.

Im Fenster tauchte Tobi auf und entdeckte ihn. Hastig winkte Sebbi und legte den Finger auf die Lippen. Tobi nickte sofort auf seine etwas langsame Art und grinste. Als Sebbi auf Station kam, ging er erst mal im Klo das Harz von seinen Fingern schrubben. Dann ging er zu Kaspars Zimmer. Dort angekommen befahl er seinem Freund "Eure Lordschaft, Augen zu, wenn ich darum bitten darf! Ich muss hier mal was vorbereiten." Und im nächsten Moment stockte er in der Bewegung, denn die Deko hatte offenkundig schon wer anderes übernommen. Die Fenster waren von Sprühschnee überzogen und zeigten allerlei Schneeflocken, Glöckchen und Mistelzweige. Vor dem Fenster schlängelte sich eine bunte Lichterkette. In der Mitte thronte ein Miniweihnachtsbaum mit Blinklichterchen, der auch aus der Ferne schon nach Kunst aussah.

Unsicher trat Sebbi dichter und sah sich um. Kaspar verschränkte die Arme. "Dachtet Ihr etwa, dass ich das vergesse oder was?" Er sah zur Uhr. "Wo bleibst du eigentlich so lang? Um fünf Uhr ist Bescherung, das weiß jedes Kind!"

"Nee... bei unserem Fest ist die Bescherung erst um elf."

"Warum?"

"Sonst ist es nicht dunkel!"

Tobi lachte und Carmen schaute um die Ecke. "Genau! Außerdem hab ich noch eine Stunde Dienst. Wartet und fangt nicht ohne mich an, klar?!"

"Können wir gar nicht. Du hast das Essen... hoffe ich jedenfalls."

"Natürlich hab ich das." Und weg war sie wieder. Tobi rollte mit seinem Rollstuhl davon, um beim Abendessen am Büffet noch einen Joghurt zu holen.

Als sie im Zimmer allein waren, trat Sebbi auf Kaspar zu. "Hey. Alles okay?" Irgendwie haschte er unwillkürlich nach Kaspars Hand. Die Finger fühlten sich trotz der Hitze kühl an.

Kaspar entzog Sebbi die Finger etwas harsch. Aber bevor er nachfragen konnte, kam Susanne ins Zimmer. In der Hand ein Tablett mit Obst und eine Tasche unter dem Arm. Erstaunt bremste sie in der Tür ab und starrte zwischen ihrem Sohn und Sebbi hin und her, als ob Sebbi zum ersten Mal da war. "Was ist hier denn passiert?"

Kaspar blickte sich erstaunlich gelassen um und sah dann zu seiner Mutter zurück. "Warum? Ist was?"

Misstrauisch blickte sie ihm ins Gesicht. "Hier schaut das so nach Weihnachten aus, Kaspar. Junge, wir haben Juli!"

"Hm. Na und?"

Sebbi nahm seinen Karton wieder auf und stellte das etwas missglückte Pfefferkuchenhaus zu der bunten Lichterschlange auf die Fensterbank. Die Sonne sank, die blaue Stunde würde bald beginnen. Vögel sangen und draußen auf den Wiesen um die Klinik saßen überall noch Patienten mit Besuch und Studenten herum. Gelächter war zu hören, es roch nach frisch gemähtem Gras und der Hitze des Tages.

Hinter ihm sagte Kaspar zu seiner Mutter. "Mir war danach. Sebbi und ich feiern Weihnachten, nur für den Fall..."

"Profi-laktisch gegen Crêpes", murmelte Sebbi und lächelte, als er die Geschenke unter den kleinen Plastikbaum legte. Er brachte mit Tesafilm die Galerie hässliche Wichtel an der Heizung an, wo man sie nicht so sehen konnte. Natürlich alles nur, um Susanne nicht ansehen zu müssen.

Kaspars Mutter hatte ihn so oft aus dem Zimmer oder von der Intensivstation verwiesen, dass er nicht einmal mehr das Gezicke seiner Eltern brauchte, um nicht gut auf sie zu sprechen zu sein.

Susanne sagte verwirrt und etwas sauer "Was ist denn in euch gefahren? Kaspar, soll ich heute Nacht hier bleiben, mein Schatz?"

"Nein. Du störst nur. Wir machen das allein."

"Ich... wieso störe ich dich denn immer? Schließ mich doch nicht so aus. Kann ich nicht Anteil nehmen an deinem Leben, dir diese Sache hier leichter machen?"

Kaspar sah zu Sebbi, der gerade die CD mit der von ihm zusammengesuchten und als erträglich befundenen Weihnachtsmusik in Kaspars Laptop legen wollte. "Nee, Mama. Sebastian und ich, wir wollten eigentlich noch ein wenig knutschen, bevor meine Leukos wieder total schlecht sind."

Sebbi ließ die CD fallen. "Was?"

Kaspars Mutter ließ ihre Tasche fallen "Was?!"

Tobi, der gerade mit zwei Joghurtbechern in das Zimmer zurückkehrte, ließ diese erfreulicherweise nicht fallen, aber fragte "Und was mach ich solange?!"

"Du schaust halt einen Film, okay?" Kaspar bückte sich und hob die Tasche seiner Mutter auf. Mit fester Stimme sagte er dann "Es kann nicht sein, dass du nicht mitbekommen hast, Mama, dass wir zusammen sind, Sebbi und ich."

"Aber... Kaspar! Das ist doch nicht wahr!"

Sebbi hob die CD auf und legte sie behutsam ein, dann sah er Kaspar strafend an. "Und sie hat Recht. Es ist nicht wahr. Eure Lordschaft, wir sind noch nicht einmal offiziell per Du."

Kaspar winkte ab, etwas beleidigt murrte er. "Dieses doofe Spiel. Ich will das nicht mehr... ich hab keinen Helm mehr, meine verdammten blöden Haare sind mir sowieso egal, aber..."

"Wie habt ihr euch das vorgestellt?! Was sollen wir denn jetzt machen?!" Aufgebracht, mit sich etwas lösender Frisur, stand Susanne im Raum. Das personifizierte Ausrufungszeichen.

Ihr Sohn ließ sich auf dem Bett nieder und blickte zu Sebbi rüber. "Wie meinst du das? Wie habt ihr euch das gedacht, kann ich ja auch mal fragen!"

"Beate und Horst führen noch immer ein Anwaltsverfahren gegen mich." Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

"Was?!"

Susanne ließ sich auf den Stuhl fallen und blickte zu Tobi rüber, der sich seufzend mit dem Rollstuhl wieder auf den Weg in den Flur machte. "Bin ja schon weg, ist ja gut."

"Nein! Tobi, das ist dein Zimmer, klar?! Du bleibst natürlich!"

Tobi lachte, dann winkte er ab. "Mann, Kaspar. Du hast doch eh ab spätestens übermorgen wieder deine Umkehrhaft. Kenn echt keinen, der so oft mit null Komma null Leukos hier abhängt. Nicht mal Annika hat das geschafft. Ich bin nochmal um die Ecke zum Fernsehzimmer, bis gleich auf der Feier."

Als er aus der Tür war, hob Kaspar den Kopf und starrte seine Mutter an. "Du und Beate und Horst und eure Scheiße! Ich hab echt keinen Bock mehr auf eure Aggro-Masche! Und immer geht es angeblich um mich und meine Zukunft mit der scheiß Apotheke. Vielleicht will ich die gar nicht haben! Immer..."

"Nee, Kaspar." Susanne senkte den Kopf, dann seufzte sie. "Ausnahmsweise dreht sich die Welt mal selber und nicht um dich." Sie blickte zu Sebbi rüber, dann seufzte sie. "Damals hatte ich mich mit schon hin und wieder mit Lars getroffen, weil das mit deinem Vater nix war, Kaspar. Der hatte an meine Apotheke ran gewollt, da bin ich mir jetzt sicher. Ist ja auch ein gutes Geschäft. Und dann wurde das mit Lars und mir immer fester, aber ich wollte ihn nicht heiraten. Unsere Pläne waren viel zu verschieden. Er wollte ins Ausland, ich wollte die Apotheke zum Laufen bringen. Du warst schon unterwegs, aber ich hab ja meine Mutter gehabt und war mir sicher, dass ich das schaffe. Apotheke und Kind.

Aber, was du gar nicht weißt, Kaspar... der Vater von Sebastian ist eben auch der Vater von deiner Schwester Luna. Hat sich irgendwie so ergeben, als noch die Frage angestanden hat, ob wir uns vielleicht zusammen tun und die Apotheken als Team betreiben. Horst war halt dauernd da, hat bei mir ausgeholfen. Das war, als Lars so oft im Ausland war. Das mit Horst war rasch vorbei. Lars und ich haben uns dann ja zusammengerauft und jetzt bin ich froh darum."

"Wie bitte?!"

"Ja. Beate und ich haben uns seit dem das geklärt war, nicht mehr gesprochen. Wir haben uns auf eine komplette Trennung geeinigt. Luna sollte genau wie du nur bei mir bleiben. Keine Besuche, keine Verwirrungen. Aber jetzt wollte Horst Mitspracherecht haben, weil du so krank warst und Luna in der Schule totale Probleme hatte. Durch Hannah hat er das wohl mitbekommen, wer weiß. Das war ein schreckliches Jahr für mich. Ich habe dauernd Angst um meinen Sohn, habe mich über meine Tochter geärgert und es tat mir zugleich leid, dass ich nicht mehr für sie da sein konnte. Ich hatte zugleich dann auch noch Angst, dass ich die Apotheke verliere, als ich mich mit Lars so gestritten hatte. Horst war mit einem Mal wieder da und hat das hat mich unter Druck gesetzt."

Sebbi blinzelte, dann spürte er, dass Kaspars Finger kühl seine Hand berührten und das gab ihm die Kraft, Susanne zu sagen "Und deswegen warst du so fies zu mir? Hast mich rausgeworfen, als ich Kaspar auf der Intensivstation besuchen wollte und du hast mich an meine Eltern verpfiffen, als ich hier mal übernachtet hab. Na danke! Ich bin nicht Horst! Kaspar und ich... wir haben doch gar nichts mit euren Problemen zu tun, oder?"

Etwas ruhiger meinte Kaspar "Du und Horst, ihr habt euch also wegen Luna getroffen und nicht wegen der Apotheke? Ist denn jetzt alles klar?"

Und Susanne kehrte in ihr altes, etwas verwirrtes Selbst zurück. "Ich bin mir nicht sicher. Wir einigen uns gerade auf all diesen Krempel, den man so macht mit Besuchsrechten und solcherlei Sachen und Beate will auf keinen Fall, dass Sebastian sich mit dir anfreundet, Kaspar. Ich wollte das früher immer, dann hätte Luna doch mehr mit ihrem Vater machen können, aber Beate... hat immer abgeblockt und Horst ist zu dröge, um wirklich was zu machen. Wie konnte ich nur auf den reinfallen?!" Sie hob die Hand an ihre Stirn, dann verzog sie ihren Mund. "Und du siehst ihm so verdammt ähnlich, Sebastian. Es war einfach zu viel für mich. Deswegen wollte ich dich hier nicht haben."

Unglücklich blickte Sebbi sich im Zimmer um. Es war noch eben hell draußen. Die Vögel sangen sich um Kopf und Kragen und Gelächter aus dem Park um die Kinderklinik zeigte, dass die meisten ihre Besuchszeit ins Freie verlegt hatten. Der Weihnachtskitsch kam in sein Blickfeld und er verzog den Mund. "Tja. Das hat ja nicht geklappt. Jetzt bin ich hier und bleibe für die Weihnachtsfeier."

"Ja. Warum eigentlich?" Susanne sah den kleinen Plastikbaum interessiert an.

Kaspar zog ein Bein an und legte sein Kinn auf dem Knie ab. "Letztes Weihnachten hab ich meine Diagnose bekommen. Mit einem Mal hatte niemand mehr Lust zu feiern, die Feiertage waren Müll. Außerdem haben Lars und du dauernd gestritten. Um mich, um Luna, um die Apotheke. Ich hab irgendwie vor der ersten Chemo zu meinem Untertan gesagt, dass diese Feier nachgeholt werden muss, wenn ich durch bin. Da wusste ich noch nichts von der Bestrahlung und der Transplantation und all dem. Jetzt haben wir beschlossen, dass wir die Feier heute machen, vor all dem. Profi-laktisch."

"Es wäre deutlich schöner, Kaspar, wenn ihr das einfach später machen würdet. Wenn du dann wieder gesund und kräftig bist."

Kaspar blickte sie nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf. "Nein. Heute feiern wir Weihnachten, nachher... das wird dann Neujahr."

In diesem Moment brachte Sebbi endlich den Mut auf, Kaspars Hand richtig zu nehmen. Leider wählten Beate und Horst genau diesen Moment, um in das Zimmer zu kommen. Sie waren ziemlich wütend, weil Sebbi schon wieder ausgerückt war und als sie Sebbi und Kaspar da sitzen sahen, Hand in Hand, wurde das nicht besser.

"Se-bas-ti-an! Jetzt reicht es mir endgültig! Ein halbes Jahr schon Lügen und Verschweigen, Katastrophen in der Schule und all das nur wegen..."

"Nur?!" Susanne war aufgesprungen. "Wenn du mit nur meinen Sohn meinst, Beate, dann möchte ich dich jetzt bitten, das Zimmer zu verlassen!"

"Ach, erst mich herbestellen und jetzt..."

"Herbestellen?! Auf keinen Fall! Horst, dich will ich auch nicht sehen, verstanden? Mein Anwalt ist nah genug!" Im Nu gingen sich die sonst ja so gesitteten Erwachsenen an den Kragen.

"Ach, so weit sind wir schon wieder?!"

"Mama. Ich hab sie eingeladen." Kaspars Stimme unterbrach den Trubel.

"Was?!" Susanne fuhr herum, ihre Haare lösten sich endgültig aus der Frisur.

"Wie bitte?" Beate starrte ihren Sohn böse an.

Kaspar nickte. "Ich wollte mit Sebbi eigentlich allein Weihnachten feiern. Aber dann dachte ich, dass es ein Familienfest ist. Ich hatte das letzte Weihnachten versaut mit der Diagnose. Für alle irgendwie. Ich dachte, dass wir das alle jetzt feiern könnten. Ich dachte, dass es eine gute Idee ist." Er blickte zwischen den wütenden Erwachsenen hin und her. "War wohl irgendwie doch nicht so, was?"

"So, dachtest du das." Beate verschränkte die Arme.

Unsicher starrte Horst auf seinen Sohn runter. "Aber... wieso... was ist eigentlich mit dir, Sebastian?"

Kaspar blickte auf ihre Hände und zuckte mit den Schultern. Sebbi genoss die Hitze in seinen Ohren und schwieg, um nichts Falsches zu sagen. Endlich, als das Schweigen einen deutlichen Moment zu lang geworden war, brach genau über ihre Hände der Streit wieder aus.

Verwundert und verwirrt lauschten Sebbi und Kaspar, wie Beate, Horst und Susanne sich gegenseitig die Schuld gaben, dass der jeweils andere Sohn schwul geworden war. Das Geschrei war gerade so laut geworden, dass Sebbi sich peinlich berührt um Ruhe kümmern wollte, als Tobi mit seinem Rollstuhl wieder herein kam.

Er lächelte über das ganze runde Gesicht und sah die wütenden Erwachsenen an. "Die Gäste sind auch schon da, ist Carmen bald soweit? Ich hab extra wenig gegessen, weil die bestimmt gut kochen kann."

Mechanisch drehte Susanne sich zu Tobi um und blinzelte in seine Richtung. Beate und Horst verschränkten die Arme, endlich sagte Beate mit kalter Stimme "Wir gehen jetzt. Diese alberne Veranstaltung braucht gewiss nicht unsere Anwesenheit." Sie wandte sich zur Tür ab. "Sebastian, komm schon." Der gleiche Tonfall wie damals als sie ihn mit vier Jahren von Kaspar weggezerrt hatte.

Sebastian hob das Kinn und schüttelte den Kopf. Er holte Luft, um etwas zu sagen, aber Tobi kam ihm zuvor. "Bitte, Mutter von Sebbi, lassen Sie ihn doch noch mitfeiern. Er... " Tobi hievte sich auf sein Bett und streckte seine Beine aus. Sebbis Eltern zuckten zusammen, als sie sahen, dass er nur ein vollständiges Bein hatte. "Er hat nicht nur Kaspar hier besucht, mich auch. Er hat uns Karten mitgebracht, gute Witze über Lehrer, Musik, die angesagt ist und er hat uns irgendwie auch immer aus diesem Loch rausgerissen, wenn mal wieder alles nur weh tat und scheiße war und alle uns deprimiert angesehen haben. Er hat uns zugehört, wenn wir wieder mal geklungen haben wie zwei alte Omas mit Gicht. Er hat sich das Weihnachtsfest verdient, genau wie wir."

Tobi seufzte und sah zu Sebbi rüber. "Ich weiß ja, dass du voll in Kaspar verknallt bist und mich gar nicht weiter beachtet hast. Aber trotzdem hast du immer auch mich besucht. Ich hab mich so gefühlt. Ich hab mich auf deinen Besuch gefreut und ich hab mich schon seit Wochen darauf gefreut, mit euch beiden Weihnachten zu feiern, weil ehrlich... mein letztes war auch voll für den Eimer, genau wie bei Kaspar. Heulende Mutter, Freunde, die sich nicht mehr gemeldet haben und so. Und mein nächstes... wer weiß das schon?"

Sebbi seufzte. Er selber hatte keine schreckliche Diagnose gehabt, aber er hatte gewusst, dass er sich in Kaspar verknallt hatte. Ausgerechnet den Sohn vom Feind. Er hatte kein gutes Weihnachten gehabt. Eine Wiederholung der Feier, mit seinem Freund dabei, Hand in Hand, das hatte er sich damals gewünscht und jetzt, nach dem halben Jahr mit Kemo und Crêpes wirklich auch verdient. Er hob den Kopf und umfing Kaspars Finger fester. "Tobi hat Recht. Er und Kaspar und ich auch, wir wollen das Fest. Das letzte war im Eimer und wir haben es uns verdammt noch einmal verdient! Wenn ihr nicht mitfeiern wollt, dann geht doch einfach."

Es klopfte an und auf Tobis 'Herein' kamen tatsächlich Hannah und Luna in das Zimmer und grinsten froh. Als die Eltern sich erneut per Aufschrei dagegen wandten, meinte Hannah mit Achselzucken. "Ist doch voll bescheuert. Da hab ich schon neben diesem Krüppelbruder eine Schwester, die ich auch noch voll mag und ihr macht das voll kaputt? Geht so gar nicht."

Unsicher blickte Susanne zu ihrer Tochter und dann zu dem etwas peinlich berührten Erzeuger. Mit schwacher Stimme und an ihren Haaren fummelnd gab sie zu "Ich wollte das auch erst wegdenken, diese Schwäche, diesen Fehltritt. Ich glaube, dass es Horst auch so ging." Sie sah zwischen Luna und Hannah hin und her und lächelte "Das war gar nicht möglich, ich hab Luna täglich vor Augen gehabt und sie... schaut dir ähnlich. Nicht nur das, sie ist dir ähnlich."

Horst rieb sich die Augen und blickte von seiner Frau zu dem dunkelblonden Mädchen rüber. Wenn man es wusste, konnte man wirklich die Ähnlichkeit zwischen Hannah und Luna erkennen, die immerhin auch nicht einmal ein Jahr trennte. Endlich gab er sich einen Ruck und sagte leise "Wir einigen uns, Susanne... wir schaffen das für Luna, in Ordnung? Du hast auch wirklich genug Sorgen derzeit."

Beate versuchte ein Lächeln und nickte schließlich. "Tut mir leid, dass wir so rücksichtslos waren", verkündete sie tonlos.

Kaspar sah mit schmalen Augen zwischen den Eltern hin und her und stellte typisch ätzend fest "Sie ist ein Fehltritt und ich eine Sorge, so ist es recht. Wir fühlen uns schon viel besser."

Genau in diesem Moment nahm Carmen sich ihren Auftritt. Sie kam mit Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf, einem superbreiten Grinsen im Gesicht und einem Korb Essen zu ihnen herein. "Hohoho... ihr habt doch noch nicht angefangen, oder?"

"Carmen. Ohne Essen? Wohl kaum." Strafend blickte Kaspar sie an.

"Oh, Eure Lordschaft, nicht so streng mit den Untertanen, wenn ich bitten darf." Sie blickte energiegeladen zwischen Sebastian und Kaspar hin und her. "Und? Habt ihr schon?"

"Später." Das sagten Kaspar und Sebbi zugleich und sie lachte. Erst einmal stellte Kaspar dann seine Schwester und Hannah vor.

Als Carmen die Geschenke unter dem kleinen Kitschbaum erblickte, seufzte sie "Na, die Bescherung dürfte heute wirklich etwas später werden. Wann geht denn im Juli endlich die verdammte Sonne unter? Aber egal, dann essen wir erst einmal!" Die versteinerten Gesichter der Erwachsenen ignorierend befahl sie Horst und Sebbi "Kräftige Männer, kommt mal mit. Wir brauchen noch einen Esstisch und Stühle. Die holen wir uns mal aus dem Gemeinschaftsraum rüber. "Kaspar, schieb dein Bett weiter zum Fenster."

Der Schock, den Tobis und auch Lunas Rede hinterlassen hatten, bewirkte, dass tatsächlich niemand murrte. Schon nach kurzer Zeit saßen sie etwas beengt an Betten und am Tisch zusammen und Carmen deckte mit Plastikbesteck und Partygeschirr. Rotkohlsalat mit Gänsebruststreifen. Erstaunlich lecker. Außerdem gab es Zimteis, das sie aber noch im Tiefkühler auf Station aufbewahrte.

Die Musik war von Sebbi gut gewählt, denn Kaspar machte nicht einen seiner vernichtenden Kommentare. Die Unterhaltung bei Tisch wandte sich von Krankheit und Streit fort, als hätten alle mit einem Mal die Anstrengung unternommen, sich zu benehmen, wie man das an Weihnachten so tat. Die Eltern sprachen über ihre Urlaubspläne und die Apotheken und darüber, wie schwer es war, eine vernünftige Ferienvertretung zu finden. Die Mädchen kicherten mit Tobi, der in ihrem Alter war, über irgendwelche Serienstars. Sebbi genoss es, dass er Kaspar ohne Gummihandschuhe anfassen konnte. Sie saßen auf Kaspars Bett nebeneinander, so dass sich ihre Finger oft streiften.

Man musste es Beate und Horst zu Gute halten. Sie aßen ein wenig von dem Salat und lobten das Essen, aber verabschiedeten sich dann sehr früh. Das Thema 'Se-bas-ti-an, komm da weg' wurde nicht mehr angeschnitten. Sie sagten nur etwas hoffnungslos, dass er nicht so spät nach Hause fahren solle und sammelten Hannah ein. Als diese ihrer neuen besten Freundin Luna eine Mitfahrgelegenheit anbot, nickte Beate sogar freundlich und sagte "Natürlich, kein Problem."

Doch Susanne sagte mit matter Stimme, dass sie auch fahren würde, um am anderen Morgen dann früh wieder da sein zu können. Während sie sich von ihrem Sohn verabschiedete, räumte Sebbi das Geschirr in die Schwesternküche. Kaum waren sie aus der Tür, als Carmen mit Sebbi zusammen auch den Tisch wieder fort schaffte.

Tobi saß zufrieden mit einem Zimteis befasst auf seinem Bett und beobachtete sie bei den Aufräumarbeiten. Er wurde ganz offenkundig vollkommen davon überrascht, als Sebbi aufsprang und gleich nachdem er 'Bescherung!' gerufen hatte, das größte Paket an ihn überreichte.

Es war der beste Moment an diesem Abend, Tobis Gesicht zu sehen, als er den Karton öffnete und die Turnschuhe fand. Kaspar, Carmen und Sebbi hatten zusammengelegt dafür. Es waren teure Teile, aber man sah Tobi an, dass er sie sich wirklich gewünscht hatte und deswegen waren sie Sebbi den Preis wirklich wert.

Außerdem fühlte er sich mit einem Mal verantwortlich dafür, dass es Tobi auch gut ging. Während Kaspar über das Haargel lachte und sich über den kahlen Kopf strich, ließ Sebbi sich bei Tobi am Bett nieder.

"Hey."

"Das war das beste Weihnachten seit... immer." Das runde Gesicht strahlte förmlich. Tobi lächelte seinen für ihn unbrauchbaren Turnschuh an, den er in der Hand hielt. Den anderen hatte er sich bereits angezogen und blickte noch immer verwundert hin und wieder in die Richtung.

"Ich... hab wirklich auch dich besucht, Tobi."

"Ach was. Kaspar, Kaspar, trallala. Du hast niemanden sonst beachtet." Tobi hob den Blick, dann lächelte er "Ich kann das voll verstehen. Aber hiermit... da hab ich nicht gerechnet. Ihr seid so cool! Danke noch mal."

Carmen kam herein, um sich ihrerseits noch einmal für das Geschenk zu bedanken. "Ihr drei seid prima! Mit euch feiere ich jederzeit Weihnachten. Sagt mir immer rechtzeitig Bescheid, wenn es euch überkommt!" Dann trat sie zu Kaspar ans Bett und stieß Sebbi, der unentschlossen davor stand, derb in die Seite. "Es ist dunkel genug, dann leg mal los."

Mit einem Nicken stimmte Sebbi ihr zu und ging nach nebenan, um die Verlängerungsschnur herein zu holen. Carmen und er löschten alle Lichter und Sebbi bat Kaspar "Eure Lordschaft, kommt bitte an das Fenster."

"Unsinn! Kommt mit zum Raucherbalkon nebenan bei der Küche!" Hastig winkte Carmen ihnen und versprach "Ich kümmere mich um die Show, okay?"

Der Balkon war recht eng und roch ein wenig nach kaltem Rauch. Ein Eimer mit Sand diente als Aschenbecher und Sebbi schob den in die hintere Ecke, bevor er zur Seite trat, damit Kaspar zu ihm raus kommen konnte. Das Timing war perfekt. Sie standen gerade nebeneinander und Kaspar nörgelte "Was soll der Müll denn hier? Ich will nicht..." als Carmen den Baum zum Leuchten brachte und er mit etwas offenem Mund verstummte.

Aus dem Park und von umliegenden Fenstern war ein leises "Oh" und "Ah" zu hören. Es war Weihnachten, im Sommer. Und nicht nur für sie. Die anderen Kinder, Eltern, die Verwandten und Freunde, die Schwestern und Pfleger und Ärzte konnten auch diesem merkwürdigen Gefühl erliegen. Das war es nämlich. Dass einem irgendwie nostalgisch zumute wurde, dass man sich freute, ohne so recht zu wissen, weshalb genau. Es waren doch nur eine mies stachelnde Tanne und Glühbirnen, aber zusammen ergaben sie das Symbol für Glück.

Sebbi lächelte und blickte zur Tanne. Das Miststück hatte ihn vielleicht zerstochen, aber zur Strafe hatte er den Baum schön gemacht. Und, was für die Tanne sicherlich nicht unwichtig und erfreulich war, sie würde nicht in ein paar Tagen oder Wochen vertrocknen und weggeworfen werden.

Kaspar starrte mit runden Augen auf den erstrahlten Baum, um den sich ein paar Leute sammelten, die lachend die Pracht genossen. Er war zufriedenstellend beeindruckt. "Wow, Sebbi, das ist... wow!"

"Hm. Das find ich auch." Nebenbei mogelte Sebbi seinen Arm um Kaspars Schultern und genoss es, dass dieser sich gegen ihn lehnte. Die Tür hinter ihnen ging noch einmal auf und Carmens Gesicht erschien. "Übrigens!" flüsterte sie ziemlich laut. "Ihr beiden steht unter dem Mistelzweig!"

Sebbi und Kaspar blickten zugleich nach oben und blinzelten das grüne Teil an, das man schemenhaft erkennen konnte. Dann zuckten sie gleichzeitig mit den Schultern und sahen sich an.

Sebbi verzog unsicher den Mund. "Du, bevor ich das vergesse. Fröhliche Weihnachten wünsche ich dir und ganz viel Glück im Neuen Jahr."

Kaspar lachte auf und nickte leicht, dann zog er Sebbi zu sich heran und flüsterte "Du kriegst noch ein Weihnachtsgeschenk von mir, Sebbi."

"Ja, gut, was auch immer... aber erst einmal knutschen wir, bevor noch wer stört!"

Kaspar lachte wieder und in diesem Moment sah Sebbi, dass er unsicher war und gar nicht die abgehobene Lordschaft. Das wiederum gab Sebbi die notwendige Sicherheit, ihn fester an sich zu ziehen und auf den Mund zu küssen.

Wie ungewohnt war es, endlich einmal zu tun, woran sie nur gedacht hatten. In der Theorie etwas zu planen und von etwas zu träumen, musste das Gefühl verändern, wenn man es dann tatsächlich tat. Aber tatsächlich schmeckte Kaspar genau so herrlich wie Sebbi sich das gedacht hatte. Das Gefühl der etwas trockenen Lippen an seinen war perfekt und das Gefühl der Zunge an seiner Unterlippe war überperfekt! Sebbi wusste nur, dass er am liebsten nicht mehr aufgehört hätte, Kaspar zu knutschen. Und dabei war das Ganze nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Es war im ersten Moment sogar schwieriger als in seinen Vorstellungen, vernünftig mit dem Zungenküssen anzufangen, da hatte Sebbi auch kaum verwertbare praktische Erfahrung und Kaspar stellte sich nur wenig geschickter an.

Sebbi hatte auch nicht damit gerechnet, dass es ihn derart erregen würde. Ungewollt war es in diesem Moment auf jeden Fall, total unromantisch. Außerdem konnten Kaspar und er grade nichts dagegen unternehmen und dem ging es ähnlich. Sie mussten beide lachen und starrten sich an. Leider war Carmen wohl nicht länger auf ihrem Wachposten und die Nachtschwester wollte eine rauchen, so dass sie den Balkon nach einer kurzen Unterhaltung über den Tannenbaum räumten.

Im Zimmer hatte Tobi sich in sein Schlafzeug umgezogen, die Turnschuhe standen auf dem Nachttisch. Müde blinzelte er ihnen entgegen und grinste. "Na? Genug rumgemacht?" Sie wurden alle drei rot.

Hastig räumte Sebbi seine Sachen ein und zog beim Baum den Stecker, um die Lichterkette wieder ab zu basteln. Er umarmte seinen Freund einmal fest zum Abschied, wagte noch einen kleinen Kuss und winkte Tobi zu. Von der Tür warf er einen letzten Blick auf Kaspar und grinste "Das sollten wir jetzt jedes Jahr machen, okay?"

Kaspar hob den Kopf, in diesem gedämpften Licht sah er ohne seinen Helm aus Haaren tatsächlich krank aus, doch dann lachte er, seine Augen leuchteten kampflustig und er nickte sehr entschlossen.

Sebbi turnte gerade sehr heftig fluchend in der scheiß Tanne herum, damit die Lichterkette nicht über Nacht vielleicht einen anderen Besitzer fand und er, spätestens Anfang Dezember, Stress mit der Oma bekam, als ihn jemand ansprach. "Hey!" Er warf die Lichterkette zu Boden und kletterte die drei Zweige runter, die er zum Boden noch hatte. Vollkommen verharzt und ein wenig sauer auf das dumme Biest sah er sich Kaspar erneut gegenüber. "Hey. Du musst mir nicht helfen."

"Hatte ich nicht vor. Nein. Ich hab vergessen, dir dein Weihnachtsgeschenk zu geben."

"Oh. Nein, die Deko war doch schon nicht nötig gewesen." Unsicher rieb Sebbi seine Finger an der Jeans ab. Kaspars Freude zu sehen war für ihn toll genug gewesen, von der langersehnten Knutscherei einmal ganz zu schweigen.

Ein wenig gereizt starrte Kaspar ihn an. "Dachtest du, dass ich dich alles allein machen lasse oder was?!"

"Ja. Ab jetzt musst du den Rest allein machen, Kaspar, daher..."

"Pah. Hier ist dein Geschenk, du undankbarer Untertan." Sebbi erhielt eine kleine Schachtel und Kaspar verschränkte die Arme während er darauf wartete, dass Sebbi das Band darum aufgefriemelt hatte.

In der Schachtel lag eine dunkle Kette mit drei Anhängern. Sebbi ging unsicher in das Licht der nächsten Laterne am Weg. Ein Anhänger war eine mattschwarze Kugel, die anderen zwei waren Schlüssel. Die Kette stellte sich aus der Nähe betrachtet als geflochtenes, schwarzes Lederband heraus. Verwirrt starrte Sebbi von den Schlüsseln zu Kaspar, der ihn mit dunklen Augen beobachtete. Kaspar sprach es in dem Augenblick aus, in dem es Sebbi auch klar wurde.

"Nur falls du zu deppert bist, das sind Schlüssel von je einem Fahrradschloss."

"Du... nein, das geht nicht, Kaspar! Nein!"

"Mein Untertan, ich konnte es nicht mehr mit ansehen, dass Ihr so mangelhaft und wenig standesgemäß unterwegs seid."

"Blödsinn! Ich pass drauf auf. In zwei Wochen bist du durch mit allem, dann kriegst du das..."

"Nein! Du passt drauf auf, für immer!"

"Sei nicht so pessimistisch!"

"Nein... du siehst das falsch. In zwei Wochen, wenn ich alles überstanden habe, sind meine Mutter und Lars so happy, dann kriege ich ein neues Rad. Hab ich mir schon gewünscht." Er grinste. "Ich weiß, dass du den Erlkönig immer haben wolltest. Ich will, dass du ihn hast." Typisch für Kaspar mit verschränkten Armen und einem ziemlich bösen Blick gesagt. Dann hob Kaspar das Kinn und grinste. "Außerdem hab ich Luna vorhin angerufen, dass sie den Erlkönig bei dir rum bringt, bevor sie her kommt. Er steht in eurem Garten, sieh also zu, dass du nach Hause kommst und ihn in den Schuppen schaffst."

Sebbi umarmte Kaspar dann doch und bedankte sich mit einem zögerlichen Kuss, aus dem eine weniger zögerliche Knutscherei wurde, bis jemand den Weg hoch kam und sie unterbrach.

Als Sebbi im Nachtzug hockte mit einem Karton mit Lichterkette auf dem Schoß und einer kleinen Schachtel in der Hand, fühlte er sich glücklicher als je nach einem Weihnachten in seinem Leben zuvor. Und das beste daran war, dass es nicht kalt war, nicht regnerisch oder deprimierend. Er konnte problemlos ohne Jacke durch die Straßen auf dem uncoolen Rad nach Hause fahren. Das allerbeste war, dass er nicht bald wieder zur scheiß Schule musste. Er hatte nicht nur ein paar Tage frei, sondern sechs supertolle lange Wochen. Wenigstens vier Wochen, in denen Kaspar gesund und kräftig sein würde und mit ihm zusammen.

Als er in den Garten blickte und den schlanken, pechschwarzen Erlkönig erblickte, ballte er spontan die Hand zur Faust zusammen und machte einen Freudenhüpfer. Er hatte Kaspar, sie hatten geknutscht und ihre Eltern hatten sich tatsächlich zivilisiert unterhalten. Außerdem hatte er jetzt das coolste Rad auf der Erde. Wer hätte gedacht, dass er alles gewinnen würde mit einem Weihnachtsfest allein. Mit einem, das endlich einmal zur richtigen Zeit stattgefunden hatte.

Ende

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