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Summerways

Teil 7 - Alles anders

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Inhaltsverzeichnis

David

Jetzt wünschte ich, ich hätte mein Psychologie-Studium damals fortgesetzt. Wie geht man mit traumatisierten Kindern um, die ihr Heim verloren haben? Wie geht man mit einem Mann um, der dachte, seine Kinder wären tot? Wie geht man mit Jordan um, der absolut fassungslos zu sein scheint und den ganzen Tag in einem Hotelbett liegt und schläft?

Eine Woche nach dem Angriff können wir in Jordans Wohnung in Venice ziehen. Möbel haben wir keine, nur Matratzen. Das Haus ist in seiner Statik bedroht und darf nicht mehr betreten werden. Wie können unsere Sachen also erst holen, wenn ein Spezial-Unternehmen alles abgestützt hat. Ich freue mich nicht auf den Tag, an dem ich da rein gehe. Was, wenn eine Miene übersehen wurde? Ich weiß eigentlich, dass die Spürhunde verlässlich arbeiten und man anhand der Videos genau nachvollziehen konnte, wo Mienen versteckt wurden, aber trotzdem hab ich ständig diese Bilder im Kopf: Ich mache eine Schublade auf, höre ein leises klicken und bin im nächsten Moment nur noch ein Nebel aus Blut. Aber ich muss da rein. Jordan ist nicht in der Verfassung und Dylan … er funktioniert, aber er ist nicht mehr der Gleiche. Ich will ihm das nicht alleine zumuten.

Die vier Schlafzimmer der Wohnung werden verteilt. Oben schlafen Dylan und Jordan und die Zwillinge. Unten in einem Zimmer Cooper und ich und im anderen Gwen. Ich hab Nikki versprochen, dass ihr Sohn bei mir in Sicherheit ist. Sie kann nicht zurück kommen. Noch nicht. Und Oliver muss an ihrer Seite bleiben. Josh und Kate bleiben vorerst in Chicago, wären aber am liebsten schon längst wieder hier bei ihrer Familie. Aber wir haben auch so schon kaum Platz zu siebt in der Wohnung. Die Polizei meint, wir seinen nicht mehr in Gefahr, aber Dylan sichert die Tür und alle Fenster, bringt eine Alarmanlage an und packt Notfall-Koffer. Am liebsten möchte er, dass alle immer zuhause bleiben, aber Gwen muss wieder zur Schule und auf Dauer kann man mit drei Kleinkindern nicht drinnen hocken. Jordan schläft den ganzen Tag und schleicht nachts durch die Wohnung. Ich mache das eine Woche lang mit, dann wecke ich Jordan um 8 Uhr morgens, packe Gwen ein Pausenbrot ein und fordere Dylan dazu auf, sie in die Schule zu fahren. Jordan fordere ich dazu auf, zu duschen. Die Gegenwehr bleibt fast ganz aus, alle machen was sie sollen, auch wenn Dylan den ganzen Tag im Auto vor Gwens Schule sitzt um sie zu bewachen, ist das immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

Als ich mit den Kindern ein paar Tage später vom Strand nach Hause spaziere, schaue ich über meine Schulter und sehe Antony 50 Meter hinter uns. Scheinbar ist er uns die ganze Zeit gefolgt, um auf uns aufzupassen. Krass. Ich tue so, als hätte ich ihn nicht bemerkt und sehe zu, dass ich in die Wohnung komme, wo Jordan wieder im Bett liegt und schläft.

„Wach auf, deine Kinder müssen gebadet werden. Die haben Sand in jeder Ritze.“

„Mh … kannst du das nicht machen?“

„Nein, ich geh jetzt einkaufen, und zwar alleine.“

Ich lasse die Kinder bei ihm sitzen, schnappe mir Geld und Einkaufstasche und gehe.

Draußen schaue ich mich um und sehe Antony etwa 20 Meter entfernt in einem Hauseingang sitzen.

„Warum verfolgst du die Kinder?“

„Ich verfolge sie nicht, ich passe auf sie auf.“

„Sie sind nicht mehr in Gefahr, die Polizei ist sich sicher.“

„Und Dylan ist sich sicher, dass die Gefahr nicht vorbei sein wird, solange Colber am Leben ist.“

„Also hat Dylan dich auf uns angesetzt?“

„Er hat mich um diesen Gefallen gebeten, ja.“

„Langsam kommt er mir etwas paranoid vor.“

„Nein, er ist nur nicht naiv. Ihr solltet von hier weg ziehen. Dylan hat eine Tante auf einer Farm ein paar Stunden von hier ...“

„Wir sollen von hier weg ziehen? Auf eine Farm? Obwohl die Polizei sagt, es droht keine Gefahr mehr? So ein Schwachsinn.“

„Das wird Dylans Entscheidung sein.“

„Und Jordans!“

„Ist er heute schon aus dem Bett aufgestanden?“

„Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn du deinen Sohn besuchen würdest, statt vor dem Haus zu lauern?“

„Nein, er muss sich erst beruhigen.“

„Mh-hm“, mache ich und lasse ihn stehen, um einkaufen zu gehen.

Es ist so offenkundig, dass er mit der Situation nicht umgehen kann und deshalb Gründe sucht, Jordan nicht zu besuchen! Aber das würde jemand wie Anthony niemals zugeben. Jordan MUSS endlich wieder Entscheidungen treffen, Dylan und Anthony verschleppen die Kinder sonst noch ins Hinterland...

Als ich heimkomme, sitzen die Kleinen tatsächlich in der Badewanne und Jordan am Boden daneben. Er sieht so jämmerlich aus, dass ich ihn erst mal in den Arm nehme.

„Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen“, flüstert er in mein Ohr.

„Wir kriegen das hin.“

„Bleibst du bei uns?“

„Ich bleibe, so lange ihr mich braucht.“

Er drückt mich fest an sich und weint. Er tut mir so leid. Fast weine ich mit, aber ich muss für die Kinder stark sein.

Ich koche, während die Kleinen mit Jordan kneten. Als Cooper versucht, ihm einen Knet-Schnurrbart zu verpassen, lacht Jordan. Und das ist das schönste, das ich seit langem gehört habe. Dylan und Gwen kommen nach Hause.

„Wie war die Schule?“, will Jordan wissen.

„Gut“, antwortet Gwen kurz angebunden und verschwindet gleich in ihr Zimmer.

Dylan zuckt mit den Schultern: „Sie wird sich schon wieder dran gewöhnen.“

Er umarmt und küsst Jordan.

„Schön, dass du auf bist.“

„Tut mir Leid, dass ich euch im Stich gelassen habe.“

„Hey, David und ich haben hier alles im Griff“, erklärt Dylan überzeugend.

Jordan umarmt seinen Mann. Ich spüre Wut im Bauch. Dylan hat gar nichts im Griff. Die Angst hat ihn im Griff.

Es dauert noch eine weitere Woche, bis Dylan und ich in das Haus können. Es ist ein Bild der Zerstörung. Die Wandverkleidungen hängen herab, überall hat sich der Rauch abgesetzt. Im Erdgeschoss ist so ziemlich nichts mehr brauchbar. Und das Hundeblut hat auch niemand weggewischt. Dylan kniet sich über den roten Fleck und scheint so was wie ein leises Gebet zu sprechen. Dann geht er mit einem Umzugskarton die Treppe hoch. Ich betrachte kurz das zerstörte Klavier, denke an die schönen Momente mit Gwen und Jordan beim Musik machen, und folge ihm.

Nach vier Stunden haben wir alle Betten, ein paar kleine Komoden und alles an Spielzeug und Kleidung, das wir gefunden haben, verpackt. Auch die Fotoalben und andere Erinnerungen nehmen wir mit. Und die Kiste mit Küchengeräte, die ich nach der Trennung im Keller abgestellt habe. Dann steigen wir in den gemieteten Umzugswagen und bringen alles zur Wohnung, wo schon Toby und Vince warten, um alles nach oben zu schleppen während wir die zweite Fuhre holen.

Am Abend kann Jordan endlich wieder in seinem Bett schlafen. Ich spüre, dass er jetzt schon zuversichtlicher ist, weil er sieht, dass er doch nicht alles verloren hat. Er fasst den Entschluss, selbst sehen zu wollen, was zerstört wurde und was noch da ist.

Am nächsten Morgen fahren Jordan und Dylan also zum Haus, um den Keller auszuräumen, wo Jordans Musik-Equipment alles gut überstanden hat. Wir richten uns in der Wohnung einigermaßen gut ein und lagern anderes ein. Eigentlich blicken alle ganz zuversichtlich in die Zukunft, bis der Kostenvoranschlag für die Reparaturen am Haus kommt und klar wird, dass die Versicherung bei dieser Schadenshöhe erst nach mehreren Gutachten Geld freigeben wird. Selbst bezahlen ist selbst für Jordan bei der Summe undenkbar. Es wird sich also noch länger hinziehen als geplant. Dylan und Gwen sind zwar den ganzen Vormittag weg, weil Dylan immer noch vor der Schule Wache schiebt, aber selbst mit den drei Kleinen ist es eng.

Ein paar Tage später, als alle anderen schlafen – es ist schon weit nach Mitternacht - setze ich mich zu Jordan ins Wohnzimmer. Er schaut von seiner Gitarre hoch:

„Dein Gesicht sagt mir, dass wir reden müssen.“

„Ja, wir müssen reden.“

Er legt seine Gitarre weg und setzt sich zu mir auf die Couch.

„Dir geht es besser?“, will ich wissen.

„Ja, ich weiß, es wird noch lange dauern, bis wir wieder in unser Haus können und wir haben vieles von unserem Zeug verloren. Aber Zeug kann man nachkaufen. Hauptsache, den Kindern geht es gut.“

„Also denkst du, wir sind außer Gefahr?“

„Ja, das sagt doch die Polizei.“

„Und was sagt Dylan?“, will ich wissen.

„Er ist nervös und übervorsichtig. Aber nach allem, was ihm passiert ist, ist das nachvollziehbar.“

„Ihr plant also nicht, von hier weg zu ziehen?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Und was ist mit deinem Vater? Hast du ihn mal gesprochen?“

„Wir haben telefoniert. Jetzt wo es mir besser geht, wird er sicher auch wieder öfter vorbei schauen. Warum?“

„Ich weiß auch nicht. Ich hab nur ein komisches Bauchgefühl. Als würde was vor sich gehen, das ich nicht mitbekomme.“

„Du hast auch viel durchgemacht, David. Kein Wunder, dass deine Nerven sich mal melden.“

„Nein, das ist es nicht, glaub ich. Aber egal. Ich will auch nicht künstlich Probleme suchen. Ich bin nur froh, dass es dir wieder besser geht.“

„Danke, dass du für uns da warst, David.“

„Soll ich bald gehen? Ich meine, hier ist es verdammt eng ...“

„Nein, keines Falls! Bitte bleib. Ich bin wirklich sehr froh, dass die Kids dich haben.“

„Okay, aber wenn du deine Meinung änderst, oder Dylan ...“

„Alles gut, David. Wir wollen beide, dass du bleibst.“

„Meinst du, dass Dylan vielleicht eine Aufgabe braucht? Er sitzt den ganzen Vormittag im Auto vor der Schule. Auf Dauer kann das doch so nicht bleiben... Was ist mit dem Zentrum?“

„Da geht er nicht mehr hin. Das ist vorbei.“

„Weil er Angst hat, sich noch mehr Feinde zu machen?“

„Ja. Er wird das Leben der Kinder nicht nochmal auf's Spiel setzen.“

„Aber … das hört sich gar nicht nach Dylan an. Das Zentrum war ihm doch so wichtig, und er wollte sich doch nicht einschüchtern lassen ..“

„Er hat entschieden, nicht mehr ins Zentrum zu gehen, und ich bin sehr froh über diese Entscheidung“, erklärt Jordan mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, die mir sagt: Thema beendet.

Ich nicke:

„Ja, verstehe.“

Cooper weint, deshalb gehe ich in unser Zimmer und lege mich neben ihn. Er schläft sofort wieder selig ein.

Am nächsten Tag fange ich an, in den Umzugsboxen nach Bilderrahmen zu suche und hänge sie an die Wände. Als Dylan mit Gwen nach Hause kommt, meint er:

„Das kannst du dir sparen, wir werden hier nicht lange bleiben.“

„Wo sollen wir denn hin?“, frage ich nach.

„Na hier ist es auf Dauer jedenfalls kein Zustand, zu siebt.“

„Aber das Haus ...“

„Das Haus ist ein wirtschaftlicher Totalschaden. Ich werde rausholen, was noch brauchbar ist, und dann wird es abgerissen. Das leere Grundstück bringt noch gutes Geld.“

„Aber euer Gemüsegarten. Euer Zuhause ...“

„Wir werden ein neues finden. In einer ruhigeren Gegend.“

„Willst du aus L.A. wegziehen?“

„Das ist der Plan, ja.“

„Weiß Jordan schon davon?“

„Das muss er noch nicht wissen. Er soll sich nicht aufregen, sondern erst mal wieder stärker werden.“

„Ich hab das Gefühl, er ist sehr stark. So eine Entscheidung kannst du doch nicht ohne ihn treffen...“

„Bei allem Respekt, David, aber ICH bin hier das Familienoberhaupt.“

Ich bin so baff über diesen Spruch, dass ich nicht antworten kann. Und das auch gar nicht richtig einordnen kann. Hat Dylan gerade Mafia-Slang benutzt? Spricht da also Antony aus ihm? Oder spricht die Angst? Irgendwas stimmt da jedenfalls nicht.

Am nächsten Tag packt Dylan Koffer. Jordan und ich kommen gleichzeitig ins Wohnzimmer.

„Noch mehr Notfall-Gepäck?“, fragt Jordan.

„Nein, wir fahren in Urlaub.“

„Was?!“, machen wir beide überrascht.

„Packt eure Sachen. Wir fahren auf's Land. Wir brauchen einen Tapetenwechsel.“

„Aber Gwen hat Schule“, bemerke ich.

„Ich hab sie krank gemeldet. Kommt schon, das wird lustig! Tiere, weites Land und keine Sorgen. Packt genug für eine Woche.“

Jordan geht kommentarlos zurück nach oben, um seine Sachen zu holen. Ich stehe da und kann es nicht fassen.

„Wo fahren wir hin?“

„Auf die Farm meiner Tante. Die Babys waren schon mal da. Sie haben die Nächte durchgeschlafen, wegen der guten Luft.“

„Dylan, was hast du vor?“

„Ich mache mit meiner Familie Urlaub. Wenn du keine Lust hast, kannst du gerne hier bleiben.“

„Nein, ich gehe packen.“

Weil ich kein gutes Gefühl dabei habe, Jordan und die Kinder diesem „Familienoberhaupt“ auszuliefern.

Zwei Stunden später sitze ich mit Cooper in meinem Auto und fahre hinter Dylan und den anderen her Richtung San Diego. Ich glaub nicht, dass das gut ist für Jordan, der mir oft erzählt hat, dass er richtige Angstzustände bekommt, wenn er Richtung Süden fährt und San Diego auf den Wegweisern liest. Dort ist er damals angeschossen worden. Dort lebt seine Familie väterlicherseits. Bei Oceanside fahren wir ab auf die 78er Richtung Escondido und weiter bis Ramona. Wir durchqueren die Stadt und fahren Richtung Lake Sutherland bis Dylan plötzlich rechts abbiegt und am Straßenrand anhält. Er steigt aus, macht ein unscheinbares Gatter auf und bedeutet mir, durchzufahren. Hinter dem eingewachsenen Gatter befindet sich eine lange, ungeteerte Straße. Ich fahre immer weiter, bis ein altes Farmhaus vor mir auftaucht. Mit Veranda, Fensterläden und einer alten, selbst gebauten Hollywood-Schaukel.

Drei große Hunde kommen kläffend ums Haus gelaufen. Sie sind total aggressiv und hüpfen am Auto hoch. Cooper fängt auf der Rückbank an zu weinen.

„Alles gut, Spatz. Die können hier nicht rein. Hier, halt meine Hand.“

Dylan steigt aus seinem Auto und pfeift. Sofort kommen die Hunde zu ihm und lecken seine Hände, lassen sich abklopfen und sogar kraulen. Ich lasse das Fenster herunter:

„Können wir jetzt aussteigen?“

„Natürlich! Gwen, komm Hunde streicheln!“

Ich bin damit beschäftigt, Cooper aus dem Auto zu holen, deshalb sehe ich erst, dass Gwen weint, als Dylan schon mit ihr bei den Hunden kniet und ihre Hand festhält, damit die Hunde an ihr schnuppern können.

„Siehst du, die tun nichts. Die verteidigen nur das Haus gegen Feinde. Aber wir sind keine Feinde, stimmt's Jungs. Joah, schön streicheln.“

„Ich will nicht“, flüstert Gwen tränen-erstickt.

„Die tun doch nichts“, wiederholt Dylan und hält ihre Hand weiter fest.

„Hey, sie will nicht! Siehst du nicht, dass sie weint?“, frage ich scharf.

Dylan schaut in Gwens Gesicht und scheint erst jetzt zu merken, wie es ihr geht.

„Ach Gwen, du musst doch nicht weinen. Die tun doch nichts, schau...“

Jordan hat die Zwillinge aus den Sitzen geholt und hat die beiden auf dem Arm. Er sagt nichts dazu, dass Dylan wieder Gwens Hand nimmt und den Hunden hinhält.

„Genug jetzt. Komm her, Gwen“, rufe ich.

Sie reißt sich los und kommt zu mir.

„Mit Zwang wird sie ihre Angst nicht los, Dylan. Da wird es nur schlimmer.“

Dylan überlegt scheinbar kurz, ob er den Konflikt fortführen soll, lächelt aber stattdessen und meint:

„Lasst uns mal sehen, wo Tante Tessa steckt.“

Jordan und Dylan gehen mit den Zwillingen ums Haus, die Hunde trotten mit ihnen mit. Ich beuge mich zu Gwen hinunter. Cooper streckt seine Hand nach ihr aus.

„Nicht weinen“, sagt er. „Ich mach ei ei.“

Gwen lässt sich von ihm streicheln und von mir die Tränen wegputzen. Dann läuft sie hinter den anderen her ums Haus.

Dort erwartet uns ein riesiger Gemüsegarten und die Aussicht auf ein paar Felder, auf denen Vogelscheuchen stehen. Tante Tessa kommt uns entgegen, die Hunde laufen sofort zu ihr. Sie ist groß, aber klapprig dünn, trägt eine blaue Latzhose und darunter ein Karo-Hemd. Sie ist alt, aber trägt zwei blonde Zöpfe. Ihr Gesicht ist von Sonne und schwerer Arbeit gezeichnet. Und von einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Fremden. Sie ist mir vom ersten Moment an unsympathisch, aber ich kann nicht sagen, warum. Sie begrüßt Dylan und Gwen herzlich, Jordan und die Zwillinge schon skeptischer und mich richtig missmutig.

„Im Haus ist kein Platz für so Viele. Ich hab die Feldbetten in der Scheune hergerichtet.“

„Cool, das wird wie Camping!“, erklärt Dylan begeister, während ich schon plane, morgen mit Cooper wieder zurück zu fahren.

Es ist schlimmer als gedacht. Wir sollen im Wesentlichen im Stroh schlafen. Mit drei Kleinkindern! Als ich Jordan ohne Dylan erwische, tuschle ich ihm zu:

„Das kann doch nicht Dylans Ernst sein! Wir können hier unmöglich bleiben!“

Er zuckt gleichgültig die Schultern und trottet davon. Okay, ich bin auf mich allein gestellt.

Am Abend beginnt die große Mästerei. Fleisch, Brot, Maiskolben, Erbsen, Apfelkuchen. Dann die erste Nacht auf Feldbetten im Stroh. Ich mache kein Auge zu. Was, wenn eines der Kinder nachts aufwacht und davon wandert, nach draußen auf die Felder? Dylan schläft ruhig und atmet tief. Jordan wälzt sich unruhig hin und her. Ich halte Coopers Hand auf der Liege neben mir.

Am nächsten Tag packe ich Jordan, Cooper und die Zwillinge in mein Auto und fahre mit ihnen in die Stadt. Wir spielen auf einem Spielplatz, essen zu Mittag in der Mall und laufen durch die Geschäfte während die Zwillinge im Buggy Mittagsschlaf machen. Jordan redet nicht viel. Er scheint seinen Gedanken nachzuhängen. So verbringen wir unsere Tage. Dylan versucht nicht, uns auf der Farm zu halten, er scheint zufrieden damit zu sein, dass Gwen ihm dabei Hilft, Maschinen zu reparieren und sich um den Garten zu kümmern. Bis auf die ungemütlichen Nächte halten wir es eigentlich ganz gut aus, die Woche lang.

In der letzten Nacht kommt Gwen zu mir auf die Liege.

„Kann ich bei dir schlafen?“, flüstert sie.

„Ehm, ja, sicher, wenn wir Platz haben...?“

Sie kuschelt sich zu mir. Bewegen kann ich mich zwar nicht mehr, aber ich freue mich so wahnsinnig über Gwens Vertrauen, dass ich es nicht über's Herz bringe, sie wegzuschicken.

„Ist dir bequem?“, flüstere ich.

„Geht schon.“

„Morgen fahren wir heim.“

Gwen bleibt still, so als hätte sie was auf dem Herzen.

„Was ist los?“

Sie atmet tief ein, so als ob sie Mut sammeln müsste.

„Ich hab ein Geheimnis, und ich weiß nicht, ob es okay ist.“

Ich höre an ihrem Tonfall, dass es was ernstes ist.

„Du kannst mit mir reden, Gwen. Geheimnisse, die einem das Herz schwer machen, sind keine guten Geheimnisse.“

„Ich geh nicht in die Schule. Dylan sagt, da ist es nicht sicher.“

„Aber ihr … ihr fahrt doch jeden Morgen weg und kommt erst Stunden später wieder. Was macht ihr die ganze Zeit?“

„Das, das darf ich nicht erzählen. Du würdest es nicht verstehen.“

„Gwen, das ist jetzt sehr ernst. Ich glaube, Dylan kann gerade keine guten Entscheidungen treffen, weil er so viel Angst hat. Es könnte sein, dass er Hilfe braucht. Darum ist ganz wichtig, dass du erzählst, was ihr macht, wenn ihr nicht in der Schule seid.“

Sie weint, denke ich. Ich kann sie nicht sehen, es ist zu dunkel. Aber sie atmet wie jemand, der weint.

„Dylan … zeigt mir, wie ich mich beschützen und verteidigen kann.“

„Und wie?“

„Mit Boxen und mit Karate und mit laut Schreien und Spucken. Und mit Schießen.“

Ich muss all meine Kraft zusammen nehmen, um nicht aufzuspringen oder laut zu werden:

„Mit Schießen? Womit schießt ihr denn?“

„Mit Revolvern. Irgendwas leichtes, damit ich es schon gut halten kann.“

„Und wo schießt ihr?“

„Dylan kennt jemanden, der so einen Schießstand hat. Da kann man auf Papierfiguren schießen und Zielscheiben und so.“

„Mit echter Munition?“

„Ja … und hier im Wald hab ich vorgestern auf einen Hasen geschossen. Aber ich hab ihn nicht getroffen.“

„Dylan hat dich hier im Wald schießen lassen? Weiß Jordan davon?“

„Nein, und wir dürfen es ihm auch nicht sagen. Wir müssen Jordan beschützen. Sonst nimmt er vielleicht wieder Drogen und stirbt.“

„Hat Dylan das gesagt?“

„Ja ...“

Sie zittert am ganzen Körper. Ich nehme sie fest in den Arm.

„Du musst niemanden beschützen, Gwen. Jordan und ich, wir beschützen dich. Das musst du nicht selbst machen.“

Sie wird von einem Weinkrampf geschüttelt. Irgendwann schläft sie total erschöpft ein.

Ich bin so wahnsinnig wütend! Das was Dylan da macht, grenzt an seelischen Missbrauch! Jordan muss das wissen. Ich stehe vorsichtig auf und gehe rüber zu seiner Liege. Als ich ganz nahe bin, merke ich, dass er nicht schläft. Er weint. Er wird von lautlosen Krämpfen geschüttelt und presst sich die Hand vor den Mund, um niemanden zu wecken.

„Hast du alles gehört?“

Er nickt. Ich ziehe ihn in eine Umarmung. Jetzt weint er an meiner Schulter und dieses Mal weine ich mit.

Gleich nachdem die Sonne aufgegangen ist, packen Jordan und ich das Gepäck in mein Auto. Dylan schläft noch, Gwen hingegen ist schon wach und sitzt neben ihren schlafenden Geschwistern, als würde sie sie behüten müssen.

„Alles verstaut. Du kannst dich schon mal reinsetzen, Gwen. Frühstück besorgen wir unterwegs.“

„Und was ist mit Dad?“

„Er bleibt hier und redet mit Dylan über alles, was in den letzten Wochen passiert ist. Die beiden kommen dann nach. Keine Sorge, Gwen. Ich pass auf dich und die Kleinen auf.“

„So wie damals, als die böse Männer in unser Haus gekommen sind?“

„Ja, genau so.“

Jordan hilft mir gerade, die Zwillinge in ihren Sitzen festzuschnallen, als Dylan auf uns zugelaufen kommt.

„Was macht ihr da?!“

Jordan hebt beschwichtigend die Hände:

„Liebling, wir müssen reden. Deshalb fährt David mit den Kinder schon mal vor. Wir kommen dann in ein paar Stunden nach.“

„Nein, wir fahren nicht zurück. Holt die Kinder wieder raus.“

„Was meinst du damit?“

„Wir bleiben hier! Ich lasse meine Kinder nicht zurück in dieses Höllenloch!“

Er will die hintere Türe wieder öffnen, aber Jordan stellt sich ihm in den Weg.

„David, fahr. Wir kommen nach.“

Dylans Gesicht wird zu einer wütenden Grimasse:

„Wag es nicht!!“

Schnell steige ich auf den Fahrersitz und verriegle die Türen. Jordan block Dylan vom Auto ab. Ich habe wirklich Angst um ihn und mache das Fenster einen Spalt auf.

„Ich kann dich nicht hier lassen!“, rufe ich ihm verzweifelt zu.

„Bring die Kinder weg!“

Ich schaue mich um und sehe Gwens angsterfüllte Augen. Dann starte ich den Motor und fahre rückwärts. Wir sehen, wie die beiden miteinander rangeln. Dann wende ich und gebe Gas. Ich muss die Kinder hier weg bringen.

Jordan

„Liebling! Lass sie fahren!“

„Nein, du nimmst mir die Kinder nicht!“

„Dylan, keiner nimmt dir die Kinder! Sie fahren nur nachhause!“

Ich spüre seinen Griff um meine Oberarme immer schmerzhafte. Aber ich lasse ihn nicht durch. Ich weiß, dass die Kinder jetzt fahren müssen, dass sie nicht bei Dylan bleiben können, dass ich sie schützen muss, mit allem was ich habe. Meine Schuhe graben sich in den Rasen, ich stemme mich mit vollem Gewicht gegen Dylan.

„Du gehörst zu denen! Ich dachte, du wärst auf meiner Seite!!“

„Zu wem gehöre ich, Dylan?“

„Zu denen, die uns wehtun wollen!“

Ich höre Davids Auto in der Ferne verschwinden und weiß, dass der Autoschlüssel für unser Auto sicher versteckt ist. Die Kinder sind also nicht mehr in Dylans Reichweite. Deshalb drehe ich mich zur Seite und lasse ihn vorbei. Er rennt los, dem Auto hinterher, hat aber keine Chance, sie einzuholen. Ich laufe hinterher. Beim Gatter hole ich ihn ein.

Er sitzt am Boden und hält verzweifelt die Hände vor's Gesicht.

„Dylan?“

„Was hast du getan?!“, fährt er mich an. „Er ist einer von ihnen!! Du hast ihm unsere Kinder gegeben!!“

Ich hebe meine Hände:

„Dylan, ich verstehe nicht, wovon du redest. Du musst es mir erklären.“

„Kann ich dir vertrauen?“

„Natürlich, Liebling. Ich bin auf deiner Seite.“

„Und wenn ich dir alles erzählt habe, dann hilfst du mir, die Kinder zu retten?“

Ich war oft genug in Psychiatrien untergebracht, um Psychotiker zu erkennen, wenn sie vor mir stehen, deshalb sage ich:

„Ja, erzähl mir, wer unsere Feinde sind. Und dann machen wir gemeinsam einen Plan um sie zu besiegen.“

Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er zieht mich in einen innigen Kuss. Dann seufzt er:

„Ich bin so froh, dass ich jetzt endlich keine Geheimnisse mehr vor dir haben muss. Jetzt können wir gemeinsam kämpfen.“

Ich nehme ihn in den Arm:

„Ja, Dylan. Keine Geheimnisse mehr.“

Er erzählt mir von geheimen Verbrecherorganisationen, die von in Roswell gelandeten Aliens geleitet werden und es auf ihn abgesehen haben, weil er ihre Geheimnisse kennt. Und er erzählt mir davon, wie er versucht hat, Gwen darin auszubilden, ihre Geschwister zu beschützen. Er erzählt mir auch, dass er schon lange vermutet, dass David in Wahrheit nicht aus Deutschland, sondern von einem anderen Planeten kommt, und dass er herausgefunden hat, dass diese Aliens panische Angst vor Hunden haben und deshalb Stan getötet haben. Er entschuldigt sich unter Tränen dafür, dass er das alles nicht früher erkannt hat und uns nicht beschützen konnte.

„Dylan, ich bin froh, dass du mir das alles erzählt hast. Jetzt sehe ich klarer, was hier los ist. Ich muss kurz auf die Toilette, und dann machen wir einen Plan, wie wir alles wieder in Ordnung bringen, okay?“

Er nickt und wir gehen gemeinsam zum Haus. Ich gehe rein und sperre die Badezimmertür hinter mir ab.

Meine Hände zittern. Ich schaue kurz in den Spiegel. Kann ich das durchziehen? Ich muss! Mit zittrigen Fingern wähle ich den Notruf und sage:

„Mein Mann hat einen psychotischen Schub, wir brauchen Hilfe.“

Dann gebe ich die Adresse durch, atme drei mal tief ein und aus und gehe wieder nach draußen.

Dylan läuft vor dem Haus aufgeregt auf und ab. Als er mich kommen sieht, geht er sofort zu mir.

„Wir müssen uns beeilen. Sie haben schon so viel Vorsprung. Wir müssen hinter ihnen her.“

„Um dann was zu tun?“

„Wir müssen David aufhalten.“

„Und wie?“

Er schaut kurz prüfend in mein Gesicht, dann geht er zu einem großen Topf in dem halb verdorrte Blumen wachsen und gräbt in der Erde. Er holt eine Plastiktüte heraus und wickelt eine Pistole heraus. Ich mache unwillkürlich drei Schritte zurück.

„Ist die geladen?“

„Ich weiß, du hast Angst vor Waffen seit dein Großvater das getan hat.“

Er zeigt auf meinen Kopf.

„Aber Aliens sind nicht kugelsicher. Das müssen wir nutzen!“

Ich frage nochmal:

„Ist die geladen?“

Er nickt.

„Und du willst sie gegen David einsetzen? Vor unseren Kindern?“

„Ich weiß, das ist nicht ideal ...“

„Und wenn du dich irrst? Was, wenn er keiner von ihnen ist?“

„Wir müssen unsere Kinder beschützen, Jordan … um jeden Preis.“

„Leg die bitte wieder weg. Lass uns erst nachdenken.“

„Wir haben keine Zeit.“

„Doch, denn David vermutet nichts. Er wird die Tarnung aufrechterhalten wollen. Deshalb wird er den Kindern vorerst nichts tun Wir können in Ruhe einen Plan schmieden.“

Tatsächlich legt er die Waffe wieder zurück in den Blumenkübel.

„Danke.“

„Was schlägst du vor?“

Ich denke kurz nach. Wie bekomme ich ihn möglichst weit von der Waffe weg?

„Wir gehen jetzt vor zur Straße und schauen, ob wir Spuren finden, in welche Richtung David gefahren ist. Wenn er nichts ahnt, ist er Richtung Highway gefahren, wenn er was ahnt, ist er rechts abgebogen.“

Die Idee scheint für ihn Sinn zu machen, also gehen wir die Strecke bis zum Gatter und schauen uns die Reifenspuren ganz genau an. Kaum sind wir dort, sehe ich auch schon ein Polizeiauto den Hügel herunterkommen. Schnell lenke ich Dylans Aufmerksamkeit auf etwas am Himmel.

„Ich glaube, ich hab da oben grad ein komisches Licht gesehen. Da, neben der Wolke!“

„Wo?“

„Hm, vielleicht war es bloß ein Flugzeug ...Dylan … du weiß, ich liebe dich?“

Überrascht schaut er mich an:

„Ja natürlich. Warum fragst du?“

„Weil es wichtig ist, dass du daran denkst. Immer. Kannst du mich umarmen?“

Er nimmt mich in den Arm. Mein Gewissen macht mich fertig, aber ich weiß, ich hab keine Wahl. Er braucht Hilfe. Ich verschaffe ihm Hilfe. Auch wenn er das jetzt nicht erkennen wird. Auch wenn er mich gleich hassen wird.

Das Polizeiauto ist jetzt ganz nah und lässt kurz seine Sirene aufheulen. Dylan dreht sich um, dann schaut er mir voller Hass ins Gesicht.

„Du hast mich betrogen.“

„Nein, ich hab uns Hilfe geholt.“

„Du bist einer von ihnen!!“, schreit er.

Daraufhin spüre ich einen Schlag ins Gesicht und dann weiß ich nichts mehr.

David

Jordan meldet sich erst, als ich die Kinder gerade die Treppe zu unserer Wohnung hinauf trage. Ich setze die Zwillinge ab und gehe ran.

„Jordan, wie geht’s dir? Was ist passiert?“

„Wir sind im Krankenhaus.“

„Wieso? Ist jemand verletzt?“

„Ich musste genäht werden, aber halb so schlimm. Dylan ist auf der psychiatrischen Station. Er hat erst mal Beruhigungsmittel bekommen. Warum weint Jake?“

„Weil er müde ist. Ich leg die Kinder kurz hin, mach Gwen den Fernseher an und ruf dich gleich wieder an, ja?“

„Okay.“

Ich beeile mich damit, die Zwillinge und Cooper zum Schlafen zu bewegen. Zum Glück klappt das schnell. Gwen sitzt vor dem Fernseher und ich sperre mich im Bad ein.

„Hey.“

„Hey, die drei sind eingeschlafen, Gwen schaut fern. Jetzt können wir reden.“

Aber Jordan kann nicht reden, weil er weinen muss.

„Egal was los ist, wir kriegen das wieder hin, Jordan.“

„Nein, wir kriegen das nicht mehr hin. Nie mehr.“

„Jordan, ich würde dich jetzt so gern in den Arm nehmen ...“

„Ich setze mich ins Auto und bin in zwei Stunden bei euch.“

„Kannst du einfach so gehen? Du wurdest genäht. Musst du nicht ...“

„Ich kann jedenfalls nicht hier bleiben.“

Weil ich das Gefühl habe, dass wir in zwei Stunden Hilfe brauchen werden, bitte ich Carol, vorbeizukommen und die Kinder für einen langen Spaziergang mitzunehmen.

Jordan kommt mit einer langen Naht an der Augenbraue nach Hause. Ich bin froh, dass die Kinder ihn nicht sehen. Er ist blass und verheult.

„Wir sind allein, deine Mum ist mit den Kinder draußen.“

Ich sehe, wie erleichtert er darüber ist. Er geht langsam und kraftlos zur Couch, setzt sich mit einem Schmerzlaut hin.

„War das Dylan?“, frage ich und zeige auf seine Braue.

„Ja.“

„Kannst du mir erzählen, was passiert ist?“

„Er ist psychotisch. Er glaubt, Aliens seien hinter ihm her. Ich nehme an, das ist der Beginn einer Schizophrenie. Sein Vater war nur ein paar Jahre älter als er..., als die Krankheit bei ihm ausgebrochen ist.“

Jordan erzählt lange und detailreich was passiert ist.

„... und deshalb kann ich die Kinder nie wieder mit Dylan alleine lassen. Wer weiß, was er Gwen alles gezeigt und erzählt hat. Wer weiß, was er noch gemacht hätte, wenn sich Gwen dir heute Nacht nicht anvertraut hätte. Ich glaube, er hätte dich wirklich erschossen, David. Er war der Überzeugung, dass du eine Gefahr für die Kinder bist. Wie konnte ich nicht merken, was los ist? Wie konnte ich so blind sein? Wie konnte ich euch so einer Gefahr aussetzen? Ich war so egoistisch, hab nur mein eigenes Leid gesehen, hab mich ins Bett zurückgezogen und dich und die Kinder im Stich gelassen. Und Dylan … er wird mir das nie verzeihen können, dass ich ihn heute verraten habe. Und ich werde ihm nie wieder vertrauen können. Er … er hat mich geschlagen. In dem Moment ist etwas in mir kaputt gegangen. Dieser Akt der Gewalt, ich kann das nicht trennen. Ich werde immer dran denken müssen, wenn er vor mir steht. Er hat mich ko geschlagen, David. Mit so roher Gewalt.“

Ich nehme ihn in den Arm. Er ist so verzweifelt, dass mein Herz zerreißen will. Und ich werde mir auch bewusst, in welcher Gefahr ich war. Ein bewaffneter Psychotiker hatte es auf mich abgesehen. Mein Leben hätte mit einem Schlag vorbei sein können. Das ist für mich der Weckruf. Ich muss mein Leben leben. Trotz dem Chaos hier. Ich muss an die Uni, ich muss mir eine Perspektive schaffen. Ich muss auf mich selbst schauen. Nicht nur auf die anderen.

Jordan möchte Dylan nicht besuchen und er möchte sich nicht um Organisationskram zur Unterbringung kümmern. Ich setze Anthony drauf an, das alles zu klären. Und Tante Tessa. Nikki informiere ich über alles und verspreche ihr, dass ich für ihre Kinder da bin, so lange sie krank ist. Ich beschönige die Situation nicht, aber ich weiß, dass ich den Kindern das geben kann, was sie gerade am meisten brauchen. Einen Erwachsenen, der sich verlässlich und stabil um ihre Bedürfnisse kümmert. Ich rede mit Gwen und erkläre ihr Dylans Krankheit. Dann ist Dylan kein Thema mehr. Wochen lang. Weder Jordan, noch Gwen erwähnt ihn. Ich glaube nicht, dass das gesund ist, aber ich gebe ihnen Zeit.

Josh rufe ich auch an. Er lässt sich nicht mehr abbringen. Zwei Tage später zieht er wieder bei uns ein. Cooper zieht also zu den Zwillingen hoch und ich auf die Couch. Es ist schön, Josh morgens und abends da zu haben. Weil er ist wie ich: verantwortungsbewusst und verlässlich. Jordan ist zumindest stabil. Er ist für die Kinder da, arbeitet am Vormittag und schreibt an seiner Doktorarbeit, die er seit Monaten vernachlässigt hat. Ich besuche Abendkurse an der Uni. Es spielt sich ein neuer Alltag ein.

„Wie geht es deinem Rücken?“, fragt mich Jordan in der Vorweihnachtszeit nach dem Frühstück über dem Abwasch.

„Aua.“

„Die Couch ist kein Dauerzustand.“

„Ja, stimmt.“

„Warum schläfst du nicht oben bei mir? Das wäre doch viel praktischer, dann musst du nicht die Treppe hoch in der Nacht, wenn jemand weint.“

„Aber … meinst du jetzt auf einer Matratze am Boden, oder ...“

„Nein, ich meine bei mir im großen Bett.“

„Ehm ...“

„Wir müssen da pragmatisch sein. Du kannst dich doch kaum noch rühren, wegen der unbequemen Couch und wenn wir uns eh mit den Kindern nachts abwechseln ...“

„Das ist aber keine rein pragmatische Entscheidung. Ich meine, du bist verheiratet ...“

„Noch.“

„Okay, das ist ein anderes Thema. Aber was vermitteln wir Gwen für ein Bild, wenn sie mitbekommt, dass ich bei dir schlafe?“

„Das kann man ihr doch erklären. Hey, komm schon, wir sind beide erwachsen, wir sind Freunde, praktisch schon Familie. Und dein Rücken macht dich fertig, also ...“

„Also macht das wohl wirklich Sinn.“

Ende November besucht Jordan Dylan auf dessen Bitte hin. Er kommt zurück, als ich gerade die Kinder ins Bett gebracht habe. Josh und ich setzen uns mit ihm an den Esstisch, denn er sieht aus, als hätte er viel zu erzählen.

„Wie geht es Dylan?“, will Josh wissen, nachdem Jordan sich mit einer Schüssel Schokoeis zu uns gesetzt hat.

„Die neuen Medikamente wirken. Er hatte ein paar klare Tage.“

„Das ist gut, oder?“

„Ja, aber das bedeutet auch, dass ihm jetzt bewusst wird, was passiert ist. Er … er hat das ganze erstaunlich nüchtern betrachtet und sehr klar gesagt, was er will.“

„Und was will er?“

„Er will, dass die Kinder vor ihm beschützt werden. Er will, dass ihr nicht das gleiche durchmacht wie er als Kind. Er will kein Teil dieser Familie mehr sein.“

„Was?!“, machen Josh und ich gleichzeitig.

„Er will die Scheidung. Und ich will das auch.“

Josh holt sich eine Schüssel Schokoladeneis und setzt sich wieder.

„Dann sind wir jetzt wieder allein?“

„Ja.“

„Ich dachte wirklich, Dylan bleibt.“

„Es ist besser, wenn er nicht bleibt.“

„Aber Schizophrenie ist doch behandelbar“, werfe ich ein.

„Ja, aber nicht heilbar. Seine größte Angst war es schon immer, seinen Kindern was vergleichbares anzutun wie sein Vater ihm. Und was er Gwen angetan hat... und mir, und was er dir antun wollte, David. Ich kann das nicht vergessen, auch wenn es unfair ist, weil er nichts für seine Krankheit kann. Aber ich muss das so entscheiden. Wir müssen das zusammen so entscheiden, auch wenn das unsere letzte Entscheidung als Paar ist.“

Am nächsten Tag trägt Jordan einen breiten Ring am Finger, der Dylans Namen überdeckt. Er erzählt Gwen von der Entscheidung. Das Kind ist sichtlich erleichtert, dass sie Dylan nie mehr sehen muss. Und ich bin ehrlich gesagt auch erleichtert. Mit ihm wieder zusammen zu leben, hätte ich mir nicht mehr vorstellen können.

In dieser Nacht liegen Jordan und ich nebeneinander im Bett und schließen einen Pakt: Keine Beziehungen mehr. Wir konzentrieren uns nur noch auf die Kinder und die Karriere.

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