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Mein geliebter Mülleimer

Teil 1

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Informationen

Vorwort:

Für alle, die es anhand des Titels noch nicht erraten haben: das hier ist die Fortsetzung zu „Mein Mülleimer“, die ich ein paar Lesern vor etwa zwei Jahren versprochen hatte. *hust* Beziehungsweise der erste Teil der Fortsetzung. Janni und Lukas werden uns also noch ein Weilchen erhalten bleiben ;-) Und jetzt viel Spaß beim Lesen!

 

Sanfte Finger auf meiner Haut und schon wieder das Gefühl, dass etwas an meinem Rücken klebt, das da nicht hingehört.

„Bist du wach?“, flüstert jemand neben meinem Ohr. Weiche Lippen berühren meinen Hals.

Hm, mal wieder so ein unsinniger Traum?

„Wahrscheinlich nicht“, antworte ich und höre ein leises Kichern. Dann drehe ich mich um.

„Na? Wie geht es dir heute?“, fragt mich mein Freund alias Lukas alias mein ehemals nur bester Freund und alias mein Mülleimer. Kein Traum.

„Bestens“, sage ich glücklich lächelnd und kuschel mich in seine einladend ausgestreckten Arme. „Schön, dass ich jetzt keine Ausrede mehr brauche, um bei dir zu sein.“

„Die brauchtest du doch noch nie, Janni.“

„Ich meine auch viel mehr: um in diesem Moment bei dir zu sein.“

Wir sehen uns an und fangen im selben Augenblick an zu lachen. Ist doch echt merkwürdig wie sich alles so plötzlich verändert hat. All die Jahre haben wir in genau diesem Bett nebeneinander geschlafen, sind zusammen aufgewacht wie jetzt und haben uns nie Gedanken darüber gemacht, dass das jemals etwas Besonderes sein würde. Tja, und da sind wir nun. Gleicher Ort, gleiche Personen und eine vollkommen andere Situation. Das ist doch total verrückt. Wie ist das passiert? Ich erinnere mich noch an viel Regen, an den Plan, mir mein Herz rauszureißen und an die Worte „Ich liebe dich“, die komischerweise aus Lukas` Mund kamen. Ist noch gar nicht so lange her.

Lukas nimmt mein Gesicht in seine Hände und mustert mich aufmerksam. Als sein Blick an meinen Lippen hängen bleibt, will ich mich schon zu ihm lehnen, um ihn zu küssen, aber dann schaut er mir wieder in die Augen und ich bleibe wo ich bin. Sieht so aus als wollte er mich etwas fragen, traut sich aber nicht.

„Nun, frag schon“, sage ich leise und versuche mich an einem ermutigenden Blick. „Ich kann nicht ewig so hier liegen, ohne dich zu küssen. Vollkommen ausgeschlossen.“

„Warum kennst du mich nur so gut?“

„Jahrelange Übung?“

„Ja, wahrscheinlich. Jahrelang…“

„Also, was ist es?“

Er holt tief Luft und mustert mich kritisch. „Warum passiert das hier? Ich meine, warum jetzt? Ist es für dich nicht auch komisch?“

„Ja, komisch, aber schön komisch“, antworte ich wahrheitsgemäß. Offenbar hatte er viel Zeit zum Nachdenken, während er mich beim Schlafen beobachtet hat.

„Also glaubst du nicht, dass es so kommen musste? Dass wir nur aus Gewohnheit…“

„Gewohnheit?“, frage ich etwas entgeistert. Er hatte wohl etwas zu viel Zeit. „Das hier ist ja wohl alles andere als Gewohnheit.“

„Genau das meine ich ja. Bist du dir ganz sicher, dass du das hier willst? Oder haben wir unsere Gefühle füreinander nur durcheinander gebracht, weil wir uns schon immer so nah waren?“

„Unterstellst du mir gerade, dass ich es nicht ernst meine?“

Jetzt muss ich doch glatt erst mal tief Luft holen und überlegen, was er damit gemeint haben könnte. Ich kann ja verstehen, dass er noch ziemlich durcheinander ist, das bin ich auch, aber ich hoffe doch schon, dass er mir vertraut. Ich weiß, was ich will. Ich will ihn. Und das nicht nur, weil wir schon immer unzertrennlich waren und ich mal eben ausprobieren wollte, ob ich ihn auch lieben könnte. Ist es das, was er befürchtet? Dass ich nur etwas ausprobiere?

„Nein“, sagt er und steht auf. Er läuft durchs Zimmer und rauft sich die Haare, während ich mehr oder weniger geduldig auf eine Antwort warte. „Nein, natürlich unterstelle ich dir das nicht.“

„Aber du hast darüber nachgedacht…“

Er sieht mich entschuldigend an. Hm…

„Tut mir leid, ich bin nur so durcheinander. Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll.“

Er stellt sich ans Fenster und guckt auf die Straße. Die Sonne scheint nicht, aber man merkt schon, dass es ein sehr warmer Tag wird. Unter der Bettdecke ist es schon fast zu warm. Also schlage ich sie zurück und stehe auch auf. Ich stelle mich hinter Lukas und umarme ihn. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, mir seine Situation vorzustellen. Für ihn muss das alles doch noch viel verwirrender sein als für mich, oder? Er war noch nie in einen Jungen verliebt und dann passiert es ihm ausgerechnet bei seinem besten Freund, der ihn immer mit seinen Affären vollgesülzt hat. Würde ich mir da nicht auch Gedanken machen?

„Ich weiß, was du meinst“, sage ich und berühre mit meinem Mund seinen Nacken. Seine Hände legen sich auf meine an seinem Bauch. „Es ist okay, wenn du dir noch nicht so sicher bist, aber ich bin mir sicher. Du bist nicht Dennis oder irgendjemand sonst. Vor allem bist du nicht Dennis“, betone ich.

„Das will ich auch hoffen“, schnauft er und ich kann an seiner Stimme hören, dass er lächelt.

„Du bist das, was ich immer wollte, nur ist es mir erst so spät aufgefallen.“

Er dreht sich zu mir um und nimmt mein Gesicht wieder in seine Hände. „Sorry.“

„Ist schon gut. Vorausgesetzt ich darf dich jetzt endlich küssen.“

„Darfst du“, sagt er mit diesem Lächeln, das mich schon immer irgendwie schwach gemacht hat. „Und dann gehen wir frühstücken. Rate mal, was in meinem Kühlschrank steht und schon auf dich wartet. Dein Eist…“

Weiter kommt er nicht, weil ich ihn an mich ziehe und gierig küsse. Wie oft wollte ich das schon unterbewusst tun und jetzt kann ich es endlich. Endlich hab ich eine Möglichkeit, um auszudrücken wie wichtig er mir ist und schon immer war. Und weil es so vieles gibt, das ich an ihm liebe, kann uns erst das Grummeln unserer Mägen wieder voneinander trennen.

„Wow, dieses Getränk wird echt unterschätzt“, meint er atemlos.

„Sag ich doch.“


Hm. Auch das Frühstück ist wie immer. Ich hab meinen Eistee, Lukas seinen Kaffee und wir haben Brötchen aufgebacken. Wir unterhalten uns über diesen Aufstand, der in den USA gerade veranstaltet wird, weil ein Sänger auf der Bühne seinen Keyboarder geküsst hat. Tja, wenn Leute keine eigenen Probleme haben…

Ich fühle mich jedenfalls bestätigt, dass das, was Lukas und mich verbindet, vollkommen normal ist. Alles ist gut, so wie es immer zwischen uns war.

„Was grinst du denn so?“, fragt mein geliebter Mülleimer. „Ich hab dich was gefragt und du grinst mich nur an. Ist das wieder so eine versteckte Botschaft, die ich lieber schnell entschlüsseln sollte?“

„Hä? Nee. Oder doch… vielleicht…“

Er zieht die Augenbrauen hoch und guckt mich an, als hätte ich gesagt, dass ich heute zur Abwechslung mal auf den Mond fliegen möchte. Ich stehe von meinem Stuhl auf und setze mich auf seinen Schoß.

„Ich hab mich nur gefreut, dass sich zwischen uns nichts geändert hat“, erkläre ich.

„Ach so. Dann hab ich vielleicht verdrängt, dass du schon immer zum Frühstück auf mir statt auf einem Stuhl gesessen hast?“

„Vermutlich“, sage ich und küsse ihn.

„Das hab ich dann wohl auch verdrängt.“

„Wie schade.“

„Und was ist jetzt mit meiner Frage?“

„Ähm… wie war die noch mal?“, frage ich schuldbewusst, aber er lacht und schlägt mit seiner Hand gegen meine Stirn.

„Ich hab gefragt, ob du schwimmen gehen willst.“

„Mit dir?“

„Wenn`s dir nichts ausmacht…“

Diesmal bekommt er die Hand ab. „Du wolltest doch sonst nie.“

„Ja, aber heute werden wir wohl nichts anderes machen können. Falls wir einen Schritt vor die Tür machen wollen, kommt nur ein Ort mit viel kaltem Wasser in der Nähe infrage. Sonst kannst du mich heute Abend auch in ein Glas gießen.“

„Mich musst du da nicht fragen. Schwimmen geht immer und wenn du sogar freiwillig mit willst…“

„Dann sollten wir aber bald los, sonst wird es so voll, oder?“, fragt er.

„Das ist es wahrscheinlich jetzt schon.“

„Nicht schlimm. Dann machen wir eben einen Hindernisparcours draus.“

„Ich liebe dich.“

Ja, das tue ich. Und ich finde, dass ich allen Grund dazu habe.

„Und ich dich. Also schwimmen wir heute?“

„Ja, der Mond wird warten müssen“, kichere ich.

„Ich glaube, ich will gar nicht wissen, was das jetzt wieder zu bedeuten hat. Am besten wir packen unsere Sachen.“

Nachdem wir damit fertig sind, machen wir uns auf den Weg zum Freibad. Es ist echt schon wahnsinnig heiß, obwohl es gerade mal elf ist. Die Luft ist so schwer, dass ich das Gefühl habe, sie bleibt in meiner Nase stecken. Da wird das Atmen schon zum Sport. Ich kann es kaum erwarten, ins Wasser einzutauchen.

So voll, wie ich befürchtet hatte, ist es nicht, aber trotzdem sind alle Bahnen schon mehrfach besetzt. Da werden wir ums Slalomschwimmen wohl nicht drum rum kommen. Kinder sind noch nicht in Sicht, aber das ist auch nur noch eine Frage der Zeit.

Wir legen unsere Handtücher auf die Wiese und springen sofort ins Wasser. Herrlich! Prustend tauche ich wieder auf und will mich gerade auf Lukas werfen, aber er ist nicht neben mir wie ich es vermutet hatte. Ich schaue mich um und sehe ihn vom anderen Beckenrand winken. Richtig. Ich hatte ganz vergessen, dass er eigentlich auch kein schlechter Schwimmer ist. Er macht es nur nicht so gerne. Ich schwimme zu ihm.

„Ha, ich hab dich abgehängt“, sagt er breit grinsend.

„Von wegen, du Schummler.“

„Ist das eine Herausforderung?“

„Normalerweise ja, aber ich weiß nicht wie wir hier ein Rennen veranstalten wollen.“

„Feigling!“

Na, der traut sich ja was. Er weiß ganz genau, dass ich ihn fertig machen würde. Immerhin bin ich besser im Training. Zur Strafe will ich ihn unter Wasser drücken, aber er ahnt, was ich vorhabe und lässt mich ins Leere springen.

„Ich sag`s ja… du bist zu berechenbar, Janni.“

Und lustig findet er das auch noch. Dass er so viel Spaß haben würde, konnte ja keiner ahnen.

„Na warte. Das bekommst du alles zurück.“

Das folgende Gerangel geht allerdings eher unentschieden aus und wir verlassen etwas außer Atem das Becken, um uns doch mal kurz in die Sonne zu legen.

„Dafür, dass du gar nicht gerne ins Schwimmbad gehst, hast du viel zu viel Spaß“, beschwere ich mich und lege mich auf mein Handtuch.

Lukas verdreht nur die Augen und legt sich neben mich. Ich schließe meine Augen und freue mich natürlich doch, dass er mit mir hierher gekommen ist. Wer würde das auch nicht? Er macht das ja für mich. Er hätte auch zuhause bleiben können und… da fällt mir was ein. Ich öffne meine Augen wieder und bekomme gerade noch ein „Hey, weißt du w…“ raus, bevor sich etwas auf meine Lippen drückt. Hmm, ich weiß, was das ist. Und obwohl ich etwas erschrocken bin, küsse ich Lukas zurück.

„Hier?“, frage ich und sehe mich um. Ich hab nichts dagegen, aber ich dachte, dass er da eher noch etwas unsicher ist.

„Ja, warum nicht. Ich liebe dich, und das kann auch jeder wissen. Außerdem sieht uns eh niemand.“

Das stimmt allerdings. Der Schwimmerbereich und diese Wiese sind durch eine relativ hohe Hecke voneinander getrennt und die anderen, die hier ihr Sonnenbad nehmen, sind zu weit weg.

„Manchmal denke ich, dass du viel zu perfekt bist, um real zu sein. Bist du sicher, dass du nicht aus irgendeinem Paralleluniversum kommst?“

„Oh verdammt, du hast mich durchschaut!“ Er lacht. „Aber wolltest du eben nicht irgendwas sagen?“

„Äh, ja.“ Wer denkt denn jetzt daran? „Mir ist gerade eingefallen, dass doch heute das Fußballspiel übertragen wird.“

„Ja und?“

„Wolltest du das nicht sehen?“, frage ich.

„Nicht so wichtig. Du hättest ja sowieso die ganze Zeit rumgenörgelt, dass dir langweilig ist.“

„Haha.“

„Außerdem können wir davon ausgehen, dass das Schwimmbad deshalb in ein paar Minuten wie leergefegt sein wird. Dann können wir endlich unser Rennen machen.“

„Du willst also unbedingt gegen mich verlieren?“

„Ja ja, mach dir nur Hoffnungen“, sagt er selbstsicher und grinst mich frech an. „Ich mach dich platt!“

„Das sollten wir dann doch lieber auf zuhause verschieben“, meine ich.

Ha, da klappt ihm doch glatt der Mund auf. Jetzt hab ich dich, Freundchen!

Tatsächlich dauert es nicht mehr lange, bis nur noch ein paar wenige Schwimmer übrig geblieben sind und wir unseren kleinen Wettkampf starten können. Ich muss ja zugeben, dass Lukas echt gut ist, aber er hat mich definitiv unterschätzt. Auf den letzten Metern überhole ich ihn und komme vor ihm am Ziel an. Schnaufend klammern wir uns nebeneinander an den Beckenrand.

„Touché“, sagt er und wuschelt mit einer Hand durch meine Haare. „Dafür, dass du nie im Verein warst, bist du echt gut.“

„Und dafür, dass du lange nicht geschwommen bist, bist du immer noch ziemlich gut.“

„Vielleicht lasse ich mich ja überreden, öfter mit dir schwimmen zu gehen.“

„Okay, aber schlagen wirst du mich trotzdem nicht“, sage ich und strecke ihm die Zunge raus.

„Wir werden sehen“, entgegnet er und steht auf einmal vor mir. Dass mich diese Situation an Dennis erinnert, sage ich ihm lieber nicht. Ich will ja nicht riskieren, dass er sich wieder Sorgen macht. Und damit ich nicht länger daran denken muss, lehne ich mich vor und küsse ihn.

„Hier duschen oder bei dir?“, frage ich.

Er grinst.


Sobald die Haustür hinter uns zugefallen ist, schnappe ich mir einen Zipfel von seinem T-Shirt und will ihn an mich ziehen, aber er blockt den Versuch ab.

„Hey“, beschwere ich mich.

„Ich dachte, du wolltest duschen“, sagt er ganz unschuldig, kann sich ein Grinsen aber kaum verkneifen. Das sehe ich.

„Ja, mit dir.“

„Hm.“ Er setzt sich auf den Sessel und schaltet demonstrativ den Fernseher an. Offenbar ist das Fußballspiel doch noch nicht zu Ende.

Ich schleiche mich von hinten an ihn ran und streiche dann mit meinen Händen über seinen Oberkörper. Er will das Spiel gucken? Nix da. Den krieg ich schon rum.

„Im Kühlschrank ist noch Eistee“, sagt er, ohne seine Augen vom Bildschirm zu lassen.

Oh, er kämpft mit schmutzigen Tricks. Na gut… Ich berühre mit meinen Lippen seinen Hals und sauge mich dann da fest. Er reagiert immer noch nicht. Merkwürdig. Ich weiß doch, dass ihm das gefällt. Irgendwas hat er vor. So wichtig ist ihm dieses blöde Spiel doch gar nicht. Der will mich nur ärgern. Oder sich rächen? Genau.

Aber bevor ich mich schnell zurückziehen kann, hat er sich schon meine Arme geschnappt und zieht mich über die Lehne auf seinen Schoß. Mist! Ich wusste es. Ich bin in seine Falle getappt und so wie ich jetzt hier liege, bin ich ihm total ausgeliefert.

„Gewonnen“, flüstert er grinsend und fängt an mich zu kitzeln, bevor ich mich irgendwie wehren kann. So eine Frechheit.

„Nein… haha… nicht“, japse ich und versuche mich aus seinen Armen zu befreien, aber ich hab keine Chance. Er scheint seinen Sieg richtig auskosten zu wollen.

Dann beugt er sich auf einmal zu mir runter und küsst mich. Sehr fordernd wie ich finde, aber das soll mir nur recht sein. Eine seiner Hände schlüpft währenddessen in meine Hose und… äh… hmmm… Das ist doch schon viel, viel angenehmer.

„Duschen?“, fragt er, während ich noch schnaufend und mit der Kraft einer nassen Socke auf seinem Schoß hänge.

Ich nicke. „Das war unfair.“

„Selber schuld.“

„Die Hose hab ich heute Morgen erst angezogen und jetzt kann sie schon wieder in die Wäsche.“

Er grinst nur. „Soll ich dich tragen?“

„Nein danke“, sage ich und stehe auf. „Aber du kommst mit.“ Ich schnappe mir sein T-Shirt und ziehe es ihm über den Kopf.

„Und das da…“, ich zeige auf die rötliche Stelle an seinem Hals, „… ist auch noch nicht fertig.“

„Tut mir leid, dass ich dich unterbrochen habe.“

„Das sollte es auch“, meine ich und küsse ihn.

So bewegen wir uns langsam aufs Badezimmer zu, wo ich ihn noch ein bisschen verwöhne. Rache kann wirklich sehr süß sein.


„Willst du nicht hier bleiben?“, fragt Lukas abends, als der Film zu Ende ist und ich mich aus seinen Armen wurschtel.

„Morgen wieder. Ich muss mich auch mal wieder zuhause blicken lassen.“

„Bist du sicher, dass du das überlebst?“

„Ja, sicher. Meine Familie ist zwar anstrengend, aber ich glaube nicht, dass mein Leben bedroht ist.“ Ich versuche mich an einem Lächeln, von dem ich weiß, dass es ihn nicht aufheitern wird.

„Ist der Heini von deiner Schwester auch da?“, fragt er und sofort schwingt ein ernsthaft besorgter Ton in seiner Stimme mit.

„Wahrscheinlich.“

„Willst du nicht doch hier bleiben?“

„Lukas, reg dich nicht auf. Der Kerl kann mich mal. Außerdem geht er mir sowieso immer aus dem Weg.“

„Wenn du das sagst.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich komme morgen nach der Arbeit, okay?“

„Okay.“

Ich bekomme noch einen Abschiedskuss und mache mich dann auf den Weg nach Hause. Lust hab ich nicht wirklich, aber immerhin ist es meine Familie und offiziell wohne ich ja noch da. Richtig ist allerdings, dass die Atmosphäre im Moment immer etwas angespannt ist, wenn ich da bin. Vor etwa zwei Wochen hab ich die Bombe platzen lassen und erzählt, dass ich mit Lukas zusammen bin. Meine Mutter war erst etwas sprachlos, hat sich dann aber gefreut, dass es wenigstens Lukas ist und nicht irgendein Wildfremder. Mittlerweile stört es sie, glaube ich, nicht mehr, aber mein Vater hat noch dran zu knabbern. Meine Schwester war ganz aus dem Häuschen und ich konnte sie gerade noch davon abhalten, es in der ganzen Stadt rumzutratschen. Ihrem Macker hat sie es allerdings erzählt und der macht seitdem einen riesigen Bogen um mich und sieht mich finster an. Ich behaupte, dass er einfach nichts mit mir zu tun haben will, aber Lukas ist der festen Überzeugung, dass er meiner Schwester versprechen musste, mich in Ruhe zu lassen und deshalb einen Sicherheitsabstand zu mir hält, um nicht in Versuchung zu kommen. Etwas paranoid, aber ich fühle mich geschmeichelt, dass er so um mich besorgt ist. Solange das keine krankhaften Züge annimmt und er nicht meint, mich ständig beschützen zu müssen, kann ich durchaus damit leben.

Vielleicht hätte ich ja auch mal eine Ausnahme machen und meinen Mülleimer nicht damit belasten sollen. Ich hätte mir doch denken können, dass er das nicht einfach nur mit einem Schulterzucken hinnimmt. Aber so ist das eben bei uns. Ich hab ihm schon immer alles erzählt und ich werde es immer tun. Das ist ein Automatismus, den ich nicht mehr abschalten kann.

„Hallo“, rufe ich ins Haus, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe.

„Hallo Jan. Hast du Hunger? Ist noch was da“, sagt meine Mutter und kommt aus dem Wohnzimmer auf mich zu, um mich kurz in den Arm zu nehmen. „Schön, dass du da bist.“

„Äh… ja. Nein, ich hab keinen Hunger.“

Merkwürdige Situation. So verkrampft. Und irgendwie macht sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen bei mir breit. Ich kann nicht mal sagen, wo das jetzt her kommt. Es ist nur so ein Gefühl.

„Ich hab deine Sachen gewaschen. Sie liegen in deinem Zimmer.“

Oh man, sie hängt sich da ja richtig rein. Vielleicht will sie verhindern, dass ihre beiden Kinder flügge werden. Meine Schwester ist nämlich auch nicht mehr so oft zuhause. Allerdings ist die noch nicht volljährig und muss gezwungenermaßen immer wieder nach Hause kommen. Ich war sonst eigentlich immer hier und jetzt eben nicht mehr.

Oder sie fühlt sich schuldig, weil mein Vater noch nicht wieder normal mit mir umgehen kann und ich mich deshalb hier nicht mehr so wohl fühle.

„Danke“, sage ich brav und gehe ins Wohnzimmer. Mein Vater sitzt im Sessel und studiert offensichtlich noch irgendwelche Akten.

„Hallo Papa“, sage ich, etwas leiser als ich beabsichtig hatte.

Er sieht kurz auf. „Hallo.“ Und konzentriert sich wieder auf die Papiere in seiner Hand.

Super. Da fühlt man sich doch gleich wie zuhause… Ein bisschen verletzt mich sein Verhalten schon, aber ich werde ihm einfach noch Zeit geben und schauen, ob sich das wieder einpendelt.

„Ich bin oben“, sage ich zu meiner Mutter und merke schon, dass das eine lange Nacht wird. Ohne Lukas.

Mein Zimmer sieht aus wie immer, aber es fühlt sich nicht mehr an, als wäre ich hier zuhause. Dafür war ich viel zu oft bei Lukas. Und langsam macht sich der Gedanke breit, dass das auch nie wieder mein Zuhause sein wird. Wenn ich im Herbst irgendwo an einer Uni angenommen werden sollte, bin ich sowieso weg. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, sich vorher schon ein bisschen darauf einzustellen.


Am nächsten Morgen muss ich schon relativ früh aufstehen, weil ich die Videothek aufschließen muss, und taumel verschlafen ins Badezimmer. Die Nacht war einerseits viel zu kurz, weil ich nicht genug Schlaf bekommen habe und andererseits zu lang, weil ich Lukas vermisst habe. Sehr.

Ich dusche kurz und habe mir gerade erst das Handtuch um die Hüften gewickelt, als die Tür aufspringt und ich auf einmal Andreas, dem Freund meiner Schwester gegenüber stehe. Er bleibt erschrocken stehen und starrt mich an. Ich warte schon auf einen Wutausbruch, aber dann stammelt er nur irgendwas Unverständliches und verschwindet wieder. Wahrscheinlich beschwert er sich jetzt bei Marie, dass ihr schwuler Bruder halb nackt im Bad rumläuft. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, einen hysterischen Lachanfall zu bekommen. In diesem Haus sind echt alle bekloppt.

Und bei der Arbeit geht es genauso weiter. Jeder zweite Kunde – so kommt es mir zumindest vor – will einen Film ausleihen, obwohl er noch keine Kundenkarte hat und beschwert sich dann, dass das einmalig 5 Euro Aufnahmegebühr kostet. Erst als man mich wieder zu Wort kommen lässt und ich erklären kann, dass dafür die ersten beiden Filme kostenlos ausgeliehen werden können, hört das Gezeter auf. Aber Hauptsache erst mal rumblubbern. Ich hasse es. Umsatz mache ich heute auch nicht so viel, also wird mein Chef es wohl auch noch auf mich abgesehen haben. Der tickt auch nicht mehr richtig. Es liegt natürlich immer an dem, der hinter dem Tresen steht, wenn wenig Kunden in den Laden kommen. Klar.

Etwas angenervt mache ich nachmittags meine Abrechnung und übergebe den Laden an meinen Kollegen. Bloß schnell raus hier und dann alles bei meinem Mülleimer abladen. Na ja, vielleicht nicht alles. Die Sache mit Andreas werde ich vorläufig erst mal unter den Tisch fallen lassen. Falls ich mich nicht verplappere.

„Hey, wie war dein Tag?“, empfängt mich Lukas fröhlich an seiner Tür.

„Wunderbar, Schatz“, antworte ich sarkastisch.

„Oh-oh, so schlimm?“

„Krieg ich erst mal einen Kuss?“

Er zieht mich in den Flur und drückt seine Lippen kurz auf meine. „Hat dieser Kerl…“

„Nein, Andreas hat nichts gemacht. Siehst du, ich lebe noch.“

„Witzig.“

Er schließt die Tür und geht in die Küche. Ich setze mich auf einen Stuhl und sehe zu wie er sich einen Kaffee macht. Bei dem Wetter. Ich würde eingehen. Als er sich schließlich zu mir setzt und mich fragend ansieht, erzähle ich ihm von meiner Familie und der Arbeit.

„Hört sich an als wärst du mit dem falschen Fuß aufgestanden“, meint er.

„Ich glaube eher, dass ich mit dem richtigen Fuß aus dem falschen Bett gestiegen bin.“

Jetzt hat sein Blick wieder etwas Besorgtes. Wieso das denn? Andreas hab ich nicht mit einem Wort erwähnt.

„Das ist doch dein Zuhause.“

„Im Moment fühlt es sich aber nicht so an. Und wenn ich studiere, wird sich sowieso alles ändern.“

„Alles?“

„Alles bis auf dich und mich.“

„Trotzdem“, sagt er. „Du solltest die Beziehung zu deiner Familie nicht aufs Spiel setzen.“

„Das sagt der Richtige.“

„Meine Eltern haben mir immer nur Vorschriften gemacht, deshalb bin ich ausgezogen. Wir haben uns nie verstanden, das weißt du doch. Bei dir ist das ganz anders. Deine Eltern lieben dich. Gib ihnen einfach ein bisschen Zeit.“

„Ich weiß.“

„Und jetzt setzen wir uns da auf das Sofa und schalten ab. Die Zeit ohne dich war echt lang.“

Ich grinse. Ist er nicht süß? Wenn ich bei ihm bin, hab ich nie lange schlechte Laune. Er hat genau die richtige Mischung aus Zuhören und Ablenkung drauf. Hier fühle ich mich zuhause.

Wir kuscheln uns also aufs Sofa, schalten den Fernseher an und sofort überfällt mich eine Welle aus Müdigkeit. Ich schließe die Augen, doch bevor ich eingeschlafen bin, höre ich Lukas leise schmatzen. Aha, die Nacht war also nicht nur für mich zu kurz.


Diese Woche verging eigentlich wie jede andere zurzeit auch. Mit der Ausnahme, dass am Freitag meine Abschlussfeier in der Schule war. Schick anziehen, immer schön lächeln und dann oben auf der Bühne das Zeugnis entgegennehmen. Hört sich nicht besonders kompliziert an, war es aber.

Meine Mutter war natürlich ganz aus dem Häuschen und sogar mein Vater ist mal wieder ein bisschen aufgetaut, als ich endlich den Beweis für mein bestandenes Abitur in der Hand hatte. Aber keiner von beiden hat besonders viel Notiz von Lukas genommen. Der war nämlich auch dabei und immer an meiner Seite. Mein Vater hat ihn nicht mal angesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Er hat ihn einfach ignoriert, weshalb ich ihm am liebsten an die Gurgel gegangen wäre.

„Reg dich nicht auf, Janni“, hat Lukas gesagt. „Mich stört es nicht.“

„Mich aber. Er soll gefälligst nicht so tun, als wärst du gar nicht da.“

Das war aber nicht das einzige, das den Tag für mich zur Katastrophe gemacht hat. Dennis ist die ganze Zeit irgendwo in der Nähe gewesen und hat jedes Mal dämlich gegrinst, als er mich gesehen hat. Ich wollte unbedingt verhindern, dass er und Lukas aufeinander treffen, aber irgendwann stand er plötzlich neben uns und bestand darauf, dass ich sie einander vorstelle. Lukas hat sich nichts anmerken lassen, aber ich glaube er hat sich Dennis ganz genau angesehen. Immerhin weiß er ganz genau, dass ich seinetwegen meine Prinzipien über Bord geworfen hatte. Ich kann nur hoffen, dass er jetzt keine Vergleiche anstellt, oder so. Alles in allem war der Tag jedenfalls für die Katz.

„So ein blödes Arschloch!“, schimpfe ich, als wir gerade wieder bei Lukas angekommen sind.

„Wer jetzt? Dein Vater oder Dennis?“

„Beide.“

„Und wen meintest du jetzt gerade?“

„Meinen Vater. Der hat dich einfach ignoriert. Und tu nicht so, als würde dir das nichts ausmachen.“

„So ist es aber“, meint Lukas. „Ich bin nur froh, dass er keinen Aufstand gemacht hat, weil ich mitgekommen bin.“

„Das geht ihn überhaupt nichts an, wen ich mitnehme. Außerdem kennt er dich doch.“

„Aber nicht als deinen Freund.“

„Na und?“

Lukas seufzt und hält mich an den Schultern fest. „Lohnt es sich wirklich, sich so darüber aufzuregen?“

„Ja.“

„Nein.“

„Doch.“

Er lächelt und ich muss auch ein bisschen schmunzeln. Er legt seine Arme um mich und küsst mich. „Mir ist es egal, was andere denken.“

„Also stört es dich wirklich nicht?“

„Sag ich doch.“

„Und Dennis?“, frage ich vorsichtig.

„Was ist mit ihm?“

„Du machst dir doch keine Sorgen, oder? Dass ich wieder… äh… schwach werde?“

„Nein. Aber…“

Aber? Es gibt ein Aber? Warum hat er mir nicht gesagt, wenn er sich über etwas Gedanken macht? Er sieht jetzt auch ein bisschen nervös aus, weshalb ich auch gleich anfange zu schwitzen.

„Was aber?“

„Manchmal… denke ich, dass die Veränderung für dich vielleicht zu groß ist. Dass dir etwas fehlt. Du warst doch sonst immer so froh über deine Freiheit.“

„Also glaubst du doch, dass ich mir nicht sicher bin.“

„Nein, ich weiß nur nicht wie es für dich ist, wenn du dich auf einmal so einschränken musst.“

„So ausladend war mein Sexleben ja wohl auch wieder nicht“, beschwere ich mich.

„Na ja.“

„Hallo? Was reimst du dir denn da gerade zusammen?“

„Für mich klingt das logisch.“

„Nein. Absolut nicht. Ich hab dir doch oft genug erzählt, dass ich eigentlich was ganz anderes wollte. Du müsstest nun wirklich am besten wissen, dass es Quatsch ist, was du dir da überlegt hast.“

„Ja, vermutlich. War ja auch nur so ein Gedanke.“

„Wenn du noch mehr davon hast, kannst du sie gleich in die Tonne treten.“

„Okay“, sagt er. „Aber erst mal…“ Er duckt sich, packt meine Beine und hängt mich über seine Schulter.

„Hey!“, protestiere ich, habe aber keine Chance mich zu befreien.

„… erst mal feiern wir jetzt deinen Abschluss.“

„Im Schlafzimmer?“

„Ja, wo denn sonst?“

Er wirft mich auf die Matratze und erstickt unser Gelächter in einem leidenschaftlichen Kuss.

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