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Mein geliebter Mülleimer

Teil 5

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Das Frühstück verläuft schweigend, aber immerhin hat Lukas sich zu mir an den Tisch gesetzt. Ich würde ihn am liebsten fragen, was genau ich eigentlich falsch gemacht habe und warum er auf dem Sofa geschlafen hat, aber irgendwie ist mir über Nacht der Mut dazu abhanden gekommen. Ich kriege einfach keinen Ton raus, während er sein Brot streicht und mich vollkommen ignoriert. Vielleicht bin ich auch nur so entsetzt über sein Verhalten, dass mir die Sprache weggeblieben ist.

Außerdem ist er schließlich derjenige, der sich zu entschuldigen hat und nicht ich. Also soll er auch gefälligst als erster den Mund aufmachen. Finde ich.

„Was machen wir mit deinen Eltern?“, fragt er in einem gelangweilten Ton, ohne mich anzusehen.

Ich bin gleichzeitig überrascht, dass er tatsächlich mit mir redet, und entsetzt darüber wie er das tut. „Was meinst du?“

„Das Kaffeetrinken heute.“

„Absagen können wir das jetzt nicht mehr“, sage ich und habe das Gefühl, dass sich mein Brustkorb zusammenzieht.

„Dann musst du alleine gehen.“

„Warum?“ Das Gefühl wird stärker und unangenehmer. Ja, genau so fängt es an…

Jetzt dreht er sich ruckartig zu mir um. „Warum? Findest du wirklich, dass es eine gute Idee wäre, wenn wir so…“, er deutet mit einem Finger zwischen uns hin und her, „… da auftauchen?“

„Nein, du hast recht. So wie du dich verhältst, kann man das niemandem zumuten.“ Ich nehme meinen Teller und stehe auf.

„Wieso wie ich mich verhalte? Was ist mit…“

„Weil du derjenige bist, der sich wie ein riesen Arschloch aufführt! Ich hab nichts falsch gemacht und trotzdem vertraust du mir nicht und behandelst mich als hätte ich dir sonst was angetan!“

„Du hast Andreas geküsst!“, schreit er mir entgegen als wäre er das arme Opfer meiner Untreue.

„Hab ich nicht! Wie oft denn noch?!“ Ich lege meinen Teller etwas zu unsanft in die Spüle, sodass am Rand ein kleines Stückchen abbricht. „Scheiße.“

„Aber dir hat es so gut gefallen, dass du mit mir nicht mehr schlafen kannst!“

„Wenn du auf dem Sofa pennst, selber schuld!“ Ich habe gehofft, dass das Gefühl in meinem Brustkorb nachlässt, wenn ich ihn mal richtig anschreie, aber es wird nur noch schlimmer. Ich komme gegen seine Dickköpfigkeit einfach nicht an. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich ihn betrogen habe – wie er es ja schließlich auch vorausgesagt hatte – und lässt sich nicht mehr vom Gegenteil überzeugen.

„Als ob du mich neben dir hättest schlafen lassen“, sagt er jetzt etwas ruhiger und versucht offensichtlich, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.

„Natürlich hätte ich das. Ich hab die ganze Zeit gewartet.“ Ich lasse den kaputten Teller in der Spüle liegen und gehe zur Haustür. „Dann gehe ich eben allein.“

Natürlich ist es eigentlich noch viel zu früh, aber ich hab so das Gefühl, dass meine Eltern das nicht stören wird. Mein Vater wird ganz außer sich sein, dass ich ohne Lukas komme und Andreas… nein, über den will ich nun wirklich nicht nachdenken. Ich sollte mir aber überlegen, welches Alibi ich für Lukas erfinde.

Vielleicht habe ich meinen Eltern doch Unrecht getan. Meine Mutter hat mich nie dafür verurteilt, wer ich bin und mein Vater hat seine Einstellung geändert, um mich nicht zu verlieren. Sie haben mich letztendlich so akzeptiert wie ich bin und einfach darauf vertraut, dass ich das Richtige tue. Von Lukas habe ich immer irgendwie erwartet, dass er dasselbe tut. Er hat mich früher nie verurteilt und mich sogar immer getröstet, wenn ich durch meine eigene Dummheit verletzt wurde. Wie kann es sein, dass davon nichts mehr da ist? Er kennt mich doch besser als jeder andere. Wie kann er nur denken, dass ich wieder so leben will wie früher? Und dass ich ihn betrügen könnte? Das geht nicht in meinen Kopf. So wie er jetzt ist, habe ich ihn noch nie erlebt.

Ich öffne die Haustür mit dem Schlüssel, den ich immer noch habe, in der Hoffnung, dass ich mich erst mal ungesehen in mein altes Zimmer zurückziehen kann. Mein Vater ist allerdings gerade in der Küche und hört mich.

„Hallo Jan. Wieso kommst du denn jetzt schon?“

„Soll ich wieder gehen?“, frage ich in einem ziemlich gereizten Ton.

„Äh, nein. Natürlich nicht“, entgegnet er irritiert. „Kommt Lukas später?“

Ich seufze. „Nein. Können wir später darüber reden? Ich bin ziemlich müde und will mich oben noch ein bisschen hinlegen.“

„Ja, gut.“

Ich gehe die Treppe hoch und bin mir sicher, dass mein Vater mir nachschaut. Er hat bestimmt gemerkt, dass irgendwas zwischen Lukas und mir nicht stimmt. Aber wenigstens hat er vor meinen Augen auf den Freudentanz verzichtet. Sehr rücksichtsvoll.

Ich werfe mich aufs Bett und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich will nicht unbedingt sehen, wo ich gerade bin. Ich will nicht sehen, dass ich wieder in meinem alten Kinderzimmer zusammengekauert auf dem Bett liege und darüber nachdenke, was in meinem Liebesleben falsch läuft. Das habe ich schon so oft getan. Und eigentlich dachte ich, dass ich das nie wieder tun muss. Wahrscheinlich war ich einfach zu naiv, zu glauben, dass in einer Beziehung alles immer perfekt läuft und sich alle Probleme irgendwie von allein lösen. So ist es leider nicht. Lukas kann genauso ein Idiot sein wie alle anderen und weil ich ihn liebe, kann er mich sogar noch viel mehr verletzen.

Ich schließe die Augen und versuche, mich ein bisschen zu entspannen. So wie vorhin meinen Vater sollte ich meine Familie wohl nachher lieber nicht anpampen, sonst wollen sie wahrscheinlich ganz genau wissen, was denn eigentlich los ist und ich komme hier gar nicht mehr weg. Ich hab schon darüber nachgedacht, ob ich vielleicht wirklich für eine Nacht hier bleiben sollte. Der Gedanke ist eigentlich ganz reizvoll, aber wahrscheinlich erweckt das bei allen Beteiligten nur wieder einen falschen Eindruck. Lukas würde mir vorwerfen, dass ich lieber bei Andreas bin als bei ihm, meine Eltern würden denken, dass ich wieder hier einziehen will, und welche Vorstellungen das bei Andreas weckt, will ich lieber gar nicht wissen. Ich hoffe nur, dass er mich in Ruhe lässt, solange ich hier bin. Wenn er weiß, was gut für ihn ist, dann spricht er mich heute besser nicht an.

Glücklicherweise spricht mich niemand an, während ich noch in meinem Zimmer bin und somit bleibt mir genug Zeit, um mich auf das kommende Verhör einzustellen.

Als ich mein Zimmer verlasse, um ins Bad zu gehen, höre ich wie sich meine Schwester und mein Vater unten im Flur unterhalten. Ich bleibe stehen, weil ich meinen Namen höre und lausche angestrengt. Wenn jemand über mich redet, kann ich einfach nicht anders.

„Keine Ahnung, was los ist“, sagt mein Vater.

„Hat er nichts gesagt?“, fragt Marie nach und klingt eindeutig etwas besorgt.

„Nein. Nur, dass er nicht darüber reden wollte, und dass Lukas nicht kommt.“

dass Lukas nicht kommt. Dieser letzte Teil hallt in meinem Kopf nach wie ein Echo. Lukas… nicht kommt. Es hat sich nicht einmal triumphierend angehört, wie ich es vermutet hätte, sondern eher wie eine Tatsache. Und das ist es ja auch. Aber steht es so schlimm um Lukas und mich, dass sogar mein Vater über seine Abscheu hinwegsieht und sich Sorgen um mich macht? Habe ich vorhin so gewirkt als sei das nötig? Irgendwie erschreckt mich das.

„Meinst du sie haben sich gestritten?“ Das ist Maries Stimme. Etwas leiser als vorher.

„Sieht ganz danach aus. Jan sah ziemlich fertig aus.“

Da. Schon wieder. Wie kommt es nur, dass mich diese Worte so treffen? Ich weiß doch am besten, was los ist. Ich brauche die Bestätigung nicht, dass es mir schlecht geht. Oder doch?

„Hoffentlich trennen sie sich nicht. Janni war so glücklich in letzter Zeit.“

trennen…

„Hey“, höre ich auf einmal eine Stimme direkt hinter mir flüstern. Ich zucke erschrocken zusammen und stütze mich automatisch an der Wand ab. „Man belauscht andere Leute nicht.“

Andreas steht neben mir und grinst mich hämisch an. Doch das Grinsen hält nicht lange. Auf einmal verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wird ernster und irgendwie intensiver. Es ist schon fast ein Starren. Und dann kommt Andreas auch noch näher und streckt eine Hand aus. Ich kann mich nicht bewegen. Vielleicht weil mich immer noch der Schreck über sein plötzliches Auftauchen lähmt.

Ein Finger streicht über meine Wange und schon wieder wechselt seine Mimik. Der Blick in seinen Augen wird weicher und mir wird bewusst, dass ich weine. Ich schlage seine Hand weg und wische mir übers Gesicht. Es ist tatsächlich ganz nass. Als ich Andreas wieder ansehe, ist sein Blick zornig.

„Was hat er getan?“, fragt er.

Ich kann ihn nur ungläubig anstarren und werfe unbewusst einen Blick zur Treppe. Andreas nickt kaum merklich und zieht mich an einem Arm ins Badezimmer. Er schließt die Tür hinter uns, bevor ich protestieren kann und sieht dann wieder mich an.

„Hat er dir wehgetan?“ Wenn die Frage nicht von Andreas kommen würde, wäre ich vielleicht geschmeichelt, aber so macht sie mich nur wütend.

„Ja, hat er, wenn du es unbedingt wissen musst“, zische ich. „Aber nur deinetwegen.“

„Kann ich was dafür, wenn er seine Eifersucht nicht unter Kontrolle hat?“

Das nimmt mir für einen Moment den Wind aus den Segeln. Woher weiß er… na ja, was soll es sonst sein?

„Tu nicht so als wärst du total unschuldig. Der ganze Scheiß hat doch erst mit dir angefangen. Ich bin jedenfalls nicht schuld daran, dass er jetzt so ausrastet.“

„Du hättest es auch einfach für dich behalten können“, sagt er kopfschüttelnd und klingt dabei fast ein bisschen mitfühlend.

„Nein, hätte ich nicht. Warum sollte ich es verschweigen, wenn ich gar nichts falsch gemacht habe?“

„Und trotzdem sitzt du jetzt hier und heulst. Einen tollen Freund hast du da.“

Ich sehe ihn an, kann aber nichts dazu sagen. Eigentlich müsste ich ihm widersprechen und ihn anschreien, weil er mit diesem blöden Kuss alles kaputt gemacht hat. Aber ich tue es nicht. Mir fällt nichts mehr ein, mit dem ich Lukas verteidigen könnte und die Wut auf Andreas verpufft irgendwie. Nur durch diese beiden kleinen Sätze. In Wahrheit ist es das, was ich auch denke.

„Keine Widerrede?“, bemerkt auch Andreas. „Dann scheint sich dein Lukas ja echt daneben benommen zu haben.“

„Er vertraut mir nicht“, plappert es wie von allein aus meinem Mund. Ich setze mich auf den Rand der Badewanne und kann gleichzeitig nicht glauben, was ich hier mache. Andreas setzt sich neben mich. Unsere Schultern berühren sich ganz leicht.

„Dann ist er es auch nicht wert, dass du dich so gehen lässt.“

Ich sehe ihn verwirrt an.

„Was?“, fragt er, scheinbar irritiert von meinem Gesichtsausdruck.

„Soll das ein Versuch sein, mich zu trösten oder ist das wieder irgend so ein Trick, um uns auseinander zu bringen?“

„Einen Trick brauche ich nicht. Das kriegt ihr auch ganz gut allein hin.“ Er grinst.

Ich ignoriere die Anspielung einfach. „Also versuchst du mich zu trösten?“

„Vielleicht. Soll ich?“

„Nein, danke. Diese Situation ist mir schon unheimlich genug.“

„Du hast von mir nichts zu befürchten“, sagt er ernst. „Ich hab mich schon dafür entschuldigt, dass ich dir wehgetan habe und ich hab versprochen, euch in Ruhe zu lassen. Soweit ich weiß, habe ich mich auch daran gehalten.“

Das wird ja immer merkwürdiger. Man könnte glatt meinen, dass ich hier mit einem normalen Menschen sitze. Mir fällt auch auf, dass ich keine Angst mehr vor ihm habe. Irgendwie ist er heute anders. Zumindest ist er im Moment normaler als Lukas und es fühlt sich fast so an als wäre er der Freund, den ich gerade brauche. Der, der Lukas mal war. Ein Mülleimer eben. Verrückt.

„Du weißt aber schon, dass ich dir das nicht so einfach abkaufe, oder? Wenn du mich nicht geküsst hättest…“

„Ich hab nur meine Interessen vertreten“, unterbricht er mich. „Außerdem konnte ja niemand damit rechnen, dass dein Macker deswegen gleich so ausrastet.“

„Als ob du das bedauern würdest“, schnaufe ich und rücke ein Stück zur Seite.

„Tue ich nicht. Ich hasse ihn nur dafür, dass er das an dir auslässt.“

Okay, jetzt wird es mir wirklich zu unheimlich. Ich stehe auf und gehe auf die Tür zu, aber Andreas ist schneller und stellt sich mir in den Weg.

„Warum läufst du weg?“, fragt er.

„Ich kann gehen, wohin ich will“, antworte ich und greife nach der Türklinke. Leider ist er wieder schneller als ich und meine Hand legt sich auf seine. Und da ist etwas. Schnell, als hätte ich mich verbrannt, ziehe ich die Hand wieder zurück. „Lass mich durch“, versuche ich so selbstbewusst wie möglich zu sagen, aber es hört sich eher wie eine Frage an.

Andreas sieht auch etwas erschrocken aus. „Du hattest recht. Ich wollte dich trösten“, entgegnet er und wirkt dabei etwas abwesend. Es scheint so, als wäre ihm das selber gerade erst aufgefallen.

„Warum?“

„Ich weiß nicht.“ Mit den Worten dreht er mir den Rücken zu und verschwindet aus dem Badezimmer. Ich bleibe verdattert stehen und höre zu wie er sich unten von Marie verabschiedet. Und dann ist er weg. Ich gehe kurz darauf in mein Zimmer. Ein Gutes hat das alles: ich hab den Ärger mit Lukas vergessen. Aber was hab ich dafür bekommen? Ein seltsam angenehmes Kribbeln, als ich Andreas‘ Hand berührt habe; ein schlechtes Gewissen deswegen; und ein bisschen Angst. Ich meine, was zum Henker ist nur los mit mir? Es kann doch nicht sein, dass ich mit Andreas über Lukas rede und mich dann auch noch gut dabei fühle! Ich muss ihm unbedingt aus dem Weg gehen.

Ich lasse mich auf mein altes Bett fallen und versuche, an etwas Anderes zu denken. Aber das Kaffeetrinken mit meiner Familie ist ja auch noch für heute geplant. Das wird nicht einfach. Lukas ist nicht da, Andreas hat sich aus dem Staub gemacht und ich wirke höchstwahrscheinlich total verstört. Was hab ich mir nur dabei gedacht, heute her zu kommen? Ich bin vor Lukas geflohen und gleich ins nächste Unheil gerannt. Ohne nachgedacht zu haben. Typisch.

Ich stehe auf und laufe durch den Raum. Da klopft es leise an der Tür.

„Janni?“, fragt Maries gedämpfte Stimme.

„Ja?“, antworte ich überrascht und vor allem unvorbereitet.

Der Kopf meiner Schwester erscheint und zeigt ein besorgtes Gesicht. „Andreas hat gesagt, dass ich mal nach dir sehen sollte. Und Papa meinte auch, dass es dir nicht gut geht.“

„Es geht schon.“ Meine Gedanken sind an ihrem ersten Satz hängen geblieben. „Wo ist Andreas?“

„Er musste noch mal nach Hause.“ Sie betritt das Zimmer und schließt die Tür wieder hinter sich. Danach stehen wir uns etwas befangen gegenüber. Wir standen uns eigentlich nie so nahe, dass wir über unsere Probleme und Sorgen gesprochen haben.

„Was hat er denn gesagt?“, frage ich weiter. Warum sollte Andreas ihr sagen, dass sie nach mir sehen soll?

„Nichts Genaues. Nur, dass du vielleicht mit jemandem reden willst.“

Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Bei Andreas fällt es mir wie gewöhnlich schwer, mich für ein Gefühl zu entscheiden. Er überrascht und entsetzt mich immer wieder, aber heute kommt noch etwas Anderes dazu. Es fühlt sich so merkwürdig schmeichelhaft an, wie er sich um mich sorgt.

„Ist was nicht in Ordnung?“, reißt mich Marie aus meinen Gedanken. „Ich meine, bei dir und Lukas?“

Lukas. Mein Freund. Mein Mülleimer. Er sollte sich Sorgen um mich machen. Er sollte derjenige sein, den man zu mir schickt, wenn es mir nicht gut geht. Er sollte jetzt hier sein, um mit meiner Familie Kaffee zu trinken. Und er sollte verdammt noch mal alles tun, um mich von Andreas fernzuhalten!

„Nein“, antworte ich auf Maries Frage. „Ist es nicht. Und das muss ich ihm jetzt auch sagen. Sag Mama und Papa, dass es mir leid tut, aber ich kann nicht hier bleiben.“

„Janni?“, ruft sie mir nach, aber ich renne schon die Treppe runter und kurz darauf fällt die Haustür hinter mir ins Schloss.

Es fühlt sich an, als ob ich mit jedem Schritt eine Pumpe betätige, die mir neue Kraft gibt und gleichzeitig meine Wut anfeuert. Zu dem Zeitpunkt, als ich bei Lukas ankomme (zuhause kann ich es gerade nicht nennen), habe ich von beidem so viel angesammelt, dass ich unbedingt ein Ventil brauche. Und das Ventil wird Lukas sein, beziehungsweise das, was ich ihm jetzt gleich sagen werde.

Ich betrete die Wohnung und stapfe mit klopfendem Herzen ins Wohnzimmer. Die Tür fällt mit einem Knall zu. Die Mühe, meine Schuhe auszuziehen, habe ich mir gar nicht erst gemacht. Wozu die Höflichkeiten? Hat doch alles keinen Sinn mehr.

Lukas sitzt auf dem Sofa und wirft mir einen verwirrten Blick zu. Allein sein Anblick weckt gleichzeitig Sehnsucht und schäumende Wut in mir.

„Du egoistisches Arschloch!“, hallt meine Stimme durch den Raum. Etwas zittrig, aber laut genug, um Lukas den Ernst der Lage mitzuteilen. Seine Augen reißen auf und dann kommt das, was ich erwartet hatte. Seine Nasenlöcher blähen sich auf und seine Gesichtszüge spannen sich an. Er geht auf den Streit ein.

„Willst du mir vielleicht irgendwas sagen oder hab ich nur den Brüll-deinen-Freund-an-Tag vergessen?“, fragt er.

„Was soll das alles hier? Fällt dir gar nicht auf, dass du dich wie der letzte Volltrottel verhältst? Erst groß rumtönen, ich hätte dich was weiß ich wie betrogen und dann einfach zugucken wie ich zu dem Haus gehe, in dem sich Andreas ständig aufhält? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Merkst du nicht wie bescheuert das ist?!“

Ich stehe schnaufend in der Mitte des Raumes und spüre wie meine Halsschlagadern bedrohlich hervortreten. Es fehlt nicht mehr viel, bis mir im wahrsten Sinne des Wortes der Hals platzt. Und Lukas sitzt nur da auf dem Sofa und stiert mich an.

„Und? War’s denn schön?“, kommt es schließlich aus seinem Mund. „Hat er dich wieder zu irgendwas gezwungen, was du natürlich gar nicht wolltest?“

„Was interessiert dich das? Wenn es dir etwas ausmachen würde, hättest du mich gar nicht erst alleine gehen lassen.“

„Vielleicht wollte ich einfach nur nicht zugucken!“ Seine Stimme erreicht jetzt auch eine gewisse Lautstärke und er steht auf.

„Bei was denn zugucken?“

„Sag du es mir.“ Er lehnt sich an die Rückwand des Sessels und verschränkt die Arme vor der Brust. Jetzt liegen nur noch ein paar Schritte zwischen uns.

„Du bist total paranoid, weißt du das? Ich kann doch sagen, was ich will und du glaubst mir nicht.“

„Versuch’s“, fordert er mich auf, wobei sich seine Lippen zu einem sarkastischen Grinsen verziehen. So hab ich ihn noch nie gesehen.

„Er hat sich dafür interessiert, was passiert ist. Er hat gesehen, dass es mir nicht gut geht und versucht, mich zu trösten! Verstehst du? Er hat das getan, was du hättest tun sollen! Er wollte nicht, dass es mir schlecht geht und hat Marie zu mir geschickt. Und was hast du gemacht? Du hast hier gesessen und dich wahrscheinlich selbst bemitleidet!“

Ganz langsam verschwindet das Grinsen aus seinem Gesicht und fast gleichzeitig fängt es an, in meinen Augen zu brennen.

„Und? Bist du jetzt zufrieden?“, frage ich nach. „Andreas war heute ein besserer Freund als du, obwohl ich ihn nicht ausstehen kann! Wolltest du das?“ Etwas läuft über meine Wange, aber ich achte nicht weiter darauf. „Warum interessiert es dich nicht mehr, wie es mir geht?“

Lukas‘ Gesicht wirkt jetzt vollkommen gleichgültig. Er steckt seine Hände in die Hosentaschen und geht langsam Richtung Bad und Schlafzimmer. „Dann kannst du ja gleich wieder zu ihm gehen“, murmelt er währenddessen.

„Was?“

„Geh doch, wenn er dich so toll trösten kann!“, schreit er mich an.

„Hast du mir nicht zugehört?!“

„Doch und ich hab alles bestens verstanden!“

„Ja, aber nur das, was du hören wolltest! Ist es dir egal, wenn ich gehe?“, frage ich entsetzt.

Er überlegt kurz und sagt dann: „Geh einfach.“

Was meint er damit? Soll ich ihn nur für eine Weile allein lassen oder… mir wird schlecht. Das hab ich nicht kommen sehen. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts und lasse mich auf einen Küchenstuhl fallen. Er bewegt sich keinen Millimeter. Nur seine Augen folgen mir. Aber das kann er doch nicht ernst meinen. Das alles nur, weil mich ein anderer geküsst hat? Vielleicht bin ich ja blind, aber ich sehe immer noch nicht, wo ich etwas falsch gemacht habe.

Und wieso sagt er jetzt nichts mehr? Hat er nichts mehr zu sagen oder wartet er auf eine Reaktion von mir? Ich schaue wieder zu ihm hoch und sehe gerade noch wie er sich über die Wange wischt. Okay, einen Versuch habe ich noch.

Ich springe auf und werfe meine Arme um seinen Nacken. Meine Lippen treffen auf seine und schmecken etwas Salziges. Einen Augenblick lang lässt er mich ihn küssen, aber dann stemmt er seine Hände gegen meine Schultern und trennt uns voneinander.

Wut fühle ich jetzt nicht mehr. Nur noch Angst. Angst, dass er es ernst meint und mich wegschickt. Und dann, wie zur Bestätigung, geht Lukas ein Stück zurück und sagt wieder: „Geh.“ Er dreht sich um und verschwindet im Badezimmer.

Mir bleibt keine andere Wahl, also gehe ich.

„Oh nein, was ist denn jetzt schon wieder?“

„Tut mir leid, aber ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen soll.“

„Du weißt aber schon, dass ich nicht der Richtige bin, wenn es ums Trösten geht, oder? Na ja, zumindest nicht im übliche Sinn.“

„Ja. Darf ich trotzdem reinkommen? Bitte.“

Dennis hält seufzend die Tür auf und lässt mich an sich vorbei ins Haus gehen. Tja, was soll ich sagen? Ich wusste wirklich nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen? Bisher hatte ich immer zwei Möglichkeiten: Lukas und meine Eltern. Aber da gibt es ja jeweils ein klitzekleines Problem. Und ein schlechtes Gewissen muss ich schließlich auch nicht mehr haben. Ich kann wieder tun und lassen, was ich will.

„Okay“, sagt Dennis, als wir in seinem Zimmer sitzen. „Was ist passiert? Aber die Kurzversion, bitte.“

„Lukas hat mich rausgeworfen.“

Er sieht mich fragend an. „Ein bisschen ausführlicher darf es dann schon sein.“

„Ich habe ihm von dem Kuss mit Andreas erzählt und er ist total ausgerastet.“

„Das ist alles? Deswegen hat er dich vor die Tür gesetzt?“

Ich nicke.

„Hat er richtig Schluss gemacht?“

Ich nicke wieder und kämpfe gegen den Kloß in meiner Kehle an. Dennis rutscht sofort ein Stück weiter von mir weg, als hätte ich eine ansteckende, tödliche Krankheit. Vielleicht hab ich die sogar wirklich.

„Und du dachtest, ich bin die richtige Schulter zum Ausheulen, weil…?“

„Ich hatte keine andere Möglichkeit.“ Hört der mir nicht zu?

„Ja. Wirklich sehr traurig“, meint er ironisch. „Und was genau hast du jetzt vor?“

„Kann ich hierbleiben?“

„Hier?“ Dennis lacht sich kaputt. Ich wusste, dass ich nicht viel Mitgefühl von ihm zu erwarten habe und lasse ihn deshalb lachen so viel er will. Irgendwann wird er schon merken, dass ich es ernst meine und dann wird es schwierig. Jemand wie Dennis tut einem anderen Menschen nicht einfach einen Gefallen, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Und die Gegenleistung, die er vermutlich von mir verlangen wird, kann ich ihm nicht geben. Nicht schon wieder.

„Das meinst du doch nicht ernst, oder?“, fragt er, immer noch kichernd.

„Doch, eigentlich schon.“

„Hab ich was verpasst? Ich wusste noch gar nicht, dass wir auf einmal so dicke sind. Und eigentlich dachte ich, dass du mich nicht leiden kannst.“

„Lukas und Andreas kann ich zurzeit aber noch weniger aushalten.“

„Wow, wie schmeichelhaft.“ Er grinst. „Und was genau willst du von mir?“

„Nur einen Platz zum Schlafen. Ich freue mich auch nicht besonders, dass ich jetzt hier bin.“

Jeder andere wäre jetzt wahrscheinlich eingeschnappt und beleidigt, aber Dennis grinst mich belustigt an und verspricht mir, dass ich ein paar Tage bleiben kann. Das ist vermutlich nicht die allerbeste Idee, aber wenigstens muss ich hier nicht die ganze Geschichte noch mal ausführlich erzählen. Hier kann ich versuchen, alleine mit der Sache klarzukommen.

„Und wo kann ich schlafen?“

Sein Blick reicht schon als Antwort. Ein Gästezimmer gibt es wohl nicht.

„Habt ihr keine Luftmatratze oder so?“

„Doch, aber wozu die Mühe?“

„Ich bin nicht hier, um mich von dir ablenken zu lassen“, erkläre ich.

„Sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.“

Als ich am nächsten Morgen aufwache, sagt mein Kopf mir sofort, dass ich mich zurückziehen sollte. Aber da mir gleichzeitig ein angenehmes Kribbeln über die Haut huscht, bleibe ich, wo ich bin. Ich liege eindeutig auf einem Arm, der nicht meiner ist und spüre mehrere Finger, die von der Schulter abwärts über meinen Rücken streichen. Hab ich kein T-Shirt mehr an? Doch. Die Finger sind unter dem Stoff. Mein Atem prallt an irgendeiner Oberfläche ab. Ich taste mit einer Hand danach und fühle, dass sie ganz warm und weich ist. Das kann nur Lukas sein.

Ich will meine Augen öffnen, stelle aber fest, dass sie ganz verklebt sind. Mit einer Hand versuche ich, die kleinen Krusten zu entfernen.

„Das kommt davon, wenn man die ganze Nacht heult“, höre ich eine Stimme direkt neben meinem Ohr.

Ich reibe stärker über meine Augen und kann sie anschließend auch öffnen. Das ist eindeutig nicht Lukas neben mir. Erschrocken versuche ich mich zu befreien, aber die Hand an meinem Rücken hält mich zurück.

„Ich hab meine Meinung noch nicht geändert“, sage ich, aber Dennis grinst immer noch selbstsicher.

„Wegen Lukas? Er hat dich rausgeworfen, obwohl du gar nichts gemacht hast. Vergiss ihn. Du kannst machen, was du willst.“ Der Druck seiner Hand wird stärker und ich spüre jetzt eindeutig auch seine Fingernägel auf meiner Haut.

„Wohl eher, was du willst.“

„Wie praktisch, dass das gerade dasselbe ist.“

„Aber…“

Von einer Sekunde auf die andere ist seine Hand von meinem Rücken verschwunden und drückt sich stattdessen auf meinen Mund. „Was kann es da noch für ein ‚Aber‘ geben?“, fragt er und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Die Hand entfernt sich von meinem Mund, aber mir fällt keine Antwort ein. Langsam wandert sie über meinen Hals und bleibt auf meiner Brust liegen. „Vielleicht bist du ja doch hierher gekommen, um dich trösten zu lassen.“ Der Arm, auf dem immer noch mein Kopf liegt, legt sich um meinen Nacken und zieht mich wieder dichter zu Dennis.

Ist es nicht sowieso schon zu spät? Allein für diese Situation würde Lukas mich glatt noch ein zweites Mal verlassen. Kann ich nicht wirklich machen, was ich will? Bleibt nur die Frage: Was will ich?

Dennis‘ Hand setzt ihre Reise fort und seine Lippen berühren leicht meinen Hals. Ich drehe mich seufzend auf den Rücken. Dennis versteht das als Bestätigung und auf einmal sind seine Lippen nicht mehr an meinem Hals, sondern drücken sich auf meine. Warum sollte ich die bittere Verzweiflung wählen, wenn ich auch die süße Ablenkung haben kann? Und wie Dennis letztes Mal gesagt hat: Er weiß, welche Knöpfe er drücken muss.

Merkwürdigerweise bereue ich es nachher nicht, dass ich meine Meinung geändert habe. Und das, obwohl es ausgerechnet Dennis war. Wie oft hab ich jetzt schon gedacht, dass ich ihn nie wieder sehen will? Und trotzdem bin ich wieder hier. Vielleicht liegt es daran, dass ich wirklich nur die eine Sache von ihm will und auch nie etwas Anderes wollte. Wir könnten nie Freunde sein, aber Sex funktioniert umso besser. Vielleicht bin ich wirklich deswegen hier. Vielleicht will ich im Moment einfach nicht darauf achten müssen, immer das Richtige zu sagen und zu tun. Wahrscheinlich ist Dennis zurzeit einfach genau der Richtige für mich.

Irgendwann am Mittag stehen wir auf und spätstücken. Zumindest nennt Dennis das so. Ich würde ja schon eher Mittagessen sagen.

Außer uns scheint niemand im Haus zu sein, also sind Dennis‘ Eltern wohl zur Arbeit gefahren. Und das werde ich jetzt auch tun.  

„Ich klingel dann einfach, wenn ich wiederkomme, okay?“, frage ich und will schon zur Tür raus.

„Nimm lieber den mit.“ Er wirft mir einen Schlüssel zu. „Wer weiß, wo ich nachher bin.“

„Bis du wieder mal als Stalker unterwegs?“

„Warum sollte ich? Ich hab da praktischerweise jemanden, der immer wieder ganz von allein den Weg hierher findet.“

„Der muss ja ganz schön blöd sein“, sage ich und merke, wie sich dabei ein Grinsen auf mein Gesicht schleicht. Schon merkwürdig, oder? Das, was mich früher so an Dennis gestört hat, gefällt mir auf einmal.

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