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Summerways

Teil 8 - Freiheit

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Informationen

David

Über Weihnachten fliege ich nicht nach Hause, deshalb dürfen meine Eltern über Skype bei uns mitfeiern. Sie sehen dabei zu, wie die Kinder ihre Geschenke auspacken, Kekse Essen und wie Gwen mit mir auf ihrem Keyboard „White Chrismas“ singt. Sie ist traurig, dass ihre Mum nicht dabei sein kann, aber Nikki hat noch einen Zyklus Chemo vor sich, bevor sie hoffentlich operiert werden kann. Das Ganze zieht sich schon viel länger hin als geplant. Aber die Ärzte haben Hoffnung, dass sie wieder gesund werden kann.

Weil Josh als Babysitter super ist, gehen Jordan und ich nach den Vorlesungen oft noch Essen oder was trinken. Abends ist die Zeit, in der wir am besten unterwegs sein können, und das nutzen wir. Tagsüber sind wir oft beide zusammen zuhause. Das ist auch nötig, mit den drei kleinen. Wir feiern Silvester und Jordans 33. Geburtstag im Januar. Anfang März wird klar, dass Nikki eine große OP braucht. Und Anschließend noch mal Bestrahlung und danach mindestens zwei Rekonstruktions-OPs. Sie wird also bis zum Herbst ausfallen. Ich frage mich, ob Cooper sich überhaupt noch an sie erinnern kann.

Gwen muss ihren Geburtstag also ohne Mama feiern. Und die Zwillinge ihren zweiten Geburtstag ohne Dylan. Im April wird Josh 18. Dann kommt der große Tag, Josh bekommt seinen Highschool-Abschluss. Johnson und Oliver kommen, Nikki kann nicht. Dafür strahlt Jordan dermaßen vor Stolz, dass es auch für fünf Elternteile reichen würde.

Der Sommer beginnt. Gwen hat Ferien und wir verbringen die Tage gemeinsam am Strand, die ganze Familie. Sogar Josh und Kate sind so oft es geht dabei. Josh wird in L.A. bleiben und auch Kate will hier her wechseln. Nicht für immer, aber bis es Nikki wieder besser geht. Oft sind auch Marie und Laura dabei. Ich sehe, wie viel es Jordan bedeutet, alle seine Kinder bei sich zu haben. Er strahlt vor Glück und ich freue mich sehr für ihn.

Im September beginnt für Cooper der Kindergarten. Die Zwillinge schlafen seit einigen Wochen stabil 11 Stunden die Nacht. Das ist ein ganz neues Lebensgefühl. Ich bin total energiegeladen und voller Tatendrang und Jordan geht es genau so. Nur dass wir die Energie unterschiedlich einsetzen. Während ich mich in die Uni-Arbeit stürze, verschwindet Jordan öfter mal stundenweise und will nicht so recht sagen, wohin. Ich nehme an, er hat eine Affaire. Oder Sexdates. Irgendwas bedeutungsloses.

Beim Blick auf den Kalender fällt mir etwas auf:

„Heute vor zwei Jahren bin ich mit Max in die Staaten gekommen.“

„Ich bin froh, dass du da bist, also schau nicht so traurig! Und jetzt wird kein Trübsal geblasen. Heute Abend steigt eine Wohnheimparty. Wollen wir hin gehen?“

„Sind wir dafür nicht zu alt, Jordan?“

„Du bist dafür sicher nicht zu alt, mein Lieber. Und ich seh nicht zu alt aus“, grinst er schief.

Da hat er recht. Er geht locker als 10 Jahre jünger durch als er ist. Und seit er wieder drei mal die Woche ins Fitnessstudio geht, ist er sowieso total begehrt. Ich sehe die Blicke, wenn wir zusammen über den Campus gehen. Jordan ist heiß. Und irgendwas sagt mir, dass er heute auf Beutefang ist.

„Kennst du wen in dem Wohnheim?“

„Es gibt da einen Kerl“, grinst er.

„Alles klar … und was soll ich da dabei?“

„Der Kerl hat Freunde. Und dir würde es gar nicht schaden, dich mal ein bisschen locker zu machen.“

„Locker zu machen? Willst du mich verkuppeln?“, frage ich irritiert.

„Natürlich nicht. Ich halte mich an unseren Schwur. Keine Beziehungen. Nur Kinder und Karriere. Aber mal für eine Nacht ...“

„Das ist echt nicht mein Ding.“

„Naja, schau doch einfach mal, was sich ergibt. Ich glaub, das wird spaßig. Josh und Kate können Babysitten. Wir können also über Nacht weg bleiben.“

Ich gebe mich geschlagen.

„Okay, dann mach ich mich heut mal locker ...“

Nach fast einer Stunde Fahrzeit parken wir vor einer Wohnanlage. Die Bässe dröhnen uns schon entgegen und versauen so das harmonische Bild. Die gepflegten Rasenflächen und die Ziersträucher wirken eher künstlich, wie eine Kulisse. Daran werde ich mich nie gewöhnen, egal wie lange ich in den Staaten lebe. Jordan hat einen seltsamen Gesichtsausdruck drauf, betont lässig und offen. Sein Partygesicht. Und die Klamotten … naja, sicher kann er es sich leisten, so enge Jeans zu tragen, aber irgendwie wirkt er billig und sieht überhaupt nicht aus, wie der Mensch, der er eigentlich ist. Mann, was mach ich mir so viele Gedanken? Wir gehen auf eine Party, verdammt!

Dicke Rauchschwaden hängen im Raum, es ist schon ziemlich voll, die meisten Leute stehen mit roten und blauen Pappbecher rum und unterhalten sich. Viele Wasserstoffblondinen fallen mir auf, und einige Männer, bei denen man kein ausgereiftes Gaydar braucht, um zu erkennen, welches Geschlecht sie bevorzugen. Die Normalos bilden aber die breite Masse.

„Ah, da drüben seh ich wen. Komm.“

Ich watschle etwas skeptisch hinterher. Irgendwie sind solche Parties nicht mehr meine Welt. Jordan stellt mich ein paar Leuten vor, die allesamt meinen Akzent niedlich finden, mehr haben wir uns aber nicht zu sagen. Gut, zugegeben, ich bemühe mich nicht großartig drum, ein Gespräch in Gang zu halten. Eigentlich würde ich mich jetzt am liebsten mit was Hartem zu trinken in eine Ecke hocken und warten, bis ich besoffen bin. Jämmerlich.

„Was magst du trinken?“, fragt Jordan und legt dabei nicht seinen oberflächlichen Small-Talk-Gesichtsausdruck ab.

„Irgendwas Hochprozentiges.“

„Kommt sofort.“

Derweilen lasse ich meinen Blick über die Leute schweifen und komme zu dem Schluss: Ich mag keine Menschen. Jordan taucht verdächtig lange nicht mehr auf und als ich ihn an der Bar entdecke, weiß ich warum. Eine von diesen Wasserstoffblondinen flirtet auf’s Heftigste mit ihm. Ich seh ihm an, dass er versucht, höflich aus der Nummer rauszukommen. Soll er ruhig ein wenig leiden. Das hat er davon, dass er so verflucht gut aussehen muss. Ich werde mir das schön von hier aus ansehen, auch wenn ich noch eine Stunde auf meinen Drink warten muss. Ich meine, es wäre für mich ein Leichtes, da rüber zu marschieren, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken und ihn mit den Worten „Schatz, ich will dir jemanden vorstellen“ aus dieser misslichen Lage zu befreien. Warum mache ich das nicht einfach? Irgendwie widerstrebt es mir. Bin ich wirklich so ein gehässiger, alter Zyniker geworden? Die enden immer allein und unglücklich, ich sollte also anfangen, was dagegen zu unternehmen.

Ich setze mich gerade in Bewegung, als ein Kerl in Röhrenjeans Jordan ein Küsschen auf die Wange gibt und ihn von der Blondine wegführt. Hat der etwa meinen Plan geklaut? Jordan drückt ihm den Becher in die Hand. Toll, jetzt hat der also auch noch meinen Drink. Und diese Blicke! Jordan grabscht irgendwas am Ohrläppchen des Kerls rum, bewundert wohl dessen Tunnels. Bald darauf streicht er den fransigen Pony des Wildfremden zurück, fährt mit dem Daumen dessen Augenbraue nach. Klar ist der Kerl hübsch, aber totaler Durchschnittsbrei, wie aus dem Schaufenster von H&M.

Jetzt knutschen sie. Einfach so! Ich meine, ich weiß, wie Jordan das früher gehalten hat, aber jetzt ist er über dreißig und Vater! Da sollte man meinen, er wäre bei so was vorsichtiger. Vorsichtiger?? Was soll denn beim Knutschen passieren? Und warum denke ich wie so ein verdammter Spießer? Jordan ist erwachsen und kann tun was er will, mit wem er will. Das geht mich absolut nichts an. Trotzdem kann ich nicht aufhören, die Beiden anzustarren. Dieser Kuss! Jordan küsst ihn so innig, als würden sie sich schon ewig kennen, als wären sie verliebt oder so. Wie kann er das bloß machen? Wie kann er sich einem Wildfremden so öffnen? Wie er seinen Nacken streichelt! Das herzliche Lächeln, das man in den kurzen Kusspausen sieht. Ich bin inzwischen bis auf drei-vier Meter herangekommen, ohne das wirklich zu wollen. Was mach ich da eigentlich? Schnell wende ich mich ab.

„Hey.“

Ein blonder Kerl steht plötzlich vor mir und hält mir einen roten Becher hin.

„Das ist Jacky-Cola. Willst du?“

„Ja, danke.“

„Hat dein Freund dich allein gelassen?“

Mit einer Kopfbewegung deutet er auf den knutschenden Jordan.

„Sieht so aus …“

„Ich bin Todd.“

„David.“

„Niedlicher Akzent. Wo kommst du denn her, David?“

Wir unterhalten uns eine Weile. Ich finde ihn auch echt nett und hübsch und nicht so aufgesetzt, aber ich glaube nicht, dass ich grad Bock habe, mit irgendwem fremdes rumzumachen.

„Ah, ihr habt euch schon kennengelernt.“

Jordan und sein Typ sind zu uns gestoßen und scheinbar sind Todd und der Tunnel-Kerl befreundet. Jordan stellt ihn als Mica vor.

„Wir wollten uns mal oben ein wenig umsehen“, erklärt dieser. „Kommt ihr mit?“

„Klar“, antwortet Todd für uns beide.

Ich frag mich noch, was es oben wohl interessantes geben könnte, da springt mir die Antwort schon ins Gesicht. Pärchen, überall. Und verschlossene Zimmertüren. Ohjeh.

„Da vorne ist unser Zimmer“, erklärt Todd.

Unser Zimmer? Singular? Ein Zimmer für … vier Leute? Oh Gott. Ich suche Jordans Blick, aber der hat schon wieder Micas Zunge im Hals stecken. Ich glaub, ich bin im falschen Film. Hier stinkt es nach Rauch und Schweiß und Sex. Was soll ich bloß machen?

„Hereinspaziert.“

Todd sperrt die Türe auf, das Zimmer wirkt, im Gegensatz zum Rest des Hauses, sauber, aufgeräumt, sogar irgendwie leiser. Gleich bei der Tür steht ein mittelgroßes Bett, Jordan und Mica verschwinden hinter einem Schrank, der als Raumtrenner fungiert.

„Also David, kann ich dir noch was zu trinken anbieten?“

„Ich hab noch, danke.“

„Setz dich doch.“

Er lässt sich auf dem Bett nieder und klopft neben sich.

„Ich … weiß nicht.“

„Okay.“

Er steht wieder auf, tritt zu mir. Ganz nah vor mich. Ich spüre seinen Atem im Gesicht, seine Hände, die meine Hüfte umfassen.

„Entspann dich“, wispert er, doch das hat genau die gegenteilige Wirkung.

Ich habe in meinem ganzen Leben mit drei Menschen geschlafen. Und für jeden habe ich wenigstens etwas empfunden und wenn es nur falsch interpretierte Freundschaft war. Gefühle gehören doch zum Sex dazu! Ich kann doch nicht schauspielern. Er küsst mich. Ich küsse ihn auch zurück. Küssen ist in Ordnung. Er schmeckt nach Cola. Mehr empfinde ich dabei nicht. Ich finde es nicht mal besonders aufregend, im Gegensatz zu ihm. Er drückt sich hart gegen mich, drängt mich rüber zum Bett. Irgendwie kann ich dagegen nichts machen. Unangenehm ist es ja auch nicht … Er liegt auf mir, seine Hände schieben mein Shirt immer höher. Langsam gefällt es mir auch, auf eine rein mechanische Art. Emotional bin ich recht unbeteiligt, bis … bis ich Jordan stöhnen höre.

Mir fällt wieder ein, wo ich bin und was ich da mache, und dass ein paar Meter weiter zwei andere Menschen Sex haben. Lauten Sex. So soll das nicht sein, das gehört sich einfach nicht. Ich will das so nicht. Ich will mit niemandem schlafen, den ich nicht liebe. Ich will auch nicht anderen beim Sexhaben zuhören.

„Ich will gehen.“

„Was?“

„Lass mich aufstehen, ich will das nicht. Mach schon!“

„Ist ja gut, mein Gott, ich hab mir wohl den Falschen geangelt. Dein Freund scheint zu wissen, wie man Spaß hat.“

Ich halte mir die Ohren zu, als ich aus dem Zimmer stürme, vorbei an herummachenden Paaren, die mich kaum bemerken, direkt an die Bar.

Ich spüre meinen Kopf pochen, noch bevor ich die Augen öffne. Nach und nach stelle ich fest, dass ich auf dem Boden liege, voll bekleidet, im Gemeinschaftsraum, unter dem Billardtisch. Da wieder rauszukommen, ist in meinem momentanen Zustand gar nicht so leicht. Meine Hüfte ist steif, mein Rücken tut weh, meine Augen vertragen das Licht nicht und im Raum stinkt es nach Erbrochenem. Zum Glück kommt das aus einer anderen Ecke. Es liegen noch ein paar andere Schnapsleichen herum.

Ich brauche dringend Wasser, also trotte ich, so schnell meine malträtierten Gelenke es zulassen, Richtung Gemeinschaftsbad. Da gehe ich aber sofort rückwärts wieder raus. Bestialischer Geruch. Absolutes Chaos. Zweite Anlaufstelle ist die Küche. Da herrscht zwar auch Chaos, aber der Geruch hält sich in Grenzen. Hm, Leitungswasser? Das soll man ja eigentlich nicht trinken … zumindest nicht überall in den Staaten.

„Durstig?“

Mica. Wunderbar. Er hält mir eine große Flasche Wasser hin, ich kann ihn also nicht einfach ignorieren.

„Danke.“

Nachdem ich gut einen halben Liter in mich hineingeschüttet habe, steht er immer noch erwartungsvoll vor mir.

„Hast du die Nacht gut überstanden?“, fragt er.

Aus Reflex antworte ich:

„Ja, geht so. Und du?“

Ich bereue die Gegenfrage sofort.

„Allerdings. Wow, Jordan ist echt der Hammer im Bett. Nicht nur, weil er ein paar Tricks drauf hat, die mich so oft und intensive kommen haben lassen, dass ich ein paar Mal kurz vor der Ohnmacht stand, ohne Scheiß. Ich meine, allein wie er einen ansieht! Das ist so … spirituell irgendwie, als würde man wirklich mit ihm verschmelzen. Ich habe seinen Blick förmlich physisch auf mir gespürt. Und das Beste war, als …“

„Ja danke, das war ausführlich genug.“

„Oh, ich wusste nicht, dass ihr zwei zusammen seid.“

„Sind wir nicht.“

„Oh, dann … dann tust du mir leid.“

„Äh, warum?“

„Es ist echt nicht schön, in jemanden verliebt zu sein, der diese Gefühle nicht erwidert.“

„Ich bin in niemanden verliebt!“

„Verstehe … naja also, ich werd dann mal wieder nach oben gehen. Vielleicht ist Jordan ja schon wach und hat Lust auf …“

„Jaha! Auf Wiedersehen.“

So ein blöder Wichser! Mann, ich hasse den Kerl. So affektiert und überheblich. Und morgens ist er echt kein hübscher Anblick. Im Gegensatz zu Jordan. Der sieht immer gut aus, selbst wenn er nur drei Stunden geschlafen hat, weil Jake Fieber hatte. Überhaupt will ich jetzt nachhause. Ich vermisse die Kinder. Jordan soll jetzt kommen.

„Guten Morgen.“

Okay, das ging schnell. Jordan steht in Boxershorts in der Küche, frisch geduscht, die braunen, zurzeit fast bis zum Kinn reichenden Haare kleben an seinen Wangen. Er schüttelt sich kurz und schon stehen sie verstrubbelt nach allen Seiten ab und man sieht, dass die Seiten ausrasiert sind und lediglich ein dicker, iroähnlicher Streifen in der Mitte die ganze Frisur ausmacht.

„Alles klar?“, fragt er.

„Hm? Ja, achso, ja, guten Morgen.“

„Du warst plötzlich weg.“

„Ach, das ist dir aufgefallen?“

„Bist du irgendwie sauer oder so?“, will er wissen.

„Ich will einfach nur nachhause.“

„Achso … weil Mica gefragt hatte, ob wir heute noch was unternehmen wollen.“

„Gut, dann nehm ich den Bus.“

„David, was ist los?“

„Ich will eben nachhause. Ich hatte keine so tolle Nacht und fühl mich eklig, will duschen …“

„Du kannst bestimmt oben kurz …“

„Ich will aber nicht mehr da hoch!“

„Oh-kay. Wenn du wirklich fahren willst, dann komm ich natürlich mit.“

„Danke.“

Mica tänzelt wieder herein.

„Ach hier bist du! Plötzlich war das Bett leer.“

„Ja, ich musste dringend duschen …“

„Mh, gut siehst du aus.“

Der Kerl schlingt seine Arme um Jordan. Jetzt geht gleich das Geknutschte wieder los. Aber was ist das für ein Blick von Jordan? Den kenn ich doch. Seine Gestik und Mimik ist genau dieselbe, wie gestern, als die Wasserstoffblondine ihn angebaggert hat! Was wird das denn jetzt? Mica sieht auch etwas irritiert aus. Jordan erklärt:

„Wir werden wohl doch gleich losfahren.“

Mica sieht ziemlich enttäuscht aus und tritt ein paar Schritte zurück.

„Oh, achso … okay … also, wollen wir dann vielleicht nächstes Wochenende was unternehmen? Ich meine, falls du da in der Gegend bist?“

„Sorry, aber ich glaub das ist keine gute Idee.“

Ich glaub’s nicht, wie kühl Jordan plötzlich ist. Als hätte er einen Schalter umgelegt.

„Also, können wir los?“, fragt er, sich zu mir umwendend.

„Was? … Ja, klar.“

„Okay, ich hol noch kurz meine Klamotten. Wir sehn uns am Auto.“

Kaum ist Jordan aus der Küche, schaut Mica mich ganz verzweifelt an.

„Hab ich was falsch gemacht? Wieso ist er plötzlich so abweisend? Hat es ihm nicht gefallen? Hat er irgendwas zu dir gesagt?“

Na super. Verdammt, woher soll ich denn wissen, was in Jordans Hirn vor sich geht? Ich weiß auch nicht, warum er plötzlich zum Arschloch mutiert. Ich zucke also nur die Schultern und füge hinzu:

„Da musst du ihn schon selber fragen.“

Ein paar Minuten später kommt Jordan zum Auto geschlendert. Mit den Klamotten von gestern Abend und seiner Sonnenbrille auf sieht er genau so aus, wie er sich verhalten hat. Wie jemand der denkt, nur weil er gut aussieht, kann er sich alles erlauben. Ich habe eine Stinkwut im Bauch. Das dämliche Grinsen, mit dem er fragt: „Na, alles klar?“ gibt mir den Rest. Ich platze hervor:

„Du kommst dir wohl sehr toll vor, oder? Macht’s dir Spaß, so mit Leuten umzugehen?“

„Was bitte?“

Sein dümmliches Grinsen ist ihm immerhin vergangen.

„Mica war gerade echt verletzt!“

„Du hast doch gesagt, dass du gleich fahren willst!“

„Ja, aber du hättest dich wenigstens ordentlich von ihm verabschieden können!“

„Ach bitte, jetzt tu doch nicht so scheinheilig! Glaubst du, ich hab nicht mitbekommen, wie du jedes Mal, wenn ich ihn geküsst hab, die Augen verdreht hast?“

„Dann hättest du ihm wenigstens deine Nummer geben können!“

„Und wozu? Das führt doch zu nichts. Was meinst du, passiert, wenn solche Kerle rausfinden, dass ich über Dreißig bin und außerdem für ne Horde Kinder sorge? Hm? Genau, dann sind sie ganz schnell weg. Außerdem hab ich keinen Bock auf den ganzen Gefühlsduselkram, ich dachte, das siehst du genauso?“

„Ja aber … ich behandle Menschen trotzdem nicht wie Fußabtreter.“

„Ach komm, du glaubst doch nicht, dass der sich wirklich Hoffnungen gemacht hat. Wir haben keine fünf Sätze geredet!“

„Tja, scheinbar bist du im Bett auch ohne Worte sehr einnehmend. Gut geschauspielert!“

„Hör doch auf, du weißt doch überhaupt nicht, wie das ist, sich eine Nacht auf jemanden einzulassen. Also red nicht von Dingen, von denen du eh nichts verstehst!“

„Ach, weil ich nicht so rumhure wie du, hab ich keine Ahnung, oder wie?“

Okay, jetzt sieht er wirklich gekränkt aus.

„Steig einfach ein, okay?“

„Jordan, ich hab das nicht so …“

„Schon okay. Ich will einfach nur nachhause.“

„Jetzt warte doch …“

„David, steig ein oder lass es, aber ich fahre jetzt.“

Ohne Widerrede setze ich mich auf den Beifahrersitz. Jordan starrt stur geradeaus. Verdammt, ich hab ihn echt verletzt. Warum hab ich das bloß gesagt? Was ist los mit mir? Warum reg ich mich über alles was er tut so schrecklich auf? Das Gekreische, das in voller Lautstärke aus den Boxen dringt, sorgt dafür, dass meine Gedanken zum Stillstand kommen.

Josh und Kate füttern gerade die Zwillinge, als wir, immer noch schweigend und zerknirscht, die Wohnung betreten.

„Hey, na, war’s lustig?“, fragt Josh, als würde er seine Teeny-Kinder fragen, wie die Party war.

Überhaupt sind die Rollen zwischen ihm und Jordan oft vertauscht.

„Geht so. Ich muss noch ein bisschen Schlaf nachholen“, nuschelt Jordan und verschwindet nach oben.

„Ich geh kurz duschen, dann seid ihr entlassen“, erkläre ich.

„Lass dir Zeit. Wir haben eh noch nichts geplant. Wir wussten ja nicht, wann ihr zurück seid.“

„Habt ihr was gegessen?“, ruft Jordan von oben runter.

„Nein, noch nicht. Aber uns reicht Salat. Ach übrigens: Dylan hat angerufen. Er fragt, ob wir ihn nächste Woche besuchen können.“

Erst herrscht ein paar Sekunden Stille, dann kommt Jordan die Treppe runter.

„Dylan hat angerufen? Wie hat er sich angehört?“

„Gut … ganz normal. Wir haben nicht so lange telefoniert. Weil du ja nicht da warst und er nicht wusste, wie du das findest.“

„Was hast du ihm geantwortet?“

„Dass ich dich fragen werde. Also?“

„Keine Ahnung.“

„Wann weißt du’s denn?“, hakt Josh nach.

„Ich muss erst mit den Ärzten reden.“

„Die hätten ihn wohl kaum anrufen lassen, wenn sie es nicht gutheißen würden.“

„Josh, hör auf so besserwisserisch zu sein. Ich denke drüber nach und teile dir meine Entscheidung dann mit.“

„Ach, plötzlich bist du wieder der Erwachsene, hm?“

„Ihr könnt jetzt gehen“, sagt Jordan kühl.

„Nichts lieber als das.“

Die Zwillinge bekommen noch ihre Abschiedsküsschen, dann sind Kate und Josh weg. Jordan küsst seine Kleinen ebenfalls und übernimmt schweigend das Weiterfüttern.

„Soll ich dir helfen?“, frage ich.

„Hab’s im Griff“, sagt er sehr kurz angebunden.

„Okay, dann schaue ich mal nach Gwen und Cooper.“

Die beiden spielen in Gwens Zimmer und scheinen nichts zu brauchen, also geh ich duschen.

Dylan hat angerufen. Das ist ein ganz schöner Hammer. Ich beeile mich mit dem Duschen. Jordan ist schon fertig mit füttern und sitzt auf der Couch, beide Kinder auf dem Schoß. Ich lasse mich neben die Drei in die Polster sinken.

„Na Jake, kommst du zu mir?“

Der Kleine lässt sich nicht lange bitten und streckt seine Ärmchen nach mir aus. Papas Hand wird dabei aber nicht losgelassen. Jordan sieht ziemlich müde aus, niedergeschlagen, mitgenommen. Es ist ganz still in der Wohnung. Draußen hört man ein paar Vögel pfeifen, April gähnt. Jordan gähnt. Ich lege meinen Arm auf die Rückenlehne, um Jordan nicht im Weg zu sein. Er rutscht heran, gibt seinem Sohn einen Kuss auf den Kopf, dann seiner Tochter. Ja, so sieht es aus, wenn Jordan jemanden liebt. Ich schlage noch die leichte Decke über uns und döse ein.

„David? Hey, David. Aufwachen.“

Ich liege allein auf der plötzlich viel zu großen Couch. Jake grinst mich an. Er hält sich an Jordan fest, der in der Hocke ist und mich leicht rüttelt. Ich gähne erst mal herzhaft.

„Ich hab was zu essen gemacht. Komm.“

Tatsächlich gibt es Gemüseauflauf mit Reis. Die Zwillinge haben scheinbar auch schon wieder Hunger und essen fröhlich mit den Händen. Cooper scheint das witzig zu finden und manscht mit. Nur Gwen isst ordentlich mit Gabel und Messer.

„Bring deinen Kindern mal Manieren bei“, grinse ich und verteile Plastiklöffel. Das klappt bei den Kleinen zwar noch nicht so gut, aber irgendwann müssen sie’s ja lernen.

„Weißt du schon, was du wegen Dylan unternehmen wirst?“, frage ich vorsichtig.

„Ich hab vorhin mit seinem Arzt gesprochen. Er hält es für eine gute Idee, wenn ich mit den Zwillingen und Josh hinfahre.“

„Und? Wirst du es tun?“

Er zuckt die Schultern.

„Du kannst es dir ja noch eine Weile überlegen.“

„Josh wird mir ganz schön die Hölle heiß machen, wenn ich ihn nicht lasse.“

„Vielleicht könntest du ja zuerst mal alleine hinfahren, um dir dein eigenes Bild zu machen?“

Er nickt und lässt die Schultern hängen, schiebt sein Essen von einer Seite des Tellers zur anderen.

„Ich will Dylan nicht sehen“, verkündet Gwen.

Jordan nickt nur.

„Gwen, Cooper und ich kümmern uns um den Abwasch. Magst du die Zwillinge wickeln?“, frage ich.

Er nickt und nimmt die beiden mit nach oben. Ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen. Ich ertrag es nicht, wenn er traurig ist.

Nachdem ich aufgeräumt habe, schaue ich oben nach dem Rechten. Aller drei liegen auf dem Bett, blättern Spielzeugkataloge durch.

„Na, was spannendes gefunden?“

„Nicht wirklich.“

„Wollt ihr lieber allein sein?“

„Komm schon her.“

Jordan macht mir etwas Platz zu seiner Linken.

„Ich hab einfach so was von keinen Bock mehr auf den ganzen Scheiß“, erklärt er recht unvermittelt.

„Vielleicht ist es ja wirklich ganz gut für alle Beteiligten, wenn sie sich mal wieder sehen …?“

„Das meine ich nicht. Ich meine diese ganzen Beziehungskisten.“

Er wartet offensichtlich auf eine Reaktion von mir, aber ich hab gerade keine Ahnung, was er meint.

„Wegen Mica meinst du?“

„Nein, nicht wegen Mica. Hör mal David, wenn du irgendwelche Gefühle für mich hast …“

„Was?!“

Die Zwillinge schauen mich verunsichert an. Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht schießt.

„Wie kommst du denn auf den Scheiß?!“

„Okay, ich bring mal die Kinder raus, dann können wir reden“, schlägt er vor.

„Spar’s dir. Ich brauch frische Luft.“

Und schon bin ich auf dem Weg nach unten, auf der Straße Richtung Strand. Wie kommt er dazu, mir so was vorzuwerfen?! Als wüsste ich nicht, wie er zurzeit dazu steht! Und als wüsste er nicht, wie ICH zu so was stehe! Was bildet der sich eigentlich ein? Der meint wohl, die ganze Welt steht auf ihn!

Ich sitze im Sand und bin wütend. Ich weiß gar nicht so genau, auf wen oder was eigentlich. Auf die Gesamtsituation. Auf Max, der mich sitzen hat lassen, auf Jordan, der so von sich selbst eingenommen ist, auf mich, dass ich überhaupt mit in die Staaten gegangen bin. Ich will einfach nur die Zeit zurückdrehen und noch mal mein Abi machen. Danach würde ich sofort eine kaufmännische Ausbildung machen und Teilhaber in einem schicken Münchner Restaurant werden. Ich würde mir Zeit lassen mit der Partnersuche, mich erst mal auf die Karriere konzentrieren. Und irgendwann würde ich mir einen gutaussehenden, allein erziehenden Vater angeln und mit ihm glücklich sein bis in alle Ewigkeit.

Stattdessen hege ich jetzt Vatergefühle für die Kinder meines besten Freundes und zögere meine Rückkehr nach Deutschland schon viel zu lange hinaus. Wo soll das Ganze noch hinführen? Ich sollte einen Schlussstrich ziehen. Jetzt sofort.

Total entschlossen schließe ich die Wohnungstür auf. Ich werde Jordan jetzt gleich wissen lassen, dass ich den nächsten Flug nach Deutschland nehme!

Er sitzt mit seiner Gitarre auf dem Boden, alle vier Kinder um ihn gescharrt, und spielt ihnen Knocking on Heaven’s Door vor. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich sauge den mir so vertrauten Duft der Wohnung auf, sehe Jordan an und weiß es plötzlich. Ich gehe zu ihm, setze mich neben ihn und küsse ihn. Er lässt mich.

„Ich liebe dich“, wispere ich.

„Ich weiß. Deshalb musst du gehen.“

„Was?!“

„Du musst von hier weg, David. Hier kannst du nicht bleiben. Nicht unter diesen Umständen und nicht mit diesen Erwartungen.“

Gwen geht mit Cooper kommentarlos in ihr Zimmer. Ich werde sie verlieren, schießt es mir durch den Kopf.

„Jordan, du kannst mich nicht wegschicken. Ich gehöre zu euch.“

„Nein, du warst hier nur Gast. Und jetzt ist es Zeit für dich zu gehen.“

Er liebt mich nicht. Er hasst mich nicht. Er fühlt einfach gar nichts. Das ist ihm deutlich anzusehen. Er hat nichts mehr zu geben. Ich habe nichts von ihm zu erwarten. Hier werde ich nur noch unglücklicher. Es ist Zeit, nach Hause zu kommen. Mich von den Kindern zu verabschieden, ist das Härteste, das ich je tun musste.

Zwei Tage später holt mich mein Vater vom Münchner Flughafen ab. Hier ist alles so klein, und so grau. Meine Eltern wollen mit mir reden, wollen herausfinden, was passiert ist. Aber ich weiß es selbst nicht. Alles ist schiefgelaufen und ich hab keine Ahnung, wie es soweit kommen konnte. Und jetzt stehe ich vor dem Nichts. Kein Abschluss, kein Job, keine Freunde.

„Cora fragt, ob du wieder bei ihr arbeiten willst.“

„Nein.“

„Aber …“

„Nein, Mama. Ich kann auf keinen Fall wieder da arbeiten. Das wäre, als hätte sich seit dem Abi gar nichts getan. Wie frustrierend ist das denn?!“

Meine Mutter seufzt und verlässt das Zimmer.

Eine halbe Stunde später hat mein Vater seinen großen Auftritt als Ratgeber. Aber auch ihn lasse ich abblitzen. Ich will nicht reden, will nicht denken, will nicht fühlen. In der Dämmerung flüchte ich aus dem Haus Richtung Weiher. Vielleicht ist das im Oktober keine besonders gute Idee. Zumindest nicht bei Wetter wie heute. Weit komme ich eh nicht.

„David?“

Mein Großvater, der den Vorgarten gerade Frostsicher macht.

„Ich wusste gar nicht, dass du zu Besuch bist.“

„Bin ich nicht. Ich wohne wieder hier. Vorerst.“

„Ich dachte, du bist mit diesem Amerikaner zusammen?“

„Jordan? Nein. Ich hab nur eine Zeit bei ihm gewohnt.“

„Deine Großmutter hat Apfelkuchen gebacken. Willst du ein Stück?“

Da kann ich nicht nein sagen.

Ich bereue es auch nicht, denn Oma ist die beste Bäckerin, die ich kenne. Und meine Großeltern stellen auch keine unangenehmen Fragen. Sie freuen sich einfach nur, dass ich da bin. Vielleicht ist es das, was ich jetzt gerade brauche. Ich beschließe, morgen meine andere Oma besuchen zu fahren.

Kaum bin ich wieder zuhause, betritt meine Mutter auch schon wieder ungebeten mein Zimmer. Ich komme mir vor wie 16 und das frustriert mich sehr. Ich muss mir schnellstmöglich eine eigene Wohnung suchen. Ich brauche also auch einen Job. Aber will ich wirklich in München bleiben? Oder einfach sehen, wohin es mich verschlägt?

Meine Mutter wedelt mit dem Telefon vor meinem Gesicht herum. Arglos mache ich:

„Hallo?“

„Hey …“, höre ich Max sagen.

„Was willst du?“

„Ich wollte hören, wie es dir geht.“

„Prächtig.“

„Ich hab versucht, dich bei Jordan zu erreichen. Diese Kate hat erklärt, du seist zurück nach Hause.“

„Ja, war Zeit.“

„Ich dachte, du und Jordan …“

„Tust du mir einen Gefallen, Max?“

„Sicher.“

„Ruf mich nie wieder an.“

Wütend drücke ich die Auflegetaste und schleudere das Telefon in mein Bett. Dann erst bemerke ich meine Mutter im Türrahmen. Sie mustert mich besorgt:

„Du nimmst doch nicht etwa wieder Drogen, oder?“

Mir ist egal, dass sie sowas denkt. Früher hätte sie mich damit auf die Palme gebracht, aber jetzt ist es mir egal. Nach einigen Momenten des Schweigens geht sie endlich weg. Höchste Zeit, von hier zu verschwinden!

Meine Großmutter empfängt mich freudig auf ihrem Hof und sogar meine Tante und meine jüngste Cousine scheinen sich zu freuen, mich zu sehen. Es duftet nach Schmalzgebäck und Tieren und durch den trüben Himmel finden ein paar Sonnenstrahlen den Weg durch das Stubenfenster. Heute ist alles nicht mehr ganz so furchtbar. Aber ich vermisse Jordan, mit jeder Faser meines Körpers. Das macht mich wütend, denn schließlich hat ER alles kaputt gemacht.

Nach unendlichen einsamen Spaziergängen durch den Wald und der Vernichtung von Tonnen von Schmalzgebäck weiht meine Oma mich in die geheimnisvolle Kunst des Kirchweihnudel-Backens ein, als es an der Tür klingelt. Wenige Sekunden später werde ich stürmisch von Gwen umarmt.

„Was …?“

Josh kommt nach ihr durch die Türe, gefolgt von meinem Vater. Ich nehme die große Gwen auf den Arm wie ein Kleinkind und werde halb von ihr erwürgt, so fest drückt sie mich. Auch Josh umarmt mich.

„Bitte komm wieder mit nach Hause“, flüstert er.

Ich halte die Beiden eine Weile einfach nur fest. Dann schüttle ich den Kopf:

„Ich kann nicht.“

„Egal was Jordan getan hat, das kriegen wir schon wieder hin …“

„Lass uns raus gehen. Dad, kannst du auf Gwen aufpassen?“

Er nickt sofort und erklärt der Kleinen, die am liebsten mit uns mit kommen will, dass sie dringend beim Backen helfen muss.

„Weiß er, dass ihr hier seid?“, frage ich draußen als erstes.

„Kate hat es ihm gesagt als wir im Flugzeug saßen.“

„Aber … konntest du Gwen einfach so mitnehmen, ich meine …“

„Mum hat das geregelt.“

„Nikki war damit einverstanden?“

„Natürlich. Sie weiß, dass wir dich brauchen. Wir alle. Nicht nur die Kleinen.“

„Tut mir Leid, ich wollte euch nicht einfach so im Stich lassen.“

„Was hat Jordan gemacht?“

Kann ich mit Josh darüber reden? Ich schaue ihn forschend an. Er hat ein Recht drauf, oder? Und so jung ist er auch nicht mehr. Schließlich trägt er eine Menge Verantwortung. Also sollte man ihn auch für voll nehmen. Trotzdem zögere ich.

Dann sagt er:

„Ich weiß, dass du dich in ihn verliebt hast.“

„Woher willst du das wissen?“

„Weil jeder sich in ihn verliebt.“

Leugnen ist zwecklos.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Er hat mich gebeten zu gehen.“

„Aber … warum?“

„Weil er nicht das Gleiche für mich empfindet.“

„Doch. Natürlich tut er das“, antwortet Josh sehr überzeugt.

„Nein, das hat er sehr deutlich gemacht.“

„Glaub mir, ich kenne Jordan. Und ich weiß, was in ihm vorgeht. Meistens zumindest. Öfter als andere. Und in dieser Sache bin ich mir ganz sicher: Er liebt dich.“

Meine Ohren glühen. Ich beschließe, das nicht zu glauben.

„Das macht doch keinen Sinn, Josh.“

Josh scheint nachzudenken:

„Vielleicht hat er Angst?“

„Wovor? Dass ich ihn verletze? Ich würde nie …“

„Nein, dass er dich verletzt. Ich meine, denk mal drüber nach, was aus den Leuten wird, die mit ihm zusammen sind. Xander hätte er fast in den Selbstmord getrieben und Dylan … er macht sich schlimme Vorwürfe seinetwegen.“

„Josh, was soll ich denn machen? Wenn er mich nicht an sich ran lässt …“

„David, du verstehst das nicht. WIR brauchen dich. Du warst in der schlimmsten Zeit unseres Lebens für uns da. Und wir haben uns auf dich verlassen. Egal was zwischen Jordan und dir ist, du musst zu UNS zurückkommen. Du hast gesagt, wir sind für dich wie deine eigenen Kinder. Dann darfst du uns nicht wegen eines gescheiterten Techtelmechtels verlassen. Bitte, Gwen wurde schon zu oft verlassen. Und ich auch. Wir KÖNNEN dich nicht auch noch verlieren. Das halten wir nicht aus.“

„Josh … das ist nicht so einfach. Ich kann nicht in seiner Nähe sein. Nicht so.“

„Dann hol uns zu dir. Mir ist es egal, wo ich studiere. Ich lerne Deutsch und …“

Ich erkenne, dass da ein verzweifeltes Kind steht, das panische Angst davor hat, wieder allein gelassen zu werden. In diesem Moment würde er alles tun, um mich zu halten.

„Wir finden einen Weg, okay?“, verspreche ich.

Ich kann diese Kinder nicht verlassen. Ich liebe sie. Auch wenn sie juristisch und biologisch gesehen in keiner Weise zu mir gehören. Das letzte Jahr hat uns zusammengeschweißt. Ich bin für sie verantwortlich. Und ich WILL für sie verantwortlich sein. Schließlich sind sie über den ganzen Ozean geflogen um mich zurückzuholen. Sowas hat noch nie jemand für mich getan.

Meine Verwandten nehmen die Kids gut auf und versorgen sie im Übermaß mit Essen und Trinken. Danach machen wir uns auf den Weg zurück nach Kleinding. Gwen schläft im Auto sofort ein. Durch den Flug hat sie eine ganze Nacht verloren. Josh dagegen scheint hellwach zu sein. Er unterhält sich erst mit meinem Dad über’s Fotografieren. Danach erzählt er mir, dass er Dylan getroffen hat.

„Er hat die ganze Zeit geweint. Jordan hat die Zwillinge nach ein paar Minuten rausgebracht, zu Kate. Danach ging es und wir konnten etwas mit ihm reden. Er hat sich ständig dafür entschuldigt, dass er uns das antut.“

„Was antut?“

„So aufwachsen zu müssen wie er selbst. Mit einem irren Vater.“

„Aber er kann doch nichts dafür. Er ist eben krank.“

„Ich weiß. Aber er macht sich schlimme Vorwürfe, dass er überhaupt Kinder in die Welt gesetzt hat, die jetzt auch seine Anlagen geerbt haben könnten.“

„Also sind die Zwillinge Dylans Kinder?“, frage ich.

„Klar, ich dachte, das wüsstest du?“

„Jordan hat ein Geheimnis draus gemacht. Vielleicht will er nicht, dass jemand erfährt, dass sie das Erbe in sich tragen könnten?“, mutmaße ich.

Josh zuckt die Schultern:

„Das heißt noch lange nicht, dass sie auch irre werden.“

„Schizophren“, verbessere ich ihn.

„Nenn es, wie du willst. Jedenfalls hat er fast wieder wie er selbst gewirkt. Traurig und besorgt und voller Gewissensbisse. Aber doch irgendwie der Dylan, den wir kannten. Die Ärzte meinen, sie wollen noch sehen, ob er stabil bleibt, dann könnte er auf eine offene Station verlegt werden. Vielleicht wird er irgendwann wieder ganz der Alte. Versteh mich nicht falsch, ich mach mir keine großen Hoffnungen. Er ist noch weit davon entfernt. Er wollte uns nicht gehen lassen, ehe wir ihm tausend Mal versichert haben, dass es uns gut geht. Jordan hat sich sogar ein Lächeln abgerungen, das ziemlich überzeugend war.“

„So eines hab ich lange nicht mehr gesehen“, antworte ich wehmütig.

„Kommst du mit uns zurück?“, will Josh plötzlich wissen.

„Ich weiß es nicht“, ist alles, was ich ihm antworten kann.

Für den Moment gibt er sich damit zufrieden, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Mein Vater neben mir wirft mir einen seltsamen Blick zu, als wolle er sagen „Wo bist du da nur reingeraten?“. Ich beschließe, ebenfalls noch ein Nickerchen zu machen. Das ist allemal besser, als unangenehme Fragen beantworten zu müssen.

Es ist seltsam, die Kinder in meinem Elternhaus zu sehen. Da treffen zwei Welten aufeinander. Trotzdem bin ich froh, sie um mich zu haben. Aber für wie lange können sie bleiben? Gwen muss bald wieder zur Schule und Josh ans College. Aber einen Tag gebe ich uns noch. Wir nutzen das milde Wetter und fahren mit meinen Eltern in den Zoo. Die beiden geben ein Vermögen für Süßkram und Souvenirs aus und überschütten Gwen damit. Ich merke, dass die zwei durchaus bereit dazu wären, Großeltern zu werden. Irgendwie sind sie das auch schon, finde ich. Gwen ist mein Mädchen. Ich werde sie nie verlassen. Ich muss wieder mit in die Staaten. Vielleicht in eine eigene Wohnung. Auf keinen Fall können Jordan und ich uns weiter ein Schlafzimmer teilen. Aber ich werde mit ihnen zurückfliegen.

„Josh?“

Er schießt gerade Fotos von den Elefanten, dreht sich aber sofort zu mir.

„Hm?“

„Ich hätte nie weggehen dürfen. Ich hoffe, ihr verzeiht mir?“

Er strahlt sofort über’s ganze Gesicht:

„Du kommst wieder mit nach Hause?“

„So schnell es geht. Ihr seid doch meine Familie. Was soll ich denn ohne euch?“

Die Kinder fallen mir um den Hals und ich muss weinen vor Glück. Gwen steckt mir eine Zuckerwattewolke in den Mund und kringelt sich vor Lachen. Josh grinst über beide Ohren. Mann, bin ich glücklich.

„Stellt euch vor die Elefanten. Ich muss euch fotografieren“, ordnet mein Vater an.

Auch er und meine Mum lächeln breit und scheinen sich über meine Entscheidung freuen zu können.

Mein Vater nimmt mich zur Seite, als die anderen gerade die Kängurus bestaunen.

„Sohn?“

„Ja?“

„Schön, dich wieder fröhlich zu sehen. Bist du sicher, dass du das Richtige tust?“

„Kein Stück“, antworte ich wahrheitsgemäß.

Er klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

Die Stimmung ist spürbar gelöst und besonders freut es mich, dass Mum und Gwen sich so gut verstehen, selbst wenn sie teilweise Sprachprobleme haben. Josh schießt ein Foto von den beiden, wie sie gemeinsam das Klettergerüst bezwingen. Und zwar eines, auf das ICH mich nicht wagen würde. So glücklich habe ich mein Mädchen schon lange nicht mehr erlebt. Mein Handy klingelt. Jordans Nummer wird angezeigt. Schlagartig bin ich super-nervös. Was, wenn er mich zusammenstaucht, weil ich seine Kinder nicht postwendend zurück nach Hause geschickt habe? Ich beschließe, mir die gute Stimmung nicht versauen zu lassen und grüße fröhlich:

„Hey Jordan, na, alles klar?“

Aber es ist nicht Jordans Stimme, die sagt:

„Hallo David. Sind die Kinder gerade bei dir?“

„Ja, aber wer …“

„Scott.“

Jordans Anwalt? Was zum …?

„Ah, hallo Scott. Was gibt’s?“

„Kannst du irgendwo hingehen, wo die Kinder dich nicht sehen und hören?“

„Ja, aber was ist eigentlich los? Ich … warte, ich bin jetzt um die Ecke.“

„David, hör gut zu. Es ist etwas sehr Schlimmes passiert. Aber du musst dich jetzt zusammenreißen, hörst du?“

Ich weiß, dass es etwas Furchtbares sein muss, aber ich kann nicht denken, nicht antworten.

„David?“

„Ich bin dran.“

„Es gab ein schlimmes Unglück. Dylan ist tot.“

Ich sehe mich selbst von oben. Die drei Worte hallen in meinem Kopf wieder. Dylan ist tot.

„Wie?“, kann ich gerade so fragen.

„Die Polizei ermittelt. Aber es sieht alles nach Selbstmord aus.

Die Puzzelstücke fügen sich in meinem Kopf zusammen. Er wollte seine Kinder noch mal sehen. Sich entschuldigen. Und sicher gehen, dass es ihnen gut geht. Dann hat er sich umgebracht.

„Jordan?“, frage ich krächzend.

„Wir kommen gerade aus der Leichenhalle. Er hat sich verabschiedet. Jetzt ist er oben in seinem Zimmer.“

„Die Kinder?“

„Collin und ich passen auf sie auf. Nikki ist auf dem Weg hier her.“

„Nikki, wirklich?“

„Sie muss kommen und Cooper abholen.“

„Nein, trennt die drei nicht. Wenn Gwen nicht da ist, sucht er immer die Nähe der Zwillinge.“

„Wir haben nicht wirklich eine Wahl. Hier ist niemand, der sich in den nächsten Tagen um ihn kümmern kann.“

„Ich steige ins nächste Flugzeug. Mein Gott, Josh und Gwen … weiß Kate bescheid?“

„Wir haben sie noch nicht angerufen.“

„Nein, jemand muss zu ihr fahren. Sie darf es nicht am Telefon erfahren.“

„David, kannst du es Josh und Gwen sagen?“

„Noch nicht gleich. Wir sind gerade im Zoo. Die Kinder sind so glücklich.“

„Ich schicke dir meine Handynummer. Gib Bescheid wenn es erledigt ist. Ich muss nach den Zwillingen sehen.“

„Ja, danke … für … bye.“

Ich stehe neben einer riesigen Landschildkröte, die mich irgendwie mitleidig anblickt. Was mache ich jetzt? Ich rufe meinen Vater an.

„David? Wo bist du?“

„Bei den Schildkröten. Kannst du herkommen? Allein?“

„Alles in Ordnung?“

„Komm bitte.“

Eine halbe Minute später kommt er auf mich zu, tastet meine Arme ab um zu sehen, ob mir was fehlt.

„Ich muss den Kinder sagen, dass ihr Vater tot ist.“

„Was?! Jordan?!“

Ich schüttle schnell den Kopf.

„Dylan. Er ist tot.“

„Ich dachte, er ist in einer Klinik?“

„Er hat sich umgebracht. Zumindest sieht es so aus.“

„Oh Gott, diese armen Kinder.“

Ich bekomme eine SMS. Die muss von Scott sein.

„Die Polizei hat angerufen. Sie haben einen Abschiedsbrief gefunden“, steht da.

Ich zeige die SMS meinem Vater.

„Ich muss es ihnen sagen, aber ich weiß nicht, wie.“

„David, das ist der schlimmste Tag in ihrem Leben. Es ist ganz egal, wie du es sagst. Sei ehrlich und versuch nicht, stark zu sein. Sei einfach du selbst. Und mach es gleich.“

Ich gehe zu den Kindern. Sehen ihnen noch ein paar Sekunden beim Späße machen zu. Dann rufe ich sie zu mir.

„Setzt euch“, bitte ich und setze mich auf eine Holzbank.

„Josh, Gwen, es gab ein großes Unglück. Ich muss euch leider sagen, dass Dylan gestorben ist.“

„Was?!“, macht Josh und sucht in meinen Augen nach der Spur eines Scherzes.

„Dylan ist tot?“, fragt Gwen nach.

„Ja, er ist tot.“

„Okay“, sagt die Kleine, steht auf und geht zurück zu meiner Mutter.

„Wie?“, will Josh wissen.

„Es wurde ein Abschiedsbrief gefunden …“

„Er hat sich umgebracht?“

„Alles deutet darauf hin, ja.“

„Wie kann man sich in einer psychiatrischen Klink umbringen?“, fragt er zurecht.

„Ich weiß es nicht. Ich hab auch noch nicht mehr Antworten bekommen.“

„Wir müssen sofort zurück. Jordan …“

„Denkst du, er macht was Dummes?“, frage ich plötzlich beunruhigt.

„Keine Ahnung. Ich weiß nicht. Mein Dad ist tot.“

Er bricht in Tränen aus, was ihm sichtlich unangenehm ist. Ich nehme ihn in den Arm.

„Es tut mir so Leid.“

Mehr tröstende Worte finde ich im Moment nicht. Gwen schaukelt wild und jauchzt vor Vergnügen. Ist das eine normale Reaktion für eine Achtjährige? Die Kinder müssen schleunigst zu Jordan. ICH muss schleunigst zu Jordan. Wir brechen auf. Ich hänge mich im Auto gleich ans Telefon, gebe Scott bescheid, dass die Kinder es jetzt wissen und reserviere einen Flug für den nächsten Morgen. Gwen und meine Mum lesen auf der Rückbank ein Buch. Josh starrt aus dem Fenster bis sein Handy klingelt. Kate scheint dran zu sein. Josh flüstert und redet beruhigend auf sie ein.

Zuhause packen wir unsere Koffer. Der Flug wird schon um Viertel nach Sechs morgens starten, am Flughafen zum Einchecken müssen wir also gegen drei sein. Meine Mum bringt Gwen ins Bett. Josh telefoniert noch in meinem Zimmer und ich mache es mir auf der Couch im Wohnzimmer so bequem wie möglich. Mein Vater sagt nur kurz angebunden gute Nacht. So als wäre er enttäuscht von mir. Ich frage nicht nach. Weil ich sowieso nichts dran ändern kann. Ich bin nicht mehr der unschuldige kleine David, der eine Bilderbuchbeziehung mit Max führt. Ich gehöre jetzt zu Jordans Familie, in der Leute ihre Kinder verlassen, Drogen nehmen, in Psychiatrischen Kliniken untergebracht werden, sich umbringen. Das ist die Familie, zu der ich jetzt gehöre. Warum Max mich wohl angerufen hat? Das werde ich wohl nie erfahren.

Meine Mutter kommt ins Wohnzimmer.

„Gwen schläft jetzt. Sie hat nicht noch mal nachgefragt.“

„Glaubst du, das ist normal?“

„Was ist schon normal? Jeder trauert auf seine Weise. Sei einfach da, wenn sie Fragen hat. Mehr kannst du nicht tun.“

„Ich wünschte, … ich wünschte, ich könnte mehr tun.“

„Lass uns zusammen Klavier spielen.“

Meine Mutter zerrt mich auf den alten Klavierhocker und beginnt damit, „Für Elise“ zu spielen. Ich steige ein, versinke in der Musik, bis ich merke, dass meiner Mutter Tränen über die Wange laufen.

„Mama, was …?“

„Ich mach mir solche Sorgen um dich … ich … ich wollte für dich ein ganz anderes Leben. Ein behütetes, hier im Ort. Ich dachte, du könntest auf einem der Grundstücke deiner Großeltern bauen, eine Familie gründen, in die Stadt pendeln, ein normales Leben führen, so wie wir. Statt dessen lebst du bei Menschen, deren Verhalten so selbstzerstörerisch ist. Es ist, wie eine andere Welt. Du bist wie ein anderer Mensch, ich …“

„Ich bin nicht mehr der unschuldige kleine David, das müsst ihr endlich begreifen. Ich führe keine Bilderbuchbeziehung mehr mit Max. Ich liebe jetzt Jordan. Mit all den Problemen, die damit einhergehen. So ist das Leben nun mal.“

Mein Vater steht plötzlich auch neben uns. Und sein Blick ist schon wieder so verdammt enttäuscht und vorwurfsvoll.

„Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst. Und ich versteh das sogar. Wenn mein Sohn mit ihm zusammen sein wollen würde, wäre ich auch ernsthaft besorgt. Aber ich liebe ihn. Ich liebe ihn schon furchtbar lange. Und mir ist auch klar, worauf ich mich da einlasse. Er ist ein Wrack, total kaputt, das weiß ich ja. Aber ich weiß auch, wer er einmal war, wer er wieder sein könnte. Ich sehe, dass er viel Hilfe braucht und dass ich nichts von ihm als Gegenleistung erwarten kann. Aber das ist doch nicht seine Schuld! Er hat so viel Scheiße erlebt. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch da ist. Und dass er sich noch um seine Kinder kümmern kann. Ohne sie hätte er sich mit Sicherheit schon den Goldenen Schuss gesetzt. Aber er hält durch. Er kämpft, das sehe ich. Egal wie oft er behauptet, dass er aufgegeben hat. Er ist noch da. Jordan ist noch da, und das reicht mir. Die Hoffnung, dass er irgendwann wieder der werden kann, dieser fantastische, talentierte, wunderschöne Mensch, den ich damals am Lagerfeuer kennengelernt habe. Das reicht mir, Papa. Er ist der eine für mich. Es ist ganz anders als die fast kindliche Verliebtheit mit Max damals. Ich bin jetzt erwachsen, nichts ist mehr so leicht wie damals. Was ich damals als furchtbar dramatisch empfunden habe, ist heute die kleinste meiner Sorgen. Alles ist kompliziert und traurig und anstrengend. Aber ich habe jetzt eine Familie. So ist das. Akzeptiert es oder lasst es. Aber ich würde mir wünschen, dass ihr mich unterstützt.“

Meine Eltern sehen sich gegenseitig lange an. Dann umarmen sie mich.

Der Flug ist unruhig. Gwen lässt meine Hand kaum los. Und ich ihre auch nicht. Denn ich habe Angst. Angst davor, Jordan gegenüberzutreten. Angst, ihn in tiefer Trauer zu sehen. Angst, dass ihn Dylans Tod vielleicht gebrochen hat. Aber meine größte Angst ist, dass er mich nicht sehen will. Dass er mich wieder wegschickt.

Als wir in die Wohnung kommen, dämmert es gerade. Scott sitzt in der Küche und macht den Kleinen was zu essen. Cooper freut sich lautstark mich zu sehen. Die Zwillinge sehen mich an, als wäre ich ein Geist. Dann begreifen sie, dass ich wieder da bin und freuen sich auch. Nur Scott lächelt nicht. Er umarmt mich wortlos. Dann deutet er die Treppe hinauf.

„Er ist den ganzen Tag nicht aus dem Schlafzimmer gekommen. Er will niemanden sehen. Ich hab ihm gesagt, dass du kommst.“

Ich bedeute Gwen und Josh, zu warten und gehe nach oben. Die Schlafzimmertür ist nicht abgesperrt. Ich sehe in der Dämmerung, dass Jordan im Bett liegt. Ich lege mich neben ihn. Sofort dreht er sich zu mir. Ich bin froh, dass ich sein Gesicht nicht richtig erkennen kann. Ich lege meine Hand auf seine Wange, rechne damit, gleich weggestoßen zu werden. Aber er stößt mich nicht weg. Er zieht mich enger zu sich, vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Ich spüre seine Hände über meinen Rücken wandern und weiß, dass ihm nicht nach kuscheln ist. Mir auch nicht. Ich habe ihn so vermisst! Und ich habe, seid Josh und Kate wieder eingezogen sind, so lange mit ihm dieses Schlafzimmer geteilt. Habe so lange neben ihm in diesem Bett gelegen, ohne ihn zu berühren. Ich schiebe meine Hand unter sein Shirt, zum ersten Mal im Leben. Und ich hoffe in diesem Moment so sehr, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Dass ich für den Rest meines Lebens dieses Recht haben werde. Er zittert unter meiner Berührung, drängt sich dicht an mich, streichelt meinen Bauch, meine Brust, meine Schultern. Dann küssen wir uns. Dass ich seit über 24 Stunden nicht Zähne geputzt habe, ist völlig egal. Wir sind eine Familie, er kennt mich an guten und an schlechten Tagen. Jordan kennt mich und ich kenne ihn. Die Art, wie er küsst, kommt mir sofort vertraut vor. Es fühlt sich an, wie heim kommen.

Aber dann verändert sich etwas in Jordan. Er schaltet um, schaltet seine Emotionen aus, zieht mich aus, zieht sich aus. Mir rinnen Tränen aus den Augen, aber diesmal sind es keine Tränen des Glücks, wie bei Max damals. Es sind Tränen der Verzweiflung. Jordan ist so starr und mechanisch, so als sei er zu keiner einzigen Emotion mehr fähig. Obwohl ich ihn nicht sehen kann, spüre ich diese Eisigkeit. Als er schließlich kommt, stöhnt er laut auf, explodiert.

Und genau so fühle ich mich danach. Wie eine Post-Explosions-Kraterlandschaft der Emotionen. Ich spüre viele verstümmelte Dinge und kann kaum erkennen, was sie sind. Lust, Freude, Angst, … Liebe.

Jordan rollt sich von mir runter und hinterlässt ein feucht-kühles Gefühl auf mir. Seine Berührung fehlt mir sofort. Ich will meine Hand nach ihm ausstrecken, traue mich aber nicht.

Er macht die Nachttischlampe an. Für einen Moment sieht er mich an. Dann steht er auf, geht rüber zum Schrank, holt ein kleines Lederetui aus dem obersten Fach und gibt es mir.

"Was ist das?", frage ich, während ich den Reißverschluss öffne. Doch er muss nicht antworten. Der Inhalt spricht für sich selbst:

Eine Kerze, Streichhölzer, Zigarrettenfilter, ein Löffel, mehrere Spritzen und ein Tütchen mit bräunlichem Pulver.

"Hast du was davon genommen?", frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme vor Panik bebt.

"Noch nicht."

"Wirst du was nehmen?"

Unsere Blicke treffen sich kurz. Dann antwortet er:

"Ich weiß es nicht."

Da spüre ich es plötzlich. Ich fühle, was Jordan fühlt.

Seine Traurigkeit, die sich wie zerlassenes Blei über seine Eingeweide ergießt und ihm die Luft zum atmen nimmt.

Das Beben in seinem Kopf, das ihn davon abhält, einen klaren Gedanken zu fassen.

Seine Seele, taub und so gefühllos wie ein Klumpen Matsch.

Ich weiß, wenn er das Heroin nimmt, gibt es keine Rettung mehr für ihn. Dieses Mal nicht. Dieses Mal wird die Welt ihn für immer verlieren, werde ICH ihn für immer verlieren.

Ich spüre, wie nah ihm der Tod steht. Wie sehr er sich danach sehnt, dass dieses Leben aufhört.

"Willst du, dass ich dich rette?", frag ich ihn, weil ich nicht verstehe, warum er mir das zeigt.

Überrascht sieht er mich an, und diese kleine Gefühlsregung gibt mir Hoffnung. Er antwortet nicht, aber ich weiß jetzt, was ich tun muss.

"Versprich mir, dass du noch wartest, ja? Gib mir etwas Zeit."

Er nickt und ich ziehe mich an und verlasse den Raum.

Vermutlich denkt er, dass ich seine Familie und seine Freunde zusammentrommle. Dass ich eine Intervention oder so etwas plane. Aber ich weiß, dafür ist es zu spät.

Ich betrete die Küche, in der Scott, Kate, Josh und die Kinder gerade Sandwiches machen.

"Und, hat er mit dir gesprochen?"

"Wie geht es ihm?"

"Kommt Daddy zum Essen runter?"

Ich ignoriere alle berechtigten Fragen und gehe zum Telefon, wähle den Notruf.

"Guten Tag, ich möchte eine Straftat melden. Drogenbesitz. Und Selbstmordabsicht. Wir brauchen die Polizei und einen Arzt. Bitte kommen sie leise."

Ich gebe die Adresse durch und lege auf, habe Angst davor, mich zu den anderen umzudrehen.

"David, was hast du getan?", fragt mich Kate.

Und auch Scotts Blick ist mehr als vorwurfsvoll:

"Er ist in Trauer! Er weiß nicht, was er tut."

Einzig Josh fragt nach:

"Hat er wirklich Drogen da oben?"

"Heroin."

"Dann hast du das Richtige getan. Kate, kannst du mit den Kindern zu Janet gehen?"

"Aber dein Vater ..."

"Mein Vater ist ein Junkie. Bring die Kleinen weg. Sie sollen das nicht sehen. Sie sollen nicht das durchmachen, was ich durchgemacht habe."

Kate packt wortlos ein paar Dinge in die Wickeltasche und führt die drei Kleinen zur Tür. Nur Gwen hat sich noch keinen Millimeter bewegt.

"David?"

"Ja, meine Süße?"

"Gehst du jetzt wieder weg?"

Der Stich, den mir ihr trauriger Blick versetzt, schmerzt mehr als Jordans Anblick. Ich gehe zu meinem Mädchen und umarme sie fest:

"Gwen, ich verspreche dir, dass ich dich nie wieder verlassen werde. Egal, was mit deinem Vater geschieht, ich bleibe bei euch. Ich liebe euch Kinder. Ihr seid meine Familie. Egal was passiert.“

Es gibt Momente, die man sein ganzes Leben lang nicht vergisst.

Der Tag, an dem mein Vater mir gezeigt hat, wie man Feuer macht.

Das erste Mal mit meiner Mutter am Klavier sitzen.

Der erste Kuss mit Max.

Jetzt. Gwen, mit Tränen in den Augen, aber einem seligen Lächeln auf den Lippen.

"Ich hab dich lieb, David."

"Ich hab dich auch soooo sooo lieb, mein Mädchen."

Ich umarme das Kind und empfinde dabei so viel Liebe wie noch nie in meinem Leben für irgendwen sonst. Ich würde dafür sterben, diese Familie zu beschützen.

Kaum ist Kate mit Gwen, Cooper, April und Jake weg, bricht Josh völlig zusammen. Er sitzt auf dem Küchenboden und weint wie ein kleines Kind. Scott steht hilflos daneben.

Und auch ich brauche einen Moment, um das einzuordnen. Josh ist immer unser Fels in der Brandung. Aber er ist auch das Kind von zwei Drogensüchtigen. Er weiß besser als wir alle, was auf uns zukommen könnte.

"Ich überlebe das nicht noch mal", schluchzt er. "Ich dachte wirklich, das wäre für immer vorbei. Ich kann ihn nicht verlieren. Nicht ihn auch noch. Ich hab solche Angst."

Es gibt nichts, was ich ihm tröstendes sagen könnte. Dylan ist tot. Nikki hat Krebs. Jordan steht kurz davor, sich umzubringen.

"Die Polizei wird gleich hier sein. Du solltest zu Kate und den Kindern gehen", schlage ich vor.

"Nein, ich muss das sehen. Ich muss Einfluss auf das Geschehen nehmen können. Ich will ihm nicht wieder so ausgeliefert sein, wie früher."

"Du kannst dich noch erinnern?"

"Ich weiß, eigentlich war ich noch viel zu jung dafür, aber ich träume oft von der Zeit."

"Josh, ich verspreche dir, ich werde einen guten Therapeuten für dich finden, mit dem du diese ganze Scheiße aufarbeiten kannst. Wir alle. Irgendwann, wenn das hier überstanden ist. Dann werden wir ein normales Leben zusammen führen. Ob mit oder ohne deinen Vater."

Josh sieht mich überrascht an: "Du würdest dich für uns entscheiden, falls wir nicht mehr bei Jordan leben können?"

"Ich liebe deinen Vater. Aber euch liebe ich mehr."

"Ich muss jetzt gehen", meldet Scott sich plötzlich zu Wort.

"Aber ... warum?", will Josh wissen.

"Ich kann ihm das nicht antun. Ich kann nicht dabei zusehen ..."

"Aber das ist das einzig Richtige! Wenn wir versuchen, ihm selbst zu helfen, reißt er uns nur mit ins Verderben. Siehst du das denn nicht?", fragt Josh wütend.

Ich lege ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter:

"Lass gut sein, Josh. Wir beide schaffen das. Scott, geh ruhig. Ich ruf dich später an."

Dankbar und zügig verabschiedet er sich.

"Das ist doch echt nicht zu glauben", schimpft Josh als Scott weg ist.

Ich verstehe nicht ganz, warum er sich so aufregt.

"Lass ihn doch, er muss es nicht verstehen ..."

"Nein, David. ICH verstehe es nicht. Wie kann es sein, dass er immer noch in Jordan verliebt ist, nach all den Jahren. Und nachdem er mit Patrick zusammen war und jetzt mit Collin. Wie kann ein so rationaler, kluger Mann immer noch an einem gebrochenen, drogensüchtigen Ex-Rockstar hängen?"

Es fällt mir wie Schuppen von den Augen:

"Du hast recht, Josh. Er ist immer noch verliebt! DESHALB kann er nicht bleiben."

"Ja natürlich ist er noch verliebt. Sag bloß, das fällt dir JETZT erst auf? Was findet ihr nur alle an dem Kerl?"

Ich muss ein bisschen lächeln, auch wenn das gerade total unpassend ist:

"Weißt du, Josh. Wenn dein Vater gut drauf ist, dann gibt er einem das Gefühl, der tollste Mensch auf dem Planeten zu sein. Der Blick, mit dem er einen dann ansieht, der macht süchtig."

Josh wird wieder ernst:

"Ich hoffe, wir verlieren ihn nicht."

"Das hoffe ich auch ... Lass uns zu ihm gehen."

Jordan liegt wieder angezogen auf dem Bett, das geöffnete Etui neben ihm. Für einen Moment denke ich, es ist zu spät. Aber alles scheint noch an seinem Platz zu sein. Er öffnet kaum die Augen, als wir uns zu ihm setzen.

"Dad?"

"Josh ..."

Kurz versucht Jordan, das Etui zu verstecken. Er merkt aber, dass es dafür schon zu spät ist.

"Es tut mir Leid."

"Dad, bitte tu mir das nicht an."

"Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, das durchzustehen."

"Ich weiß, ich vermisse Dylan auch wie wahnsinnig. Aber er ist tot. Und du bist noch am Leben."

"Ich wünschte, es wäre anders herum", flüstert Jordan.

Mein Herz bricht. Zu hören, dass er lieber diese Welt verlassen würde ... mich verlassen würde, als den Tod der Liebe seines Lebens verkraften zu müssen.

Denn das war Dylan. Und ich werde es niemals sein. Ich werde nie der sein, den Jordan am meisten will. Ich werde nur immer der sein, der gerade da ist. Aber damit habe ich meinen Frieden gemacht. Auch wenn es noch weh tut.

Es klingelt. Mit einem Blick gebe ich Josh zu verstehen, dass er aufmachen soll. Ich lege mich neben Jordan und sehe ihm tief in die Augen.

"Bist du noch da drinnen?"

Er nickt ein wenig, zuckt aber gleichzeitig die Schultern.

"Jordan, ich liebe dich wie wahnsinnig. Ich werde dich nicht so schnell aufgeben. Aber eines musst du wissen: Das Wichtigsten sind für mich die Kinder. Ich werde sie beschützen, mit allem was ich habe. Auch vor dir."

Ich erwarte, Wut in seinen Augen zu sehen, aber ich sehe Dankbarkeit.

"Ich weiß, David. Und ich bin froh, dass sie dich haben. ... Du hast die Polizei gerufen, oder?"

Ich nicke.

"Ich wünschte, du hättest das nicht getan ..."

"Jordan .. es gibt da noch eine Sache ... ich muss noch etwas von dir hören, um durchzustehen, was kommt ..."

Er sieht mich an, lässt mich einige Sekunden zappeln ehe er spricht:

"Ich liebe dich auch, David. Aber ich hasse dich dafür, dass du mir das antust."

Ich kann es nicht verhindern. Ich lächle über beide Ohren. Er liebt mich auch!!! Jetzt kann ich alles durchstehen.

Zwei Polizisten betreten das Schlafzimmer mit den Händen an ihren Waffen. Jordan und ich sitzen auf dem Bett und wagen es nicht, uns zu bewegen.

"Befinden sich Waffen im Raum?"

Wir schütteln beide den Kopf. Einer der Polizisten deutet mir an, aufzustehen.

"Ich habe sie angerufen", erkläre ich und lasse mich abtasten.

"Wo sind die Drogen?", will der andere wissen.

Jordan deutet auf das Mäppchen.

"Sind noch andere Drogen im Haus?"

Jordan schüttelt den Kopf.

"Wollen sie sich etwas antun?", fragt der erste Polizist nüchtern.

"Mein Ehemann ist gerade gestorben ...", flüstert Jordan.

"Verstehe. Ein Arzt wartet unten auf sie. Er möchte mit ihnen sprechen. Wären sie dazu bereit?"

"Hab ich eine Wahl?", fragt Jordan unpassend salopp und steht viel zu schnell auf.

Die Polizisten werden nervös. Sie tasten ihn ab.

"Haben sie illegale Substanzen konsumiert?"

"Nein. Und jetzt würde ich den Scheiß gern hinter mich bringen. Kann ich jetzt runter gehen, ohne dass ihr mich vor den Augen meiner Familie erschießt?"

Die Polizisten werfen sich einen kurzen Blick zu, dann legen sie Jordan Handschellen an und verlesen seine Rechte.

"Ist das wirklich nötig?", frage ich kleinlaut, kenne die Antwort aber schon.

Kurz darauf wird Jordan in Handschellen ins Wohnzimmer geführt, wo Josh und der Psychiater warten.

"Dr. Bishop?!"

Jordan kennt den Arzt offensichtlich. Und der Arzt kennt ihn. Erschrocken hält er sich die Hand vor den Mund, fasst sich aber schnell wieder und öffnet seine Arme für eine Umarmung.

Jordan stürzt sich in diese Umarmung wie ein kleines Kind, während wir - Josh, ich und die beiden Polizisten - verdutzt dreinschauen.

"Bist du high?", fragt der Arzt.

"Nein."

"Dann machen Sie die Handschellen ab."

"Sir ..."

"Ich übernehme die Verantwortung", erklärt der Arzt bestimmt.

Einer der Polizisten tritt vor und sperrt die Schellen auf.

"Danke", murmelt Jordan und umarmt den Arzt noch einmal.

Der lässt es sich gefallen, wird dann aber ernst:

"Was ist los?"

Er fragt nicht Jordan, sondern mich. Ich trete erst mal zu ihm und stelle mich vor:

"Ich bin David Lenz. Ich habe sie angerufen. Und sie sind ...?"

"Mein Name ist Dr. Bishop. Ich bin psychiatrischer Psychotherapeut und arbeite in der Krisenbetreuung."

"Er war mein Therapeut in Arizona", erklärt Jordan und ich freue mich, ihn lächeln zu sehen.

"Als du noch zur Schule gingst?", fragt Josh überrascht.

"Ja, und Dr. Bishop, Sie werden nicht glauben, wer das hier ist. Das ist mein Sohn ..."

"Josh?!", fragt der Arzt überrascht. "Das gibt's doch gar nicht! Du warst doch eben noch ein Kleinkind!"

„Inzwischen geht er auf's College“, erklärt Jordan stolz.

Wir sind alle sichtlich verwirrt von der Wendung, die die Ereignisse genommen haben.

"Also Jordan. Was ist passiert?"

Jordan sieht unsicher zu Josh und zögert mit der Antwort.

"Wollen wir unter vier Augen sprechen?", schlägt der Arzt vor.

Doch die Polizisten machen gleich klar, dass sie den Arzt nicht mit einem potentiell gewaltbereiten Verdächtigen alleine lassen werden.

"Komm, Josh, wir sehen nach die Kindern …", schlage ich vor.

Josh nickt, aber Jordan hält mich am Arm zurück:

"Bitte bleib."

Ich lege meine Hand kurz auf seine und nicke. Josh verlässt das Haus.

"Mein Ehemann hat sich umgebracht", erzählt Jordan dem Arzt.

"Wann?"

"Gestern."

"Hier?"

"Nein, in einer Klinik. Er ist ... war schizophren. Aber wir dachten, er sei auf dem Weg, stabil zu werden."

"Es tut mir sehr Leid."

"Ich begreife nicht, wie er das tun konnte!"

"Er war krank."

"Ja, aber er hat sich nicht umgebracht, weil ihm das Stimmen befohlen haben. Er hat sich umgebracht, weil er uns nicht zumuten wollte, mit seiner Krankheit leben zu müssen. Es steht alles in seinem Abschiedsbrief. Als er den geschrieben hat, war er bei klarem Verstand."

"Jordan, wer bei klarem Verstand ist, bringt sich nicht um."

Jordan sackt etwas in sich zusammen. Dann scheint ihn eine Erkenntnis zu treffen:

"Also hat er uns nicht absichtlich verlassen?"

"Nein, Jordan. Er hat das getan, weil er krank war."

"Es ist nicht meine Schuld, weil ich nicht stark genug war, mit seiner Krankheit zu leben?"

"Du gibst dir die Schuld?!", entfährt es mir.

Jordan setzt sich auf die Couch und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Ich setze mich neben ihn. Ganz nah.

"Jordan? Es ist nicht deine Schuld. Es ist auch nicht Dylans Schuld. Niemand hat Schuld. Es ist, wie es ist. Und einen Schuldigen zu suchen, würde uns nicht weiterbringen. Aber ich kann dir sagen, dass du im letzten Jahr alles andere als schwach warst. Du hast so viel gestemmt! Deinen Job, die Doktorarbeit und vier kleine Kinder! Du musstest so viel einstecken, nicht zuletzt von mir. Und dennoch hattest du abends, wenn die Kleinen im Bett waren, immer noch ein Lächeln auf den Lippen und hast deine Musik gemacht. Ich hab mich gefragt, wie du das anstellst. Dylan kannte dich. Er muss gewusst haben, dass du mit dem allen fertig wirst. Er hat das auf keinen Fall getan, um dich zu schützen, Jordan."

"Aber warum dann?!"

"Weil er krank war. Weil in seinem Hirn etwas Sinn gemacht hat, das keinen Sinn ergibt."

"Dein Freund hat recht, Jordan. Ich kannte deinen Mann nicht, aber wenn er dich so sehr geliebt hat, dass er bereit war, sein Leben zu beenden um dich zu schützen, dann ist das kein Liebesbeweis, sondern ein Beweis seiner Krankheit. Menschen die man so sehr liebt, würde man niemals freiwillig verlassen."

Jordan sackt noch ein Stück weiter in sich zusammen.

"Ich hätte das Heroin fast genommen."

"Was hat dich abgehalten?", will der Arzt wissen.

"Ich wusste, dass ich das nicht überlebe. "

"Und du wolltest nicht sterben?"

"Natürlich nicht! Aber ich wollte diesen Schmerz betäuben. Ich wollte mich wieder gut fühlen."

"Wir können uns nicht aussuchen, welche Gefühle wir fühlen, Jordan. Aber wir können uns aussuchen, wie wir unser Leben leben wollen. Und ich sehe, dass du viele Dinge hast, für die es sich zu leben lohnt."

"Ich weiß. Und ich bin so glücklich darüber, dass ich meine Familie habe. Aber ich habe so Angst davor, ihnen weh zu tun, sie zu enttäuschen."

"Das war schon immer eine deiner größten Sorgen", erinnert sich der Arzt.

"Darf ich überhaupt glücklich sein? Mein Mann ist tot. Aber wir waren schon lange nicht mehr zusammen. Seine Krankheit hat uns getrennt. Mein Herz hat sogar schon angefangen, sich zu entlieben."

Jordan kämpft mit den Tränen. Ich nehme ihn in den Arm.

"Das ist Zucker."

Entgeistert sehen alle zu dem Polizisten rüber.

"Was?!", ruft Jordan aus.

Der zweite Polizist schnuppert ebenfalls am Tütchen und nickt.

"Soll das ein Scherz sein?! Wisst ihr, was ich dafür bezahlt habe?!", schimpft Jordan. "Lasst mal sehen. Vielleicht ist es nur gestreckt."

Er steckt seine Nase in die Tüte:

"Scheiße."

"Hast du das nicht geprüft bevor du's gekauft hast", frage ich.

"Spinnst du, dann hätte ich es vermutlich sofort genommen. Verdammt, das gibt's doch nicht. Die Frau hat Nerven."

"Wo haben sie den ...Zucker gekauft?", fragt einer der Polizisten und kann sich nur mit Mühe einen Lacher verkneifen.

"Ich schreib es Ihnen auf. Und eine Skizze von der Frau male ich Ihnen auch noch dazu. Ich hoffe, ihr erwischt sie", knurrt Jordan.

"Und verhaftet sie wegen Zuckerhandels?", grinse ich.

Nur Dr. Bishop ist bei all dem ernst geblieben.

"Egal, was in dem Tütchen ist. Du dachtest, es sei Heroin. Du bist sehr instabil. Es besteht immer noch die Gefahr eines Rückfalls."

"Das mag schon sein, Doc", erklärt ein Polizist. "Aber da keine Straftat vorliegt, nehmen wir jetzt noch die Daten für den Bericht auf und verabschieden uns dann. Das Zuckertütchen muss aber dennoch als Beweismittel gesichert werden. Und ihre Beschreibung der Dealerin brauchen wir noch."

15 Minuten später verabschieden sich die Polizisten höflich und verlassen das Haus. Dr. Bishop bleibt.

"Jordan, ich würde dich gerne in eine Klink einweisen."

Jordan verzieht das Gesicht. Aber Dr. Bishop fährt unbeirrt fort:

"Ich weiß, dass du Kliniken verabscheust. Aber mit Suchtgruppentreffen und zwei Mal die Woche Einzelgespräch ist es nicht getan. Du brauchst eine Trauerbegleitung. Und offen gestanden denke ich, dass wir ein gutes Antidepressivum für dich brauchen."

"Ich weiß, dass das alles stimmt. Aber ich habe vier kleine Kinder und eine Beerdigung vorzubereiten. Ich nehme Medikamente. Das seh ich ein. Aber ich kann mich nicht stationär einweisen lassen.“

Ich lege ihm die Hand auf die Schulter:

„Jordan, ich bin für die Kinder da. Und um die Beerdigung kann sich auch wer anders kümmern ...“

„Nein, das schulde ich Dylan. David, ich weiß, dass du das nicht gerne hörst, aber Dylan war nicht nur mein Mann. Er war die Liebe meines Lebens. Und wenn der Überfall damals nicht passiert wäre, dann wären wir jetzt immer noch glücklich verheiratet. Ich MUSS unsere Ehe mit einer Zeremonie beenden. So wie sie auch mit einer Zeremonie angefangen hat. Das brauche ich. Um abzuschließen.“

„Und um dann weitermachen zu können?“, wage ich zu fragen.

Er wirft mir einen Blick zu, der mir Gänsehaut bereitet. Denn ich sehe darin zum ersten Mal, dass er wirklich etwas für mich empfindet.

„Es wird eine Weile dauern. Ich kann wirklich nichts versprechen. Aber da sind auf einmal wieder Gefühle, von denen ich nicht dachte, dass ich sie jemals wieder empfinden könnte. Und die ich eigentlich auch nie wieder empfinden wollte.“

Ich umarme ihn und flüstere ihm zu:

„Glaub mir, ich hab auch nicht damit gerechnet. Und ich hab es mir auch nicht ausgesucht. Aber ich gehöre dir.“

Er hält mich so fest, wie mich noch niemals jemand gehalten hat. Lange. Bis sich Dr. Bishop räuspert:

„Wir müssen noch eine Entscheidung treffen. Wie soll es nun weitergehen?“

Jordan sieht mich fragend an. Ich muss kurz nachdenken, dann sage ich:

„Ich weiß, dass es dir am besten geht, wenn du bei deiner Familie bist. Deshalb unterstütze ich deine Entscheidung, zuhause zu bleiben. ABER du musst mir versprechen, dass du keine Drogen nimmst. Und dass du mir sagst, wenn du das Gefühl hast, es nicht mehr auszuhalten. Egal was ist, ich verlange absolute Ehrlichkeit. Und wenn ich auch nur die Vermutung habe, dass du etwas verschweigst, dann werde ich nicht zögern und wieder den Notruf wählen!“

„Okay, ich verspreche absolute Ehrlichkeit. Und ich verspreche, mir Zeit für Gruppentherapie zu nehmen. Und ich nehme Medikamente. Aber ich bleibe zuhause.“

„Dienstag und Donnerstag Vormittag kommst du in meine Praxis“, fordert Dr. Bishop.

„Ja“, nickt Jordan. „Und jetzt muss ich anfangen, die Scherben aufzusammeln. Meine Tochter braucht Therapie. Können Sie wen empfehlen?“

„Für Josh auch“, füge ich hinzu.

Jordan schaut mich verwundert an. Dann nickt er.

„Ich glaube wir brauchen alle Hilfe, um das durchzustehen.“

Jordan ist die nächsten Tage zwar auf den Beinen, aber nicht wirklich da. Er ist die meiste Zeit in Gedanken versunken oder schreibt. Zur Beerdigung kommen über 100 Menschen. Vor allem Kids aus dem Zentrum, die Kollegen von dort, aber auch Dylans Schwester und einige Lokalpolitiker. Jordan trägt eine große, dunkle Sonnenbrille und lässt seine Haare wie ein Vorhang vor sein Gesicht hängen. Carol und die Mädchen kümmern sich um die drei Kleinen. Ich bin für Gwen und Josh da. Vince hält Jordans Hand. Ich bin froh, dass er jemanden hat, der seinen Verlust versteht. Vince hat vor Jahren die Liebe seines Lebens an AIDS verloren. Auch Scott ist da. Er hat ebenfalls jemanden an AIDS verloren. Und dann bei Collin sein Glück gefunden, nach dem sie jahrelang beste Freunde waren. Ich hoffe, dass Jordan bei mir sein Glück finden wird und ich weiß, dass er meins ist. Am Ende der Zeremonie treten Brian und Tobey neben Jordan. Sie geben ihm seine Gitarre und ein Mikro. Jordan nimmt seine Brille ab, streicht seine Haare nach hinten und beginnt zu spielen. Als sein Stimme ertönt, weiß ich, dass er noch da ist. Und dass er das durchstehen wird. Er strahlt so eine unglaubliche Kraft aus. Spätestens jetzt würde ich mich in ihn verlieben, wenn ich mein Herz nicht schon an ihn verloren hätte.

 

„There are places I'll remember

All my life, though some have changed

Some forever, not for better

Some have gone, and some remain

All these places had their moments

With lovers and friends, I still can recall

Some are dead, and some are living

In my life, I've loved them all

But of all these friends and lovers

There is no one compares with you

And these memories lose their meaning

When I think of love as something new“

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