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Wetten?

Weihnachtschallenge 2011

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Inhaltsverzeichnis

Wetten?

Weihnachten vor 6 Jahren

„Du hast die Wette verloren, Max.“

„Trotzdem“, hab ich gemault und mein Kopf auf meinen Knien abgestützt. Leon saß neben mir auf meinem Bett und hielt das Weihnachtsgeschenk von seinen Eltern in den Händen. Ein viel zu breites Grinsen war auf seinem Gesicht zu sehen.

„Das hier ist ein neues Handy, oder?“

„Ja“, gab ich widerwillig zu. „Aber wir sind erst 14. Warum willst du jetzt schon eine Freundin haben?“

„Ich will nicht irgendeine Freundin. Ich will Anja.“

„Dann kannst du ja mit ihr küssen üben.“ Mein Gesicht war bestimmt knallrot, aber Leon ließ sich davon nicht beeindrucken. Diese blöde Wette war seine Idee gewesen. Natürlich. Und wie immer konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen hatte. Küssen üben. Das war der Wetteinsatz. Meine Forderung war viel harmloser gewesen. Wenn ich gewonnen hätte, hätte Leon meinen Schulaufsatz schreiben müssen. Er war schon immer besser in der Schule als ich.

„Ich will aber wissen wie das geht, bevor ich sie küsse“, sagte Leon und rutschte dichter zu mir heran.

„Aber ich bin ein Junge.“

„Na und? Manche Mädchen machen das auch.“

Eigentlich hatte ich gar nicht so viel dagegen. Ich wollte schließlich auch lernen wie man richtig küsst und Leon war schon immer mein bester Freund. Das änderte nur leider nichts daran, dass ich vor Scham im Boden hätte versinken können.

„Mach die Augen zu.“

Ich zögerte. Leon saß im Schneidersitz vor mir und lächelte mich an. Er wartete geduldig bis ich seufzte und die Augen schloss. Ich hörte die Bettdecke rascheln, als er sich vorlehnte und dann berührte etwas meine Lippen. So schlimm war es gar nicht. Und seine kalte Hand an meiner glühenden Wange fühlte sich auch nicht schlecht an. Aber es war mir trotzdem schrecklich peinlich und ich würde mich bestimmt nie wieder auf so etwas einlassen.

Heute

„Das ist eine total bescheuerte Idee! Wirst du eigentlich nie erwachsen?“ Ich gieße den Kaffee in zwei Tassen und reiche Leon eine davon. Dann schnappe ich mir meinen Adventskalender und öffne das 12. Türchen.

„Sagt der Mann mit einem ‚König der Löwen‘-Adventskalender.“

Ich funkel ihn böse an. „Der Film ist toll.“

„Natürlich“, bestätigt Leon, aber sein Grinsen verrät ihn. „Ach komm schon, Maxi. Das wird bestimmt total lustig.“

Leon hat sich in den letzten sechs Jahren kaum verändert. Klar, er ist jetzt größer, studiert Musik und hat eine eigene kleine Wohnung, aber irgendwie ist er immer noch ein Kind. Er springt zum Beispiel vor lauter Freude im Dreieck, wenn er neue Klavier- oder Cellonoten bekommt, singt mir zu jedem Geburtstag ein Ständchen und liebt es, mit mir zu wetten. Das hat schon im Kindergarten angefangen und es hört einfach nicht auf.

Wir sind jetzt beide 20 und kennen uns seit fast 17 Jahren. Manchmal bin ich ein bisschen deprimiert, weil ihm alles scheinbar viel leichter fällt als mir. Zum Beispiel hat er sein Abi quasi im Schlaf gemacht, während ich nach der elften Klasse nicht mehr mitgekommen bin. Aber in einem bin ich besser: im Erwachsensein. Und ausgerechnet das versucht er mir immer wieder auszutreiben.

„Ich werde ganz bestimmt nicht mit dir als Engel und Teufel verkleidet über den Weihnachtsmarkt laufen.“

„Warum nicht?“

Ich starre ihn fassungslos an. „Weil das absolut peinlich ist! Was ist, wenn mich jemand aus dem Restaurant sieht? Ich bin im letzten Lehrjahr, da darf ich mir keine Fehler mehr erlauben.“

„Als ob du jemals einen Fehler gemacht hättest.“ Er schnauft und macht dabei diese Handbewegung, die mir sagt, dass ich mich mal wieder lächerlich mache. Es ist nur so ein kurzes Wischen, aber sehr deutlich.

„Ja stimmt, die mach ich nur mit dir.“ Ich verdrehe die Augen und setze mich mit meinem Kochbuch aufs Sofa. Irgendwas muss ich mir noch für die Feiertage ausdenken. Vielleicht mal was Vegetarisches? Nein, dann geht Leon mir an die Gurgel. So ein riesen Geflügelvieh kommt mir aber auch nicht ins Haus. Was Asiatisches wäre doch mal toll…

Leon folgt mir und setzt sich neben mich. Natürlich wird er nicht nachgeben, bis ich mich auf diese dämliche Wette einlasse. Und natürlich werde ich mich wie immer auch darauf einlassen. Einfach nur, weil es immer so war. Aber vorher muss ich erst mal wissen, worum er eigentlich wetten will.

„Was wäre das Leben ohne Fehler, hm?“, fragt er und schlürft seinen Kaffee. „Hakuna Matata.“

Ich funkel ihn böse an, weil er genau weiß, dass er keine König-der-Löwen-Zitate benutzen darf. Er macht sich nämlich immer darüber lustig. „Und worum soll es gehen?“

„Ich hab mir gedacht, dass wir das dieses Mal nicht so genau festlegen. Sagen wir einfach: der Verlierer muss dem Gewinner einen Wunsch erfüllen. Aber nichts Materielles.“

„Mit anderen Worten: der Verlierer ist dem Gewinner total ausgeliefert. Das klingt ganz nach dir.“

„So könnte man es auch sagen“, hustet Leon. Offensichtlich kann er nicht mal seinen Kaffee trinken, ohne sich daran zu verschlucken. Und ein bisschen rot ist er auch im Gesicht. Wahrscheinlich ist er schon wieder total aufgeregt und kann es gar nicht erwarten, uns vor der gesamten Stadt zu blamieren. Bestimmt will er mich dazu zwingen, mit ihm zu singen, wenn ich verliere. Oder ich muss an Weihnachten tatsächlich einen Gänsebraten auftischen oder so.

„Und was muss man machen, um die Wette zu gewinnen?“

„Nur seine Rolle überzeugend spielen“, antwortet er und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Tasse hat er jetzt vorsichtshalber auf dem Fußboden abgestellt. „Ich geh als Engel und du als Teufel.“

„Du als Engel?“

„Ja. Und du als Teufel. Das ist ja gerade der Witz an der Sache.“

„Das schaffst du nie“, sage ich grinsend. Okay, ich geb’s zu. Ein bisschen neugierig bin ich jetzt auch. Ich muss einfach sehen wie er ein überzeugender Engel sein will.

„Wetten?“

Ich halte ihm zur Antwort die Hand hin und er schlägt ein.

Am Freitagabend soll es losgehen und bis dahin will Leon jedem von uns ein Kostüm besorgen. Er hat noch Kontakte zu einem Theater, bei dem er mal ein Praktikum gemacht hat und hofft jetzt, dass sie ihm etwas ausleihen. Aber Theater-Kostüme sind doch nicht warm genug, oder? Bestimmt frieren wir uns darin sonst was ab.


Ich will Urlaub! Wenn die Woche so weiter geht wie heute, dann erlebe ich den Freitagabend nicht mehr. Zuerst habe ich mich im Restaurant fast selbst in Brand gesteckt, weil ich an diese blöde Wette gedacht habe, während ich mit dem Bunsenbrenner etwas flambieren wollte. Und als ich endlich wieder zuhause war, haben mein Vater und mein Bruder angerufen, um mir zu sagen, dass sie beide an Weihnachten nicht da sein werden. Beide sind irgendwo im Ausland unterwegs und da ist es natürlich viel zu umständlich, mich für zwei Tage zu besuchen. Die können mich alle mal. Langsam ist es mir echt zu blöd, denen ständig hinterher zu laufen. Auch wenn ich außer ihnen keine Familie mehr habe.

Ich mache mir jetzt erst mal einen Tee und dann setze ich mich zur Abwechslung mal vor den Fernseher. Ach, das Türchen für heute hab ich auch noch nicht aufgemacht. Die 13… Na toll. Auf Pumbas Hintern. Passt ja…

„Halloohooo!“, trällert es auf einmal hinter mir.

Ich bin so erschrocken, dass ich vor Schreck meine Teetasse fallen lasse. Sie geht zwar nicht kaputt, aber die ganze heiße Flüssigkeit breitet sich über meinen Füßen aus.

„Scheiße, Leon!“, fluche ich, ziehe schnell meine Socken aus und rase ins Bad. Leon läuft mir hinterher.

„Tut mir leid, was bist du denn so schreckhaft?“

„Und warum musst du hier immer einfach reinplatzen? Kannst du nicht wie jeder andere normale Mensch auch vorher klopfen?“ Ich setze mich auf den Rand der Badewanne und lasse kaltes Wasser über meine Füße laufen. Ich weiß, dass Leon ein paar Schritte hinter mir steht und ich weiß auch, was er jetzt sagen wird.

„Aber du hast mir doch extra den Schlüssel gegeben, damit ich das nicht muss. Bist du irgendwie schlecht drauf?“

„Bei deinem Gegröle, kein Wunder! Und der Tee war zufällig heiß!“

Auf einmal sitzt er neben mir und legt eine Hand auf meine Schulter. „Was ist los?“

„Nichts.“ Ich hasse es, wenn er mich so durchschaut. Kann ich nicht auch einfach mal sauer auf ihn sein? Oder einen schlechten Tag haben, ohne dass irgendwas passiert ist?

„War was bei der Arbeit?“

„Der Bunsenbrenner hatte es auf mich abgesehen.“ Vielleicht gibt er sich ja damit zufrieden.

Leon kichert. „Hast du ihn bestraft?“

„Ich hab ihn in die Ecke gestellt.“

Ich stelle das Wasser wieder ab und greife nach einem Handtuch.

„Bist du jetzt immer noch sauer auf mich?“, fragt Leon.

„Nein.“ Wie könnte ich auch?

„Dann erzähl mir doch bitte, was los ist.“

Ich tue erst mal so als hätte ich ihn nicht gehört und gehe ins Schlafzimmer, um mir neue Socken aus dem Schrank zu holen. Es gibt einen ganz einfachen Grund dafür, warum ich jetzt nicht mit ihm über meine Familie reden will. Und zwar, weil er mich immer dazu bringt, total gefühlsduselig zu werden. Und ich will nicht, dass dann alles wieder von vorne anfängt. Das Jammern, das Heulen… Ich hab genug davon. Außerdem will ich mir Weihnachten nicht vollkommen ruinieren lassen. Nie wieder. Dann feier ich eben nur mit Leon. Was soll‘s?

„Maxi.“ Leon lehnt am Türrahmen und macht vermutlich sein ich-finde-es-sowieso-raus-Gesicht.

„Es ist nichts, okay?“

„Na gut.“ Er geht zurück ins große Zimmer – so nenne ich meinen Wohnzimmer-Küche-Flur-Bereich – und lässt mich allein. Das ist selten. Normalerweise läuft es so ab, dass wir uns eine Weile gegenseitig anschreien und ich irgendwann nachgebe. Genaugenommen ist es sogar erst einmal vorgekommen, dass er vorher aufgegeben hat. Aber darüber wollte ich ja jetzt nicht nachdenken.

Ich muss nur noch diese Woche überstehen, dann hab ich zwei Wochen Urlaub. Leon auch. Ich könnte mir schon mal überlegen, was ich mit ihm anstelle, wenn er diese Wette am Freitag verliert. Das wird er nämlich. Es ist unmöglich, dass er einen ganzen Abend lang einen auf Engelchen macht.

„Gibt’s hier auch was zu essen? Ich denke, du bist Koch!“, ruft er wie aufs Stichwort.

„Ich komm ja schon!“


Okay, kalt ist mir nicht. Das verdanke ich aber nicht dem Kostüm, sondern wohl eher dem Bier, das Leon und ich zu viel getrunken haben. Keine Ahnung wie es dazu gekommen ist. Es könnte aber damit zusammenhängen, dass heute ein Brief von meinem Vater gekommen ist. Mit Geld zu Weihnachten. Hehe, da geht einem doch gleich das Herz auf, oder? Jedenfalls war ich etwas geknickt danach, und weil ich Leon schon wieder nicht erzählen wollte, was los ist, hat er mitgetrunken.

Jetzt sind wir auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt und üben unsere Rollen. Ich weiß zwar nicht genau wie ich mich als Teufel verhalten sollte, aber dank meines Vaters bin ich zumindest schon mal in der richtigen Stimmung.

„Ist dir kalt?“, fragt Leon und legt einen Arm um meine Schultern.

„Nein, und fass mich nicht an“, antworte ich so grimmig wie möglich und dann fangen wir beide an zu kichern.

„Deine Hörnchen sehen echt süß aus“, quietscht er.

„Und dein Heiligenschein ist echt geil“, flüstere ich ihm ins Ohr.

Okay, das hier macht echt Spaß. Einfach mal alles vergessen und sich vollkommen gehen lassen. Mir ist sogar egal, dass wir von allen Seiten angestarrt werden, weil Leon mich so zurechtgemacht hat, dass mich sowieso niemand erkennen wird. Mir ist wirklich nichts erspart geblieben. Nicht mal die rote Gesichtsfarbe oder der angeklebte Schwanz. Glücklicherweise ist mir das jetzt nur noch unterschwellig peinlich. Der Alkohol hat die Kontrolle übernommen. Ist eigentlich ganz lustig. Überall kribbelt es und ich hab ständig das Bedürfnis zu kichern. Aber das tut ein Teufel ja nicht. Glaube ich. Anstelle von ‚hihihi‘ versuche ich es also mit einem frechen ‚hähähä‘. Na Papa und Basti? Habt ihr auch so viel Spaß auf euren tollen Auslandstrips?

Und da ist er auch schon: der Weihnachtsmarkt. Oh man, sind hier wirklich so viele bunter Lichter oder sehe ich schon doppelt? Nee, das sind echt so viele. Ein bisschen übertrieben für meinen Geschmack. Aber es riecht gut hier. Und wie heißt es so schön? Immer der Nase nach.

Zuerst führen uns unsere Nasen zu einem Stand, der gefüllte Champignons verkauft und dann stellen wir fest, dass wir schon wieder viel zu nüchtern sind. Eigentlich trinke ich ja nicht so gern, aber heute ist alles anders. Heute bin ich der Teufel, der trinkt bis er umfällt, und dem das nicht mal ein kleines bisschen peinlich ist. Siehst du, wozu du mich treibst, Papa? Allerdings sollte Leon lieber nicht so viel mittrinken. Wer soll mich denn sonst nach Hause bringen?

Jedenfalls sind wir an diesem Abend eindeutig die Attraktion. Alle wollen uns fotografieren und überall zeigt man mit dem Finger auf uns. Nur den meisten Kindern ist das nicht so ganz geheuer. Der komische Onkel mit dem weißen Bart und dem roten Mantel – der ständig irgendwelche Gedichte hören will und dann nur blödes Obst dafür springen lässt – ist ja schon unheimlich genug, aber dann auch noch so was? Von den Eltern werden wir manchmal ein bisschen grimmig angestarrt. Vielleicht weil es schwierig ist, den Kleinen zu erklären, dass der Weihnachtsmann echt ist, Engel und Teufel aber nur verkleidete Spinner sind? Tja, mir soll’s egal sein. Die sollen sich lieber freuen, dass sie eine Familie haben, mit der sie Weihnachten feiern können.

So, wo gab’s doch gleich den Glühwein?

„Hey, Engelchen“, säusel ich und greife nach Leons Arm. „Ich will noch einen Glühwein.“

„Ich glaube, du hattest schon genug“, antwortet er kichernd.

„Ach und du etwa nicht? Komm schon, einen schaffen wir noch.“

„Na gut.“

Wir drängeln uns durch die Menschenmassen, aber an einem Punkt geht es einfach nicht weiter. Irgendwas scheint am Glühweinstand passiert zu sein, über das sich alle aufregen.

„Tut mir leid, der Glühwein ist leer. Für heute ist Schluss!“, schreit irgendjemand weiter vorne.

„Tja, das war’s dann wohl“, sagt Leon und legt einen Arm um meine Schultern. „Willst du nach Hause gehen oder lieber ein bisschen Karussell fahren?“

„Haha. Ich will was trinken.“

„Ich glaube, du hattest wirklich genug. Willst wohl unbedingt die Wette gewinnen, hm?“ Er zwinkert mir zu. Keine Ahnung, was das bedeuten soll.

„Nein, ich will einfach nur was trinken.“

Dann setzt er wieder seinen Analyse-Blick auf. „Sagst du mir jetzt, was los ist? Du bist echt merkwürdig drauf.“

„Nein.“ Ich befreie mich von seinem Arm und sehe mich um. Das hier ist zwar ein sehr kleiner Weihnachtsmarkt, aber es wird ja wohl noch einen zweiten Glühweinstand geben, oder?

„Das ist echt nicht fair!“, sagt Leon in einer Lautstärke, die jetzt auch wieder die anderen Leute auf uns aufmerksam macht.

„Du musst nicht immer alles wissen!“

„Aber du hast mir doch sonst auch immer alles erzählt“, beschwert er sich leicht lallend.

„Ja, weil du mich immer so lange nervst bis ich damit rausrücke. Das kannst du dieses Mal aber vergessen!“

„Warum willst du’s mir nicht sagen?“

„Weil es dich nichts angeht.“

So langsam gucken die Leute wirklich alle. Denken die, dass das hier ne Show ist?

„Aber ich muss deine schlechte Laune ertragen!“, schreit er unüberhörbar.

„Ich spiele nur meine Rolle. Das wolltest du doch so.“

Er schnauft. „Und was hast du vor, wenn du die Wette gewinnst? Muss ja was ganz Tolles sein, wenn du dich so ins Zeug legst.“

„Als ob ich dir das sagen würde.“ Ich weiß es ja selber noch nicht.

„Oh, noch ein Geheimnis? Na toll!“

„Und was hast du vor?“, frage ich genervt. „Wieder eins von deinen tollen Spielchen? Wenn du wieder jemanden zum Küssenüben brauchst, frag jemand anderen.“

Ich warte auf eine Antwort, aber stattdessen läuft er nur rot an. Wenn das jemandem peinlich sein sollte, dann doch wohl eher mir, oder?

„Was? Dachtest du, ich hätte das vergessen?“

„Das müssen wir doch nicht hier diskutieren, oder?“, fragt er auf einmal ganz leise. Das macht mich irgendwie stutzig. Wie hatte er es noch gleich formuliert: der Verlierer muss dem Gewinner einen Wunsch erfüllen. Aber nichts Materielles.

Mir wird schlecht. Er hatte nicht wirklich wieder so was vor, oder? Ich starre ihn entsetzt an.

„Was?“, fragt er jetzt etwas unruhig.

„Was hattest du mit mir vor?“

Seine Gesichtsfarbe hat jetzt das Maximum an roter Farbe erreicht. „Äh…“

Aber bevor er weitersprechen kann, landet meine flache Hand mit einem lauten, klatschenden Geräusch auf seiner Wange. Und dann ist er derjenige, der mich entsetzt ansieht. Ich hole wieder aus, dieses Mal mit der Faust, aber er fängt meine Hand ab. „Was soll das?!“, fragt er.

„Wieso ausgerechnet ich?!“, schreie ich.

Und dann spüre ich auf einmal einen brennenden Schmerz auf meiner linken Wange. Er hat zurückgeschlagen und hält jetzt meine beiden Handgelenke fest.

„Weil ich dich liebe“, sagt er so, dass nur ich es hören kann.

Zuerst bin ich so geschockt, dass ich mich überhaupt nicht bewegen kann, aber dann reiße ich mich los und schubse ihn von mir weg.

„Das ist nicht witzig“, murmel ich und drehe mich um. Ich werde jetzt einfach nach Hause gehen, mich ins Bett legen und morgen früh feststellen, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Wahrscheinlich hab ich doch ein bisschen viel getrunken. Warum sollte Leon auch in mich verliebt sein? Nur weil er mich einmal geküsst hat, als wir noch Kinder waren? Und verarscht hat er mich damals auch. Von Anja hab ich nämlich nie wieder etwas gehört. Er hatte zwar mehrere Freundinnen, aber erst ungefähr zwei Jahre nach dem Kuss.

„Warte!“, ruft Leon und läuft mir nach.

„Lass mich in Ruhe.“

„Gehst du nach Hause?“

„Ja.“

„Ich komme mit“, beschließt er und dackelt neben mir her.

„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich hab für heute genug von dir.“

„Aber ich hab das ernst gemeint.“

„Ja, klar“, sage ich und gehe einfach weiter. Scheinbar hat Leon es jetzt endlich kapiert, denn er bleibt stehen. Ich höre seine Schritte nicht mehr.

So langsam wird mir doch ein bisschen kalt, also laufe ich so schnell es mir meine Pudding-Beine noch erlauben. So ein verrückter Abend. Ich wusste doch, dass bei dieser Wette wieder nichts Gutes rauskommen kann. Das ist immer so und ich lerne einfach nichts daraus. Und Leon ist so ein… so ein… Volltrottel. Ja. Ich will gar nicht daran denken, was er mit mir vorhatte. Letztes Mal war es nur ein Kuss. Okay, der war nicht so ekelig wie ich gedacht hätte und immerhin war es ja nur Leon. Aber was wäre gewesen, wenn wir uns danach nicht mehr in die Augen hätten sehen können? Was würde ich ohne Leon machen? Es darf absolut nie wieder so was passieren. Es muss alles so bleiben wie es ist.

Da ist ja schon das Haus, in dem ich wohne. Mein Bett ist ganz nah. Hoffentlich schaffe ich es noch bis dahin. Irgendwie dreht sich nämlich alles. Die Treppen vor der Haustür sind schon eine echte Herausforderung. Ob Leon gut nach Hause gekommen ist?

Auf einmal packt mich jemand am Arm und zieht mich in eine dunkle Nische. Oh Gott! Das ist bestimmt ein Irrer, der sich über mein Kostüm aufgeregt. Oder noch schlimmer.

„Das war kein Scherz. Ich hab’s ernst gemeint“, sagt dann aber eine sehr vertraute Stimme. Leon.

„Schei…“, will ich ihn beschimpfen, aber er küsst mich. Auf den Mund. Einfach so. Ich bekomme keine Luft mehr und die kalte Wand an meinem Rücken ist alles andere als bequem, aber irgendwie schließe ich automatisch die Augen und kalt ist mir auch nicht mehr. Was passiert hier? Was soll ich machen? Etwas Warmes streichelt meinen Nacken und ist vermutlich auch dafür verantwortlich, dass sich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper ausbreitet.

„Willst du dich gar nicht wehren?“, fragt Leon.

Mein Kopf folgt seinem als sich unsere Lippen voneinander trennen, aber ich ziehe ihn ganz schnell wieder zurück und öffne meine Augen. Leon grinst mich an. „Darf ich bitte mit reinkommen? Es schneit.“

Tatsächlich glitzern ganz viele Schneeflocken in seinen Haaren. Und da ist auch irgendwas auf seinem Gesicht. Auf der Nase und auf den Lippen ist… rote Farbe? Ist das etwa…? Und schon wieder starre ich ihn entsetzt an. Wir haben uns geküsst! Hab ich ihn auch geküsst? Ja, warum hab ich mich denn nicht gewehrt? Gute Frage.

„Nein“, beantworte ich seine zweite Frage etwas heiser.

„Aber…“

„Was machst du überhaupt hier? Du hast mich zu Tode erschreckt! Und warum küsst du mich einfach so?!“ Offensichtlich bin ich jetzt wütend. Und zu Recht, oder?

Sein Grinsen verschwindet jedenfalls. „Hab ich doch gesagt.“

„Das glaube ich dir aber nicht. Nur weil du mein bester Freund bist, kannst du mich nicht einfach küssen, wenn dir mal danach ist!“

„Du hast mich auch geküsst.“

„Nein, hab ich nicht!“ Langsam werde ich etwas hysterisch, also gehe ich zurück zur Haustür. Wo hatte ich den Schlüssel doch gleich? Ach ja, an einer Schnur an meinem Handgelenk.

„Soll ich jetzt wirklich bei dem Wetter nach Hause laufen?“, fragt Leon.

„Du wohnst doch nur zwei Straßen weiter.“

„Okay.“ Er dreht sich um. „Schlaf gut.“ Und dann ist er verschwunden. Ich öffne die Haustür und schleppe mich die Treppen zu meiner Wohnung hoch. Mein Kopf fühlt sich an wie ausgestopft und meine Beine scheinen nicht mehr Knochen zu haben als ein Gummibärchen.

In der Wohnung angekommen, gehe ich erst mal ins Bad und erschrecke mich vor meinem eigenen Anblick im Spiegel. Die rote Farbe auf meiner linken Wange ist verwischt, genau wie um meine Lippen und die Nase. Oh man, wie konnte das nur passieren? Und warum hab ich trotzdem ein schlechtes Gewissen? Ich sollte einfach nur sauer auf Leon sein und nicht daran denken, was er für ein Gesicht gemacht hat, als ich ihn nach Hause geschickt habe. Ich hab Angst, dass er sauer auf mich ist und hab deshalb auch Angst, sauer auf ihn zu sein. Das macht doch gar keinen Sinn. Am besten gehe ich jetzt erst mal schlafen und zerbreche mir morgen weiter den Kopf. Natürlich nur, falls sich rausstellen sollte, dass das alles tatsächlich passiert ist.


So kurz vor Weihnachten. Das ist doch nicht fair. Und bin ich etwa der Einzige, der traurig ist? Papa und Basti machen einfach weiter wie immer und reden nicht wirklich mit mir. Sie sind gerade losgefahren, um einen Weihnachtsbaum zu holen, aber ich wollte nicht mit. Warum sollten wir dieses Jahr überhaupt irgendwas feiern? Ohne Mama. Ich mache da nicht mit.

Draußen schneit es wie verrückt und trotzdem setze ich mich auf die alte Holzbank in unserem Garten. Drinnen riecht alles so gut und sieht so schön geschmückt aus. Es riecht zu gut und sieht zu schön aus. Das passt einfach nicht. Ich will nicht so tun, als wäre alles wie immer.

„Hey“, sagt Leon und setzt sich neben mich. „Alles okay?“ Wahrscheinlich hat er aus seinem Fenster gesehen, dass ich hier sitze. Manchmal ärgert es mich, dass wir direkt nebeneinander wohnen, aber es hat auch etwas Gutes. Manchmal.

Ich schüttele nur den Kopf und er legt seine Arme um mich. Warum muss ich immer weinen, wenn er das macht? Und warum fühle ich mich trotzdem wohl dabei? Vielleicht weil sich sonst niemand für meine Gefühle interessiert und ich deshalb nie gefragt werde, ob alles in Ordnung ist. Seit ein paar Wochen denke ich sogar, dass Leon der Einzige ist, der sieht, wenn es mir schlecht geht. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und genieße die Wärme, die von ihm ausgeht. Warum riecht er nach Baumrinde? Ist mir vorher nie aufgefallen. Jedenfalls ist es eindeutig besser als diese fiese Parfum-Phase, in der er mal war.

Ich schiebe Leon ein Stück von mir weg und wische mir über die Augen. „Geht schon wieder“, nuschele ich dabei.

Er legt beide Hände an mein Gesicht und küsst mich. Ganz kurz nur. Aber ein Kuss ist ein Kuss, oder? Zwei Jahre ist unsere kleine Wette her, die er gewonnen hat und mich deshalb küssen durfte, aber seitdem haben wir nie wieder darüber gesprochen. Jetzt ist das Schweigen wohl gebrochen.

„Warum machst du das?“, frage ich verwirrt.

„Nur so. Damit es dir besser geht.“

„Glaubst du jetzt geht es mir besser?“

„Du weinst nicht mehr“, stellt er grinsend fest. „Also bist du zumindest abgelenkt.“

„Aber musstest du mich unbedingt küssen?“

„War das erste, das mir eingefallen ist. Übrigens solltest du dringend einen Labello benutzen. Deine Lippen sind schon ganz rau von der Kälte.“

Ich schubse ihn von der Bank und funkel ihn böse an. Er zuckt nur mit den Schultern. „Willst du heute bei uns essen? Wir wollen grillen.“

„Grillen? Im Winter?“

„Ja, wieso nicht? Unsere Terrasse ist überdacht und Wolldecken haben wir auch genug. Und wenn dir trotzdem kalt wird, wärme ich dich.“

„Haha“, sage ich nur und stehe auf. Der Schnee knirscht unter meinen Füßen.

„Na komm schon. Du musst auch mal wieder was machen, das dir Spaß macht.“

Jeden anderen hätte ich jetzt wahrscheinlich angeblubbert, aber bei Leon weiß ich, dass er es nur gut mit mir meint, und dass er sich Sorgen macht.

„Tut mir leid, ich weiß, dass dir nicht danach ist. Aber es ist nur ein Abendessen. Der Grill steht schon bereit und ich musste ganz viel Holz für den Kamin hacken, damit wir dich nachher wieder aufwärmen können.“

Daher also der Geruch nach Baumrinde. „Okay“, sage ich und muss sogar ein bisschen lachen, als Leon von einem Ohr bis zum anderen grinst.


Ich schlage die Augen auf und sehe mich um. Ach du Schande, was sollte das denn jetzt? Wo kam auf einmal dieser Traum her? Ich glaube, diesen Tag vor vier Jahren hatte ich total verdrängt. Es war einer der schlimmsten, weil einfach alles normal weiterging, nachdem meine Mutter bei einem Unfall gestorben war. Ich weiß noch genau, dass ich das Gefühl hatte, vollkommen allein zu sein. Alle haben irgendwie weitergemacht und ich konnte nicht.

Hat Leon mich damals wirklich geküsst oder hab ich das im Traum dazu gedichtet? Daran erinnern kann ich mich nämlich nicht mehr. Vielleicht habe ich das aber genauso verdrängt wie vieles andere. Ich muss ihn das mal fragen. Er kann ja schließlich nicht einfach andere Leute küssen, ohne vorher zu fragen.

Was war eigentlich gestern Abend los? Irgendwie ist da so etwas wie ein Nebel in meinem Kopf. Ich weiß noch, dass ich mich mit Leon über irgendwas gestritten habe, dass es geschneit hat und er mir dann nach Hause hinterher gelaufen ist. Und warum hab ich ein schlechtes Gewissen? Hab ich was Komisches gesagt?

Ich muss erst mal einen Kaffee trinken und dann rufe ich Leon an. Hoffentlich ist der ein bisschen klarer im Kopf als ich und kann mir sagen, was passiert ist. Diese beknackte Wette… Ach ja, das müssen wir ja auch noch klären. Ich denke ja, dass ich den Teufel schon ziemlich überzeugend gespielt habe. Aber so wie ich Leon kenne, wird er das natürlich abstreiten.

Ich setze mich mit meiner Kaffeetasse aufs Sofa und wähle Leons Nummer.

„Hey“, meldet er sich. „Ich bin schon auf dem Weg zu dir.“

„Ach ja? Okay, dann bis gleich.“

„Ja, bis gleich.“

Verwirrt lege ich wieder auf. Wieso ist er jetzt schon auf dem Weg hierher? Hat er es irgendwie eilig? Will er so dringend klären, wer die Wette gewonnen hat? Dann hat er sich bestimmt wieder was ganz Tolles überlegt, wie er mich blamieren kann. Ich wünschte er würde seine Kreativität irgendwie anders nutzen. Sein Studium sollte da ja eigentlich einiges abfangen können.

Heute ist schon der 17. Dezember. In einer Woche ist Weihnachten. Ich verstehe nicht, warum Papa und Basti ihre Termine im Ausland unbedingt auf diese Tage legen mussten. Gehen sie mir vielleicht aus dem Weg? Wollen sie nicht mit mir feiern, weil wir seit vier Jahren nicht mehr normal miteinander umgehen können? Ich gebe ja zu, dass unsere Treffen meistens eher unentspannt sind, aber sollten wir nicht wenigstens an Weihnachten versuchen ein Familie zu sein?

Es klingelt. Warum benutzt er nicht seinen Schlüssel? Bevor ich die Tür öffne, atme ich noch einmal tief ein. Ich will nicht, dass Leon merkt, worüber ich nachgedacht habe. Ach ja! Haben wir uns gestern nicht darüber gestritten? Er hat sich aufgeregt, weil ich ihm nicht sagen wollte, warum ich mich so merkwürdig benommen habe. Scheinbar kommt die Erinnerung langsam wieder zurück.

„Hi“, sagt Leon. Ohne Lächeln oder Grinsen. Sein Gesicht sieht irgendwie schuldbewusst aus und er scheint nicht besonders viel Schlaf bekommen zu haben. „Darf ich reinkommen?“

„Was ist das denn für eine Frage? Und warum kommst du nicht einfach mit dem Schlüssel rein?“

„Ich dachte, dass du mich vielleicht nicht sehen willst.“

Hä? „Wie kommst du denn darauf? Außerdem hätte ich dir das dann auch am Telefon sagen können.“

Er geht an mir vorbei, zieht sich Schuhe und Jacke aus und steht dann im Flur wie bestellt und nicht abgeholt. Irgendwas ist eindeutig faul. Aber er kann doch nicht immer noch sauer auf mich sein. Dann hab ich halt einmal etwas für mich behalten, na und?

„Du trinkst jetzt erst mal einen Kaffee“, bestimme ich. Ich nehme eine Tasse aus dem Schrank, gieße den Kaffee hinein, drehe mich um und… Leon steht immer noch im Flur.

„Kannst du dich vielleicht mal bewegen oder was sagen? Du machst mich total nervös. Wenn du mir zeigen willst wie ätzend es ist, wenn man nicht weiß, was den anderen bedrückt… okay… ich hab’s verstanden.“

Er kommt auf mich zu und sieht jetzt plötzlich verwirrt aus. „Weißt du noch, was ich gestern gesagt habe?“

„Äh… was genau meinst du?“

„Weißt du auch nicht mehr, was passiert ist, bevor ich nach Hause gegangen bin?“

„Doch, allerdings“, sage ich. „Du hast mich geschlagen.“

„Du hast doch damit angefangen.“

„Also hab ich die Wette gewonnen?“, frage ich.

Er überlegt kurz und dann verwandelt sich sein merkwürdiger Gesichtsausdruck zu dem typischen Lächeln. „Ja, ich denke schon.“

Wir frühstücken danach noch zusammen und entdecken sogar einen Artikel in der Lokalzeitung über unseren kleinen Kampf gestern. Der Nebel in meinem Kopf hat sich zwar noch nicht ganz zurückgezogen, aber ich glaube nicht, dass wir uns so übel gekloppt haben, wie es in diesem Artikel dargestellt wird. Hat da wirklich jemand die Polizei gerufen? Leute gibt’s…

Ich frage mich, ob ich Leon nach dem Kuss von vor vier Jahren fragen sollte. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich passiert ist, aber vielleicht ist das jetzt der falsche Zeitpunkt. Er ist gerade erst wieder normal und ich will mich nicht schon wieder streiten. Es ist wohl besser, wenn ich das erst mal unter den Tisch fallen lasse. Oder ich lasse es ganz sein. Das ist vier Jahre her und es war eindeutig eine Ausnahmesituation. Ich stand vollkommen neben mir zu der Zeit und Leon war für mich da. Selbst wenn er mich geküsst hat, war es bestimmt nur, um mich zu trösten. Oder um mich abzulenken, wie er es in meinem Traum formuliert hat. Ja, ich werde das einfach vergessen.


Am nächsten Morgen gönnen wir uns ein teures Frühstück in unserem Lieblingsrestaurant. Ich hab ja eine Schwäche für die amerikanische Variante mit Pfannkuchen, die Leon aber überhaupt nicht teilt. Er hält sich lieber an die gesunde Vollkornbrot-Version. Wie langweilig. Das kann er doch auch zuhause haben, aber Pfannkuchen macht man sich nicht mal eben schnell. Na ja, er genießt es trotzdem und darauf kommt es ja schließlich auch an.

„Wann kommen eigentlich Basti und dein Vater?“, fragt er und belegt sich seine zweite Brotscheibe mit Käse.

Ich tue schnell so, als ob ich unbedingt meinen Kaffee umrühren müsste, um meinen Schock zu verbergen. Ausgerechnet jetzt muss er diese Frage stellen? Dass er sie irgendwann stellen würde, war mir klar, aber heute hatte ich so gar nicht damit gerechnet.

„Äh, am ersten Weihnachtsfeiertag.“ Ja, ich weiß, dass das eine fette Lüge ist, aber ich will dieses Jahr unbedingt verhindern, dass Leon nur damit beschäftigt ist, mich zu trösten. Wenn er denkt, dass ich an diesem Tag etwas vorhabe, kann er auch mal wieder entspannt mit seiner Familie feiern.

„Also feiern wir Heilig Abend zusammen?“ Sein Grinsen ist so breit wie üblich. Also hat er meine Lüge geschluckt.

„Machen wir doch immer.“ Ich muss schnell das Thema wechseln, bevor er doch noch etwas merkt. „Was meintest du eigentlich gestern? Woran sollte ich mich erinnern?“

Jetzt ist er es, der etwas hektisch in seiner Tasse rumrührt. „Äh, na ja… es war mir nur etwas peinlich, dass ich dich so angepampt habe, nur weil du mir nicht sagen wolltest, was mit dir los ist. Es ist okay, wenn du nicht immer über alles mit mir reden willst.“

Jetzt herrscht plötzlich ein unangenehmes Schweigen am Tisch. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, ohne Leon noch mehr anzulügen oder ihm alles zu verraten. Der Themenwechsel hat ja super funktioniert.

„Und? Was essen wir an Weihnachten?“, fragt Leon mit einem mehr oder weniger überzeugenden Lächeln und ich atme erleichtert auf. Dazu kann ich ohne Gefahr etwas sagen.

„Ich dachte an was Thailändisches“, antworte ich und halte dann einen etwas längeren Monolog über meine kulinarische Planung. Leon scheint das überhaupt nicht zu stören. Er sagt immer, dass er es total bewundert, wenn ich so leidenschaftlich übers Kochen rede. Und tatsächlich hört er immer ganz genau zu und fragt sogar manchmal nach, wenn ihn etwas besonders interessiert. Er gibt mir nie das Gefühl, dass mein Beruf weniger wert ist, nur weil ich nicht studiert habe. Im Gegensatz zu meinem Vater. Bei ihm hört man immer raus, dass er sich etwas anderes für mich gewünscht hätte.

Nach dem Frühstück laufen wir noch mal über den Weihnachtsmarkt. Dieses Mal gibt es aber natürlich keinen Glühwein, sondern nur ein paar gebrannte Mandeln zum Mitnehmen. Am nächsten Tag gehen wir wieder hin und dann wieder. Was einen Weihnachtsmarkt eigntlich so anziehend macht, verstehe ich trotzdem nicht so richtig. Vorher freue ich mich immer drauf, aber letztendlich ändert sich vom einen zum anderen Tag ja gar nichts und es wird schnell langweilig. Leon schafft es trotzdem sich jeden Tag immer wieder etwas Neues zu kaufen. Erst eine Kerze, dann ein komisches Geschicklichkeitsspiel aus Holz, das er schon am vorigen Tag bestaunt hatte, und dann noch ein paar andere Kleinigkeiten.

„Wieso kaufst du es nicht, wenn du es unbedingt haben willst?“, frage ich ihn am Donnerstag, als er sich seufzend von dem Lederarmband verabschiedet, das offensichtlich sein Herz erobert hat.

„Morgen vielleicht. Dann hab ich was, auf das ich mich freuen kann.“

Der macht mich manchmal vollkommen kirre.

Am Freitag holen wir zwei kleine Tannen und trennen uns dann das erste Mal in dieser Woche voneinander. Wenn wir Urlaub haben, ist das so. Eine Wohnung steht dann immer leer. Aber heute Abend wollen wir beide unseren Baum schmücken und ich muss noch etwas für das Essen morgen vorbereiten. Außerdem brauche ich mal wieder eine Pause von dem ständigen gut-gelaunt-Sein. Ich brauche einen Abend für mich, um ein bisschen durchzuhängen, damit ich morgen wieder mit meinem Charme um mich sprühen kann. Vier Jahre sind eben nicht genug, um zu kapieren, dass Weihnachten nie wieder ein fröhliches Familienfest für mich sein wird. Ich hätte nie gedacht, dass eine ganze Familie auseinander brechen kann, wenn einer geht. Man lernt immer wieder was dazu…


Heilig Abend. Ja, ich gebe zu, dass es ein schöner Tag war. Es war nicht einfach aus der leichten Depression wieder rauszukommen, in die ich mich gestern Abend selber manövriert habe, aber es hat geklappt. Leon kann ja ziemlich aufdringlich und nervig werden, aber er kann auch wahre Wunder vollbringen. Komischerweise tut er das auch immer genau zum richtigen Zeitpunkt.

Er ist heute Morgen hier aufgetaucht und hat überall Duftkerzen aufgestellt, von denen ich nach einer Stunde schon Kopfschmerzen bekommen habe. Dann hat er sie alle wieder eingepackt und mich stundenlang damit aufgezogen, dass ich nichts vertrage. Ja, hallo? Das sind keine Duftkerzen, sondern brennende Giftklumpen. Wenn ich will, dass meine Wohnung nach Weihnachtsgebäck riecht, dann backe ich Kekse.

Nachdem ich gelüftet und uns einen Tee gekocht habe, haben wir uns einen Film angesehen. Tim Allen ist genial, stellte ich dabei mal wieder fest. Und dann stand ich stundenlang in der Küche und habe das Abendessen zubereitet, das Leon und ich dann später in weniger als einer halben Stunde wieder vernichtet haben.

Die Bescherung war keine große Überraschung, weil wir uns beide etwas Bestimmtes gewünscht hatten. Noch dazu etwas, das man tatsächlich gebrauchen kann und das bei manch anderen Menschen bestimmt nicht als angebrachtes Weihnachtgeschenk angesehen werden würde. Aber was soll man machen? Ich brauchte eine neue große Pfanne und Leon eine Saite für sein Cello. Ich hätte nie gedacht, dass diese Dinger so verdammt teuer sind.

Und dann kam der peinliche Teil des Abends. Leon hat sich ans Klavier gesetzt und darauf bestanden, dass ich mit ihm singe. Zuerst hab ich mich geweigert, weil ich ihm viel lieber einfach nur zuhöre, aber obwohl wir nur zu zweit waren, war ich am Ende überstimmt. Wie das geht? Keine Ahnung. Es war einfach so. Angeblich soll ich mich gar nicht so schlecht angehört haben, aber ich habe schließlich selber Ohren.

Außerdem war es wie immer etwas merkwürdig, Leon am Klavier meiner Mutter zu sehen. Ich habe das Instrument bekommen, weil sie immer wollte, dass ich lerne wie man darauf spielt und Leon versucht auch immer mich dazu zu bringen. Es ist fast ein bisschen unheimlich wie viel die beiden gemeinsam haben. Er sitzt genauso auf dem Hocker wie sie früher. Die gleiche Haltung und derselbe konzentrierte Gesichtsausdruck.

Jetzt steht Leon im Flur und zieht sich seine Jacke an. In den letzten Stunden ist es hier ein bisschen zu albern geworden, deshalb haben wir beschlossen, die Party zu beenden. Leon hat versucht mich zu einer neuen Wette zu überreden, aber das konnte ich erfolgreich abwehren.

„Frohe Weihnachten, Maxi“, sagt er und streckt seine Arme aus. Ich denke, dass er mich zum Abschied umarmen will und gehe einen Schritt auf ihn zu, aber dann legt er seine Hände an mein Gesicht und seine Lippen berühren meine. Wieder nur ganz kurz und wieder so unerwartet, dass meine Arme irgendwo in der Luft hängen bleiben und ich nicht weiß wie ich reagieren soll.

„Tut mir leid“, murmelt er und dreht sich zur Tür um.

„Wieso?“, frage ich verwirrt. Beim letzten Mal vor vier Jahren hat er sich auch nicht entschuldigt. Und vor sechs Jahren nach unserer Wette auch nicht. Warum jetzt?

„Wieso was?“

„Wieso entschuldigst du dich? Du hast doch bestimmt wieder irgendeine tolle Ausrede.“

„Äh… Ausrede?“, fragt er sichtlich verwirrt.

„Ja, letztes Mal hast du zum Beispiel behauptet, dass du mich nur ablenken wolltest.“

„Letztes Mal?“

Kann er auch noch was anderes als doofe Fragen zu stellen? „Auf der Bank… in unserem Garten… vor vier Jahren…“

„Ach so.“ Er sieht irgendwie erleichtert aus.

„Was dachtest du denn?“ Sollte ich da vielleicht irgendwas wissen?

„Ich wusste es einfach nicht mehr genau. Und nein, ich hab keine tolle Ausrede. Ich dachte einfach nur, dass es ein schöner Abend war und es ist Weihnachten und deshalb…“ Den Rest kann er scheinbar nicht aussprechen, also wedelt er mit den Händen in der Luft rum. „Vergiss es einfach. Es war nur so.“

„Okay.“ Warum bin ich jetzt nicht sauer auf ihn? Es kann mir doch egal sein, welche Ausrede er hat. Er hat mich geküsst!

Leon öffnet die Tür und geht ins Treppenhaus. „Grüß deinen Papa und Basti von mir und macht euch einen schönen Tag morgen.“

„Ja.“ Ich muss schlucken. „Werden wir.“

Dann lächelt er mich noch einmal an und geht die Treppen runter. Ich stehe noch so lange in der Tür zu meiner Wohnung, bis ich höre wie unten die Haustür auf- und zugeht. Danach gehe ich zurück in meine Wohnung, wo es jetzt so still ist, dass es schon fast in den Ohren wehtut. Das also war jetzt mein Weihnachten.


Je mehr Zeit vom nächsten Tag vergeht, desto schöner kommt mir Heilig Abend vor. Ich kann jetzt offiziell bestätigen, dass es an Weihnachten nicht nur auf diesen einen Tag ankommt, an dem man sich gegenseitig mit Geschenken beglückt. Jedenfalls bei mir nicht. Ich brauche das ganze Drumherum mindestens genauso. Ich will mich Wochen vorher schon darauf freuen können, ich will über den Weihnachtsmarkt laufen und Glühwein trinken, ich will meine Speckröllchen mit gutem Essen füttern, ich will meine Familie bei mir haben und ich will von draußen rein kommen und sagen: „Scheiße, ist das kalt!“ Was ich aber nicht will, ist zu wissen, wann das Ganze wieder zu Ende sein wird. Ich finde das muss sich so nach und nach verlaufen. Irgendwann hat man einfach keinen Bock mehr auf Weihnachtsstimmung, aber diesen Zeitpunkt möchte ich mir schon gerne selber aussuchen. Dieses Jahr ist daraus nur leider nichts geworden. Weihnachten war gestern Abend für mich gelaufen. Und zwar genau dann, als Leon gegangen ist. Heute bleibt mir nur eins zu tun: Die König-der-Löwen-Endlosschleife einschalten, die Essensreste von gestern vernichten und den Vorrat an Weißwein als Schmerzmittel benutzen. Klischee? Egal, Hauptsache es klappt!

Okay, die erste Flasche vom Wein ist leer und das thailändische Essen komplett verputzt. Nur der Fernseher spielt nicht so richtig mit. Irgendwann war das Bild nämlich nicht mehr so scharf wie vorher. Da muss wohl einer auf der Leitung stehen. Hahaha! Auf der Leitung. Ich schmeiß mich weg!

„Hey!“, rufe ich in die leere Wohnung. „Geh runter da, ich will das sehen!“

Daraufhin höre ich ein leises Kichern, das vermutlich von mir kommt und noch etwas anderes, das sich wie mein Name anhört.

„Maxi?“

Ich drehe mich um und entdecke Leon, der mit einem Schlüssel in der Hand in meinem großen Zimmer steht und mich komisch anguckt.

„Stehst du auf der Leitung?“, frage ich ihn.

„Nee, aber du offenbar.“

„Ich? Vielleicht…“ Und wieder ist da dieses Kichern.

„Was ist denn hier los? Wo sind Basti und dein Vater?“

„Im Ausland. Arbeiten.“

„Und wie lange wusstest du das schon?“, fragt Leon und kommt auf mich zu.

„Schon gaaaaaanz lange.“

„Dann war es das, was du mir nicht sagen wolltest?“ Er greift nach der Fernbedienung. Vielleicht weiß er ja wie das Bild wieder scharf wird.

„Ja, allerdings. Du bist ganz schön schl… hey!“, protestiere ich, als der Fernsehbildschirm plötzlich nur noch schwarz ist. „Was machst du denn?“

„Du gehst jetzt ins Bett.“

„Es ist aber noch ganz früh.“

„Es ist schon dunkel.“

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. „Aber im Winter ist es immer schon so früh dunkel.“

„Gut zu wissen, dass du nicht alle deine Gehirnzellen weggesoffen hast“, sagt Leon und zieht mich am Arm vom Sofa hoch. Zuerst protestiere ich ein bisschen, aber als ich auf meinen Beinen stehe, merke ich, dass mir ganz schön schwindelig ist und gehe freiwillig mit ins Schlafzimmer. Mein Kopf fühlt sich echt merkwürdig an, also lehne ich ihn an Leons Schulter.

„Warum hast du mir nichts gesagt?“, fragt er und setzt mich auf der Bettkante ab. Ich kippe sofort nach hinten und schließe die Augen.

„Na, weil’s mir dann immer noch schlechter geht.“

„Was?“

„Du bist immer viel zu lieb zu mir.“

„Oh, ich bitte um Verzeihung“, sagt er in einem Tonfall, den ich bei ihm nur sehr selten höre.

„War das Sarkasmus?“

„Du hast es erfasst. Und jetzt deck dich zu, sonst wirst du krank.“

Ich krabbele unter die Decke und sehe dann zu Leon hoch. „Du darfst heute hier schlafen.“

„Sehr großzügig“, erwidert er und verdreht die Augen. Da war es schon wieder. Zweimal an einem Tag? Wirklich komisch.

Er hebt die Bettdecke an und legt sich neben mich. Seine Arme wurschteln sich irgendwie um meinen Körper und dann ist es ganz still.

„Aber küssen darfst du mich nicht.“

Er lacht. „Daran erinnerst du dich also noch, hm?“

„Allerdings.“ Ich bin müde, aber ich fühle mich auf einmal gar nicht mehr so schlecht. Es ist unheimlich wie gut es tut, wenn Leon in meiner Nähe ist. Wenn er seine Arme um mich legt, fühle ich mich sicher und irgendwie geborgen. Aber es macht mich auch schwach. Ich kann nicht lügen und ich kann mich nicht verstecken, wenn er mich so umarmt. Und die Worte sprudeln einfach so aus meinem Mund, ohne dass ich vorher wirklich darüber nachgedacht habe.

„Warum sind sie nicht gekommen?“

Leon fragt nicht nach, wen ich meine. Vielleicht hat er auch gerade darüber nachgedacht. „Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie einfach Angst davor, wieder normal Weihnachten zu feiern. So wie du im ersten Jahr. Vielleicht verstehen sie jetzt erst, dass es nicht wieder so sein kann wie früher.“

„Also feiern wir nie wieder zusammen Weihnachten?“

„Ach Quatsch. Sie brauchen bestimmt nur noch ein bisschen mehr Zeit. Und es liegt nicht an dir, falls du das denkst.“

Ich lege jetzt auch meine Arme um Leon und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. Heute Abend riecht er nicht nach Baumrinde oder irgendeinem abenteuerlich duftenden Weihnachtsgewürz, sondern einfach nur nach kalter Winterluft und seinem Lieblingsduschgel. Und auf einmal wird mir klar, dass ich doch bis auf eine Ausnahme alles habe, was ich wollte. Ich bin mit Leon zusammen über den Weihnachtsmarkt gelaufen und wir haben mehr als genug Glühwein getrunken; wir hatten gestern einen sehr lustigen Tag mit leckerem Essen; wir haben Weihnachten seit Wochen geplant und natürlich hatte ich mich auch darauf gefreut; und es ist kalt genug draußen, um ein paar Schimpfwörter loszuwerden und um einen Pullover nach Winter riechen zu lassen. Papa und Basti waren zwar nicht da, aber dafür war doch Leon die ganze Zeit bei mir, oder? Und er ist ja sowieso wie Familie.

Das laute Pochen in meinen Ohren lenkt mich von diesen Gedanken ab. Und irgendwie bin ich plötzlich total verkrampft.

„Geht’s dir gut?“, fragt Leon.

„Äh…“, kommt es merkwürdig quietschend aus meinem Mund. „Ja ja, alles bestens.“ Ich verstecke mich vorsichtshalber noch ein bisschen mehr und versuche mich zu entspannen. Leons Finger streichen über meinen Rücken und halten mich dicht bei ihm. Überhaupt liegen wir ziemlich dicht nebeneinander. So wie früher auch immer. Aber irgendwas ist anders. Ich komme nur nicht drauf. Ich bin zu müde und wahrscheinlich auch zu beduselt, um eine Antwort zu finden.


Ja, Weihnachten war dieses Jahr wirklich ein Reinfall. Am zweiten Feiertag war die Stimmung natürlich auch nicht so super, weil es mir ziemlich dreckig ging und Leon etwas neben sich stand. Ich weiß nicht warum. Er hat sich einfach komisch benommen. Zum Beispiel wollte er mir einreden, dass ich viel zu viel verdränge, anstatt darüber zu reden. Und dass ich deshalb manchmal wichtige Dinge vergesse. Wahrscheinlich war er immer noch sauer, weil ich ihm die Sache mit Papa und Basti verschwiegen hatte.

Aber noch etwas anderes war ungewöhnlich. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht mehr normal mit ihm umgehen. Und zwar seit ich morgens in seinen Armen aufgewacht war. Und das hielt auch noch die nächsten Tage an. Es war irgendwie… als würde ich ihn vermissen oder so. Was ja Quatsch ist. Er war die ganze Zeit bei mir.

Heute ist der 31. Dezember. Silvester. Der letzte Tag dieses Jahres. Und auf einmal ist alles wieder so wie immer. Über Nacht ist Leon wieder ganz der Alte geworden. Er ärgert mich mit allen möglichen Kleinigkeiten, meckert an meinen Kochkünsten rum – zum Spaß, hoffe ich – und versprüht so viel Fröhlichkeit, dass in meinem Kopf das Bild entsteht, wie er sich nachts an eine Steckdose angeschlossen und Energie getankt hat. So aufgedreht ist er sonst eigentlich nur, wenn er etwas plant. Ich sehe zu ihm rüber. Er rührt die Bowle um und probiert immer mal wieder ein bisschen. Man sieht genau, wann er mit der Mischung zufrieden ist. Dann leckt er sich immer kurz über die Lippen und schmatz einmal laut.

Ich gucke schnell wieder weg, bevor er bemerkt wie ich ihn beobachte. Ähm, was hatte ich gerade überlegt? Egal. Ich sollte lieber aufpassen, dass mir hier nichts anbrennt.

Als es auf Mitternacht zugeht, bin ich plötzlich so kribbelig, dass Leon mir in meine Jacke helfen muss. Ich kann es gar nicht erwarten, dass endlich das nächste Jahr anfängt. Eigentlich glaube ich nicht an dieses „neues Jahr, neues Glück“, aber dieses Mal habe ich ein gutes Gefühl und kann nicht anders.

Wir schnappen uns jeder ein Sektglas und gehen raus auf meinen kleinen Balkon. Normalerweise ist der Ausblick hier nicht so spektakulär, weil man auf eine ganze Wohnsiedlung schaut. Aber zum Jahreswechsel kommen immer alle raus und zünden so viele Raketen und sonst was an, dass überall Rauch ist und man von den Häusern gar nichts mehr sieht.

Leon zählt die letzten fünf Sekunden runter. Seine Stimme zittert ein bisschen. Und auf einmal weiß ich, was er vorhat. Ich weiß es einfach und kurz darauf bestätigt er es. Anstatt mit mir anzustoßen, zieht er mich zu sich heran und küsst mich. Und es ist kein Ablenkungs- oder es-ist-halt-Weihnachten-Kuss, sondern ein echter. Ich könnte mich wehren, ja. Aber ich erinnere mich gerade an etwas, das ich vergessen hatte. Er hat mich schon mal so geküsst. Und da war noch was…

„Ich liebe dich, Maxi.“

Ja, das war es. „Das hast du schon mal gesagt, oder?“

„Du weißt es wieder?“, fragt er überrascht. „Und glaubst du mir jetzt?“

„Soll ich?“

Er verdreht die Augen. „Ja bitte. Das wäre echt eine Erleichterung.“

„Wie lange… äh…“ Oh je, bin ich nervös. Ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand so ansieht wie er es gerade tut. Er lächelt, aber es ist nicht irgendein Lächeln.

„Seit sechs Jahren.“

Mir klappt der Mund auf. „Aber…“

„Ich hab versucht, es dir zu sagen, aber es kam sozusagen was dazwischen.“ Oh, er meint den Unfall. „Und seitdem hast du niemanden mehr an dich rangelassen und es immer vergessen, wenn ich versucht habe, dir näher zu kommen. Aber neulich Abend war es irgendwie anders. Du hast dich so an mich geklammert, dass ich echt schwer mit mir zu kämpfen hatte.“

Er lacht. Wie kann er nur lachen? Das ist so peinlich.

„Frohes neues Jahr“, sagt er. „Ab jetzt kommst du mir nicht mehr so leicht davon.“

Und mit dieser Drohung starte ich ins neue Jahr. Wenn das mal nicht nach hinten losgeht…


… ist es aber nicht. Natürlich nicht. Wir haben beide sechs Jahre auf den richtigen Augenblick gewartet, auch wenn ich mir dessen gar nicht bewusst war. Schon komisch, oder? Manchmal hat man etwas direkt vor der Nase und sieht es nicht. Oder man hat etwas direkt vor der Nase und darf es eigentlich nicht sehen.

Ein Jahr später sitzen Leon und ich jedenfalls vor dem Weihnachtsbaum, der dieses Mal etwas größer ausgefallen ist, und stochern in unserem Essen herum.

„Ich glaube die Idee war doch nicht so gut“, sage ich und stelle meinen Teller auf dem Couchtisch ab.

„Selber schuld“, meint Leon und macht dasselbe. „Du musst eben noch lernen wie damit umgeht, wenn man eine Wette gewinnt.“

„Jetzt wissen wir immerhin, dass ich nicht singen kann und du in der Küche nichts zu suchen hast.“

Während ich das sage, kommt Leon angekrochen und setzt sich auf meinen Schoß. Seine Finger kraulen meinen Nacken. „Ich hätte eine viel bessere Idee gehabt.“ Seine Lippen sind nur Millimeter von meinen entfernt, aber wenn ich jetzt schwach werde, hat er genau das erreicht, was er wollte.

„Ja, ich weiß. Aber dieses kleine Spielchen hier wirst du leider auch nicht gewinnen.“

„Wetten? Wenn ich sechs Jahre warten konnte…“

„Dann hast du wohl deine ganze Geduld schon aufgebraucht“, sage ich grinsend. Meine Hände wandern langsam über seinen Rücken und schlüpfen unter seinen Pullover. Als ich meine Augen schließe, weiß ich schon, dass ich gewonnen habe. Ich habe im letzten Jahr genug Zeit gehabt, um Leons Schwachstellen zu finden. Aber ich bin nicht weniger erleichtert, als er seine Lippen endlich auf meine drückt. Ich kann nur einfach besser bluffen.

„Ich liebe dich“, flüstere ich.

„Ich dich auch“, sagt er und… hält mir ein Kondom unter die Nase. „Au!“, schimpft er eine Sekunde später, während ich aufstehe und unsere Teller in die Küche bringe.

„Wir müssen noch aufräumen. Papa und Basti kommen morgen.“

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