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Geschichte wiederholt sich doch

Weihnachtschallenge 2015

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Inhaltsverzeichnis

 

Weihnachtschallenge 2015

Geschichte wiederholt sich doch

„Schatz, warum stehst du vor dem Fernseher, ich kann gar nichts mehr sehen.“

Das war die mittlerweile etwas genervte Stimme meines Freundes. Dieses Jahr waren wir zehn Jahre zusammen und es stand ein 'Jubiläumsurlaub' an.

Aus dem Fernseher tönte wieder einmal eine dieser gräßlichen „Daily Soaps“:

„Sebastian, mach den blöden Computer aus. Schlimm genug, dass ich wegen dir dieses Weihnachten niemanden sehen kann, aber dass du dann auch noch den ganzen Abend vor dieser Kiste sitzen musst, das schlägt dem Fass den Boden aus …“

Klick – Stille. Ich hatte den blöden Kasten ausgeschaltet. Ich habe noch nie begriffen, wie sich intelligente Menschen so etwas ansehen konnten. Glücklicherweise nahm mir Micha das heute nicht übel, dass er seine Soap nicht fertigsehen konnte. Das war der einzige Punkt, bei dem ich mit Micha nicht auf einen Nenner kam.

„Wir wollten zu deinen Eltern, falls du es vergessen haben solltest. Und da wir nur noch fünfzehn Minuten haben, um dort zu erscheinen, müssen wir los.“

Mein Freund Michael, genannt Micha, 25, und ich, Kevin, mittlerweile 26, hatten heute Abend eine Verabredung bei seinen Eltern. Es stand unser alljährlicher Weihnachtsurlaub an und wir wollten mit ihnen den Ablauf besprechen. Wie jedes Jahr kümmerten sie sich um unsere Pflanzen während unserer Abwesenheit. Ich empfand das jedes Mal als ein Geschenk, dass sie das für uns machten und wir dadurch zwei Wochen ungestört verreisen konnten.

Dieses Jahr hatten wir uns eine Reise in die Vergangenheit vorgenommen. Für mich war das sehr aufregend, denn ich würde das erste Mal an den Ort zurückkehren, wo für mich ein neues Leben begann.

„Ist ja schon gut, Schatz. Ich werde wohl einsehen müssen, dass du niemals mit mir meine Lieblingsserie anschauen wirst.“

„Ja, das wäre schön, wenn du es endlich einsehen würdest.“

Er stand aus dem Sessel auf und gab mir unvermittelt einen Kuss.

Dann nahmen wir unsere Jacken und verließen unsere schöne, geräumige und gemütliche Wohnung. Micha schloss unser Auto auf und ich sprang schnell hinein. Es war doch schon recht kalt geworden und daran konnte ich mich einfach nicht gewöhnen, obwohl ich schon fast vollendete zehn Jahre hier in Deutschland lebte.

Der Wagen sprang wie immer bei kalten Temperaturen schlecht an, aber Micha wollte sich partout nicht von dem alten Schätzchen trennen. Es war mir bis heute verborgen geblieben, warum er so sehr an diesem alten Benz hing. Gut, es war sein erstes Auto und er hatte es von seinem mittlerweile verstorbenen Opa bekommen. Es passte aber so rein gar nicht zu seinem sonstigen modernen Lebensstil. Egal. Irgendwann sprang der alte Wagen dann doch an und wir fuhren durch den ersten Schnee des Jahres zu seinen Eltern.

Dort betraten wir das gut geheizte und besonders gemütliche Wohnzimmer, in dem ein Feuer im offenen Kamin loderte und eine heimelige Atmosphäre verbreitete.

„Hallo ihr zwei. Habt ihr alles gepackt für eure Reise?“, fragte uns sein Vater, der uns gleichzeitig freundlich umarmte.

„Ja, Papa. Alles fertig. Wir können morgen in den Flieger steigen. Ich habe euch hier eine Liste gemacht, worauf ihr bitte in den zwei Wochen achten möchtet.“

Er reichte seinem Vater die Liste und seine Mama hatte schon das Essen vorbereitet. Es gab Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Das war Michas Leibgericht. Er hatte mich davon überzeugt, dass es wirklich sehr lecker war und entsprechend war ich ebenso davon begeistert. Vor allem von den Bratkartoffeln seiner Mutter. Die waren einfach nochmal anders und viel besser als unsere selbstgemachten.

„Mann, war das wieder lecker. Allein das wäre ein Grund, häufiger hier zu sein“, sagte ich, nachdem wir uns den Bauch vollgeschlagen hatten.

„Immer gern“, antwortete Claudia schmunzelnd.

Ich hatte mich bis heute nicht getraut, sie mit Mama anzusprechen, obwohl sie das sicherlich auch für mich war.

„Dann würde ich aber bald durch die Gegend rollen und Micha hätte das Problem, die Türen breiter machen zu müssen. Also besser nicht.“

Das führte zu großem Gelächter. Als wir uns beruhigt hatten, fragte mich Markus (Michas Papa), ob ich mich wirklich darauf freuen würde, zurück an den Ursprung zu fahren. Immerhin würde es dort sicher auch viele negative Erinnerungen in mir aufwühlen.

„Ja, ich denke schon. Irgendwann muss ich das machen und mit Micha wird das schon klappen. Er hat versprochen, auf mich aufzupassen.“

Micha bekam ein Lächeln ins Gesicht, als er erwiderte: „Worauf du dich verlassen kannst. Dich werde ich nicht mehr hergeben. An niemanden und nichts auf der Welt.“

Dann umarmte er mich und ein leidenschaftlicher Kuss folgte. Für mich war das immer wieder toll. Immer wieder ließ er nur wenige Gelegenheiten aus, mir zu sagen, wie sehr er mich immer noch liebte. Bis heute hatte ich keinen Tag bereut, damals mit ihm nach Deutschland gekommen zu sein. Es hatte mir auch geholfen, meine Erinnerungen an meine Kindheit zu verdrängen. Deshalb möchte ich auch noch nicht darüber sprechen. Vielleicht später einmal. Es reicht ja, wenn Micha und seine Eltern die Geschichte kennen.

Seine Eltern lachten laut und die Stimmung war sehr locker. Wir besprachen noch unsere Flugzeiten und dass wir in Los Angeles am frühen Nachmittag landen würden.

Kurz bevor wir nach Hause aufbrechen wollten, spürte ich eine Veränderung der Stimmungslage. Es war eine Woche vor Weihnachten und ich dachte, seine Eltern wollten uns vielleicht schon ihr Weihnachtsgeschenk überreichen, aber es kam ganz anders. Micha verschwand für einen Augenblick im Keller und Claudia verwickelte mich in ein Gespräch, so dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass Micha mit einem großen Blumenstrauß wieder ins Wohnzimmer gekommen war.

„Schatz, kann ich euch mal kurz unterbrechen? Ich habe hier etwas, was ich dir geben möchte, und da ist noch etwas.“

Mein Gesicht schien wohl eher einem Fragezeichen zu ähneln, denn auch Markus kam hinter Micha wieder ins Zimmer.

„Was soll das denn? Wieso bringst du heute Blumen mit? Die werden doch verwelkt sein, bis wir zurück sind.“

„Egal“, sagte er sehr bestimmt und kam auf mich zu, „für diesen einen Moment ist mir das egal. Kevin, ich möchte dich fragen, ob du mich vielleicht nach zehn Jahren zu deinem Mann nehmen möchtest? Ich möchte dich heiraten.“

Peng. Das hatte gesessen. Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet und musste mich erst einmal hinsetzen. Als ich mich wieder gefangen hatte und Micha mit erwartungsfrohem Blick sah, stand ich auf, umarmte ihn und flüsterte ihm ein leises, fast geflüstertes „Ja“ ins Ohr.

Strahlend vor Glück küsste er mich und seine Eltern standen total gerührt hinter ihrem Sohn. Sie ließen mich aber nicht außen vor und zeigten mir genauso ihre Zuneigung. Es wurden sehr emotionale zehn Minuten.

Erst als wir beide unsere Tränen der Freude abgewischt hatten, brachen wir auf, um nach Hause zu fahren. Dort ließ ich es mir natürlich nicht nehmen, meinen Micha noch einmal richtig zu verwöhnen. Was für eine Überraschung er mir gemacht hatte, konnte er sich wohl danach gut denken. Wir hatten beide unseren Spaß. Entsprechend erschöpft, aber glücklich verlief unsere letzte Nacht im kalten Deutschland.

Je näher wir dem Flughafen kamen, desto aufgeregter wurde ich. Überall waren schon weihnachtliche Dekorationen sichtbar und auch die Abflughalle leuchtete festlich. Überall Lichterketten und Lametta in verschiedenen Farben ... Unser Flug war pünktlich und der Start verlief sehr ruhig. Die Maschine war recht gut ausgebucht, dennoch hatte Micha dafür gesorgt, dass wir nebeneinander sitzen konnten. Er spürte meine steigende Nervosität und nahm bald meine Hand. Das gab mir ein beruhigendes Gefühl und so konnte ich schon bald einschlafen.

In der Ankunftshalle hatten wir unsere Taschen am Gepäckband schnell gefunden und wollten nun zum Ausgang. Micha hatte uns einen Mietwagen organisiert. Aber da kam uns der amerikanische Zoll vorerst dazwischen. Wir wurden gefragt, ob wir etwas anzumelden hätten. Micha verneinte höflich, aber dennoch sollten wir ihnen in einen Raum folgen. Dort wurde mein Koffer geöffnet und die beiden Beamten machten sich über unser Gepäck her. Sie unterhielten sich in einem Slang, der für Nicht-Amerikaner sicher nicht zu verstehen gewesen, für mich als ehemaligen Bewohner dieser Gegend aber natürlich ein Leichtes war. Der ältere der beiden fragte Micha dann wieder in normalem Englisch, ob er Zigaretten oder Lebensmittel noch in den anderen Koffern hatte. In der Zwischenzeit durchsuchte sein Kollege meine beiden Koffer. Bislang hatten sie natürlich nichts gefunden, weil es ja auch nichts zu finden gab. Der Kollege fing schon ein wenig an, den Kopf zu schütteln, und sie unterhielten sich wieder in dem örtlichen Slang. Da platzte mir der Kragen und in tiefstem LA-Slang stieg ich in ihr Gespräch ein. Ich machte ihnen klar, dass es nichts zu finden gäbe.

Völlig verdutzt schauten sie mich an. Micha bekam ein ganz breites Grinsen und ich stand ihnen mit todernster Miene gegenüber. Ich hatte mittlerweile einen deutschen Pass, entsprechend irritiert waren die Beamten. Dennoch wurde das Ganze nun deutlich entspannter und nach wenigen Minuten waren wir aus dem Terminal und saßen in einem typischen amerikanischen Auto. Einem Pick-up. Die Taschen bzw. Koffer lagen auf der Ladefläche und die Klimaanlage lief hervorragend.

„So, Schatz. Jetzt geht es erst einmal ins Hotel“, meinte Micha.

„Wo hast du uns denn untergebracht. Du hast mir bislang ja nichts verraten.“

Er lächelte, aber sagte noch nichts dazu. Erst als ich bemerkt hatte, in welche Richtung wir fuhren, wurde es mir klar. Es ging zumindest in das Viertel, wo wir uns damals kennengelernt hatten. Meine Aufregung stieg mit jedem Kilometer, dem wir meinem alten Leben näher kamen. Und dann war es soweit. Micha stellte den Wagen vor dem Eingang des Hotels ab. Ich erkannte es sofort wieder. Hier waren wir uns vor zehn Jahren das erste Mal begegnet. Ich als Page und er mit seinen Eltern als Gäste des Hotels.

Micha hatte ein tolles Gespür für mich. Er ließ meine Hand nicht mehr los, als wir die Lobby betraten. Bevor wir uns vor die Rezeption stellten, fragte er mich:

„Bist du bereit für die Reise in die Vergangenheit?“

Ich holte tief Luft und seine Hände lagen auf meinen Schultern. Das tat mir ausgesprochen gut.

„Ja, lass uns einchecken. Hier wird es sicher nicht besser werden.“

Er nickte und wir meldeten uns an der Rezeption an. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Lobby schon total kitschig amerikanisch auf Weihnachten hinwies. Überall standen Figuren herum und buntes Lametta hing an allem, was grün war. Wir bekamen unsere Chipkarten und obwohl ich zehn Jahre nicht mehr hier war und sich vieles in der Zwischenzeit verändert hatte, wusste ich sofort, wo wir lang mussten. Micha öffnete unser Zimmer und mir blieb die Spucke weg. Es war genau das Appartement, was er damals mit seinen Eltern bewohnt hatte. Heute war es nur neu möbliert, aber sonst war absolut eindeutig, hier hatte alles begonnen.

Wir betraten den Balkon und hatten ein wunderschönes Panorama vor uns. Auch damals schon hatten seine Eltern einen guten Geschmack und wählten sehr bewusst dieses Appartement. Micha stand neben mir und hatte seinen Arm um mich gelegt.

„Wie geht es dir jetzt? Hast du schon Bilder von damals im Kopf?“

„Es geht. Natürlich sind die Bilder wieder da. Ich habe es noch so vor mir, wie ich das erste Mal hier an die Tür geklopft habe und ich euch das Frühstück gebracht habe.“

Micha musste lachen.

„Oh ja, und ich weiß noch ganz genau, dass ich sofort total geflasht war. Du warst echt ein süßer Junge. Nur hatte ich nicht die geringste Hoffnung, du könntest auch auf Jungs stehen. Nicht hier im prüden Amerika.“

„Willkommen im Club. Aber du konntest ja damals nicht wissen, warum ich hier allein ohne Familie arbeitete.“

Meine Gedanken gingen in die Zeit zurück. Ich musste von Zuhause flüchten, weil mich mein Vater sonst vermutlich totgeschlagen hätte. Ich hatte meinen Eltern gesagt, dass ich schwul bin. Also hatte meine Mutter mich kurzerhand in einen Zug gesetzt und mich bei meinem Onkel im Hotel untergebracht. Er wiederum hatte mir die Chance gegeben, hier als Page anzufangen. Ich war gerade sechzehn geworden. Es war genau dieses Hotel, in dem wir uns jetzt befanden. Das kuriose, es war ebenfalls eine Woche vor Weihnachten, als alles begann.

Seine Familie machte hier Urlaub und Micha langweilte sich, weil er ohne Gleichaltrige hier im Hotel war. Irgendwann stand er unten am Empfang und fragte nach mir. Das war total ungewöhnlich und mein Onkel hatte schon gedacht, ich hätte vielleicht etwas verbockt. Deshalb ließ er mich sofort rufen und als ich vor Micha stand, fragte er mich schüchtern, ob ich auch mal frei hätte und ihm vielleicht etwas die Gegend zeigen könnte. Tja, und so änderte sich mein Leben schlagartig. Innerhalb einer Woche hatten mich seine Eltern näher kennengelernt und ich hatte Vertrauen zu ihnen gefunden. Ich erzählte meine Geschichte und warum ich hier gelandet war.

Was dann kam, werde ich niemals vergessen.

Micha hatte neben mir am Tisch in diesem Appartement gesessen und total ungläubig fragte er mich:

„Du bist auch schwul? Ist das wirklich wahr?“

Ich wäre am liebsten geflüchtet, weil ich ja befürchten musste, dass seine Eltern genauso reagieren würden wie meine. Allerdings hatte ich mich glücklicherweise geirrt und alles nahm seinen bis heute andauernden, positiven Verlauf.

In unserem Zimmer stand ein riesiger Teller mit Plätzchen und Schokoweihnachtsmännern. Micha hatte sich drei Kekse genommen und schob mir einen davon in den Mund und dieses Gefühl, ihn neben mir zu haben und wie er mich festhielt, war einfach unglaublich schön. Ich wusste jetzt genau, es war die richtige Entscheidung, ihn zu heiraten.

„Komm, ich habe Hunger. Lass uns etwas essen gehen.“

Es war immer wieder toll, wie schnell sich Micha in einen anderen Zustand versetzen konnte. Eben noch total der Romantiker und jetzt wieder der dynamische Micha.

„Ok, wo möchtest du gerne hin?“ Meine Frage war eigentlich überflüssig. Ich wusste es.

„Du weißt es eigentlich. Das kleine Restaurant am Strand, wo wir uns das erste Mal Muscheln bestellt hatten.“

Jetzt mussten wir beide lachen. Das war wieder so eine Geschichte, die aber jetzt zu weit führen würde. Also machten wir uns auf den Weg an den Strand und suchten dieses kleine Restaurant. Ob es wohl noch vorhanden war? Wir liefen am Strand entlang, Arm in Arm und schauten uns um. Vieles hatte sich verändert und ich hatte gewisse Schwierigkeiten, mich zu orientieren. Plötzlich aber kamen die Bilder in meinen Kopf und ich konnte ein Holzhaus erkennen, wo damals dieses kleine Restaurant stand. Heute war dort nur ein viel größeres Holzgebäude, aber es war immer noch ein Restaurant. Also machten wir uns dorthin auf den Weg. Micha ging voraus und fragte den Kellner nach einem Tisch für zwei Personen. Wir wurden an einen sehr schön gelegenen Tisch geführt und bekamen die Speisekarte. Ich schaute mich um, irgendwie war hier alles viel nobler als damals. Micha lächelte mich an und das einzige, was mich störte, war diese kitschige Weihnachtsmusik im Hintergrund. Jingle Bells zu hören, bereits eine Woche vor Weihnachten in einem noblen Restaurant, das machte mir keine Freude.

„Muscheln oder doch lieber was anderes?“, fragte mich Micha und holte mich aus meinen Gedanken.

„Ich möchte lieber was anderes. An Muscheln habe ich mich nie gewöhnen können.“

Micha lachte wieder und es tat mir gut, denn die Erinnerungen wühlten mich doch sehr auf. Schnell hatte er mich wieder in ein Gespräch gebracht und wir wählten unser Essen. Er nahm sich ein Hummergericht, während ich lieber bei einem schönen Steak blieb.

Es wurde ein wundervoller erster Abend in meiner Vergangenheit. Ich war selbst überrascht, wie gut es mir ging, als wir nachts gemeinsam in unserem Zimmer ankamen. Micha hatte mich immer wieder vorsichtig an Dinge herangeführt, aber stets bereit, mir genügend Raum zu gewähren.

Die Nacht war sehr entspannend und erholsam, auch wenn ich den Jetlag deutlich spürte. Micha lag noch schlafend neben mir. Die Sonne schien bereits in unser Zimmer und daher beschloss ich, uns ein üppiges Frühstück zu bestellen. Heute wollte ich uns das auf dem Zimmer gönnen. Ich nahm also den Hörer in die Hand und gab beim Concierge meine Bestellung auf.

Die Zeit, bis der Zimmerservice kommen würde, nutzte ich, Micha zu wecken und unter die Dusche zu springen.

Wir waren auf dem Balkon, als es klopfte und der Zimmerservice unser Frühstück brachte. Wir hatten uns nur ein T-Shirt und eine Hose übergezogen, als der Junge mit einem Servierwagen unser Appartement betrat. Sichtlich unsicher begrüßte er uns sogar auf Deutsch. Das überraschte uns und Micha ließ es sich nicht nehmen, den Jungen zu fragen, woher er denn Deutsch konnte.

Er antwortete auch wieder auf Deutsch:

„Ich habe einen guten Freund in Deutschland. Mit dem skype ich oft oder wir schreiben uns. Er in Englisch und ich in Deutsch. So lernen wir beide die Sprache besser.“

Irgendwie hatten Micha und ich die gleichen Gedanken, denn unsere Blicke trafen sich und ich hatte das bestimmte Gefühl, heute würde sich hier Geschichte wiederholen. Oder auch nicht?

„Wie heißt du denn und wie alt bist du?“, fragte ich deshalb freundlich.

Etwas unsicher antwortete er: „Tim, aber eigentlich nennt mich nur mein Chef so, alle anderen sagen Timmy. Ich bin 16 und habe hier eine Ausbildung begonnen. Diese Hotelkette gibt es ja weltweit und wer weiß, vielleicht komme ich so mal nach Deutschland.“

Ich fand den Jungen sehr sympathisch und wollte mehr über ihn wissen. Er hatte sicherlich sofort bemerkt, dass Micha und ich ein Paar waren. Er hat nur mit einer leichten Rotfärbung im Gesicht reagiert. Das ist für einen Amerikaner sehr offen einem schwulen Paar gegenüber.

„Hast du in den nächsten Tagen auch einmal frei? Du kennst dich hier doch bestimmt gut aus. Vielleicht können wir mal zusammen weggehen.“

Meine Frage schien ihn sehr zu verunsichern, aber auch neugierig zu machen. Letztlich siegte die Neugier und wir verabredeten uns für den nächsten Nachmittag. Er bat darum, uns nicht im Hotel zu treffen. Das könnte sein Chef vielleicht nicht gut finden.

Unser erster Tag in meiner Vergangenheit wurde sehr schön. Micha achtete sehr darauf, mich nicht zu überfordern. Mittlerweile war auch klar geworden, dass der Inhaber des Hotels ein anderer als damals war. Das Hotel gehörte zu einer großen Kette und somit hatte ich nur noch wenig Bedenken, auf alte Bekannte zu treffen.

Der Strand war sehr schön und wir nutzten den Vormittag, um uns mit einem Spaziergang vor Ort zu orientieren. Immer wieder gab es Stellen, an denen meine Erinnerungen wach wurden. Ich erzählte Micha viel und er war ein toller Zuhörer. Immer wieder gab er mir den Halt und ich bemerkte, er hatte sich sehr gut auf diese Reise vorbereitet. Es war mir in Deutschland entgangen, wie sehr er sich mit dieser Reise beschäftigt hatte. Und ich hatte mich definitiv getäuscht mit meiner Annahme, dass er vieles vergessen hatte, von dem ich ihm mal erzählte.

Am Abend saßen wir beide etwas erschöpft, aber glücklich im Hotelrestaurant und hatten gerade unseren Nachtisch erhalten. Ich war in Gedanken wohl leider nicht am Tisch, denn plötzlich stupste mich Micha an.

„Hey, träumst du? Wollen wir uns noch einen Moment an die Bar setzen?“

„Ups, sorry. Ja, gerne. Einen kleinen Drink zum Abschluss finde ich gut.“

Wir standen also vom Tisch auf und schlenderten in die Bar neben der Lobby. Micha bestellte sich einen Bourbon Cola und ich einen Gin Tonic. Es gab einen kleinen Gang nach draußen auf die große Terrasse, von der man das Wasser sehen konnte. Dort nahmen wir Platz und bekamen unsere Getränke serviert. Das Personal war wirklich sehr aufmerksam und nett.

„Was denkst du, Schatz? Du bist so nachdenklich.“

„Ja, Micha, das stimmt. Ich habe vorhin daran gedacht, was ist wohl aus meiner Familie geworden? Immerhin habe ich schon zehn Jahre nichts mehr von ihnen gehört. Auch wenn sie mich nicht gut behandelt hatten, meine Mutter fehlt mir manchmal.“

„Kann ich verstehen. Aber du hast nie etwas davon erwähnt. Warum eigentlich? Wir hätten doch versuchen können, zumindest deine Mutter ausfindig zu machen.“

Ich schüttelte den Kopf und musste zugeben: „Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte ich Angst, wieder in die Fänge meines Vaters zu geraten?“

Micha blieb äußerlich ruhig, aber anhand seiner Hände wusste ich, dass er sehr aufgebracht war.

„Du hättest doch wissen müssen, dass wir dir immer beigestanden hätten. Meine Eltern hätten es niemals zugelassen, dich in die Fänge deines Vaters zu geben.“

„Ja, ich weiß, aber … ich weiß auch nicht. Manchmal habe ich mich halt gefragt, warum kann ich nicht auch normale Eltern haben. Deine Eltern sind so toll. Sie haben mich niemals nach einem Beitrag gefragt. Ich bin in deine Familie gekommen und sie haben mich aufgenommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das manchmal für mich war. Ich hätte so gern mal etwas zurückgegeben.“

„Still. Du hast so viel zurückgegeben. Ich bin glücklich mit deiner Anwesenheit. Das zählt mehr als jeder Euro. Und außerdem wussten meine Eltern genau, warum sie dich so einfach aufgenommen haben. Du bist ein toller Mensch, der mich sehr glücklich gemacht hat. Und eines kannst du dir sicher sein, du hast meine Eltern auch sehr glücklich gemacht, denn mein Vater hat mir mehr als einmal gesagt, dass ich einen tollen Freund habe. Und weißt du, er hat damit wie immer recht.“

Jetzt musste ich lachen. Micha hatte es wieder geschafft, mich aus meiner traurigen Stimmung zu holen.

„Ok, du hast gewonnen. Lass uns nach vorn schauen. Ich hoffe, ich finde auch so einen guten Job wie du. Schließlich bin ich jetzt mit dem Studium fertig und kann dann endlich mal etwas einbringen.“

„Wenn du nicht sofort damit aufhörst, dann bekommst du nichts mehr zu trinken und zu essen. Du spinnst doch wohl.“

Er versuchte dabei total ernst zu bleiben, was weder ihm noch mir gelang. So hatten wir beide sehr bald Bauchschmerzen vom Lachen. Allerdings tat mir das sehr gut. Es wurde mittlerweile dunkel und die Lichter flimmerten in der Luft.

Nach einer Weile fragte mich Micha: „Hast du eigentlich Timmy heute gesehen? Ich habe ihn noch nicht gesehen.“

„Nein, aber wir waren ja auch den ganzen Tag unterwegs. Schatz, ich bin müde. Können wir noch einen Drink nehmen und dann aufs Zimmer gehen?“

„Aber sicher doch. Ich geh grad mal für kleine Jungs. Bestellst du uns noch etwas zu trinken?“

Während Micha zur Toilette ging, gab ich dem Service ein Zeichen. Sofort kam jemand zu mir an den Tisch und nahm meine Bestellung auf. Ich staunte erneut, wie nobel das Hotel geworden war. Kein Vergleich mit dem Niveau von vor zehn Jahren.

Micha hatte sich wieder zu mir gesetzt und wir redeten doch noch sehr lange über dieses oder jenes und es blieb auch nicht bei dem einen Drink. Erst gegen halb eins machten wir uns auf den Weg in unser Appartement. An der Rezeption bekamen wir noch eine Nachricht überreicht und anschließend brachte uns der Lift nach oben. Ich spürte den Alkohol deutlich. Wir waren zwar beide nicht betrunken, aber mehr durfte es auch nicht sein. In unserem Wohnzimmer öffnete Micha den Umschlag und las die Mitteilung vor. Sie war von Timmy und er bat uns, morgen in einer kleinen Eisdiele auf ihn zu warten.

„Siehst du, er hat es nicht vergessen“, sagte ich zu Micha, der mich anlächelte. Einige Minuten später lagen wir erschöpft in unserem Bett. Heute Nacht schlief ich wie ein Stein.

Der nächste Morgen war allerdings weniger schön. Ich hatte Kopfschmerzen, obwohl wir lange geschlafen hatten. Ich war halt kaum Alkohol gewohnt. Dennoch hätte ich keine Minute des gestrigen Tages missen wollen. Wir beschlossen, das Frühstück auszulassen und erst einmal im Pool schwimmen zu gehen. Danach fühlte ich mich schon deutlich besser. Wir gönnten uns eine frische Tasse Kaffee auf der Hotelterrasse und bekamen Besuch von Timmy an unserem Tisch. Er sah in seinem dunklen Outfit sehr schick und elegant aus.

„Hi Timmy. Schön, dass wir uns auch mal wieder sehen.“

„Guten Morgen, ja, Micha, ich freue mich auch. Habt ihr euch schon gut eingelebt?“

Ich bestätigte das und wir unterhielten uns noch ein paar Minuten, aber er war im Dienst und konnte nicht länger bei uns bleiben. Wir bestätigten noch den Treffpunkt für den Nachmittag, dann verließ er uns wieder.

Eigentlich war für mich alles wundervoll in diesem Urlaub. Lediglich diese nervende Weihnachtsmusik störte mich doch erheblich. Egal wohin man kam, überall wurde man von dieser Musik berieselt. Auch waren alle Geschäfte und selbst die Vorgärten der Häuser mit kitschigem Weihnachtsschmuck vollgestellt.

Wir genossen dennoch den Tag und hatten uns aufgemacht, einige Geschenke einzukaufen. Auch wenn wir zu den Festtagen nicht zu Hause sein würden, ich wollte meiner neuen Familie etwas aus meiner alten Heimat mitbringen. Micha fand meine Idee sehr schön und somit waren wir auch recht schnell fündig geworden. Für Markus gab es ein paar Flaschen amerikanischen Wein. Markus war leidenschaftlicher Weintrinker, aber er konnte sich nie vorstellen, dass die Amis auch guten Wein herstellen könnten. Für Claudia hatte ich mir ein paar originale Musical DVDs ausgesucht, die in Deutschland nur schwer zu bekommen waren.

Mittags hatten wir uns einige echte amerikanische Burger gegönnt und waren jetzt auf dem Weg zum Treffpunkt mit Timmy. In Gedanken war ich allerdings zehn Jahre zurück. Ich erinnerte mich daran, wie Micha und ich uns näher kennenlernten und sich für mich ein neues Leben eröffnete. Er hatte mich einfach in seine Familie mitgenommen und ich durfte ein Teil von ihr werden. Dass ich damals mit nach Deutschland gefahren bin, war eine spontane Entscheidung, die ich bis heute nicht einen Tag bereut hatte. Markus hatte ohne zu zögern für mich in Deutschland ein Visum besorgt und bald konnte ich dauerhaft bleiben. Ich habe die ersten Monate überhaupt nicht begriffen, dass ich bei Micha in der Familie bleiben konnte. Ich hatte es erst verstanden, als ich in Deutschland zur Schule gehen und immer mehr von der Sprache und den Abläufen lernen konnte.

„Na, du bist schon wieder so weit weg mit deinen Gedanken. Wo bist du jetzt gelandet?“, fragte mich mein Freund mit einem Lächeln im Gesicht.

„Ehrlich gesagt, habe ich mich daran erinnert, wie es bei uns damals war. Wie ihr mich überredet habt, einfach mitzukommen. Dein Vater hatte alles für mich organisiert und es ist so geworden, wie es heute ist. Manchmal kommt es mir vor wie ein Wunder.“

„Ja, meine Eltern sind schon tolle Menschen. Ich bin auch sehr froh, dass mir deine Familie erspart geblieben ist. Versteh das nicht falsch, aber ich hätte das nicht ausgehalten.“

Er spürte meine Traurigkeit und setzte sich sofort neben mich und kuschelte sich an mich. Er hielt mich ganz fest im Arm und so konnte ich mich schnell wieder beruhigen. Timmy sollte nicht mit unseren Problemen konfrontiert werden. Er hatte vermutlich genug eigene.

Auf dem Weg zum Treffpunkt machten wir noch zahlreiche Fotos und schickten sie direkt nach Deutschland. Dank Internet war das heute kein Problem mehr. Wir hatten das Eiscafé erreicht und beschlossen, davor auf Timmy zu warten. Pünktlich auf die Minute kam er in kurzer Hose und Polo-Shirt auf uns zu. Er war kaum wiederzuerkennen, allerdings gefiel uns das viel besser als die steife Uniform im Hotel.

„Hi Timmy. Wie geht es dir? Feierabend für heute?“

„Ja, endlich mal zwei Tage am Stück frei. Ich muss erst übermorgen wieder arbeiten.“

Micha hatte sich schon an einen Tisch draußen gesetzt, aber ich spürte, dass Timmy lieber drinnen sitzen wollte.

„Sag mal, dir ist das doch unangenehm, dich mit uns öffentlich zu treffen, oder?“

„Nein, es ist nicht, weil ihr ein Paar seid, es ist, weil …“, er zögerte und Micha hatte ein gutes Gefühl für seine Situation.

„Ist schon ok, lass uns reingehen. Du musst es nicht jetzt erklären.“

Als wir im Inneren einen Tisch gefunden hatten, bestellte Micha für uns drei. Er hatte Timmy sehr schnell klargemacht, dass er unser Gast sein würde.

Unsere Eisbecher kamen und das war dann für mich der Moment, Timmy zu fragen:

„Sag mal, wie lange bist du schon im Hotel als Azubi?“

„Erst seit einem halben Jahr. Aber es macht mir Spaß, dort mit Menschen zu arbeiten. Viel mehr Spaß, als zur Schule zu gehen. Außerdem muss ich nicht ständig zu Hause aufpassen, dass ich entdeckt werde.“

Micha und ich schauten uns an und wir ahnten, was sein Geheimnis war. Allerdings sollte er es erzählen, wenn er dazu bereit war.

„Heißt das, du kommst gar nicht von hier, sondern du wohnst im Hotel?“

„Richtig, Kevin. Ich bin von zu Hause weg, damit ich hier meine Ausbildung machen kann. Da, wo ich herkomme, haben es schwule Jungs sehr schwer zu leben.“

Dieser Satz brachte ihn aus der Fassung. Er hatte stark sein wollen, aber seine Gefühle waren doch viel stärker. Micha nahm ihn liebevoll in den Arm und Timmy beruhigte sich langsam wieder. Dann erzählte er uns seine Geschichte und dass er so froh war, endlich einmal Gleichgesinnte gefunden zu haben. Wir erzählten von uns aus Deutschland und dann tauchte die von mir bereits befürchtete Frage auf:

„Warum seid ihr ausgerechnet hierher gekommen, um euren Weihnachtsurlaub zu verbringen?“

Micha schaute mich fragend an. Ich nickte ihm zu. Also begann er, Timmy unsere Geschichte zu erzählen.

Als Micha geendet und Timmy begriffen hatte, dass ich eine ähnliche Odyssee hinter mir hatte wie er, fragte er staunend: „Und du bist einfach mit nach Deutschland gegangen? Hast hier alles stehen und liegen gelassen? Boah, du bist ein Glückspilz, so eine Familie gefunden zu haben.“

„Ja, da hast du wohl recht. Es ist ein Lottogewinn. Und das Tolle ist, wir werden sogar bald in Deutschland heiraten.“

„Cool, das finde ich geil. Und ihr habt in Deutschland keine Probleme gehabt?“

„Na ja, es gibt auch in Deutschland Menschen, die nicht akzeptieren wollen, dass Homosexualität etwas Normales ist, aber wir haben schnell herausgefunden, wer unsere wahren Freunde sind und auf wen wir verzichten konnten.“

Micha hatte dabei ein breites Grinsen im Gesicht. Für Timmy war es eine Befreiung. Er fing an zu erzählen.

„Also ich habe schon sehr früh gemerkt, dass mich die Girls nicht sonderlich interessierten. Immer wieder hatte ich mir im Internet Seiten angeschaut, wo ich nackte Jungs sehen konnte. Das interessierte mich viel mehr.“

„Wie alt warst du da?“, fragte ich.

„Etwa dreizehn. Da habe ich dann auch angefangen, mir heimlich, … na ja, also wie soll ich sagen …“

Er wurde richtig rot und Micha hatte verstanden, was er meinte. Dennoch blieb er ruhig und ließ Timmy weitererzählen. Er sollte es offen sagen können. Ich versuchte, ihm eine Brücke zu bauen.

„Sag es einfach mit deinen Worten, hier musst du dich nicht mehr verstecken.“

„Also gut, aber lacht mich nicht aus. Ich habe einfach beim Wichsen an nackte Jungs aus meiner Klasse gedacht. Mir vorgestellt, wie schön das wäre, mit ihnen zusammen zu wichsen.“

Ich musste schmunzeln. Das kannte ich aus meiner Jugendzeit auch noch sehr gut.

„Kommt mir bekannt vor“, sagte ich.

Er lächelte, aber auch Micha spürte, hier wollte er nicht so gern weitererzählen. Er hatte einfach Angst, irgendwer könnte etwas mitbekommen. Wir beschlossen daher, dass Café zu verlassen und ein wenig spazieren zu gehen. Am Strand war nicht viel los und somit suchten wir uns einen Platz, wo wir ungestört weitersprechen konnten. Wir setzten uns in den Sand und Micha ließ mich an ihn anlehnen, während Timmy uns gegenüber saß.

„Danke euch. Ich habe echt Angst, entdeckt zu werden. Wenn ich den Job hier verliere, weiß ich nicht, wo ich sonst hin kann.“

„Keine Panik“, beruhigte ich ihn, „wir kennen das ja auch. Wir haben damals auch Angst gehabt, bis wir gemerkt hatten, dass die meisten unserer Freunde damit gar kein Problem hatten.“

„Ja, aber ihr hattet wenigstens noch Freunde und eine Familie. Mein Onkel hat mich hier zwar aufgenommen, aber er hat nie Zeit. Er ist der Manager des Hotels.“

„Aber er weiß, dass du schwul bist?“, fragte Micha.

Timmy nickte wortlos. Sein Blick schien leer und weit weg.

Leise sagte er: „Er ist der einzige, der es hier weiß. Außer ihr jetzt. Nur Torben aus Deutschland weiß es noch, weil er auch auf Jungs steht. Das Gefühl ist anders, wenn du mit Gleichgesinnten reden kannst. Klar, mein Onkel ist schon cool und hilft, wo er kann, aber so offen reden kann ich nicht mit ihm. Schade, dass ihr schon bald wieder nach Deutschland fliegt. Was habt ihr morgen und übermorgen vor? Ich würde gern mit euch etwas Zeit verbringen.“

„Eigentlich haben wir noch nicht wirklich etwas geplant. Hast du eine Idee? Wir haben auch einen Wagen, den wir benutzen können.“

„Cool, ja, ich wüsste einen Ort, der bestimmt interessant ist. Habt ihr schon mal gesurft?“

Dabei schaute er uns richtig strahlend an. Es schien so, als ob er das schon mal gemacht hatte.

„Nein, bei uns haben wir dafür nicht die Möglichkeiten. Aber probieren würde ich es schon.“

Typisch Micha, immer gleich vorn an. Mir war gar nicht so wohl bei dem Gedanken, in den Wellen des Meeres herumzutollen.

Also sagten wir für den nächsten Tag zu und verabredeten uns zum Surfen. Um halb elf sollten wir ihn abholen. Etwas Zeit blieb uns noch und er erzählte ein wenig von seiner Kindheit und dass er oft allein ist. Umso mehr freute er sich, dass er uns kennenlernen durfte. Wir fanden den Jungen richtig nett und somit war für uns klar, wir würden uns , solange wir hier waren, mit ihm beschäftigen.

Besonders als ich ihm von meiner Geschichte erzählte, spürte ich, dass er wieder mehr Hoffnung schöpfte. Zum Abschluss unseres gemeinsamen Tages kam er zu mir und sagte:

„Kevin, ich weiß nicht, wie du das jahrelang ausgehalten hast, aber ich finde es toll, wie du einfach gesagt hast, ich geh nach Deutschland und fange bei null an. Einfach toll. Wenn ich die Möglichkeit hätte, ich würde es genauso machen.“

Ich legte ihm den Arm um die Schulter und erwiderte:

„Wer weiß, was du noch für Möglichkeiten bekommst. Vielleicht besuchst du deinen Freund in Deutschland ja mal. Dann können wir uns dort treffen. Deutschland ist ja längst nicht so groß wie die USA.“

„Ja, vielleicht kann ich ja mal in Deutschland arbeiten. Es gibt auch in Deutschland einige Hotels dieser Kette.“

Die Zeit lief uns ein wenig davon, denn es war spannend, von Timmy immer mehr zu erfahren, und es entstand so etwas wie Vertrautheit. Auch Micha begann, von sich und seiner Familie zu berichten, und so gingen die Stunden ins Land und der Nachmittag war schnell vorbei. Ich bekam erneut Hunger und Timmy hatte noch etwas zu lernen, wie er sagte. Also trennten wir uns bis zum nächsten Tag.

Mit guter Laune, aber auch sehr nachdenklich, machten wir uns auf den Weg zurück ins Hotel. Diesmal achtete ich nicht einmal auf die kitschigen Vorgärten. Wir unterhielten uns über das Erlebte und Micha hatte dann die Idee, ihn zu fragen, was er über die Feiertage machen würde. Er hatte ja keine Familie, mit der er feiern würde.

„Was machen wir, wenn er nicht bei seinem Onkel feiern kann? Wir könnten ihn doch einladen, mit uns zu feiern.“

Micha lachte mich an und da wusste ich, er hatte die gleiche Idee. Ich gab ihm einen Kuss und sagte:

„Deshalb liebe ich dich so. Du verstehst mich.“

Diesmal bekam ich einen Kuss und erst kurz vor dem Hotel hörten wir mit den Liebkosungen auf. Wir ließen uns unsere Chipkarte geben und sprangen schnell unter die Dusche, bevor wir zum Abendessen wieder im Restaurant Platz nahmen.

Wir sprachen über den abgelaufenen Tag und über die Planungen der nächsten Tage. In wenigen Tagen war Weihnachten und so langsam kam bei mir auch das Gefühl dafür auf.

„Micha, was müssen wir eigentlich noch vorbereiten? Ich finde auch, wir sollten mal ein paar Bilder nach Hause schicken. Die denken doch sonst, wir liegen die ganze Zeit nur im Bett.“

Micha fing an zu lachen und begann, mich zu kitzeln. Das war unfair, ich war unheimlich kitzelig und das auch noch im Restaurant. Wie unangenehm.

„Hey, lass das. Das ist unfair. Ich hab doch nur an deine Eltern gedacht.“

„Na gut“, sagte er gespielt beleidigt, „aber nur, weil wir jetzt essen wollen.“

Während des erneut sehr guten Essens gingen mir schon Gedanken durch den Kopf, die mich an meine Anfangszeit bei Micha und seiner Familie erinnerten. Timmy hatte ein ähnliches Schicksal wie ich damals. Mir war klar, ich würde alles tun, damit er wieder ein besseres Leben mit Zukunft hätte.

„Was hältst du eigentlich von der Idee, mal mit seinem Onkel zu sprechen. Der weiß doch eigentlich Bescheid über die beschissene Lage bei Timmy.“

Micha schaute von seinem Teller hoch und seine Augen zogen sich ein wenig zusammen. Da wusste ich, er hatte verstanden. Immer noch kauend antwortete er:

„Meine Güte, wieso sind wir da noch nicht eher drauf gekommen? Du hast recht, er kennt doch die Geschichte.“

Ich lächelte und als wir unser Essen beendet hatten, gingen wir in unser Appartement und schickten zuerst die Heimatpost ab. Sonst würden Michas Eltern noch eine Vermisstenanzeige aufgeben. Die Mail mit den Bildern dauerte doch etwas, weil das WLAN nicht das schnellste war.

Als alles erledigt war, blickten wir zur Uhr. Halb zehn. Es war schon zu spät, um heute noch mit dem Onkel zu sprechen. Für den nächsten Morgen nahmen wir uns das vor.

Der nächste Morgen glänzte wieder mit stahlblauem Himmel und einer lauen Brise. So langsam nervte mich aber die Weihnachtszwangsberieselung richtig. Es gab keinen Ort mehr ohne diese Weihnachtsdudelei.

„Es wird Zeit, dass Weihnachten vorbei ist. Was mir noch einfällt: wie sieht das mit einem Baum aus? Ja oder nein?“

„Auf jeden Fall brauchen wir einen Baum. Ohne Baum fehlt mir was. Wir können ja das als Anlass nehmen, mit dem Onkel von Timmy mal zu sprechen.“

Mein Freund war, wie schon so oft, einen Schritt weiter als ich. Ich grinste ihn an und somit machten wir uns nach dem Frühstück auf den Weg zur Rezeption. Ich fragte höflich nach Timmys Onkel und ob er schon im Hause sei. Natürlich war er im Hause und entsprechend zügig kam ein etwa vierzigjähriger, drahtiger Mann auf uns zu. Im dunklen Anzug mit blauem Hemd.

Zum besseren Verständnis gebe ich das nun folgende Gespräch in Deutsch wieder.

„Guten Morgen die Herren, was kann ich für Sie tun?“

Micha überließ mir das Gespräch, er meinte, mein Englisch sei doch noch deutlich besser als seines.

„Guten Morgen, wir haben da zwei Dinge, die wir Sie gern fragen möchten. Die erste Frage bezieht sich auf einen Baum zum Fest. Könnten Sie uns sagen, wo wir einen kleinen Weihnachtsbaum herbekommen?“

Der Manager fing an zu lachen und für einen Moment dachte ich, er würde sich gar nicht unter Kontrolle bekommen. Aber sehr schnell hatte er wieder seine Fassung zurück und antwortete:

„Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern. Jeder Gast bekommt am 24.12. einen kleinen Baum in sein Appartement gestellt. Also sie müssen sich nicht selbst darum bemühen.“

Das war ja prima. Ein toller Service, wie ich fand.

„Sie sagten, Sie hätten zwei Fragen. Was ist die zweite Frage?“

Ich spürte jetzt allerdings ein wenig Nervosität bei mir. Wie würde er darauf reagieren?

„Ja, allerdings ist die zweite Frage eher weniger dienstlich. Es betrifft Ihren Neffen, Timmy.“

Sein Gesicht wurde ernst. Im ersten Moment dachte ich, er würde richtig böse werden, aber ich hatte mich getäuscht.

„Timmy? Was ist mit ihm? Hat er was angestellt? Woher kennen Sie seinen Spitznamen, so dürfen ihn nur Freunde nennen.“

„Ja, wir sind auch mittlerweile Freunde geworden. Wir möchten Sie etwas fragen über Timmy.“

Micha blieb die ganze Zeit neben mir stehen und hielt meine Hand ganz demonstrativ, damit Tims Onkel auch bemerken konnte, dass wir ein Paar waren. Er schaute uns an und als ob bei ihm der Groschen gefallen war, fing er an zu lächeln.

„Kommen Sie bitte mit in mein Büro, dort können wir ungestört reden.“

„Aber nur, wenn Sie jetzt auch Zeit haben, sonst würden wir gern auch später noch einmal kommen.“

„Nein, nein, das ist schon in Ordnung. Kommen Sie mit.“

Er führte uns in ein schön eingerichtetes Büro, es war sogar ein wenig gemütlich. Er bat uns, auf der Couch Platz zu nehmen.

„Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee?“

Micha und ich schauten uns an und nickten. Wenige Augenblicke später kam eine Angestellte herein und brachte drei Kaffee.

„Also, was liegt an“, fragte er uns dann direkt.

„Also gut. Wie Sie ja sicher schon bemerkt haben, sind wir ein Paar und haben Ihren Neffen hier kennengelernt. Er hat uns dann eröffnet, dass er ebenfalls schwul ist und deshalb von zu Hause geflüchtet ist. Sie haben ihn hier aufgenommen und ihm die Möglichkeit gegeben, eine Ausbildung zu machen. Er scheint Sie sehr zu mögen, aber er fühlt sich oft einsam und hat hier kaum Freunde. Deshalb wollten wir fragen, ob er bei Ihnen die Festtage verbringt oder ob er allein sein wird.“

Der Onkel schien völlig überrascht von unserer Offenheit und brauchte einige Sekunden, um das zu realisieren.

„Ah, jetzt verstehe ich auch, warum er heute schon so aufgeregt war. Sie wollen sich gleich mit ihm treffen und an den Strand zum Surfen fahren, richtig?“

„Ja, genau.“

„Ok, ich kann mich leider nicht an den Feiertagen um ihn kümmern, weil ich hier arbeiten muss. Allerdings habe ich ihm die Feiertage freigegeben.“

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns über die Feiertage um Timmy kümmern würden? Dann wäre er nicht allein und wir könnten gemeinsam etwas Zeit verbringen und mit ihm vielleicht ein paar Dinge regeln. Er möchte nämlich mal gern nach Deutschland und dort einen Freund besuchen.“

„Oh, ich wusste noch gar nicht, dass er dort jemanden kennt. Wenn er möchte, kann er jederzeit nach Deutschland fliegen. Er muss sich das nur erst noch verdienen.“

„Natürlich, aber vielleicht könnte er ja auch mal eine Zeit in Deutschland in einem dieser Hotels arbeiten?“

Er nickte und schien nachzudenken. Dieser Gedanke schien ihm noch gar nicht gekommen zu sein. Entsprechend positiv reagierte er.

„Ein sehr interessanter Gedanke. Es wird vom Management immer gern gesehen, wenn die Mitarbeiter auch im Ausland arbeiten möchten. Ich werde das bei einem der nächsten Meetings mit der Geschäftsführung mal ansprechen.“

Das Gespräch wurde dann noch sehr persönlich und ich hatte das Gefühl, der Onkel war sehr dankbar, dass wir auf ihn zugekommen waren. Zumindest konnten wir die Feiertage für Timmy angenehmer machen. Was die Zukunft bringen würde, müsste abgewartet werden.

Wir vereinbarten für den nächsten Tag ein gemeinsames Gespräch mit Timmy. Er würde das organisieren und sich darum kümmern. Es sollte am Abend, aber nicht im Büro, sondern bei ihm zu Hause stattfinden. Danach bedankten wir uns für das Gespräch und wollten schon gehen, aber er hielt uns zurück.

„Einen Augenblick bitte noch. Ich habe noch etwas Persönliches, was ich loswerden möchte. Ich bin sehr froh, dass Sie sich gekümmert haben und meinen Neffen ernst nehmen. Ich mag ihn wirklich sehr und bin auch total enttäuscht von meiner Schwester, die sich nicht gegen meinen Schwager durchsetzen kann. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich versuchen werde, mit Timmy nach einer Lösung zu suchen.“

Das gab mir ein gutes Gefühl und wir verabschiedeten uns bis zum nächsten Abend.

Wir waren doch etwas spät dran und mussten uns beeilen, um noch pünktlich bei Timmy zu sein. Ein paar Minuten fehlten uns dann aber doch.

„Sorry, Timmy, wir wurden im Hotel etwas aufgehalten, aber jetzt können wir los.“

Er lächelte wieder, legte sein Board auf die Ladefläche des Pick-ups und schon ging es los Richtung seines Strands, den er für geeignet hielt.

Micha und ich hatten vereinbart, noch nichts von dem Gespräch mit seinem Onkel zu erwähnen.

Allerdings hatten wir auch überhaupt keine Zeit dafür, denn Timmy scheuchte uns immer wieder ins Wasser und wir hatten richtig viel Spaß, uns von ihm zeigen zu lassen, wie das richtig geht mit dem Surfen. Definitiv, er war richtig gut darin und für ihn war keine Welle zu hoch. Im Gegensatz zu uns beiden Deppen. Denn so fühlte ich mich. Es war richtig schwer, das Gleichgewicht zu halten und nicht sofort wieder ins Wasser zu fallen. Durch unsere Neoprenanzüge, die Timmy noch organisiert hatte, kühlten wir zwar nicht so schnell aus, aber nach einigen Stunden des Herumtollens im Wasser bemerkte ich doch meine Müdigkeit. Timmy war immer noch voll mit Energie und bekam gar nicht genug. Er war richtig befreit und gelöst. Er lachte und tobte durchs Wasser. Es war eine Freude, ihn zu beobachten.

„Boah, ich bin fertig. Timmy, wir brauchen eine Pause.“

Micha und ich waren beide völlig k. o. und wir legten uns in die warme Sonne. Timmy schaute uns ein wenig bemitleidend an und wollte sich zu uns setzen.

„Du kannst ruhig weiter rumtoben. Es scheint dir ja viel Spaß zu machen und im Gegensatz zu uns kannst du es auch richtig.“

„Meint ihr wirklich? Ich kann allein noch etwas fahren, ohne dass ihr euch langweilt?“

„Ganz sicher“, gab ich ihm zu verstehen und dann stürzte er sich wieder in das Wasser.

Micha und ich staunten über diese ehrliche Freude des Jungen. Er schien schon lange nicht mehr so ausgelassen gewesen zu sein. Wir machten ein paar Fotos und auch einige Videosequenzen, die wollten wir Michas Eltern zeigen und auch Timmys Onkel. Er sollte sehen, wie glücklich sein Neffe mit uns war.

Der Tag fand einen netten Abschluss in einer Strandbar und Timmy war schließlich doch ein wenig angesäuselt. Das Herumtoben und das Wasser hatten aber auch bei uns ihre Spuren hinterlassen und entsprechend kaputt waren wir, als wir am frühen Abend wieder im Hotel ankamen. Timmy hatte uns begleitet und wir waren uns sicher, dass er sehr glücklich war. Erst zum Abschied sagte er:

„Leute, das war einer der tollsten Tage der letzten Jahre. Vielen, vielen Dank dafür. Ich hoffe es hat euch auch gefallen.“

„Absolut“, sagten Micha und ich fast synchron.

Das führte bei Timmy zu einem Lachanfall. „Ok, das hat mich überzeugt“, sagte er nach Luft schnappend.

Wir ließen ihm noch einen Moment Zeit zum Luftholen und dann baten wir ihn, noch für einen Moment mit in unser Appartement zu kommen.

„Ihr wisst aber, dass Angestellte nicht mit in die Zimmer der Gäste gehen dürfen?“, fragte er peinlich berührt.

„Nein, das wussten wir nicht. Aber es ist uns auch recht egal, weil wir das mit deinem Onkel besprochen haben und somit dürfte das für dich kein Problem werden.“

Gut, das war ein wenig gelogen, aber ich war mir ganz sicher, sein Onkel hätte es gut und richtig gefunden. Er ließ sich dadurch jedenfalls überzeugen.

„Setz dich, wo du möchtest. Etwas Kaltes zu trinken?“, fragte Micha.

Timmy schüttelte den Kopf. Er war doch angespannt. Also ließen wir die Katze aus dem Sack.

„Sag mal“, wollte ich wissen, „wo verbringst du eigentlich die Feiertage?“

Diese Frage schien ihm etwas unangenehm zu sein, denn er druckste ein wenig herum.

„Na ja, ich habe zwar frei, aber so richtig weiß ich nicht, wo ich hin soll. Mein Onkel muss arbeiten und sonst habe ich hier kaum Freunde.“

„Gut, dann ist das jetzt für dich geklärt. Du feierst mit uns. Und bevor du auf komische Ideen kommst, wir haben das bereits mit deinem Onkel geklärt. Die Einzelheiten klären wir morgen Abend bei ihm zu Hause.“

Sprachlos saß Timmy bei uns auf dem Sofa. Er war tief bewegt und erst nach einem kleinen Augenblick hatte er sich gefangen.

„Danke, das ist eine tolle Nachricht. Ich freue mich wirklich sehr darüber. Aber nur, wenn ich euch nicht störe.“

„Dann hätten wir dir das nicht angeboten. Du bist bei uns willkommen und wir werden gemeinsam die Feiertage verbringen. Ach, bevor ich das vergesse, wo wohnt eigentlich Torben in Deutschland?“

„Äh, er sagte in einem Ort bei Hamburg. Also im Norden von Deutschland.“

Damit verabschiedete sich Timmy sehr glücklich von uns für heute. Er wollte erst mal eine Dusche nehmen, sich vom Salzwasser befreien.

Bei uns sah es nicht anders aus, jedoch bevorzugten wir ein gemeinsames Bad im Whirlpool.

Bevor der Leser auf komische Gedanken kommt, wir waren viel zu müde, um auf lustvolle Gedanken zu kommen. Es war dennoch sehr entspannend, aber ich hatte mittlerweile großen Hunger bekommen und entsprechend üppig wurde das Abendessen.

Der Abend selbst war nur relativ kurz für uns, denn wir waren beide vollkommen erschöpft. Lediglich schickte Micha noch die neuesten Videos und Bilder nach Hause. Außerdem berichteten wir von den neuesten Entwicklungen, was Timmy betraf. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl dabei. Wusste ich doch ziemlich genau, was es für ihn bedeuten musste, Anschluss gefunden zu haben. Meine Gedanken schweiften ab. Ich stellte mir die Frage, würde sich hier vielleicht eine Geschichte wiederholen? …

„Gibst du mir bitte den Kaffee?“, fragte mich Micha am nächsten Morgen beim Frühstück.

„Gern, was liegt heute eigentlich an? Timmy hat ja noch einen Tag frei. Ich finde, wir sollten den gemeinsam nutzen.“

„Richtig, ich habe mit seinem Onkel eben noch gesprochen. Er hat uns gebeten, mit Timmy einkaufen zu gehen. Er hat hier noch nicht viel an Sachen zum Anziehen.“

„Coole Idee, aber für Timmy eine Investition, die er sich wohl nicht leisten kann, sonst hätte er das doch bestimmt schon gemacht.“

„Deshalb hat er uns ja gebeten. Timmy hat von ihm Geld bekommen, aber er hat es noch nicht genutzt. Er spart wohl lieber auf ein Notebook.“

Ich war erstaunt, warum sparte er auf ein Notebook, anstelle für sich Anziehsachen zu kaufen? Mein Freund hatte mein Gesicht wohl verstanden.

„Na, ist eigentlich auch verständlich. Jetzt muss er immer seinen Onkel fragen, ob er einen PC nutzen kann, wenn er mit Torben kommunizieren will. Und wir wissen ja mittlerweile, dass er ungern um Hilfe bittet.“

„Schatz, du bist clever. Da hätte ich ja auch selber drauf kommen können. Aber wie überzeugen wir Timmy davon, dass er das Geld für Anziehsachen verwendet?“

Wieder bekam Micha ein Grinsen ins Gesicht. Da wusste ich, er hatte bereits eine Information, die ich nicht hatte. Er legte einen weißen Umschlag auf den Tisch und schob mir den herüber.

Ich nahm das Kuvert und öffnete es. Dort waren einige Dollarscheine zu sehen und ich hatte verstanden.

„Ok, dann gehen wir heute shoppen. Ich habe auch eine Idee, aber das muss ich erst prüfen. Wann treffen wir uns mit Timmy?“

Micha schaute zur Uhr und antwortete: „Wir haben noch eine gute Stunde Zeit. Es wird bestimmt viel los sein, so kurz vor Weihnachten. Na ja, es muss wohl sein.“

Ich wusste, Micha war genauso ein Shopping Muffel wie ich. Nur wenn es unbedingt sein musste, gingen wir einkaufen.

Eine Stunde später fuhren wir mit Timmy in unserem Pick-up in die Stadt. Der Verkehr war gigantisch und entsprechend froh waren wir, dass sich Timmy gut auskannte. Wir parkten auf einem riesigen Parkplatz und wieder einmal wurde uns bewusst, in den USA war alles einige Nummern größer als daheim.

Unser Einkaufsbummel wurde ein voller Erfolg. Erstaunlicherweise ließ sich Timmy gern von uns begleiten, Sachen für ihn einzukaufen. Es schien ihm sogar Spaß zu machen, denn immer wieder hatte er eine neue Idee, was ihm gefallen würde. Er hatte Geschmack und dann kamen wir an einem zentral gelegenen McDonalds vorbei.

„Ich habe einen Vorschlag zu machen“, meinte Timmy plötzlich.

Wir schauten uns fragend an und er fuhr fort: „Wie wäre es, wenn wir uns in einer halben Stunde hier wieder treffen, ich möchte noch eine Kleinigkeit zu Weihnachten kaufen. Das möchte ich aber allein machen.“

Micha und ich hatten sofort begriffen, um was es ging. Da ich auch noch eine Idee hatte, war mir das gar nicht so unrecht. Also trennten wir uns und zogen los.

„Was meinst du, weiß er, dass er uns keine Geschenke kaufen soll?“, fragte ich Micha.

„Natürlich weiß er das, aber er ist alt genug und er hat sich anders entschieden. Das sollten wir respektieren. Sein Onkel hat mir schon gesagt, dass er das vorhat. Also lassen wir ihn machen.“

Wir standen mittlerweile vor einem großen Unterhaltungsmarkt. Dort gab es alles, was einen Stecker hatte. Ich nahm meinen Freund an die Hand und wir betraten die heiligen Hallen des Konsums. Schnell hatte ich mich orientiert und die Laptop-Abteilung gefunden. Jetzt hatte Micha auch begriffen, was ich hier wollte.

„Du bist ein Filou. So kommst du doch noch zu deinem neuen Laptop. Lass mich raten, du kaufst dir einen neuen und wir schenken Timmy den alten Laptop.“

Lachend gab ich meinem Freund einen Kuss.

„Du bist ein Schnellmerker. Macht doch Sinn, oder? Wenn wir einen passenden finden, der hier auch noch günstiger ist als in Deutschland, dann können wir das doch machen.“

Lachend schüttelte er seinen Kopf.

„Ok, ok, du hast ja recht. Dann lass uns mal schauen.“

Wir schauten durch die Regale und mir wurde klar, dass wir uns auf einen Hersteller beschränken sollten, den es auch in Deutschland gab. Bald hatte ich zwei Geräte ausgesucht, die in die Auswahl kamen. Micha hatte dann die zündende Idee.

„Nimm das Tablet. Es kann alles, was der Laptop auch kann und ist leichter und handlicher. Außerdem ist es kompatibel mit unseren Smartphones.“

Damit war die Entscheidung gefallen und wir erstanden dieses Gerät. Der Verkäufer an der Kasse war nur vollkommen irritiert, dass er es nicht festlich einpacken sollte.

Ich schaute auf die Uhr, ein wenig Zeit blieb uns noch und ich wollte Timmy noch eine kleine Überraschung machen. Seinen alten Walkman wollte ich auch in Rente schicken. Ein iPod sollte es sein und das war auch schnell erledigt. Die kosteten hier auch viel weniger als in Deutschland, also war das keine große Sache mehr.

Als wir den Markt wieder verlassen hatten, musste ich zuerst einmal tief einatmen. Ich mochte diese künstliche Luft noch nie. Schnell machten wir uns auf den Weg zurück und trafen fast zeitgleich mit Timmy am Treffpunkt ein. Es traf sich gut, dass wir einen Mäcces als Treffpunkt gewählt hatten. Ich hatte nämlich richtig Hunger und somit gönnten wir uns ein ausgiebiges Fastfood-Essen. Das musste auch mal sein. Timmy schien auch sehr zufrieden zu sein. Wir sprachen allerdings nicht über die gerade getätigten Einkäufe. Im Gegenteil, es ging jetzt darum, dass in zwei Tagen Heiligabend war. Timmy musste morgen noch einen Tag arbeiten und hatte dann die Feiertage frei. Wir wollten morgen einen Ausflug machen. Micha hatte sich eine Überraschung für mich ausgedacht und wir würden den ganzen Tag unterwegs sein. Wir saßen am Tisch und vertilgten unsere Burger, als Timmy fragte:

„Wann soll ich eigentlich Heiligabend zu euch kommen? Mein Onkel möchte gerne wissen, wie ihr das plant.“

Ich wusste, dass wir keinen besonderen Plan hatten. Wir wollten einfach die Tage in Ruhe genießen und uns ausruhen.

„Du kannst zum Mittagessen kommen. Wir wollen morgen eine Tour machen und wissen noch nicht, wann wir am Abend zurück sind. Deshalb lass uns mal Heiligabend ausschlafen.“

Er schaute mich fragend an.

„Oh, wo wollt ihr denn hin?“

Micha wollte es natürlich nicht verraten, es sollte ja für mich eine Überraschung werden.

„Das kann und will ich jetzt nicht verraten. Es soll für Kevin eine Überraschung werden, aber wir werden dir dann übermorgen davon erzählen, ok?“

Damit gab er sich zufrieden und wir machten uns wieder auf den Weg zurück ins Hotel. Timmy schien den Ausflug in die Stadt genossen zu haben, denn er war fröhlich und alberte mit Micha herum. Ich machte immer wieder Fotos von den beiden Kindsköpfen und als wir am Auto ankamen, packten wir unsere Taschen und Tüten auf die Ladefläche und fuhren zurück. Der Rückweg wurde noch sehr interessant. Timmy zeigte uns ein paar sehr schöne Stellen und wir machten auch viele Bilder von der tollen Landschaft. Michas Eltern würden sich bestimmt freuen über die Fotos. Außerdem war es für uns auch eine gute Erinnerung an diese Reise. Ich fühlte mich heute einfach toll. Micha hatte es wieder einmal geschafft, mich meiner Vergangenheit näher zu bringen, ohne dass es für mich unangenehm wurde. Allerdings war uns beiden auch klar, Timmy hatte seinen großen Anteil daran. Er war für mich eine Kopie meiner Geschichte und half mir, mich damit zu beschäftigen, ohne zu sehr an mich selbst denken zu müssen.

Am Hotel trennten wir uns, Timmy wollte sich frisch machen und seine Sachen verstauen. Wir waren ja zum Abendessen bei seinem Onkel verabredet. In unserem Hotelzimmer stellten wir unsere Sachen ab und machten uns frisch. Wir hatten noch etwas Zeit und das nutzten wir, um den neuen Computer einzurichten und auszuprobieren. Was mich ein wenig wunderte, wir hatten seit gestern keine Mail mehr von Michas Eltern erhalten. Normalerweise antworteten sie immer auf unsere geschickten Nachrichten.

„Mach dir keine Gedanken, die haben bestimmt auch Feiertagsstress. Vielleicht sind sie viel unterwegs und du weißt ja, Markus mag keine Laptops überallhin mitnehmen. Sie melden sich bestimmt spätestens Heiligabend.“

„Also gut, du hast vermutlich recht. Und klappt alles mit deinem neuen Superteil?“

„Ja, alles bestens. Aber wir haben etwas vergessen.“

Jetzt schaute mich Micha fragend an.

„Was denn? Mir fällt nichts ein, was wir noch brauchen.“

„Na, überleg mal. Womit packen wir denn die Geschenke ein?“

Jetzt fing Micha an zu lachen. Er hörte überhaupt nicht wieder auf. Plötzlich umarmte er mich und küsste mich.

„Was soll das denn jetzt? Was ist daran so lustig?“, fragte ich ihn etwas empört.

„Schon gut, Schatz. Du hast ja sooo recht, aber daran hätte ich jetzt überhaupt nicht gedacht. Dann müssen wir morgen wohl noch Geschenkpapier besorgen. Das wird auch noch klappen. Sonst fragen wir einfach hier im Hotel. Die haben bestimmt so etwas.“

Das beruhigte mich und wir genossen die restliche Zeit auf unserer Terrasse. Wir ließen es uns einfach nur gutgehen. Nichts besonderes, nur einfach gemeinsam Zeit haben. Das war für mich einfach toll, mit Micha einen Partner zu haben, der nur für mich da war, wenn ich ihn brauchte. Sicher, ich war für ihn genauso immer da, aber ich kannte das ja von meiner Familie nicht. Ich musste immer allein kämpfen. Erst als ich Micha damals hier kennengelernt hatte, veränderte sich mein Leben total. Einige Situationen kamen mir heute immer noch so vor, als wären es keine zehn Jahre.

Micha bemerkte natürlich meine Nachdenklichkeit sehr bald und wir sprachen über diese Zeit. Das half mir, einen weiteren Schritt in die Zukunft zu machen. Dadurch rannte aber auch die Zeit weiter. Schnell waren zwei Stunden vergangen und es wurde schon wieder Zeit, sich in die Lobby zu bewegen. Timmys Onkel hatte uns gebeten, etwas früher zu erscheinen. Er wollte noch etwas mit uns besprechen. Timmy würde dann allein zu ihm kommen. Wir würden ihn später mit zurücknehmen.

Also meldeten wir uns an der Rezeption, denn dort wollten wir uns mit Timmys Onkel treffen. Man sagte uns, dass er noch einen Termin hatte und wir doch bitte einen Moment warten sollten. So nahmen wir in den sehr bequemen Lobbysesseln Platz und es dauerte nicht lange, bis Timmys Onkel zu uns kam. Er entschuldigte sich für seine Verspätung und bat uns, ihm zu folgen.

Mit dem Lift fuhren wir in die Tiefgarage und stiegen dort in seinen Wagen. Die Fahrt dauerte nur fünf Minuten und dann standen wir vor einem sehr ansprechenden Anwesen. Der gepflegte Garten vor dem Hause erstaunte mich hingegen.

„Was ist Kevin? Warum schaust du so erstaunt in den Garten?“

„Fällt dir nichts auf?“

Micha schüttelte den Kopf, aber Timmys Onkel fing an zu lachen.

„Sagen Sie es ihm, sonst stehen wir noch länger hier.“

„Also gut, hier steht nicht ein Weihnachtsmann und auch keine andere kitschige Dekoration. Ein normaler Vorgarten.“

„Oh ja, jetzt, wo du es sagst. Eine angenehme Abwechslung.“

Lachend gingen wir drei nun ins Haus und dort bat uns der Gastgeber ins Wohnzimmer.

„Nehmen Sie bitte Platz. Ich habe Getränke kaltgestellt. Ich muss sie nur gerade aus der Küche holen. Haben Sie einen besonderen Wunsch? Vielleicht ein deutsches Bier?“

„Oh ja, sehr gern“, rief Micha fast euphorisch.

Ich stimmte ihm ebenfalls zu und unser Gastgeber musste lachend zugeben: „Ich habe es mir schon fast gedacht. Aber ich mag es auch sehr gern, jedenfalls deutlich lieber, als unser amerikanisches Bier.“

Es dauerte nicht lange und wir saßen jeder mit einer Flasche deutschem Bier in der Hand am Couchtisch.

„So, weshalb ich Sie etwas früher hergebeten habe: Mir ist nicht entgangen, dass Sie für Timmy etwas ganz Besonderes sein müssen. Ich habe den Jungen noch nie so fröhlich und aufgeräumt gesehen. Er hat sogar bei der Arbeit spürbar gute Laune.“

Micha und ich hörten sehr aufmerksam zu und ich bemerkte bei ihm richtige Freude in der Stimme, als er fortfuhr: „Er hat mir von Ihrer Geschichte kurz erzählt und dass Sie vor zehn Jahren sich hier kennengelernt hatten. Erst danach ist mir bewusstgeworden, dass Sie, Kevin, vermutlich ein sehr ähnliches Schicksal hatten wie Timmy heute. Vor zehn Jahren war das hier sicher nur noch viel heftiger. Ich möchte Sie beide um einen Gefallen bitten.“

Jetzt waren wir aber sehr gespannt.

„Ich möchte, dass Sie meine Gäste sind und Ihre Zeit hier niemals vergessen sollen. Eine Reise in die Vergangenheit soll auch eine Reise in die Zukunft werden. Vielleicht können Sie die kommende Woche mit Timmy noch etwas unternehmen. Ihre Hotelkosten werden jedenfalls von uns übernommen. Und da ist noch etwas. Ich habe mich bei unserer Geschäftsleitung informiert. Wir haben tatsächlich einige Häuser in Deutschland. Ihre Idee, dass Timmy für eine Zeit nach Deutschland geht, ist auf offene Ohren gestoßen. Deshalb haben wir vor, ihn im nächsten Jahr für ein halbes Jahr nach Deutschland zu schicken.“

Wow, das war aber mal eine Überraschung. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Entsprechend begeistert waren wir. Timmys Onkel wurde jetzt aber doch etwas nachdenklich und still.

„Es gibt einen Haken an der Sache, oder?“, fragte ich deshalb.

Er wog mit dem Kopf hin und her und erwiderte: „Ja, es gibt da etwas, wo ich Ihre Hilfe und Unterstützung brauche. Ich würde Timmy gern in die Nähe seines Freundes schicken. Er hat ja in Deutschland einen Jungen kennengelernt und ich möchte, dass sie sich in der Zeit persönlich kennenlernen können. Timmy würde mich niemals darum bitten, daher bitte ich Sie, mir den Ort zu sagen, wo sich sein Freund aufhält.“

Wie aus der Pistole geschossen antworteten wir beide synchron: „In der Nähe von Hamburg. Also in Norddeutschland.“

Er begann zu lächeln.

„Ich wusste es fast. Er hat mit Ihnen darüber bereits gesprochen?“

„Ja, das ist richtig. Wir kommen aus Westfalen, das ist eher im Westen Deutschlands, aber Hamburg ist nicht so weit weg von uns.“

„Gut, ich werde das dann in die Wege leiten. Denken Sie, wir sollten es ihm gleich sagen oder wäre es besser, es ihm erst später mitzuteilen?“

„Sie sollten es ihm gleich sagen. Ich möchte auch erklären warum. Es ist eine zusätzliche Motivation für ihn. Wenn wir in einer Woche wieder nach Deutschland fliegen, dann wird er vermutlich traurig sein und sich fragen, was kommt auf ihn zu. So hat er ein Ziel vor Augen und kann weiter Deutsch lernen und auch Torben darauf vorbereiten. Wir sollten es ihm gleich sagen, oder Micha?“

Micha nickte nur und so wollten wir es auch machen. Aber Micha hatte noch eine Frage für sein Verständnis: „Entschuldigen Sie, habe ich das eben richtig verstanden? Sie haben uns für den Rest unseres Urlaubes eingeladen?“

„Genau, das ist korrekt. Ich spüre bei Timmy diese Veränderung, die Sie mit ihm eingeleitet haben. Ich möchte, dass er begreift, es gibt immer eine Zukunft.“

Wir waren sprachlos. Das war weit mehr, als wir je erwartet hatten. Der Onkel wurde uns immer sympathischer, nicht weil er uns eingeladen hatte, sondern weil er sich ernsthaft um seinen Neffen Gedanken machte.

In diesem Moment klingelte es an der Tür. Timmys Onkel stand auf und ging die Tür öffnen. Wir konnten Timmy schon fluchen hören. Irgendetwas war vorgefallen. Timmys Onkel kam allein zurück.

„Timmy hatte eine Reifenpanne mit seinem Rad. Deshalb hat es etwas länger gedauert.“

Das war meine Spezialität. Alles was mit Technik zu tun hatte, war bei Micha und mir meine Aufgabe.

„Ich gehe mal schauen, ob wir das nicht repariert bekommen. Micha, kommst du mit oder bleibst du bei unserem Gastgeber?“

Eigentlich eine überflüssige Frage. Micha blieb natürlich im Wohnzimmer. Ich ging nach draußen und konnte sehen, wie Timmy bereits das Rad ausgebaut hatte. Allerdings tat er sich schwer damit, den Mantel von der Felge zu bekommen. Ich zeigte ihm schnell, wie das am besten geht und ruckzuck hatten wir den Schlauch heraus. Ich schickte ihn los, Flickzeug zu besorgen und eine Luftpumpe. An seinem Fahrrad war leider keine angebracht. In kurzer Zeit hatten wir alles beisammen und ich begann, die schadhafte Stelle zu suchen. Als ich fündig geworden war, erklärte ich ihm alles genau. So konnte er beim nächsten Mal das auch allein machen. Wir pumpten den Reifen wieder auf und Timmy strahlte wieder.

„Mann, Kevin. Gibt es eigentlich etwas, was du nicht kannst? Danke, für deine Hilfe. So schnell hätte ich das niemals geschafft.“

Lachend gab ich zur Antwort.

„Klar, singen kann ich überhaupt nicht.“

Jetzt brach er in lautes Gelächter aus und nachdem er das Werkzeug zurückgebracht hatte und wir uns die Hände gewaschen hatten, betraten wir gemeinsam das Wohnzimmer. Es war leer.

„Nanu“, sagte ich, „wo sind sie denn hin? Weißt du etwas?“

Timmy schaute genauso verwundert in den leeren Raum. Lediglich ein Zettel lag auf dem Tisch. Timmy nahm den Zettel und las ihn laut vor.

Wir wollten euch bei der Reparatur nicht stören, sind aber gleich wieder zurück. Wir holen das Essen ab. Gruß

Damit war das geklärt. Das traf sich auch gut, denn ich hatte mittlerweile Hunger. Timmy begann schon einmal im Esszimmer den Tisch zu decken. Ich wollte helfen, aber er war der Meinung, dass er eh besser Bescheid wüsste und es schnell gemacht sei. Ich wunderte mich nur immer wieder aufs Neue. Timmy war nicht wiederzuerkennen. Kein Vergleich mit dem ängstlichen Jungen vor ein paar Tagen. Wie würde er wohl auf die Neuigkeiten reagieren, die wir ihm gleich noch mitteilen wollten.

Der Tisch war fertig und wir standen allein im Garten seines Onkels.

„Wie geht es dir eigentlich zurzeit?“, fragte ich ihn.

Er zögerte einen Augenblick und seine Antwort war überraschend.

„Ganz ehrlich, ich weiß es gerade nicht so wirklich. Manchmal habe ich das Gefühl, ich träume und wünsche mir, niemals aufzuwachen. Es fühlt sich toll an, aber ist es auch real und was passiert, wenn ihr wieder weg seid?“

Ja, diese Gedanken waren mir nicht fremd. Mir ging es die erste Zeit in Deutschland genauso.

„Schau mal, wir sind ja nicht weg. Wir werden unsere Adressen austauschen und uns E-Mails schreiben. Gut, wir werden nicht mehr hier sein, aber weg sind wir garantiert nicht.“

„Heißt das, ich kann euch auch weiterhin mal um Rat fragen oder euch etwas erzählen?“

„Genau, wir werden weiterhin Kontakt halten. Das verspreche ich dir.“

In diesem Moment kamen Micha und Timmys Onkel zurück. Jeder hatte zwei große Warmhalteboxen auf dem Arm, die sie in der Küche abstellten.

„Wow, haben Sie noch eine Fußballmannschaft eingeladen?“, fragte ich verwundert.

Wir mussten lachen und auch Timmys Onkel fand das sehr lustig. Er meinte: „Nein, aber wenn ich schon besondere Gäste einlade, dann soll es uns an nichts fehlen. Außerdem soll sich unsere Küche auch mal für ihren Chef austoben können. Los, hinsetzen. Es wird sonst kalt und das wäre schade.“

Wir ließen uns das nicht zweimal sagen und das Essen, oder besser das Mahl, war hervorragend. Ein drei Gänge Menü und Timmys Onkel staunte immer wieder über seinen Neffen. Nachdem wir alle gesättigt waren, fragte er in den Raum.

„Kann mir mal einer sagen, warum Timmy heute so viel gegessen hat? Sonst isst er immer nur wie ein Mäuschen, obwohl er hart arbeitet.“

Bei dem Begriff Mäuschen mussten wir lachen. Timmy wurde etwas rot und Micha gab eine vielsagende Antwort:

„Vielleicht, weil sich seine Situation ändert und er jetzt wieder hungrig auf das Leben ist.“

Wow, dieser Satz gefiel mir sehr gut. Timmy schwieg dabei und ich konnte mir vorstellen, was gerade in seinem Kopf vorging. Sein Onkel schaute uns fragend an und Micha nickte ihm zu.

„Also gut, Timmy, ich habe mit deinen Freunden bereits einiges besprochen und ich kann sagen, du hast großes Glück, diese beiden jungen Menschen kennengelernt zu haben. Jetzt möchte ich aber auch mal etwas für dich tun.“

Timmy wollte schon etwas erwidern, aber ich hielt ihn zurück und er schaute mich irritiert an. Sein Onkel fuhr dann fort.

„Ja, es stimmt schon, ich habe immer viel zu wenig Zeit für dich, aber vielleicht habe ich jetzt doch eine schöne Überraschung für dich. Unsere Geschäftsleitung und ich haben besprochen, dir ein Auslandsjahr zu ermöglichen. Du kannst dein zweites Lehrjahr in Deutschland machen, wenn du das möchtest.“

Bei Timmy dauerte es einen Augenblick, bis er das verstanden hatte und sein Onkel setzte noch einen drauf.

„Hast du vielleicht auch schon eine Idee, wo du hin möchtest?“

Timmy hatte es aber noch gar nicht realisiert, dass er jetzt die Gelegenheit nutzen konnte, deshalb gab ich ihm ein wenig Anschub.

„Hey, du könntest doch nach Hamburg gehen. Dort gibt es ein tolles Haus von euch und du hättest vielleicht die …“

Weiter kam ich nicht, denn Timmy sprang plötzlich auf und fiel mir und Micha um den Hals. Jetzt hatte er es begriffen. Erst danach tat er das auch bei seinem Onkel. Dieses Bild war für uns wunderschön. Zum ersten Mal sah ich beide so nahe beieinander. Sein Onkel hatte den Weg zu seinem Neffen gefunden, auch emotional.

Wir redeten noch einige Zeit über Deutschland und Timmy war völlig aufgedreht. Er fragte uns Löcher in den Bauch und sein Onkel beobachtete ihn die ganze Zeit aus dem Hintergrund. Allerdings wollten wir ihm noch die Möglichkeit geben, mit seinem Neffen ein wenig Zeit allein zu verbringen. Morgen mussten beide ja wieder arbeiten und wir wollten schon sehr früh auf eine Tagestour. Also verabschiedeten wir uns gegen halb zehn und fuhren per Taxi ins Hotel zurück.

Bei unserer Verabschiedung umarmte uns Timmy noch einmal sehr intensiv. Die Freude war deutlich spürbar. Er war einfach glücklich, genau wie sein Onkel.

Es wurde für mich eine angespannte und unruhige Nacht, denn Micha wollte mir partout nicht sagen, was er mit mir am nächsten Tag vorhatte. Es fiel ihm sichtlich schwer und er gab sich wirklich Mühe, mir meine Unsicherheit zu nehmen und mich zu beruhigen, aber mir war nicht wohl dabei.

Einige Zeit waren wir schon mit dem Pick-up auf einem Highway unterwegs und fuhren Richtung Osten. Die Stimmung war recht angespannt. Ich empfand es als etwas übertrieben und fühlte mich zum ersten Mal von Micha nicht richtig verstanden. Ich war der Meinung, er würde mich zu seinem Vergnügen weiter auf die Folter spannen.

„Wie lange müssen wir noch auf diesem langweiligen Highway herumfahren?“, fragte ich entsprechend gereizt.

Micha schaute zur Seite und seine Reaktion ließ mich zum ersten Mal erahnen, dass er sich auch nicht ganz wohl fühlte.

„Nicht aufregen, Schatz. Wir haben es gleich geschafft und bitte nicht böse sein, aber du wirst gleich sehen, warum ich dir nichts gesagt habe.“

Tatsächlich fuhren wir die übernächste Ausfahrt vom Highway herunter und kamen in einen kleinen Ort. Die Häuser waren typisch amerikanisch und auch die Gegend war typisch für diesen Landstrich. Micha gab eine Adresse in das Navi ein und nach etwa zehn Minuten bog er nach links in eine Seitenstraße und noch einmal nach rechts. Schließlich fuhr er in eine Hofeinfahrt und stellte den Motor ab. Ich hatte überhaupt keinen Schimmer, wo wir uns befanden und was wir dort sollten. Micha hingegen stieg wortlos aus, öffnete mir die Tür und zog mich mit den Worten aus dem Auto:

„Komm, wir müssen jetzt jemanden kennenlernen.“

Ich war vollkommen irritiert, aber mein Freund machte nicht den Eindruck, dass er sich irren würde. Wir gingen zur Haustür und an dieser Tür las ich ein kleines Schild, welches mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Welcome home, Kevin.“

Das konnte kein Zufall sein. Bevor ich weiter nachdenken konnte, öffnete jemand die Tür und ein Mann, Mitte fünfzig etwa, stand vor uns. Er gab Micha die Hand und bevor er mich begrüßte, schaute er mir in die Augen.

Dann sagte er: „Kevin, ich kann es immer noch nicht glauben. Willkommen zu Hause.“

Ich war total überfordert. Wer war dieser Mann? Micha schien mich verstanden zu haben und gab Auskunft.

„Schatz, ich habe ohne dein Wissen nach deiner Familie gesucht. Ich war der Meinung, es wäre richtig, deinen Onkel ausfindig zu machen, der dich damals aufgenommen hatte.“

Jetzt machte es „Klick“ bei mir. Aber auch der Mann vor mir schien zu begreifen, dass ich von dem keine Ahnung hatte, was hier gerade passierte.

„Kommt bitte herein. - Kevin, ich dachte, du hast gewusst, wer ich bin. Entschuldige bitte, ich bin dein Onkel Josh. Erinnerst du dich wieder?“

Und ob ich mich erinnerte, aber warum hatte er sich zehn Jahre nicht gemeldet oder auf meine Versuche reagiert, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er führte uns in den Garten und dort wartete eine sehr gut aussehende Frau auf uns. Sie hatte Kaffee und Kekse vorbereitet und bat uns, Platz zu nehmen. Micha ließ mich jetzt nicht mehr los und da spürte ich wieder diese Sicherheit. Ich hatte begriffen, er würde mir immer zur Seite stehen. Meine Zweifel waren unbegründet.

„Kann mir jemand mal erklären, was hier gerade passiert?“, fragte ich ungläubig.

Josh lächelte und begann zu erzählen.

„Ja, sicher. Kevin, ich möchte versuchen, es dir zu erklären. Damals, als du mit Micha nach Deutschland gegangen bist, hat dein Vater getobt und mich verklagt. Er war der Meinung, ich hätte dich entführt und es war eine schlimme Zeit. Deine Mutter hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Deshalb habe ich auch nicht auf deine Versuche reagiert, mit mir Kontakt aufzunehmen. Dein Vater hat mich die ersten Jahre ständig terrorisiert. Mit Detektiven und anderen Typen hatte er versucht, herauszufinden, wo du dich aufhältst. Daher waren wir der Meinung, es sei besser, du wüsstest so wenig wie nur möglich.“

Als ich das hörte, drehte sich mir der Magen um. Mein Vater hatte meinem Onkel jahrelang gedroht, obwohl er mir das Leben gerettet hatte. Wut kam in mir hoch. Unglaubliche Wut.

Micha spürte das und hielt meine Hand ganz fest und flüsterte mir ins Ohr: „Ganz ruhig, Schatz. Nicht aufregen. Es ist vorbei.“

Mein Onkel fuhr mit seinen Ausführungen fort und auch seine jetzige Frau schien sehr besorgt zu sein, denn sie fragte: „Geht es dir nicht gut? Wir können auch warten, bis du bereit bist, dir die ganze Wahrheit anzuhören.“

Aber ich wollte wissen, was hier los war. Entsprechend aggressiver als ich wollte, war meine Reaktion. Und wieder half mir Micha.

„Seid ihm nicht böse, er war nicht darauf vorbereitet und hier hat sich viel ereignet. Aber wir möchten die Geschichte hören.“

Mein Onkel nickte freundlich und setzte seine Erzählungen fort.

„Als dein Vater sechs Jahre nach deiner Flucht krank wurde, hörte es endlich auf. Deine Mutter hatte immer noch nicht die Kraft, sich zu widersetzen, und pflegte deinen Vater bis zu seinem Tod im letzten Jahr. Aber da hattest du schon längst aufgegeben, vermute ich mal. Wir hatten keine aktuelle Adresse von dir und die Briefe kamen als unzustellbar zurück. Was sollten wir machen?“

Diese Information war zu viel für mich. Ich brauchte eine Pause. Micha spürte das und bat meinen Onkel um eine Pause. Wir standen vom Tisch auf und gingen in den Garten. Ich war den Tränen nahe, aber Micha hielt mich fest.

„Warum, Micha? Warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Weil du vielleicht nicht mitgekommen wärst. Ich wollte, dass dieses Kapitel abgeschlossen werden kann. Immer wieder hast du dir die Frage gestellt, was aus deiner Familie geworden ist. Ich hatte entschieden, wenn wir in die Staaten fahren, dann auch ein Treffen mit deiner Familie. Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht eingeweiht habe.“

Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht, wütend oder vielleicht sogar glücklich sein sollte. Nach einigen Sekunden wusste ich es. Ich sollte glücklich darüber sein, dass mein Freund sich so gekümmert hatte.

„Ok, du hast vermutlich sogar recht. Was weißt du noch über meine Eltern? Du hast doch noch mehr herausgefunden.“

„Lass uns zurück an den Tisch gehen. Dein Onkel wird dir alles erklären, was du wissen möchtest.“

Als ich mit Micha wieder am Tisch Platz genommen hatte, schüttete mir meine Tante Kaffee nach und sie lächelte.

„Es tut mir leid, Kevin“, sagte mein Onkel und was dann kam, war mehr, als ich zu träumen gewagt hatte.

„Wir hätten dir das alles gerne erspart, aber was sollten wir tun? Erst als im Sommer ein Brief von deinem Freund kam, wurde uns klar, dass du uns genauso gesucht hattest, wie wir dich. Dann ging eigentlich alles recht schnell. Micha hatte uns von dir geschrieben und uns sogar Bilder von dir geschickt. Das gab uns die Sicherheit, dass du unser Neffe bist. Ich, nein, wir sind unglaublich glücklich, dass du hergekommen bist und wir dir endlich alles erklären können.“

Wie in Trance stand ich auf und umarmte meinen Onkel. Es fühlte sich richtig an. Auch meine Tante nahm mich in den Arm, wobei ich ja nicht einmal ihr leiblicher Neffe war. Sie hatte meinen Onkel erst vor fünf Jahren geheiratet.

Mein Onkel erzählte mir alles, was er wusste, und mir wurde immer deutlicher, es war die richtige Entscheidung gewesen, mit Michas Eltern nach Deutschland gegangen zu sein. Nach einer halben Stunde hatte ich die wichtigsten Dinge erfahren und obwohl es noch mitten am Tag war, brauchte ich jetzt einen Drink. Mein Onkel lachte und wir tranken einen echten amerikanischen Bourbon zur Feier des Tages. Nur Micha nicht, er musste ja noch fahren. Wir redeten noch viel über das, was damals passierte. Aber als ich beginnen wollte, von meinem jetzigen Leben zu erzählen, unterbrach mich mein Onkel.

„Warte damit bitte noch. Ich habe noch eine Überraschung für dich und ich glaube, diese Person hat ein genauso großes Interesse an deinen Erzählungen wie wir.“ Er schaute zur Uhr und ergänzte: „Es dauert nicht mehr lange, sie wollte gleich hier sein.“

Ich schaute Micha an und erkannte auch bei ihm eine Anspannung. Bislang hatte er mich immer beruhigen können, aber jetzt war sogar eine leichte Nervosität bei ihm zu erkennen. Das machte mir Angst. Was würde nun noch kommen?

Wir lenkten uns ein wenig damit ab, dass mir mein Onkel von sich erzählte, dass er immer noch im Hotelgewerbe tätig war, aber als Manager der Kette, in der wir wohnten, und nicht mehr in einem Hotel vor Ort. Ich ahnte auch, dass er derjenige war, der Timmy den Deutschlandaufenthalt ermöglicht hatte.

Dann klingelte es an der Haustür. Josh stand auf und ging um das Haus herum. Meine Anspannung stieg ins Unermessliche. Micha nahm meine Hand und wieder strahlte er Ruhe aus, obwohl er mindestens genauso angespannt war wie ich. Mein Onkel kam mit einer Frau zurück und unterhielt sich mit ihr. Als ich sie richtig sah, wusste ich sofort, wer mir da gegenüber stand.

„Mama?“

Sie erstarrte fast, bevor sie mir wortlos um den Hals fiel. Jetzt flossen doch reichlich Tränen. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Nach zehn Jahren stand mir meine Mutter gegenüber. Unfassbar!

Der Tag nahm einen sehr heilvollen Verlauf. Ich konnte endlich viele der mich quälenden Fragen klären und auch meine Mutter hatte wieder Freude gefunden am Leben. Wir redeten noch stundenlang über die Vergangenheit und auch über die Zukunft und als ich berichtete, dass mir Micha einen Heiratsantrag gemacht hatte, da sagte meine Mutter etwas für mich Unvergessliches:

„Dann werden wir nach Deutschland fliegen. Ich würde sehr gern dabei sein. Vielleicht kann ich dann auch endlich mal bei Michas Eltern Danke sagen für alles.“

Das war eine tolle Überraschung und Micha hatte noch eine Idee.

„Wie wäre es eigentlich, wenn wir jetzt auch die Feiertage zusammen verbringen würden? Wir haben zwar Timmy eingeladen, aber ich denke mal, ihr kommt miteinander klar.“

Mein Onkel wollte natürlich wissen, wer das ist. Also erklärten wir allen Anwesenden die Sache. Und ich hatte recht, mein Onkel wusste jetzt auch, um welchen Azubi es sich handelte. Er musste lachen, aber sagte dann auch:

„Ok, dann machen wir übermorgen einen Ausflug zu euch. Wir haben noch viel nachzuholen. Oder was meint ihr?“

Der Tag nahm ein sehr emotionales Ende bei meiner alten, wiedergefundenen Familie. Wir mussten abends zwar wieder aufbrechen, aber dieser Trip in meine Vergangenheit wird mir für immer im Gedächtnis bleiben.

Wir kamen erst sehr spät in der Nacht wieder in unserem Hotel an und ich war immer noch sehr bewegt. Obwohl wir viel auf der Rückfahrt darüber gesprochen hatten, war ich noch sehr aufgedreht und konnte nicht einschlafen. Mein Micha nahm mich irgendwann einfach mit ins Bett und sorgte dafür, dass ich bald beruhigt einschlafen konnte.

Heiligabend stand an und wir hatten ja auch mit Timmy noch einiges vor. Es war eine weise Entscheidung, Timmy erst mittags zu treffen. Wir schliefen nämlich bis elf Uhr.

„Micha, habe ich das eigentlich nur geträumt oder ist gestern schon Weihnachten gewesen?“

Er lachte und streichelte mir durch mein Gesicht.

„Ich denke, du hast es wirklich erlebt, und weißt du was? Ich bin sehr froh, dass du mir das nicht übelgenommen hast, dass ich dir nicht gesagt hatte, was ich vorhabe.“

„Du hast es richtig gemacht. Ich weiß nämlich nicht, ob ich damit einverstanden gewesen wäre. Aber so ist es doch noch viel besser, als ich je geträumt habe. Jetzt lass uns aber für Timmy auch noch ein schönes Weihnachten machen.“

„Das werden wir tun, aber wir sollten auch an uns denken und das Fest der Liebe genießen. Wir sollen übrigens heute Nachmittag nicht in unser Appartement kommen. Das Personal möchte gern die Weihnachtsvorbereitungen machen. Was meinst du? Fahren wir mit Timmy mal in die Natur?“

Ich war einverstanden und so wollten wir es machen. Erst gemeinsam unterwegs zu Mittag essen und dann den Nachmittag in der Natur verbringen. Abends sollte dann die Bescherung sein.

Wir trafen uns mit Timmy in der Lobby und marschierten schnell zum Auto. Meine Laune war grandios und auch Micha schien die Aufregungen von gestern bestens verdaut zu haben. Timmy merkte natürlich sehr schnell, dass wir gestern einen außergewöhnlichen Tag erlebt hatten. Er traute sich aber erst zu fragen, als wir bereits eine Zeit lang unterwegs waren.

Micha und ich berichteten ihm von den Ereignissen und als wir geendet hatten, schien er sehr beeindruckt zu sein. Im Gegensatz zu sonst saß er einen Moment schweigend im Auto und schaute aus dem Fenster. Wir ließen ihm die Zeit, das sacken zu lassen, denn wir konnten uns schon vorstellen, dass ihn das an seine Situation erinnern würde.

„Kevin“, fragte er mich dann, „wie war das für dich, als du realisiert hattest, was da passiert?“

Jetzt musste ich aufpassen. Ich wollte ihn nicht belasten.

„Ein sehr komisches Gefühl. Am Anfang hatte ich sogar Angst, ob ich das überhaupt wollte. Erst als meine Mutter mich in den Arm nahm, wusste ich, wie sehr ich sie die ganze Zeit vermisst hatte.“

Timmy wurde sehr ruhig und ich legte meinen Arm um ihn. Er sollte spüren, dass ich verstanden hatte, was ihn gerade bewegte, und er bemerkte wohl meine Absicht.

„Sorry, dass ich eure gute Laune gerade kaputt mache, aber ich vermisse meine Familie auch manchmal.“

„Sag so etwas nicht, es ist doch vollkommen klar, dass dir das schwerfällt. Ich bin mir sicher, dass du irgendwann auch wieder fröhlich nach vorne schauen kannst. Dein Onkel scheint ja begriffen zu haben, was bei dir los ist. Also lass uns heute einen schönen Tag haben.“

Micha hatte wieder einmal die richtigen Worte gefunden und Timmy konnte auch wieder lächeln.

„Stimmt, es ist Weihnachten und ich habe meine Freunde bei mir und bin nicht allein.“

Wir fuhren nicht mehr allzu lange und die Natur wurde immer grüner und interessanter. Micha schien schon ein Ziel ausgesucht zu haben, denn er fuhr sehr zielstrebig über Nebenstraßen und bald waren wir vor einem Steakhaus angelangt.

Es war für den Heiligabend noch recht viel los. Timmy erklärte uns, dass die Amis am Heiligabend oft noch mit der Familie unterwegs waren. Erst abends würde es dann überall ruhig werden.

Das wurde dann auch deutlich, als wir nach dem Essen in den großen Park gingen. Es war noch richtig voll. Überall waren Familien mit Kindern unterwegs. Meist mit den Vätern. Wir vermuteten, dass die Mütter zu Hause die Vorbereitungen trafen.

Unser Tag hatte für mich etwas Erholsames im Vergleich zu gestern. Dadurch, dass wir uns vieles anschauten und erklären ließen, hatte ich überhaupt keine Zeit, über das gestrige Erlebnis weiter nachzudenken. Auf der Rückfahrt informierten wir Timmy noch, dass er morgen meine Mutter kennenlernen würde. Er war sehr aufgeregt und als wir ihm noch sagten, wer mein Onkel ist, wurde er total nervös. Er hatte natürlich realisiert, dass mein Onkel der Gesamtmanager seines Arbeitgebers war. Was mich allerdings etwas stutzen ließ, war die Tatsache, dass wir bei unserer Rückkehr in unser Hotel eine Nachricht erhalten hatten. Wer würde uns hier eine Nachricht schicken?

Micha nahm den Umschlag und öffnete ihn noch in der Lobby. Er las sie durch und bekam ein Lächeln ins Gesicht.

„Sag mal, Schatz, hast du eigentlich gewusst, dass meine Eltern auch über Weihnachten wegfahren wollten?“

Er zeigte mir die Karte und ein Foto von seinen Eltern in einem sonnigen Umfeld.

„Nein, davon hatten sie nichts gesagt. Schreiben sie denn, wo sie sind?“

Mittlerweile standen wir mit Timmy vor unserer Tür und ich hatte die Chipkarte in der Hand und betrachtete noch einmal das Foto mit Michas Eltern. Irgendetwas störte mich daran. Ich öffnete die Tür und dachte in dem Moment, wir wären im falschen Appartement. Überall war es weihnachtlich dekoriert und auch der Baum war festlich geschmückt. Entgegen meiner Befürchtungen war es aber nicht kitschig geworden. Wir legten unsere Sachen ab und schauten uns um. Timmy schien sehr bewegt, denn er stand vor dem Baum und schaute sich den Schmuck genau an.

Plötzlich fragte mich Micha: „Sagt mal, wo kommen denn die Geschenke her? Wir haben unsere Pakete doch noch gar nicht aus dem Schrank geholt.“

Erst jetzt wurde ich richtig stutzig, denn unter dem Baum lagen einige kleinere und größere Geschenke. Alle professionell eingepackt und mit bunten Bändern und Schleifen verziert. Ich stellte mich neben Timmy, der immer noch fasziniert vor den wunderschön platzierten Paketen stand.

„Du hast nicht zufällig etwas damit zu tun?“, fragte ich ihn nicht ganz ernst gemeint.

Timmy drehte seinen Kopf zu mir und antwortete leise: „Nein, das würde ich nicht machen. Außerdem habe ich meine Geschenke noch in der Tasche.“

Dabei zeigte er auf seine schwarze Sporttasche, die er neben dem Sofa abgestellt hatte. Also was war hier los? Micha gesellte sich zu uns und wir drei standen etwas ratlos vor dem geschmückten Baum. Plötzlich klingelte das Telefon in unserem Appartement. Micha nahm den Hörer ab und sprach mit der Rezeption. Ich hatte nicht alles verstanden, aber sein Grinsen und Kopfschütteln ließ mich ahnen, dass heute noch etwas passieren würde.

Er legte den Hörer auf und kam zu mir. Er umarmte mich liebevoll und sagte zu mir: „Schatz, du musst gleich gute Nerven haben. Wir bekommen noch Besuch.“

Damit verwirrte er mich vollends. Allerdings hatte ich keine weitere Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn schon klopfte es an unserer Tür. Micha löste sich von mir und Timmy schien auch nicht zu wissen, was hier geschah. Micha schaute mich an und fragte: „Machst du auf oder soll ich gehen?“

„Ich geh schon“, antwortete ich und ging zur Tür.

Ich öffnete die Tür und was mir da entgegenstrahlte, haute mich um. „Überraschung“, schallte es mir aus zwei mir sehr bekannten Gesichtern entgegen. Bevor ich noch reagieren konnte, hatte mich Claudia schon umarmt, während Markus und Micha sich um den Hals gefallen waren.

Ich wusste überhaupt nicht, was hier gerade passierte. Michas Eltern standen in unserem Appartement und freuten sich wie die Schneekönige, weil ihnen ihre Überraschung gelungen war.

„Hallo? Was geht denn hier ab? Wo kommt ihr denn her? Und wieso …“

Weiter kam ich nicht, denn Claudia hatte schon die Regie übernommen.

„Ruhig, Kevin. Wir erklären es dir sofort. Aber sag mir doch bitte erst noch, wer der junge Mann hier ist?“

Dabei zeigte sie auf Timmy, dem das Ganze sichtlich peinlich war. Er war total überrollt worden und kam sich jetzt bestimmt total fehl am Platze vor. Micha übernahm für mich die Erklärung.

„Das, Mama, ist Timmy. Von ihm hatte ich euch doch bereits per Mail berichtet. Wir wollten gemeinsam Weihnachten feiern, weil er ja in einer ähnlich schweren Situation ist wie mein Kevin damals.“

Claudia lächelte und ging auf Timmy zu. Sie gab ihm nicht die Hand, sondern umarmte ihn gleich genauso herzlich wie uns. Auch Markus tat es ihr gleich und somit war klar, sie hatten sich schon mit der Sache beschäftigt.

Es dauerte doch einige Augenblicke, bis wir uns etwas beruhigt hatten. Ich war einfach nur platt. Gestern das Treffen mit meinem Onkel und meiner Mutter, heute standen Michas Eltern plötzlich in unserem Wohnzimmer und das war alles etwas viel für mich. Ich setzte mich in einen Sessel und obwohl ich das nicht wollte, liefen mir einige Freudentränen aus den Augen. Claudia hatte es bemerkt und nahm mich von hinten in den Arm.

„Kevin, beruhige dich wieder. Alles halb so wild. Micha hatte uns von seinem Plan berichtet, dich mit deiner Familie zusammenzubringen und wir haben dann entschieden, da wollen wir dabei sein und haben uns auf den Weg gemacht, gemeinsam mit euch Weihnachten zu feiern. Wir freuen uns sehr darauf, deine Mutter und deinen Onkel morgen kennenzulernen.“

Jetzt war ich mir ganz sicher: Geschichte wiederholt sich doch und ist nicht einzigartig.

Die Bescherung hatte für jeden von uns eine Überraschung bereit. Allerdings bekam Micha von seinen Eltern eine ziemlich große und auch sicher nicht ganz preiswerte Überraschung. In einem Umschlag war ein Foto von einem schwarzen Mazda MX-5. Ein kleiner offener Sportwagen. Endlich war der alte Benz Geschichte und Micha bekam ein sicheres Auto. Es sollte unser Hochzeitsgeschenk werden. Ich war einfach nur sprachlos. Was für ein unvergessliches Weihnachten!

Was mich besonders freute, Michas Eltern bezogen Timmy immer wieder mit in ihre Erzählungen ein und ich wusste, er würde in Deutschland ganz sicher zu uns zu Besuch kommen. Diese Geschichte war noch nicht zu Ende.

Ende der Challenge 2015 und allen Lesern ein frohes und gesundes Weihnachtsfest.

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