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Stierblutrot

Weihnachtschallenge 2011

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Stierblutrot

Und so geschah es, dass Lucifer persönlich ins Zimmer seines jüngsten Sohnes stürmte und den Knaben beim Haar packte.

„Genug!“, rief der erzürnte Mann. „Jetzt ist es allemal genug!“

Nun, wenn Lucifer Senior wütend war, dann durfte man sich das nicht vorstellen wie bei einem erbärmlichen Menschen, immerhin stand der Herr bestimmt fünf Meter hoch – und nicht allzu viel weniger breit. Zudem schwankte seine Hautfarbe zwischen einem blassen Rosé und einem stierblutroten Strahlen, was nur noch davon übertroffen werden konnte, dass aus jeder Körperöffnung ein Feuerstrahl schoss, sobald er versuchte vor Wut zu schnaufen.

Aus jeder Körperöffnung.

Der höllische Schneider lebte also in Prunk und Trunk.

„Nutzlos seid ihr, alle nutzlos!“ Und im Hintergrund ertönte das Rauschen, welches jede Feuerfontäne untermalte.

„Mose, Sidd, Jesus und Mohammed haben die Sache mit den Religionen nicht hinbekommen, das 20. Jahrhundert war ein völliger Reinfall und was bringt schon der Terrorismus, wenn nach einem Krieg immer schon wieder alles vergessen ist? Ihr seid alles unfähige, wertlose, untalentierte, kleine Maden!“

Während der Sekretär Lucifer Seniors im Türrahmen erzitterte, kümmerte es dessen Jüngsten eher weniger, wie sehr sein Vater tobte. Vermutlich hatte das viel damit zu tun, dass der Kleine erst ein Dutzend Monate alt war und bei den Funken spuckenden Flammen nur selbst leuchtende Augen bekam.

„Und Nora? Deine verdammte Schwester hat ewig gepredigt, dass wir vorsichtiger sein, die Menschheit in zwei große Gruppen spalten müssen, die sich gegenseitig vernichten, ohne dass sie von Verbündeten gerettet werden können. Rassismus und Standesunterschiede dümpeln irgendwo vor sich hin und jetzt soll auch noch unser letztes Projekt verenden?“

Der Sekretär zog sich zurück. Es war wohl kein guter Tag Lucifer Sr. zu sagen, dass Zerberus schon wieder eine Füllung im Zahn brauchte, weil er seine Zahnputzer verschluckte, bevor sie ihre Arbeit machen konnten.

„Ich hätte ja nie zugestimmt, aber die Idee war gut, immerhin werden diese elenden Viecher alle mit 50-50 Chancen geboren, ob sie nun homo- oder heterosexuell werden. Nichts Besseres als eine Hälfte gegen die andere aufzuhetzen. Homophobie klang besser als Rassismus und besser als die Atombombe! Aber es kann doch nicht sein, dass es nur zehn Prozent Homos gibt und dann entdeckt diese Hure die verdammten Mistviecher auch noch für sich und gibt ihnen Schutzengel!“

„Engwl!“, quiekte der kleine Junge, der sich sanft an seinen Haaren hin und her drehte und seinen Vater mit großen, schwarzen Augen anstrahlte.

„Engel!“, wiederholte der gigantische Brocken. „Engel, die sogar zu feige sind, selber Menschen zu werden, die ängstlich über der Atmosphäre rumschwirren und es den Dreckshomos leichter machen, damit sie gegen meine Homophobie ankommen! Wie zur Hölle soll es die Menschheit spalten, wenn die Heteros ihren Feind nicht mehr abmurksen wollen, sondern mit offenen Armen empfangen?“

Viel Aufmerksamkeit schenkte der kleine Junge seinem Vater jedoch noch immer nicht, auch wenn mittlerweile schon Krippe, Schrank und Spielzeug brannte und die Kleidung bis auf einen letzten Fetzen verkohlt auf dem Boden lag – da war auch der letzte Fetzen an der Schulter vom Feuer zerfressen und in Staub und Rauch verwandelt.

Auch der höllische Schreiner leistete sich ohne großen Aufwand gern etwa fünf Frauen und circa 20 Kinder.

„Ein für alle Mal! Wenn du die Sache mit den Homos nicht hinbiegst, dann gibt es wieder Pest und Pocken!“

„‘ocken!“, plapperte Lucifer Junior erfreut nach und klatschte in die Hände, unwissend, dass sein Schicksal sich gerade dramatisch gewendet hatte.


So schnell wie in den letzten sechs Monaten hatte er Zeit noch nie voranschreiten sehen. Gerade hatte er noch panische Angst vor der Matura gehabt, da hatte er auch schon mit seinem Chor auf der Bühne des Abschlussballs gesungen und – wie als hätte er gerade einmal geblinzelt – saß er nun in der Aufnahmeprüfung der Uni.

Das Psychologie-Einstiegsbuch hatte er in- und auswendig gelernt, die logisch-analytischen Aufgaben hätte er im Halbschlaf lösen können, aber dieser verdammte englische Fachtext…

Immerhin wusste er mittlerweile schon, dass es um intrauterine Untersuchungen während der Schwangerschaft und deren Folgen ging. Wie nun aber die Untersuchung aussah, bei wem sie gemacht wurde und was genau dabei rausgekommen war, das blieb weiterhin im Nebel von fremdartigen Worten und .05 Angaben versteckt.

Englisch hatte ihm fast seine Matura kaputt gemacht, wehe es hinderte ihn daran, das zu studieren, was er wollte und sich erträumte!

Die Zeit schien noch einmal an Tempo zuzulegen und da hetzte er auch schon, die letzten Kreuze auf dem Antwortbogen zu machen. Vielleicht reichten seine anderen Punktzahlen ja. Bestimmt reichten sie. Sie mussten reichen.

Liam legte seinen Stift beiseite und schloss den Bogen.


„Sieh ihn dir an! Dünn wie ein Mädchen, kein Gramm Fett oder verdammt noch mal Muskeln an ihm!“

„Also ich finde ihn ausgesprochen attraktiv. Nicht so ein Fleischklops wie deine ganzen anderen Söhne. Hier unten wird man zu schnell fett“, entgegnete Lucia und stupste fast vorwurfsvoll gegen die fürstlichen, aber nackten Speckröllchen ihres Geliebten.

Der Sekretär war mal wieder zu früh am Morgen in die Gemächer gekommen und hatte Lucifer Sr. erzürnt, was in seiner morgendlichen Verfassung zu einem dreieckförmigen Brandloch oberhalb seiner Lenden führte.

„Lass das!“ Ein böser Blick traf die junge Frau. „Eine Schande ist der Junge, nichts anderes. Nun lernt er auch noch – wie heißt das? – Psycholologie?“ – „Psychologie.“ – „Wie auch immer. Er lernt einen Weiberberuf! Ein Lebenswerk für ein Weichei, einen Schwächling. Und sieh‘ dich um! Nur Frauen neben ihm, vor ihm, hinter ihm.“

„Sollte dich das nicht freuen?“

„Ja, wenn er sie doch nur anschauen würde! Er gesellt sich wie eine von ihnen zu diesem Pack! Hat denn dieser Nichtsnutz nicht verstanden, dass er gegen die verdammten Homos sein soll und nicht selber einer werden? Vernichten soll er sie alle, den ersten Schritt machen, die ersten zehn Prozent wegschaffen soll er! Wenn Gott die verfluchten Homos schützt und alle sie lieben, wie soll sich da das Volk spalten und gegenseitig vernichten? Und wenn Liam auch noch selber einer wird, anstatt gegen sie zu hetzen! Dieser Nichtsnutz!“

„Du wiederholst dich.“

„Ich wiederhole was immer ich will, ich bin der verdammte Teufel!“

„Amen.“


Ha, er war tatsächlich der einzige, der mit seinem Vater gekommen war! Nicht, dass ihn das wirklich überraschte, aber ein wenig freute er sich trotzdem darüber. Primär war er ekstatisch, dass Gabriel überhaupt aufgetaucht war, immerhin konnte er sich bei ihm nie ganz sicher sein, ob er wirklich zugehört hatte oder bereits mit den Gedanken wieder ganz weit weg gewesen war.

Ein ganz kleines bisschen war er schon traurig darüber, dass er keinen richtigen Abschlussball hatte, sondern nur eine Verleihung der Zeugnisse, ohne großes Trara. Aber immerhin war er nicht alleine da, kaum jemand anderes hatte überhaupt jemanden dabei und neben ihm stand sein Vater, fast zwei Meter groß, muskelbepackt und in einem Anzug, der so nach maßgeschneidert schrie, dass man taub wurde, wenn man ihn ansah.

Schon als kleiner Junge hatte Simon mit seinem Papa angegeben wie mit einem absolut tollen Spielzeug.

„Soll ich noch mal betonen, dass wir das hier billiger und früher hätten haben können?“

„Ich befürchte fast, dass du damit weiterhin auf taube Ohren stoßen wirst“, erwiderte Simon und grinste seinen Vater an, während dieser mal wieder die Krawatte seines Sohnes zurechtrücken wollte.

„Wir hätten das hier billiger und früher haben können.“

„Entschuldige? Hast du etwas gesagt?“

„Wir hätten das…“

„Was meinst du? Ich kann dich leider nicht verstehen.“

Gut, die kleine Denkschelle hatte er fast verdient. Das Grinsen konnte der Klaps auf seinen Hinterkopf jedoch nicht beseitigen. Heute war Simon der König der Welt.

„Hast du dich schon an der Uni eingeschrieben?“

„Nein, geht erst mit Zeugnis, aber morgen früh fährt Klara mich in die Stadt und dann wird alles erledigt. Angemeldet bin ich schon.“ Immerhin hatte er sich darauf schon wie ein Erstklässler gefreut. „Braver Simon.“ Ironisch streichelte er seinen eigenen Kopf und wich der nächsten Denkschelle aus.

Der darauffolgenden Umarmung wich er ganz definitiv nicht aus und grinste noch ein klein bisschen breiter.

„Ich bin stolz auf dich.“

Und noch breiter.

„Auch wenn wir das viel billiger und früher hätten haben können.“


„Gabriel war eine gute Wahl.“

„Da bin ich mir nicht sicher, viel zu sanft geht er mit dem Jungen um und dann ist er nicht zur Stelle, wenn er Hilfe benötigt.“

„Gabriel war die beste Wahl. Simon weiß, was er tut, er kennt seine Ziele, er kennt den Weg dorthin. Gabriel hat ihn Gutes gelehrt.“


Vorlesungen würden ganz bestimmt nicht Liams Lieblingsbeschäftigung werden. Es war deutlich zu anstrengend, 90 Minuten still zu sitzen und zuzuhören, wenn da vorne jemand stand und noch einmal vorplapperte, was sie doch eh alle für den Aufnahmetest gelernt hatten. Seine große Hoffnung war nun sein erstes Seminar.

Nur 40 würden sie sein und Referate sollte es auch angeblich geben, sogar Diskussionen und Abschlussarbeiten! Liam nannte sich gern einen Streber, nicht umsonst hatte er auf seinem Maturazeugnis fast nur Einser gehabt. Viel anderes als Lernen hatte es ja auch nicht zu tun gegeben, denn schon von Kindesalter an war es ihm recht schwer gefallen, Freunde zu finden. Zum Glück hatte er dem Kirchenchor beitreten können, ansonsten hätte seine Mutter ihn noch für seine Ungeselligkeit filetiert. Liam konnte wunderbar singen, somit war es egal, ob ihn seine Chorbrüder mochten oder nicht, sie waren nett zu ihm.

Das Thema seines ersten Seminars war Orientierung an der Universität. Gut, vielleicht hatte er sich zu früh gefreut, wenn es um Abschlussarbeiten ging, aber Referate würden sich bestimmt anbieten, wenn sie eh in Kleingruppen aufgeteilt werden würden. Seine Stimmung zumindest war also euphorisch, als er am Dienstagabend zur Straßenbahnstation auf der anderen Seite des Parks lief. Den Umzug in die Stadt hatte er dank seiner Mutter sehr gut überstanden und bisher fiel ihm auch in seiner Einzimmerwohnung nicht die Decke auf den Kopf, wie sie prophezeit hatte, während sie von WGs und Studentenwohnheimen geschwärmt hatte. Liam fühlte sich wohl.

Der Oktober allerdings zeigte sich kühler als erwartet und er stieg erleichtert die Treppen hinauf und setzte sich, als die Straßenbahn hielt. Zwanzig Minuten später suchte er verzweifelt nach dem richtigen Hörsaal. Bisher hatte er nur das Audimax kennengelernt, jetzt stand er im Fakultätsgebäude und war sich nicht einmal sicher, ob er die rechte oder die linke Stiege nehmen sollte oder ob das ganz egal war.

„Sorry, suchst du auch Hörsaal G?“

Liam drehte sich etwas hastig um, die Stimme, die die Musik aus seinen Kopfhörern übertönt hatte, hatte ihm gehörig erschreckt.

„Das Tutorium-Ding, willst du da auch hin?“

Der junge Mann vor ihm lächelte, was jedoch mit jeder Sekunde ungeduldiger wirkte.

„Ja, aber ich weiß nicht, wie ich da hinkomme, die ganzen Buchstaben der Hörsäle auf dem Schild sind überklebt“, antwortete er endlich und deutete auf die Tafel, die er zuvor ausgiebig studiert hatte.

Der junge Mann lachte.

„Daran wirst du dich ein wenig gewöhnen müssen, es gibt ein paar Spaßvögel hier, die es endlos amüsiert, Erstsemestrige zu verwirren. Und ich spreche nicht von Studenten!“

Liam entgegnete ein verhaltenes Lächeln und musterte sein Gegenüber. Ob er wohl selbst noch Student war? Jung genug schien er. Aber bestimmt nicht im ersten Semester, dafür war er zu alt. Oder doch? Immerhin hatte er bei der Prüfung Leute gesehen, die bestimmt über 50 gewesen waren. Wichtig war nun jedoch: Wusste der Mann, wo sie hin mussten?

„Komm, wir müssen in den zweiten, linke Stiege.“

Erleichtert folgte er und freute sich über den Aufzug, der auf dem Hochparterre erschien. Er mochte Stiegen nicht besonders, vor allem nicht, wenn jemand neben ihm lief und ihn schnaufen hörte.

„Und, wie ist der Aufnahmetest bei dir gelaufen?“, fragte der junge Mann, als sie gemeinsam im Aufzug standen.

„Ganz gut, nur im Englisch-Teil war ich nicht besonders, aber Hauptsache, ich bin angenommen worden.“ Zumindest redete er sich das ein, so gut es nur ging. „Und wie war es so bei dir?“

„Ach, das fühlt sich an, als wäre es schon Jahre her, wie du sagst, Hauptsache, ich bin angenommen worden!“

Sein Begleiter lächelte Liam breit an, den die charismatische Offenheit des anderen etwas einschüchterte. Bisher hatte er sich während und vor Vorlesungen nicht mit anderen Studenten unterhalten und nun erlebte er tatsächlich genau solch ein Gespräch mit jemandem, mit dem er so gar nicht reden wollte. Nicht, dass er von Natur aus schüchtern oder wenig selbstbewusst war, aber er hatte kein gutes Gefühl dabei, wenn sein Gegenüber allein durch dessen Charme scheinbar zu ihm herabsprechen konnte.

Außerdem trug der junge Mann ein wie angegossen sitzendes, schwarzes Hemd und eine enge, gebügelt aussehende Jeans. Nur die weißen Turnschuhe ließen ihn lockerer wirken.

Gut sah er auf jeden Fall aus, besser als Liam in T-Shirt, Kapuzenpulli und weiten Jeans.

Ja, er sah definitiv gut aus.

„Na, da sind wir auch schon, komm!“

Wieder folgte er dem anderen, betrat hinter ihm einen recht gemütlichen Hörsaal, der ihn sehr an die Chemie- und Physiksäle seiner alten Schule erinnerte. Plötzlich wünschte er sich zurück in die Schule, wo er gewusst hatte, wo sein Platz war, wer mit ihm in einem Raum saß.

„Wie wäre es da hinten, da sind noch Plätze“, schlug sein Begleiter vor und Liam nickte, setzte sich in Bewegung.

Erst als er saß, bemerkte er, dass der andere sich in die Stuhlreihe neben dem Rednerpult gesetzt hatte.

Der junge Mann war ein Gruppenleiter!

Liam betete schon fast, dass er einen anderen Kleingruppenleiter bekommen würde. Er wollte ein Mädchen, am besten ein biederes, zurückgezogenes Strebermädchen!


„Verdammter Nichtsnutz!“

„Reiß dich zusammen, dein Schneider hat Urlaub!“


Eingelebt konnte man es nicht gerade bezeichnen, wie Liam sich etwa einen Monat später fühlte. Aber zumindest fühlte er sich weiterhin wohl in seiner Einsamkeit und seiner Mutter berichtete er, dass er Freunde gefunden hatte, besonders in seiner Kleingruppe im Tutorium, sogar mit seinem Gruppenleiter hatte er sich angefreundet.

Die Wahrheit ging niemanden etwas an und Liam verabscheute seine Kleingruppe weiterhin still und heimlich.

Sie waren mittlerweile nur noch sechs, denn zwei von ihnen hatten ihr Studium bereits abgebrochen und Liam hielt sie für Weicheier. Die anderen fünf waren jedoch in keiner Weise besser als die zwei Abbrecher.

Caro und Dani waren zwei Schnepfen mit weißblondem Haar und einem IQ in der Nähe des pH-Wertes des dazu passenden Shampoos.

Wohlgemerkt, einem IQ, nicht einem IQ respektive.  

Arina war eine sehr junge Russin, die annehmbares Deutsch sprach, wenn sie denn überhaupt mal sprach, was Liam in solchen Gruppengrößen gar nicht in den Kram passte, denn er war gern derjenige, der seinen Mund nur im Notfall öffnete.

Andreas war ihm relativ egal. Er war ein pseudo-Player, der enge Pullis, Gürtel mit großen Schnallen und kurze Schals trug und davon redete, dass er mal bei einem großen Konzern arbeiten wolle und sowieso viel besser sei als sie, weil er nebenbei BWL studierte.

Der Gruppenleiter, Oliver, war für ihn weiterhin ein charismatisches Arschloch, an das Caro und Dani ihr gemeinsames Herz verloren hatten. Ständig machte er Witze, erzählte von Clubs und Bars statt Bibliotheken und verstand sich zu allem Übel wirklich mit allen Gruppenmitgliedern fantastisch.

Ja, sein damaliger Retter vor dem Herumirren und Zuspätkommen hatte tatsächlich ausgerechnet den Kleingruppentermin, den er gewählt hatte.

Das Allerbeste war jedoch die Anwesenheit des fünften Gruppenkollegen. Simon. Drei Jahre älter als Liam, sportlich, gut angezogen und absolut „umwerfend“ in dieser „Ich sehe sogar so aus, wenn ich aus dem Bett krieche“-Art.

Liam verabscheute „Ich sehe sogar so aus, wenn ich aus dem Bett krieche“-Typen mit all der Antipathie, die er aufwenden konnte.

Simon mochte Musik aus den 80ern und Robbie Williams, war als Jugendlicher Punk gewesen, hatte sich aber besonnen und seine Matura nachgeholt. Simon ging außerdem gern tanzen, hatte sein ganzes Leben lang schon hier gewohnt und lebte mit seinem Vater außerhalb im 21. Bezirk. Simon erzählte noch dazu gern von seiner Freundin Klara, bei der er einziehen wollte, wenn sein Vater, den sie sowieso alle in Unbekanntheit verehren sollten, wieder ins Ausland ging. Simon redete meist von Clubs, von denen Liam noch nie gehört hatte, die jedoch eine gewisse Signifikanz haben mussten, denn Caro und Dani sahen ihn plötzlich nicht mehr mit strahlenden Augen an, seit Simon diese Clubs erwähnt hatte.

Er hatte eine Vermutung, was diese Signifikanz war.

Simon schrie in allem, was er darstellte, nach einer Schwuchtel.

Nicht dass er sonderlich weiblich aussah oder besonders aufreizende oder farbenfrohe Kleidung trug. Aber seine ganze Art, seine Ausdrucksweise, seine Gestik und Mimik, seine Bereitschaft alles von sich Preis zu geben … Er war schwul. Liam war sich fast sicher.

„Okay, unser nächstes Kleingruppentreffen ist in zwei Wochen. Bis dahin konzentriert euch einfach auf die Präsentation vor eurem Faculty Advisor und vergesst unsre Projekte erst einmal.“

Oliver sprach schon wieder in dieser verdammten, kumpelhaften Art mit ihnen. Liam kochte. Heute machte ihn wirklich alles aggressiv. Simon hatte seinen Schlüssel auf den Tisch gelegt und daran hing ein kleiner Regenbogen-Anhänger. So offensichtlich! Er war wirklich schwul und er präsentierte es auch noch mit Zeichen, auf die diese Kerle stolz waren! Unglaublich!

„Ich würde vorschlagen, dass wir uns nach der Präsentation noch treffen und besprechen, wie es gelaufen ist. Danach würde ich euch gerne zum Ausklingen auf den Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus einladen. War jemand von euch dieses Jahr schon dort?“

Sie schüttelten alle den Kopf, sogar Simon und Andreas, die doch so gern damit prahlten, dass sie alle Events mitmachten, bei denen Liam sich lieber zurückhielt. Caro und Dani schüttelten vermutlich ihre Köpfe, um zu sehen, ob ihr Gehirn noch darin herumhüpfte.

„Dann wäre das doch eine nette Sache. Jetzt lasse ich euch aber schon einmal allein, damit ihr euch einen Termin zum letztendlichen Vorbereiten ausmachen könnt und wir sehen uns dann nächste Woche. Erreichen könnt ihr mich wie immer über E-Mail oder Handy.“

Als ob er seinen Lehrenden am Handy anrufen wollen würde!

Das Vorbereitungstreffen entpuppte sich allerdings als unangenehmer als gedacht. Zu Simon wollten sie nicht alle hinausfahren. Arinas Mutter sah es nicht gern, wenn Fremde in ihrer Wohnung waren. Andreas prahlte damit, dass seine Freundin die Wohnung zum Arbeiten brauchte, niemand fragte, was das für eine Arbeit war. Caro und Dani sagten nein. Ein Café kam nicht in Frage, denn sie brauchten für mehr als eine Stunde Internet.

Liam lebte allein, hatte einen großen Esstisch und hatte keine Lust, dass sie am Ende im Treppenhaus der Uni landen würden, wie Simon vorgeschlagen hatte, denn dort war es verdammt kalt. Das Treffen musste also in seinem momentanen Heiligtum und Rückzugsort stattfinden, wenn er nicht frieren wollte.

Und er mochte frieren wirklich überhaupt nicht.


„Gabriel! Klara ist da, wir fahren jetzt.“

„Simon! Hör auf zu schreien!“

„Gabriel! Dann hör du auf zu schreien!“

Er lachte und sah seinem Vater entgegen, der die Stiege hinablief, um sich bei ihm zu verabschieden. Nach dem Referatstreffen würde er für eine Nacht bei Klara schlafen, entweder weil es zu spät sein würde, um noch nach Hause zu fahren, oder weil er seine beste Freundin vermisste und dringend Zeit mit ihr verbringen musste.

Aber solang Gabriel zuhause war, war selbst eine Nacht ein Grund, sich mit einer Umarmung zu verabschieden.

Sein Papa mochte ihn verdammt gern und Simon umarmte ihn noch mal so fest.

„Sei lieb zu deinen Kollegen, egal wie dumm oder hässlich!“, schalt Gabriel seinen Sohn, bevor er dessen Haare ein letztes Mal durchwuschelte und sich wieder in sein Büro zurückzog.

„Besonders zu deinem sexy Chorknaben, mh?“, flüsterte Klara laut, kurz bevor die Tür im ersten Stock zuflog.

Simon rollte mit den Augen und setzte sich seine Wollmütze auf. „Oh, zu meinem sexy Chorknaben möchte ich etwas ganz anderes als lieb sein!“

Nun lachten beide und machten sich auf den Weg zur U-Bahn Station, natürlich durch eisig kalten Wind und keinerlei Schnee.

Mit Liam wollte er tatsächlich völlig andere Sachen machen. Beispielsweise wollte er gern mal ein ganz normales Gespräch mit ihm führen, das nicht mit ihrer Kleingruppe zu tun hatte. Am liebsten über Musik, darüber, was Liam außer Chorknabenmusik so hörte, ob er schon mal auf einem Konzert gewesen war, ob er gern mal wieder Klavier spielen wollte, vielleicht bei Simon zuhause?

Über die Uni könnten sie notfalls auch reden. Immerhin hatte er Liam schon regelmäßig in den gleichen Veranstaltungen gesehen, sogar in denen, die für das erste Semester nicht unbedingt ratsam waren. Immer saß der Jüngere allein, schrieb mit, kritzelte vor sich hin oder blickte so gedankenvoll ins Nichts, dass Simon sich sicher war, dass in diesem Kopf genial kreative oder einfach nur geniale Ideen entstehen mussten.

Außerdem fand er diesen Kopf ausgesprochen schön, ebenso wie den dazugehörigen Körper, auch wenn dieser viel zu gern unter weiter, dicker Kleidung versteckt war. Allerdings konnte Simon das bei den Temperaturen in den Hörsälen verstehen, auch wenn das zu weiteren Gedanken führte, wie beispielsweise dem Drang, Liam anderweitig zu wärmen.

Ja, er wollte wirklich ganz andere Sachen mit dem Chorknaben machen, als einfach nur lieb zu ihm zu sein.


Der junge Mann errötete und hielt nicht nur Hände, sondern auch Flügel vor sein Gesicht.

Die wunderschöne, strahlende Frau neben ihm lachte aus vollem Halse, sichtbar erfüllt von Stolz und Freude.

„Ich sage dir doch, Gabriel hat ihn genau richtig vorbereitet für seine Aufgaben!“


Natürlich hatte Liam sich viel mehr Gedanken gemacht, als wirklich notwendig gewesen wären. Er hatte Cola und Limo besorgt, obwohl er selbst im Winter nur Tee trank. Außerdem hatte er eine extra Packung Lebkuchen und zwei Packungen Chips gekauft. Noch dazu hatte er seine kleine Wohnung gesaugt und alles, was eventuell persönlich sein könnte, in den allerhintersten Ecken verstaut.

Das Essen und Trinken stand herum, als hätte er es ganz bestimmt nicht nur für seine Gruppenkollegen gekauft, und sein eigener Lebkuchenvorrat war sicher auf seinem Hochbett versteckt.

Er war wirklich ein wenig zu perfektionistisch und nervös.

Seinen Literaturteil hatte er soweit vorbereitet, allerdings hatten sie immer einen Text zu zweit bearbeitet, also musste er noch mit Arina gemeinsam die Themen aufteilen und Folien erstellen. Liam war es wie immer recht, wenn er den anspruchsvolleren Part übernehmen konnte, dann wusste er wenigstens, dass alles glatt laufen würde.

Er war aufgeregt.

Sie hatten ausgemacht, sich um sieben Uhr abends zu treffen, da Caro und Andreas bis sechs arbeiten mussten. Liam saß allerdings schon seit fünf Uhr mit nervös knackenden Fingern vor seinem Notebook und sah sich angespannt eine Scrubs Folge nach der nächsten an.

Um kurz vor sieben klingelte es dann zum ersten Mal und er sprang regelrecht auf und stürzte zum Türöffner. Nachdem er im Hinterhaus wohnte und noch dazu im dritten Stock, dauerte es circa zwei Minuten, bis es dann an seiner Wohnungstür klopfte.

Liam wollte ins Bett, wollte nach Hause, wollte allein auf der ganzen Welt sein.  


Lucifer Senior hätte am liebsten Karten für sein Fern-Seh Zimmer verkauft. Überall hatte sich herumgesprochen, dass heute Abend eventuell der erste Streich Juniors gegenüber den Homosexuellen stattfand.

Heute Abend würde die Homophobie wiederbelebt werden!

Er protzte nur so vor Stolz und hob Lucia überschwänglich in seine Arme, die nur lachte und den Mann heimlich einen Narren strafte.


Arina war nicht aufgekreuzt.

Andreas hatte das mit einem überheblichen „So, Kollegen, ist das Studium nun einmal, man kann sich auf niemanden verlassen, außer auf sich selbst!“ abgetan und sich darüber gefreut, dass er Simon den Löwenanteil ihres Textes zugeschoben hatte.

Noch dazu war er bereits um neun Uhr gegangen, angeblich hatte er das auch schon zuvor betont, woran sich jedoch niemand außer ihm zu erinnern schien.

Nachdem Caro und Dani ihren Soll an Intelligenzleistung bereits mit ihrem Thema erfüllt hatten, ließ Liam sie dann auch mehr als gern um zehn Uhr gehen und setzte sich seufzend zu Simon, der ihn als letzter nun noch störte. Der Ältere saß noch immer am Tisch und war in Liams Text vertieft.

„Also, wenn du die komplette Einleitung, die Ergebnisse und die Diskussion übernimmst, dann könnte ich es bestimmt morgen schaffen, die Methodik und die Durchführung zu machen, wenn wir die Folien noch zusammen schreiben.“

Liam schwieg.

„Komm schon, es ist doch Unsinn, wenn du darunter leidest, dass Arina sich nicht an unsre Deadlines halten kann!“, betonte Simon und drehte sich dem Jüngeren zu. „Mein Präsentationsteil ist eh fertig, es ist doch viel fairer, wenn du nur noch die Ergebnisse allein vorbereiten musst und ich dich beim Rest unterstütze. Ich habe eh noch Zeit heute.“

Durch Liams gesamten Körper floss Unwillen. Er wollte das alleine machen. Er wollte seine Ruhe haben, wollte endlich wieder allein sein und sich mit seinem Notebook ins Bett verkriechen.

Aber er hatte für die anderen Teile schon über zwei Stunden gebraucht und allein die Ergebnisse würden noch mal eine Stunde benötigen, der Rest noch anderthalbmal so viel und er konnte sich jetzt schon kaum mehr konzentrieren. Außerdem hatte er doch nur bis zum späten Nachmittag Zeit und von acht bis vier Vorlesungen ohne längere Pausen!

Er zögerte.

Doch – verdammt noch mal – er hatte keine Lust mehr, vor allem keine Lust mehr, mit Simon zusammenzuarbeiten! Der andere nervte ihn so sehr, selbst wenn er still neben ihm saß und las. Liam konnte ihn einfach nicht ertragen.

„Was hältst du davon: Ich setze noch eine Kanne Tee auf“, beide hatten sich nämlich als Weihnachtsteetrinker geoutet, „und dann kümmern wir uns zusammen um den Rest und in anderthalb Stunden sind wir bestimmt fertig, statt dass du hier noch drei Stunden sitzt und am Ende über deinem Laptop einschläfst.“

Gut. Was sollte er noch sagen? Er hatte wirklich keine Lust mehr, Arinas ganzen Präsentationsteil allein zu schreiben und Simon hatte wohl recht mit den drei Stunden.

Aber er fühlte sich so unwohl! Er mochte es nicht, mit Simon allein zu sein, vor allem nicht in seiner eigenen Wohnung, in der gelbes Schirmlicht, das Rauschen des Ofens und das leise Pfeifen des Windes fast für romantische Atmosphäre sorgte. Er mochte das wirklich überhaupt gar nicht und wandte sich fast trotzig dem Ergebnisteil zu.


„Feigling!“

„Weichei!“

„Feige Sau!“

„Oh, werdet ihr wohl! Niemand nennt meinen Sohn feige!“, brüllte Lucifer Sr. und setzte die große Eckbank, sowie den Tisch in lodernde Flammen.

„Und niemand außer mir nennt meinen Sohn ein Weichei!“


„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie übel das war!“

Simon vergrub sein Gesicht in seinem Kissen und zog die Decke über seinen Hinterkopf, um sein Aufstöhnen zu dämpfen.

„Das war so absolut klischeeromantisch! Der Typ hat ernsthaft einen von diesen alten Ölöfen, der die ganze Zeit leise im Hintergrund rauscht, und dann hat er auch noch Weihnachtstee gekocht und hat sich in seinen Sessel geschmust! Und dann fängt es ernsthaft auch noch an zu schneien!“

Klara lachte und Simon hatte ein wenig das Gefühl, dass dieses Lachen auf seine Kosten ging.

„Der erste verdammte Schnee und Liam sitzt in seinem Sessel und schaut mit verdammten Flutlichtstrahlern statt Augen zu, wie sein Fensterbrett weiß wird! Du kannst dir nicht vorstellen, wie unglaublich putzig das war!“

Weiteres Lachen und jetzt war er sich sicher, dass seine Freundin seine Qualen nun überhaupt nicht ernst nehmen wollte.

Dabei war es wirklich schlimm gewesen. Das „Schlimm“, was mit der richtigen Person viel mehr ein „Wahnsinnig toll“ war, mit der falschen Person jedoch eher in Richtung eines „Katastrophal“ tendierte. Egal wie gern Simon seinen Kollegen mochte, Liam war ganz definitiv die falsche Person für so eine Situation, immerhin schien es ganz so, als ob der Jüngere ihm alles andere als Sympathie entgegenbrachte.

Warum das der Fall war? Simon war sich da nicht so ganz sicher. Allgemein hatte er das Gefühl, dass Liam niemanden aus der Gruppe wirklich mochte und es wirkte auch so, als ob er ganz froh war, dass niemand ihn sonderlich beachtete. Trotzdem schien es ihm, dass Liam ganz besonders ihm gegenüber unfreundlich war, ihm gern keine Antwort auf Fragen gab, seine Anwesenheit am allermeisten mied.

„Glaubst du, er weiß, dass ich schwul bin?“

Klara strafte ihn mit einem „Ernsthaft?“-Blick. „Du kannst doch nicht wirklich erwarten, dass Leute nicht bemerken, dass du schwul bist, so wie du dich manchmal gibst.“

„Ach, darum geht es doch gar nicht, das soll doch bitteschön jeder gern wissen, aber … Ich weiß nicht, Liam ist zwar sicher einer der Schlausten, aber teilweise wirkt er so … weltfremd! Ich glaube nicht, dass er weiß, was das Regenbogenzeichen an meinem Schlüssel bedeutet, und alles andere sind doch Dinge, die man nur wirklich bemerkt, wenn man Schwule kennt. Liam denkt bestimmt, dass Schwule alle Transvestiten sind.“

„Na ja, dann weiß er es eben nicht. Und?“

„Ich will wissen, warum er mich nicht mag. Wenn es nicht wegen der ganzen Schwuchtel-Sache ist, weil er das gar nicht bemerkt, dann muss es ja einen anderen Grund geben, warum er zu mir noch viel unfreundlicher ist als zu den anderen. Ich hab ihn verdammt noch mal überreden müssen, dass ich ihm bei seinem Vortrag helfen darf!“

„Vielleicht findet er dich eben einfach unsympathisch. Vielleicht hast du irgendwas an dir, was er eben nicht mag, vielleicht …“

„Ich will aber wissen, was es ist, was er nicht mag!“

Seine Freundin seufzte. „Simon. Er ist einer von hunderten Kollegen aus deinem Studium, er ist eben zufällig gerade in deiner Kleingruppe. Was ist denn schon, wenn er dich eben nicht mag? Ich denke, du solltest aufhören, dich in diese Sache hineinzusteigern, nur weil du ihn interessant findest. Nächstes Semester sitzt du mit anderen Leuten in deinen Seminaren und du kannst Liam vergessen.“

„Ich hab aber keine Lust, ihn zu vergessen! Ich mag ihn, er ist süß, er ist schlau, er hat tolle Meinungen und drückt sich toll aus, wenn er mal den Mund aufmacht. Ich will ihn kennenlernen, will mich mit ihm unterhalten, will wissen, was er über tausend verschiedene Sachen denkt.“ Auch Simon atmete tief ein, unterdrückte jedoch ein Seufzen und sprach weiter. „Ich mag ihn, mehr als alle anderen, die ich bisher im Studium kennengelernt habe. Und das obwohl er ganz anders ist, als du, als die anderen aus der Schule, als alle meine bisherigen Freunde.“


„War das Teil des Plans? Ich dachte, er solle ihn nur von seiner Mission abhalten.“

„Aber gerade das macht er doch.“

„Es scheint mir mehr, als verliert er sein Herz an jemanden, der vorhat, ihn und alles was ihm lieb ist, zu zerstören.“

„Er weiß, was er tut. Und wenn er diese Strategie wählt? Solange sie funktioniert, ist es seine Entscheidung.“

„Es stört dich nicht, dass er verletzt werden könnte?“

„Simon ist stark. Und er hat Gabriel an seiner Seite. Er ist auf alles vorbereitet, was geschehen könnte.“

„Ich hoffe, du hast recht.“


Es war frustrierend.

Arina hatte sich morgens um kurz vor sieben gemeldet, dass es ihr leidtat, dass sie nicht zum Treffen hatte kommen können. Sie schrieb ihm, dass sie familiäre Probleme hätte. Ihr Bruder brauchte sie, leider war der in St. Petersburg, deshalb war sie auf dem Weg nach St. Petersburg. Sie würde nicht zur Präsentation kommen. Und das Studium war für dieses Semester auch erst einmal vorbei, es würde bestimmt drei oder vier Monate dauern, bis sie zurückkommen könnte.

Und es tat ihr wirklich leid.

Liam wäre es lieber gewesen, er hätte jemanden gehabt, dem er die Schuld für diese bescheuerte Situation zuweisen konnte.

Der vergangene Abend mit Simon war qualvoll gewesen. Nicht nur, dass es länger gedauert hatte, als er befürchtet hatte, nein, es hatte wahrhaftig zum ersten Mal in diesem Winter geschneit und das war absolut nicht akzeptabel, wenn er mit einem keinesfalls sympathischen Kollegen in seiner Wohnung saß. So sehr Liam Winter, Kälte, Frieren auch hasste, er mochte Schnee wirklich gerne, genauso wie er Weihnachten und die Adventszeit mochte. Zumindest solang er drinnen war, heißen Tee hatte und den Schnee, ohne seine Kälte spüren zu müssen, schön finden konnte.  

Er hatte den Schneeflocken zuschauen wollen, vielleicht die peinlich, scheußliche Kinder-CD über die Adventszeit anhören wollen. Er war so gerne kindisch zu dieser Zeit und am Abend zuvor hatte er schmerzlich feststellen müssen, dass ihn dieser Zustand verletzlich, verwundbar, zu einer Zielscheibe des Amüsements machte.

Zwar hatte Simon nicht gelacht, aber er hatte ihn ständig komisch angesehen, bestimmt, weil er ihn innerlich ausgelacht hatte, weil er befremdet gewesen war von seinem Verhalten.

Sein Kollege war aber auch wirklich ein absolut schrecklicher Typ. Liam hatte seine Meinung nur immer deutlicher bestätigt bekommen, je älter der Abend geworden war.

„Okay, jetzt fehlen nur noch die Kennwerte aus dem Ergebnisteil und dann steht die Präsentation“, hatte der Ältere gegen Sonnenaufgang gesagt. Zumindest hatte es sich für Liam so angefühlt, seine Uhr hätte ihm vermutlich widersprochen.

„Ja, die füge ich morgen im Laufe des Tages ein. Ich bringe dann den USB-Stick mit der Präsentation mit“, hatte Liam entgegnet, den Blick starr auf seinem Notebook. „Du kannst jetzt gehen, denke ich.“

Er hatte tatsächlich mit sich ringen müssen!

Sogar seine so perfekt antrainierte Höflichkeit litt unter seiner Abneigung zu Simon.

„Und danke für deine Hilfe.“

Dieses Aas hatte gelacht! Unglaublich! Als hätte er Liam ausgelacht, als hätte er genau gewusst, was in dessen Kopf für ein Chaos geherrscht hatte. Mit jeder Sekunde wurde der Jüngere wütender und es fiel ihm schwerer, nicht einfach laut herauszuschreien, dass Simon, diese verdammte Schwuchtel, sich gefälligst verziehen sollte.

„Keine Ursache, ich profitiere ja nur davon, wenn nicht die Hälfte eures Teils im Halbschlaf zusammengefasst wurde.“

Liam hasste das sanfte Lächeln auf Simons Lippen, das leise Mitleid, welches den Kopf des Älteren leicht schief legte.

„Na dann, schlaf gut und vielleicht sehen wir uns ja morgen früh bei Statistik.“

Als ob Liam ihn jemals sehen wollen würde, wenn es nicht zwingend notwendig war. Jeder Kontakt mit Simon war ihm langsam zu viel und er hatte erst recht keine Lust auf eine gemeinsame Präsentation, während der Simon so tun würde, als wären sie Freunde, auf einen Weihnachtsmarktbesuch, während dem Simon so tun würde, als würden sie sich mögen. Er wollte ihn nicht mehr sehen! Nicht ein einziges Mal!


„Oh, oh …“

„Das kannst du laut sagen.“

„OH, OH!“

„Witzbold. Das ist wirklich … unerwartet.“


Die Präsentation würde kein Problem sein. Die Theorie stand soweit und es war niemand dabei, der wirklich Mist bauen würde. Zehn Minuten vor dem Vortrag war Simon ruhiger, als er es vermutet hätte.

„Hauptsache ihr sagt nicht ständig ‚Ähm‘“, betonte Andreas, während sie gemeinsam vor dem Hörsaal warteten. „Das ist total wichtig, wenn ihr das mehr als dreimal sagt, dann bekommt ihr automatisch nur noch eine Vier!“

Simon ignorierte ihn.

„Hast du noch halbwegs genug Schlaf bekommen?“, fragte er stattdessen Liam und wandte Andreas demonstrativ den Rücken zu. Weitere wenig ernstzunehmende Ratschläge interessierten ihn absolut nicht und würden ihn nur unnötig nervös machen.

Liam jedoch strafte ihn mit einem Blick, der nicht einmal auf sein Gesicht gerichtet war, jedoch deutlich sagte, dass ihn sein Schlafrhythmus nichts anzugehen hatte. „Ja.“

„Das freut mich“, versuchte Simon es mit einem betonten Lächeln und legte eine Hand auf die Schulter seines kleineren Kollegen. Immerhin waren dazwischen Winterjacke, Pullover und T-Shirt, das konnte dem Jüngeren wohl kaum zu viel Körperkontakt sein.

Seinen Irrtum merkte er, als Liam seine Schulter zur Seite bewegte und nur im letzten Moment als Alibi Caro mit einem „Und, bist du nervös?“ ansprach, um sein Zurückziehen zu verdecken.

Wow, Liam fand ihn offensichtlich schlimmer, als er gedacht hatte. Es traf ihn ein wenig, viel mehr jedoch fühlte Simon sich immer motivierter, den Hintergrund dieses abweisenden Verhaltens herauszufinden.

Dann war es soweit. Ihr Vortrag begann und es lief … gut. Caro und Dani lasen jedes Wort von ihren Karteikarten ab und Andreas machte dumme Witze, die absolut niemand lustig fand.

Simon lachte aus Mitleid, egal wie wenig er amüsiert war.

Wie er erwartet hatte, übernahm Liam den von Ariana fehlenden Teil absolut souverän und stellte auch seine eigenen Abschnitte sehr professionell dar, wenn nicht sogar ein wenig zu kühl und klinisch.

Er selbst war mit sich zufrieden, erst recht nachdem Oliver ihm zugenickt und ihn angelächelt hatte, immerhin musste ihr Gruppenleiter ja wissen, was man von ihnen forderte.

Die 45 Minuten vergingen wie im Zeitraffer und schon war es an Simon, noch einmal vorzutreten und sich für die Aufmerksamkeit der Gruppe zu bedanken. Die bekamen geklopften Applaus und setzten sich zum Rest des Kurses, um die zweite Präsentation anzusehen. Liam saß nicht neben ihm, obwohl er extra darauf geachtet hatte, dass er hinter Liam lief, um sich zu ihm setzen zu können. Aber der Jüngere war tatsächlich bis zum Ende der Reihe gegangen, um sich eine Reihe weiter nach vorn zu setzen.

Himmel, der Kerl musste ja fast schon irgendeine Krankheit haben, die ihn umbringen würde, sobald er Simon zu nahe kam …

Simon bekam nicht allzu viel von der zweiten Präsentation mit. Es reichte, um am Ende, als sie sich vor dem Saal zusammenfanden, zu betonen, dass sie definitiv besser gewesen waren und das obwohl sie insgesamt zwei Mitglieder weniger in ihrer Gruppe hatten.

„Das stimmt absolut! Falls ihr es im Übrigen noch nicht wisst, Ariana wird dieses Semester nicht zu uns zurückkehren, sondern muss leider einige Monate in Russland bleiben“, erklärte Oliver und schenkte ganz offensichtlich Liam einen entschuldigenden Blick. „Aber na gut, dann wird es eben ab jetzt noch etwas kuschliger bei uns.“

Sie lachten und Liam wandte seinen Blick ab.

Okay, offenbar hatte er auch noch eine Krankheit, die ihn umbrachte, wenn er mit Oliver interagierte.

„Na dann, seid ihr immer noch alle an Bord für den Weihnachtsmarkt?“

Allseitige Zustimmung. Sogar von Liam! Simon war begeistert. Den ganzen Tag hatte er vermutet, dass der Jüngere nicht kommen würde, immerhin war es eine freiwillige soziale Aktivität mit Leuten, die er relativ offensichtlich nicht sonderlich gern mochte. Trotzdem machte er sich mit ihnen gemeinsam auf den Weg zum Rathausplatz, vertiefte sich jedoch recht schnell in ein Gespräch mit Andreas – sofern solch ein Gespräch überhaupt Tiefe besitzen konnte.

Als sie nach wenigen Minuten angekommen waren, konnte Simon nur noch deutlich weniger amüsiert an seinen Kollegen denken. Sein Bauch kribbelte fast schmerzhaft, als er sich unwillkürlich vorstellen musste, dass er mit seinem Freund, der in seiner Vorstellung von Liam verkörpert wurde, den Weihnachtsmarkt betreten würde und sich nicht komisch dabei vorkommen musste, wenn er vor Freude auf und ab hüpfte und von einem Stand zum nächsten sprang. Er mochte Weihnachten wirklich, wirklich gern und alles glitzerte und ein paar Schneereste hingen in den Bäumen im Rathauspark und überhaupt war alles einfach nur… schön.

Er sehnte sich sehr nach einer Hand zum Festhalten und zwang sich selbst dazu, dass er die Augen über seine eigenen Pathetik rollte, als er sogar das Gefühl bekam, seinen letzten Ex-Freund zu vermissen, mit dem er ganz bewusst schon seit Monaten nicht mehr gesprochen hatte. Er brauchte wirklich mal wieder jemanden an seiner Seite.

Und dann war da Liam…

Sie steuerten nach einigem Stöbern durch verschiedene Stände recht schnell auf einen Glühweinstand zu, der nach dem Eklat am Eröffnungstag diesmal hoffentlich wieder etwas zu Trinken für sie haben würde. Gabriel hatte ihm sehr unterhaltsam geschildert, wie peinlich es gewesen war, als er seine Kollegen aus dem Nachbarland auf den Weihnachtsmarkt hatte führen wollen und sie dort keinen Glühwein mehr bekommen hatten.

Außer Caro, die mit dem Auto da war, weil sie noch zu ihrem Freund fahren musste, der in einer Stadt einige Kilometer entfernt wohnte, holten sie sich alle eine Tasse und gesellten sich um einen frei gewordenen Stehtisch herum.

„Also, auf euch und auf eure Leistung heute Abend! Ich bin sehr froh, dass ich euch als Gruppe erwischt habe, es hat wirklich alles super geklappt und ich darf euch schon mal verraten, dass euer Faculty Adviser nach eurem Vortrag zu mir meinte, dass genau so die Präsentationen auszusehen haben. Na dann, auf eine absolut gut geleistete Arbeit!“

Auf Olivers Toast hin stießen sie vorsichtig an und tranken einen – Simons Meinung nach sehr verdienten – ersten Schluck Weihnachtspunsch.

Nicht nur vom heißen Getränk oder Alkohol wurde es Simon recht schnell warm im Bauch. Die ganze romantische Stimmung begeisterte ihn absolut und es machte sogar Spaß mit Dani über kleine dicke Weihnachtsmänner als Christbaumkugeln zu lachen oder mit Caro Mützen auszuprobieren, die ihre Haare verstrubbelten und außerdem wirklich grässlich aussahen. Eine Tasse Glühwein hatte völlig ausgereicht, dass er seine Hemmungen ignorierte und sich wie ein Fünfjähriger benahm, obwohl er das gewöhnlich allerhöchstens mit Klara oder seinem Vater tat.

„Wie wäre es denn mit einem Glühweinnachschub?“, schlug Andreas, der wider Erwarten noch immer mit ihnen unterwegs war, ein paar Stände nach dem Mützenstand vor und deutete auf die nächste ersichtliche Glühweingelegenheit.

„Na klar! Wollt ihr hier warten, dann hole ich welchen für alle und wir müssen uns nicht alle anstellen“, stimmte Simon sofort zu.

Die anderen dankten ihm und drückten ihm jeweils einige Geldstücke in die Hand, damit er für sie alle zahlen konnte.

„Liam, könntest du mitkommen, mir tragen helfen?“, fragte er dann mutig und strahlte den Jüngeren an.

Bei dieser Stimmung konnte doch nicht einmal Miesepeter Liam schlechte Laune haben oder böse auf ihn reagieren! Und tatsächlich, der Jüngere stimmte zu und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.

„Der Weihnachtsmarkt ist voll toll, oder? Ich bin jedes Jahr wieder begeistert. Warst du schon mal hier? Du kommst ja von etwas weiter weg.“

„Nein, ich war noch nie hier, aber du hast definitiv recht, es ist wirklich toll. Vor allem der riesige Adventskranz gefällt mir und der Baumschmuck im Rathauspark“, entgegnete Liam überraschenderweise freundlicher, als Simon ihn je erlebt hatte.

„Total! Die letzten Jahre hatten sie auch immer einen riesen Adventskalender am Rathaus, da haben sie alle Fenster mit blauen Vorhängen zugezogen“, erzählte der Ältere enthusiastisch und legte, als er einer Dame mit Kinderwagen auswich, eine Hand auf Liams Schulter, um sich abzufangen – und er griff nicht ins Leere! Liam erlaubte ihm die Berührung und Simons Strahlen wurde noch ein bisschen breiter.

„Und so wie heute ist das eh voll genial, je mehr Leute dabei sind, desto größeren Spaß macht es und besser als mit so einem Anlass geht es gar nicht!“

Liam lachte, so richtig laut.

Vielleicht war es nur der Glühwein, vielleicht mochte er Weihnachtsmärkte einfach auch so gern, dass er sich etwas mehr gehen ließ, auf jeden Fall fühlte es sich verdammt toll an, so mit ihm zu reden.

„Da hast du völlig recht. Und… boah!“

Simon spürte die Schulter unter seiner Hand entschwinden und drehte sich in die Richtung, in die der Jüngere verschwunden war. Diesmal lachte er aus vollem Halse, denn Liam stand in einem Paradies voll Trinkschokolade und hatte Augen so groß wie Untertassen. Die gesamte Theke bot ein gigantisches Angebot von Schokoladenquadern, in denen Holzlöffel und teilweise kleine Plastikkolben mit verschiedenen Alkoholen steckten.

„Weiße Schokolade mit Jamaika Rum. Zartbitter mit Zitronenlikör. Vollmilch mit flüssigem Karamell“, las er vor und sah sich um, bis seine Augen Simons fanden. Hastig winkte er den anderen näher. „Schau mal! Die haben sogar 80%ige Schokolade zum Trinken! Das ist … Wow!“

Simon konnte nur wieder lachen und lief entzückt auf seinen Kollegen zu. Völlig in Gedanken an Weihnachtsmusik, Lebkuchengeruch, Winterkälte und dem endlich aufgetauten Liam gefangen, trat er ganz nah an den Jüngeren heran und legte einen Arm um ihn. Ohne darüber nachzudenken, dass es gerade mal zwei Sekunden her war, dass Liam ihm nicht mehr mit purer Abneigung entgegentrat, lehnte er sich nach vorn und fragte laut: „Hast du irgendwas mit Glühwein oder Wein gefunden?“

Er spürte gar nicht, wie der Körper vor ihm sich versteifte.

Simon war viel zu vertieft in den Anblick der sanft, weich aussehenden Haut von Liams Wange, die vor Kälte und Begeisterung rosa angelaufen war. Noch bevor er seine abgelegten Hemmungen wieder aufklauben konnte, hatte er schon einen Kuss auf Liams Wange gedrückt.

Jetzt spürte er den Körper, der an seinen gepresst war, erstarren.

Bedauern über seine Tat schoss sofort durch seinen Kopf und er fühlte sich mit einem Mal wieder völlig nüchtern. Liam blieb nicht lange eingefroren, sondern schüttelte seinen Kollegen hastig von sich und wirbelte herum.

„Was zum Teufel fällt dir ein?“, brüllte er zwischen „Jingle Bells“ und „Oh Tannenbaum“ und schubste Simon von sich in die Menschenmenge.


„Na endlich!“

Lucia wandte sich um und blickte ihren Geliebten an, der entzückt seine Handflächen zusammenschlug.

„Und nun? Glaubst du, er schlägt ihn tot, weil er ihn geküsst hat?“

„Wenn ihm sein Leben lieb ist – sehr wohl!“

Wieder konnte sie nur den Kopf schütteln und ungesehen mit den Augen rollen. Es war wirklich anstrengend mit diesem Mann, seit sein Sohn alt genug geworden war seinen Kampf fortzuführen.

Hoffentlich hatte sich all das bald erledigt und es kehrte wieder Ruhe in die Hölle ein…


Liam kochte innerlich.

Was fiel dieser Schwuchtel ein? Wie konnte er ihn nur… küssen? Das war abstoßend und widerlich und ekelerregend, und Liam wischte hastig an seiner Wange herum, während er Simon noch immer mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.

„Sorry? Ich war nur grade so im Moment…“

„Im Moment? Was erlaubst du dir? Nur weil du so eine verfickte Schwuchtel bist, musst du mich nicht gleich mit diesem Scheiß anstecken wollen!“

„Hey! Reiß dich zusammen!“, erhob nun auch Simon seine Stimme und trat einen Schritt näher auf ihn zu.

„Ich werde mich sicher nicht zusammenreißen, Schwanzlutscher!“

„Noch einmal und du bereust es, mich zu beschimpfen! Es tut mir leid, ich hätte dich nicht anfassen sollen, aber das gibt dir nicht das Recht, so mit mir zu reden.“

Was fiel dem ein? Glaubte er wirklich, dass Liam noch Wert auf eine Entschuldigung legte? Der Kerl hatte ihn geküsst! In aller Öffentlichkeit! Wer weiß, mit was für Schwulenkrankheiten er ihn angesteckt hatte? Bestimmt hatten die anderen es gesehen und hielten ihn jetzt auch für eine verdammte Schwuchtel!

Liam spürte seine Wangen bei diesem Gedanken nur noch heißer werden.

Dieses Arschloch!

„Arschficker! Hörst du? Arsch-Ficker! Nur weil du dich gerne in den Arsch ficken lässt, will nicht gleich jeder andere von dir angemacht werden, du scheiß Schwuchtel!“

„Das ist also dein Problem?“, schrie Simon und schloss die wenigen Schritte Entfernung zwischen ihnen. Bevor Liam reagieren konnte, hatte der Ältere ihn an seiner Jacke gepackt und presste seine Lippen auf Liams.

Wut und Ekel kochten in ihm auf. Als Simon sich von ihm löste, konnte er erst gar nicht reagieren, völlig überfordert von der Intensität der Abneigung, die er spürte. Wenige Momente später schoss nur noch heiße Aggression durch seinen Kopf, als sein Gegenüber zu sprechen begann.

„Hier! Und jetzt denk mal nach, ob du nicht vielleicht willst, dass ich dich in deinen Arsch ficke!“

Liam schlug zu.

Zwar hatte er sich noch nie wirklich geprügelt, doch half ihm offenbar seine unbegrenzte Wut dabei, Simons Auge und Wangenknochen zu treffen und den Älteren zurück in die Menschenmenge stolpern zu lassen. Um sie herum schrien mehrere Leute auf, aber Liam bekam kaum mit, wie sie ihn erschrocken ansahen, denn Simon hatte sich viel zu schnell wieder aufgerafft und ging auf ihn los.

„Ich werd dir deinen kleinen Arsch sowas von windelweich prügeln!“, presste Simon hervor, während er Liams Jacke ein weiteres Mal packte, um sich für den Angriff zu revanchieren und Liam mit voller Kraft ins Gesicht zu schlagen. Der Jüngere reagierte schnell, griff nach seinem Gegner und setzte weitere Schläge an.

Schon lagen sie auf dem Boden und kämpften um die Oberhand. Liam wollte verletzen, wollte Simon weh tun, wollte ihn erniedrigen, wollte ihn besiegen. Sein Kopf glühte vor Wut. Er hasste ihn in diesem Moment bis aufs Innerste und schlug immer und immer wieder zu, bis seine Hand höllisch schmerzte und er sich nicht mehr sicher war, ob das Blut in Simons Gesicht dessen oder sein eigenes war.

Und dann wurden seine Arme mit einem Mal kochend heiß. Er spürte, wie sie schwer wurden, kurz darauf sein Oberkörper, seine Beine. Nur durch einen Nebelschleier bemerkte er, wie er weiter auf sein Gegenüber einschlug und dessen Gegenwehr einkassierte.

Doch plötzlich wurde der Boden unter Simon weiß und auch seine Jacke war mit einem Mal strahlend weiß. Vor Schreck wich Liam zurück und blickte mit zusammengekniffenen Augen in das Gesicht eines… Engels. Flügel, Federn, ein strahlendes Gewand – es fehlte wirklich nur mehr ein Heiligenschein! Was um alles in der Welt war das denn?

„Was zum …“, sprach Simon leise und sah immer wieder von seinem eigenen zu Liams Körper. Dieser sah nun auch an sich herab und erschrak so sehr, dass er von seinem Gegner rutschte und im Schneematsch landete.

Seine Haut war knallrot! Nicht nur rot angelaufen, sondern rot! Und er trug keine Jacke mehr, sondern blickte auf seinen völlig entblößten Oberkörper. Panisch griff er nach seinem Kopf, doch statt seiner Wollmütze spürte er zwei merkwürdig harte, spitze Beulen. Er hatte Hörner!

„Was…“, konnte auch er nur stockend herausdrücken und leistete Simon dabei Gesellschaft, völlig verblüfft zwischen ihren neuen Erscheinungen hin und her zu sehen.

„Da drüben sind sie!“, schrie dann mit einem Mal jemand aus der Menge und beide blickten auf, um einer Gruppen von Polizisten am anderen Ende der Standreihe entgegen zu sehen.

„Oh Shit!“, sprach Simon, während Liam zeitgleich „Oh Fuck!“ hervorstieß. Der Ältere war sofort auf den Beinen und ehe er sich versah, hatte er auch Liam hochgehoben und zog ihn hinter sich her durch die Menge.

Als sie den Rathausplatz verließen, hörten sie keine Schritte mehr, und als er sich umdrehte, sah Liam auch niemanden, der sie verfolgte. Trotzdem rannten sie weiter, bis sie völlig erschöpft an einer Straßenbahnstation zusammenbrachen.

Schwer atmend sahen sie sich an.

„Was… ist das hier?“, fragte Simon nach einigen Atemzügen und deutete auf ihre… Kostüme. Wenn es denn nur Kostüme waren!

„Ich hab… nicht die geringste… Ahnung.“

Ein Sandler zog langsam an ihnen vorbei und sah sie mit viel zu großen, klaren Augen an. Es war keine gute Idee, länger in der Öffentlichkeit zu bleiben. Und offensichtlich bemerkte das auch Simon.

„Wir sollten weg von hier. Klara wohnt gleich um die Ecke von hier und ist heute nicht daheim. Komm mit.“

Liam wollte sich bereits über den Ton und die Wortwahl des Älteren beschweren, doch ein Windstoß gegen seinen entblößten Oberkörper ließ ihn erzittern.


„War das… geplant? Ich dachte, er dürfe nicht wissen, dass er ein Engelssohn ist?“

„Nun, geplant hatte ich es nicht. Aber er ist nun mal ein Engel, selbst ich kann nicht kontrollieren, wie er sich zeigt. Und der Engel in ihm wollte heraus.“

„Und der Teufelssohn? Warum…“

„Still. Alles zu seiner Zeit, warte ab, was geschieht.“


So sehr Liam zu frieren schien, so angenehm warm war es gleichzeitig Simon. Er lachte innerlich auf bei dem Gedanken, dass ihre merkwürdigen Verkleidungen offenbar sogar ihre Wahrnehmung beeinflussten. Er trug immerhin nur unwesentlich viel mehr Kleidung als Liam und ihm war wohlig warm!

Der Weg zu Klaras Wohnung war tatsächlich zum Glück nicht allzu weit, denn je länger sie so liefen und je länger Liam neben ihm zitterte, desto größer wurde sein Drang, den anderen in seine Flügel zu schließen und zu wärmen. Simon stockte für einen Moment bei diesem Gedanken. Konnte er die komischen Dinger auf seinem Rücken wirklich bewegen? Vorsichtig versuchte er es, erschrak jedoch bis in die Knochen, als er plötzlich abhob und einige Meter weiter auf dem Gehsteig landete.

Leider nicht allzu engelsgleich, sondern auf allen Vieren.

Liam lachte. Und auch Simon konnte sich kaum verkneifen, mit einzustimmen, und wenig später lachten sie beide völlig hysterisch. Die Situation war auch nur noch zum Lachen! Wahrscheinlich war ihnen beiden nicht ganz bewusst, was da eigentlich gerade mit ihnen passierte. Ihre Körper hatten sich spontan in die eines Engels und eines Teufels verwandelt! Das war nicht normal, nicht zum Lachen und eigentlich sollten sie panisch auf dem Boden am Weihnachtsmarkt sitzen und sich vor Angst die Augen ausheulen.

Es war wirklich zu merkwürdig, um real zu sein.

„Komm, mir ist echt kalt, lass uns weiter.“

Simon nickte nur zustimmend und ließ sich mehr als gern von seinem Kollegen aufhelfen. Als er jedoch dessen Hand berührte, sah er, wie Liam sich entspannte und tief mit geschlossenen Augen ausatmete.

„Alles okay bei dir?“

Liam öffnete seine Augen.

„Ja, aber… mir ist nicht mehr kalt.“

Für die nächsten 200 Meter hatte Simon den Eindruck, dass Liams eh schon krebsrote Hautfarbe sich noch weiter ins Dunkelrot färbte, da er viel zu leicht nachgegeben hatte und Simon erlaubte, seine Hand auf seine Schulter zu legen. Gut, offenbar konnte er also etwas von der wohligen Wärme in ihm durch Berührungen abgeben! Das war sicher völlig normal!

Bei Klara angekommen drehte er erst einmal die Heizungen etwas auf und schob für Liam einen Sessel näher. Der Jüngere setzte sich ohne jeglichen Kommentar und schmiegte sich fast schon an das wärmer werdende Metall. Simon grinste entzückt, versteckte seinen Gesichtsausdruck jedoch schnell, indem er sich umwandte. Immerhin hatte er noch vor nicht einmal 15 Minuten einen Schlag ins Gesicht bekommen von diesem Jungen, der jetzt schon wieder viel zu niedlich und küsswürdig dasaß und mit der Heizung schmuste.

Die Sache mit dem Kuss war echt keine gute Idee gewesen … Und der zweite Kuss erst recht nicht!

Nicht, dass es sich nicht gut angefühlt hatte. Im Gegenteil. Es hatte sich sogar ziemlich viel mehr als nur gut angefühlt. Er wollte gar nicht daran denken, wie es sein könnte, Liam so richtig zu küssen – vor allem ohne den halben Vergewaltigungsaspekt. Beim dem absurden Gedanken musste er ein wenig schmunzeln, spürte dabei nun, wo er nicht mehr vor Adrenalin pulsierte, wie seine leicht aufgeplatzte Lippe sich verzog.

Gut, Schmerz war also auch passé, seit er sich in einen pausbäckigen Amor ohne Pfeile verwandelt hatte.

Trotzdem ließ er Liam lieber erst einmal allein und ging ins Bad, um sich zu begutachten. Die Verletzung selbst war auf jeden Fall noch da, ebenso wie das Blut, das sein Kinn hinabgelaufen war. Er nahm sich einige Wattepads, machte sie nass und entfernte vorsichtig das verschmierte Blut, sowie hoffentlich jeglichen Dreck aus seiner Wunde.

Als er jedoch gerade die letzten Blutreste von der bereits nicht mehr blutenden Wunde wischte, ging mit einem Mal ein kühler Schauer durch ihn. Sein Rücken kribbelte und er musste die Augen schließen, weil sein Körper schmerzhaft hell strahlte. Dann presste sich auch noch sein Brustkorb scheinbar zusammen und er begann zu husten.


„Das Blut!“


„Das verdammte Blut!“


Liam konnte nicht bestreiten, dass er besorgt war, als er vorsichtig die Badezimmertür öffnete und hineinsah. Simon hustete jetzt schon ewig und reagierte nicht auf sein Klopfen oder Fragen.

„Alles okay bei…“

Er stockte. Das Engelskostüm! Es war weg! Hastig sah er an sich herab, konnte jedoch weiterhin seinen grellroten Oberkörper begutachten.

Langsam beruhigte Simon sich wieder und ließ sich sichtlich erschöpft auf den Boden sinken. Seinen Körper zierte nun mit einem Mal wieder sein Outfit vom Weihnachtsmarkt, inklusive Schuhe, Mütze, allem. Wie hatte er es hinbekommen, dass er sich wieder zurückverwandelt hatte? Wusste er, wie es zu all dem gekommen war?

„Komm mal… näher“, krächzte Simon, „und gib mir… so ein Watteding.“

Liam gehorchte viel zu schnell, kniete tatsächlich Momente später mit einem nassen Wattepad vor seinem Kollegen. Dieser wischte zuerst das Blut von seiner Nase, begann dann, seine Fingerknöchel vom angetrockneten Blut um die aufgerissenen Stellen herum zu befreien. Liam wollte gerade vor Schmerz zu jammern beginnen und aufstehen, um das zumindest selbst in der Hand zu haben, als sein Kopf mit einem Mal drückte, als wär er in einen Schraubstock gepresst.

Sekunden später saß auch er wieder in voller Wintermontur auf dem Badezimmerboden und musste erleichtert feststellen, dass ihm endlich nicht mehr kalt war.

Gut. Damit konnte er sich zumindest glücklicherweise von dem Gedanken verabschieden, im Krankenhaus seine Hörner abgeschliffen zu bekommen.

„Halleluja. Ich glaub, ich brauch erst mal einen Schnaps.“

Diesmal weniger widerwillig folgte Liam seinem Kollegen nach draußen, wo sie sich ihre Jacken und Schuhe auszogen, und hoffte dabei, dass er den angesprochenen Schnaps vielleicht teilen konnte. Er hatte ausgesprochen große Lust, seine angenehm indifferente Stimmung vom Weihnachtsmarkt wiederzuhaben. Alkohol wirkte bei ihm meist nicht nur enthemmend, sondern vor allem beruhigend, und zwar so sehr, dass ihn nicht einmal mehr Oliver oder Simon hatten nerven können. Und jetzt brauchte er ganz dringend etwas, das ihn beruhigte.

Zurück im Wohnzimmer zauberte Simon eine Flasche Whiskey und zwei breite Gläser hervor und Liam verkniff sich, nach etwas anderem zu fragen, damit der Ältere nicht dachte, dass er seinen Alkohol an ihn verschwendete, wenn er ihm nicht schmeckte. Whiskey war garantiert nicht sein Lieblingsgetränk. Nicht einmal um beunruhigend merkwürdige Metamorphosen-Erlebnisse zu verarbeiten.

„Green Label, Klara tötet uns, wenn sie das merkt“, grinste Simon wie befürchtet schon sein Fachwissen darüber, wie gut der Whiskey war, hervor.

„Danke“, bedankte Liam sich allerdings brav für sein Glas und dachte daran, dass ein wenig vernebelte Wahrnehmung jetzt bestimmt genau das Richtige war, nachdem sie ja irgendwie gemeinsam herausfinden mussten, was geschehen war.

„Okay. Hast du irgendeinen Fetzen von Ahnung, was vorhin mit uns passiert ist?“, eröffnete Simon das erwartete Gespräch. Liam ließ sich in seinen Sessel sinken.

„Nicht einmal im Geringsten. Du?“

Simon schüttelte den Kopf.

„Hast du… irgendeine besondere Beziehung zu Engeln? Oder Teufeln?“

„Mein Vater hat mich als ich Zwei war zu Fasching in ein Engelskostüm gesteckt“, lachte der Ältere nur und zuckte die Schultern, „aber ansonsten hab ich keine Ahnung. Sonderlich engelshaft hätte ich mich außer in der letzten halben Stunde nicht bezeichnet.“

„Einen Teufel hätte ich mich auch nicht genannt“, stimmte Liam zu und überlegte einen Moment. „Das einzige, was mir sonst einfällt, ist, dass mir im Winter meist ziemlich kalt ist, nicht so kalt wie vorhin, aber ich kann Kälte gar nicht leiden. Und meine Lieblingsfarbe ist Rot.“

„Meine ist Weiß. Und Schwarz. Und Gelb. Und Silber. Und Gold.“

Liam sah seinen Kollegen mit einem betont ironischen Blick ins Gesicht.

„Okay, okay. Ich hab keine Lieblingsfarbe. Aber als Kind hab ich voll oft geträumt, dass ich fliegen konnte. Ob ich da ein Engel war, weiß ich aber nicht.“

Für einige Momente herrschte Stille, angenehme Stille zwischen ihnen. Beide nippten gedankenversunken an ihren Gläsern, bis Simon wieder zu sprechen begann.

„Glaubst du, die anderen haben uns gesehen?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube aber eigentlich eher nicht, ansonsten wäre sicher jemand von ihnen dazwischen gegangen, als wir…“

„Als du auf mich losgegangen bist, mh?“, grinste Simon. „Keine Sorge, man sollte einen griesgrämigen Bären wohl nicht mit einem Stock piksen, ich hab genauso meine Schuld an dieser Sache.“

„Ich war nicht griesgrämig! Ich war sogar ausgesprochen freundlich zu dir.“

„Ja, für ungefähr zwei Sekunden bevor du mich wieder als Satan beschimpft hast!“

„Ha, ha. Kein Wunder, du hast…“

Er konnte es gar nicht aussprechen. Seine Wangen begannen zu glühen.


„Ich glaube es nicht. Ich glaube das einfach nicht. Der Junge kann doch nicht ernsthaft noch eine Enttäuschung sein! Was um alles in der Welt ist mit meiner Nachzucht los? Und einer von denen soll mal die Herrschaft der Hölle übernehmen? Das Böse auf der Welt? So ein Schwächling wie der, der nicht mal eine Schwuchtel prügeln kann?“

Die Flammen schlugen immer höher, immer weiter und Lucia bedeckte ihren nackten Körper etwas sorgfältiger mit der feuerfesten Decke.

„Ich kann nicht glauben, dass er selbst für diese kleine Aufgabe zu unfähig ist. Die ganze Weltbevölkerung soll er gegen die Schwulen aufhetzen und er kriegt es nicht mal hin, einem von ihnen ordentlich auf die Nase zu hauen!“

„Vielleicht hättest du deine Kinder erst mal selbst erziehen sollen, bevor du sie in irgendwelche Menschenfamilien geworfen hättest. Was können sie dafür, dass sie immer gute Eltern haben? Wenn du das übernehmen würdest, würde es sicher besser klappen.“

„Na, da kannst du dir aber sicher sein! Wenn ich sie erzogen hätte, dann -“, die dominante Figur sackte in sich zusammen, als Lucifer Sr. seine herausgestreckte Brust einzog. „Sagst du etwa, ich wäre ein schlechter Vater?“

Lucia lachte aus vollem Halse und küsste ihn auf seinen glühenden Mund.


„Dich geküsst? Ja, das hab ich wohl.“

Simon musste ein wenig schmunzeln. Sein Kollege sah ausgesprochen entzückend aus, wenn seine Wangen rot wurden, und er schnaufte, als wollte er gleich Feuer spucken.

„Aber du warst auch wirklich putzig, als du dich so über die verdammte Trinkschokolade gefreut hast! Ich konnte fast nicht anders.“

„Ach, es ist also meine Schuld, dass du dich nicht zusammenreißen kannst? Knutschst du alle nichtsahnenden, heterosexuellen Typen ab, wenn dir danach ist?“

„Nee, nur die, die so ein hübsches Gesicht haben wie du.“

Oha, jetzt sah er aber wirklich gefährlich danach aus, dass er gleich ausrastete und vor Ärger in tausend Teile zersprang. Simon fand ihn immer niedlicher und konnte sich kaum zurückhalten, ihn noch mehr zu provozieren.

„Aber ich bin nicht schwul! Wie kommst du auf die bescheuerte Idee, dass ich es mögen würde, wenn du mich küsst?“, wetterte Liam mit einem fast verzweifelten Funkeln in seinen Augen. „Das ist ekelhaft und man küsst nicht einfach so fremde Leute!“

„Och, ich küsse eigentlich ganz gerne alle Menschen, die ich mag. Und dich mochte ich in dem Moment ganz besonders, das hat doch nichts damit zu tun, ob du auf Jungs stehst oder nicht. Ist ja nicht so, als hätte ich dir einen Zungenkuss gegeben, in der Hoffnung, dass du ihn erwiderst. Und überhaupt, ist das der Grund, warum du so… griesgrämig mir gegenüber warst? Wirklich nur, weil ich schwul bin?“

„Ist das nicht Grund genug?“

„Nicht in meiner Welt. Außer ich küsse dich, kann es dir doch egal sein, wen ich gern küsse.“

Liam schnaufte wieder. „Aber du hast mich geküsst!“

„Vorhin, ja, aber du bist seit wir uns kennen griesgrämig.“

„Du bist auch seit wir uns kennen schwul und ich mag das nicht, und Punkt.“

„Du hattest also schon von Anfang an Angst, dass ich dich küssen könnte? Dann haben wir zumindest etwas gemeinsam, ich hab auch von Anfang an darüber nachgedacht, dich zu küssen.“

Simon lachte aus vollem Halse, als er den versteinert panischen Blick des jüngeren Studenten sah.

„Du hast nun einmal ein hübsches Gesicht, da denke ich natürlich gerne drüber nach, dich zu küssen. Aber das heißt doch nicht, dass du Angst davor haben musst. Sag mir einfach, dass du nicht geküsst werden willst, dann kann ich sagen, dass das in Ordnung ist, und ich dich allerhöchstens küssen werde, wenn du niedliche Sachen machst und schon können wir wie normale Menschen miteinander reden und Freunde werden.“


„Du bist so ein… Ich finde gar keine Worte mehr. Wenn du nicht mein Sohn wärst, hätte ich genauso reagiert wie Liam und dich ordentlich dafür verprügelt!“

„Was ist denn nur dabei? Klara küsst mich auch, obwohl ich nicht auf Frauen stehe.“

„Hör auf, dich dumm zu stellen, Simon. Du bist in seine Privatsphäre eingedrungen und das, nachdem er eh ein gespanntes Verhältnis zu dir hatte. Mich wundert es gar nicht, dass ihm das weniger als wenig gefallen hat. Hast du dich zumindest entschuldigt?“

Simon dachte nach. Sie hatten noch länger geredet am Freitagabend. Über die Schwulsein-Sache, über die Kuss-Sache, über die Griesgrämigsein-Sache und relativ bald nur noch über die Uni, über ihre Kleingruppe, über Musik, über TV-Serien, über Weihnachten, über Gott und die Welt sozusagen. Wie er erwartet hatte, war sein jüngerer Kollege ein echt interessanter Mensch und ein toller Gesprächspartner, zumindest wenn er nicht böse schnaufte und ihn ansah, als wollte er ihm gleich wieder eins auf die Nase geben.

An eine Entschuldigung konnte er sich aber im ganzen Gespräch nicht erinnern.

„Ich hab ihm gesagt, dass ich auch Schuld an der Prügelei-Geschichte hatte und es wahrscheinlich nicht die schlauste Idee gewesen war, ihn zu provozieren. Ich finde, das war genug. Immerhin hab ich ihn ja nicht vergewaltigt oder so, egal, wie du das darstellen willst.“

Gabriel schüttelte den Kopf und ließ das Waffeleisen zufallen, dass es Teig in alle Richtungen spritzte.

„Du bist unverbesserlich. Hoffentlich erfährt der Kleine nie, wer dich aufgezogen hat, sonst sterbe ich vor Scham.“

„Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen“, lachte Simon darauf nur und wischte mit Küchenrolle die Teigspritzer von der Seite des Kühlschranks, „und sei wieder lieb zu mir. Es ist Sonntag, wir haben drei Filme ausgeliehen, ich will mit „Hakuna Matata“ und „I feel pretty“ Waffeln backen und dann ohne, dass du angewidert von mir bist, mit dir fernsehen!“

„I feel pretty and witty and gay? Du widerst mich immer mehr an.“

Jetzt mussten sie endgültig beide lachen und Simon umarmte seinen Vater kurz von hinten, bevor er mit einer Schale Weintrauben und zwei Gläsern Kaffee mit Kakao ins Wohnzimmer lief.

„It means no worries for the rest of the day.“

Sonntage waren toll, vor allem wenn sein Vater Zuhause war und Zeit für ihn hatte. Außerdem fühlte er sich toll, weil er endlich so etwas wie eine Beziehung zu Liam hatte aufbauen können und ihn etwas besser kennengelernt hatte. Ihre Beziehung war zwar ausgesprochen seltsam und er hatte immer noch etwas Angst vor der ganzen Engel-Teufel-Sache, aber wenigstens schien Liam ihn jetzt nicht mehr ganz so sehr zu verabscheuen.

Gabriel hatte er die Metamorphosen-Sache nicht erzählt, denn sie hatten am Freitagabend beschlossen, dass sie das für sich behalten würden, bis sie mehr darüber wussten. Es war auch viel zu seltsam, als dass sein Vater ihm die Geschichte geglaubt hätte.

Sie waren nicht viel weiter gekommen mit ihren Überlegungen, warum sie sich so merkwürdig verwandelt hatten und warum die Tatsache, dass ihr Blut sich vermischt hatte, das offenbar ausgelöst hatte. Liam hatte vorgeschlagen, dass sie ins Krankenhaus gingen und ihr Blut untersuchen ließen, aber Simon war strikt dagegen, nicht zuletzt weil er befürchtete, dass sie sofort auf die geschlossene Station eingewiesen werden würden, wenn sie erklärten, warum sie einen Bluttest brauchten. Und was sollte der schon auch ergeben? Einen bisher unentdeckten Parameter, der die Wahrscheinlichkeit und Kompatibilität beschrieb, mit denen das Vermischen ihres Blutes zu ihrer Verwandlung in Märchenwesen führen würde?

Liam gehörte vermutlich auf die Geschlossene, wenn er das wirklich glaubte.

Davon abgesehen war ihr Gespräch jedoch wirklich angenehm gewesen, vermutlich vor allem aufgrund des Whiskeys. Liam hatte davon erzählt, wie gern er Weihnachten mochte, dass er gerade die Goo Goo Dolls entdeckt hatte, deren Musik Simon schon nicht mehr hörte, seit er 15 war, jedoch noch immer als sehr ansprechend in Erinnerung hatte. Liam hatte erklärt, dass er Serien guckte, wenn er traurig war, wenn er müde war, wenn er aufgeregt war und überhaupt eigentlich immer, wenn er allein war, was fast immer der Fall war, da er keine Freunde hatte.

Der Kerl hatte wirklich gar keine Freunde!

Simon war überzeugt, dass das geändert gehörte. Vielleicht war sein Freundeskreis nicht gerade der passendste für den Jüngeren, aber es war ein Anfang. Außerdem hatte er sehr deutlich herausgehört, dass Liam zwar genauso ein Weihnachtsfanatiker war wie er selbst, dies jedoch viel zu wenig zelebrierte – oder jedenfalls viel zu leise und viel zu einsam.

Sein nächstes Ziel – nachdem das letzte, mit Liam normal zu reden, erreicht war – würde also sein, den ehemals griesgrämigen Jungen in seine Weihnachtsvorbereitungen zu integrieren und ihm zu zeigen, dass Weihnachten viel toller war, wenn er nicht die gesamte restliche Welt, abgesehen von seiner Mutter, von seiner Freude fernhielt.


Sie lachte entzückt und schüttelte sanft ihren Kopf.

„Er erinnert mich langsam wirklich an einen Engel, wie die Menschen sie sich vorstellen.“

„Ihr meint, er schöpft Verdacht?“

„Nein, nein, aber er ist ein guter Mensch. So wie Menschen sich Engel vorstellen, als bessere Menschen.“


Gewöhnlich vermied er es, sich wie ein pubertierender Jugendlicher zu verhalten. Oder zumindest vermied er es, dieses Verhalten zu deutlich hervortreten zu lassen. Seit dem Gespräch mit Simon konnte er jedoch gar nicht mehr anders, als peinlich berührt zu bedauern, dass er so nett gewesen war, dass er seine Mauer durchlässig gemacht hatte, dass er so viel von sich preisgegeben hatte. Dieser bescheuerte Alkohol!

Dank des Whiskeys hatte er sogar das Gefühl gehabt, dass Simon eigentlich ziemlich nett und total interessant war. Er hatte sich so gut gefühlt, dass er erzählt hatte, dass er im Advent gerne mit Tee und Lebkuchen im Bett lag und Kinderfilme ansah. Er hatte sich bis auf sein Knochenmark blamiert und das ausgerechnet vor Simon.

Niemals wieder würde er Alkohol trinken.

Und außerdem würde er niemals wieder mit Simon reden, nicht einmal, wenn der Ältere plötzlich herausfinden würde, warum sie sich verwandelt hatten.

Er verzog ein Gesicht und erinnerte sich an sein Vorhaben, sich nicht mehr pubertär zu verhalten.

Na gut, vielleicht würde er dann mit Simon reden. Aber aus keinem anderen Grund!

Mit einem viel zu pathetischen Seufzen zog er seine Bettdecke höher und klickte das Musikvideo zu „Name“ von den Goo Goo Dolls an. Simon hatte die Band natürlich auch schon kennen und noch dazu mögen müssen, genauso wie alle Serien und Filme, die Liam gern mochte. Ihr Geschmack war seltsam ähnlich und er musste seine bisherige Überzeugung, dass er keine Freunde hatte, weil niemand das mochte, was er mochte, überdenken. Immerhin müsste er mit Simon befreundet sein, wenn er diesen Gedankengang weiterverfolgte!

Wieder ein Seufzen.

Der blöde Punk im Video erinnerte ihn auch an Simon. Liam musste zugeben, dass er den eigentlich recht gewöhnlich angezogenen Jungen gerne mal als Punk gesehen hätte. Meist trug Simon ganz normale Pullover, Jeans und dazu absolut beneidenswerte Klettverschlussturnschuhe. Das punkigste, was Liam je an ihm gesehen hatte, war ein gestreifter Kapuzenpullover gewesen. Oder vielleicht das weiße Hemd mit der schwarzen Krawatte, wobei er das eher als Emo bezeichnet hätte, auch wenn ihm das nicht gefiel, weil er Simon nicht in diese Sparte packen wollte. Dazu hatte er sich als Jugendlicher viel zu sehr selbst mit ihnen identifiziert.

Er stoppte das Video, als ihm auffiel, dass die blöden Punks viel zu häufig gezeigt wurden. Liam wollte an nichts weniger denken als an Simon.

Die Leiste mit verwandten Videos schlug ihm „Better Days“ vor und er klickte es an, jedoch nicht ohne sich vorher noch etwas mehr in seiner Decke zu verstecken. Die Lieder waren alle viel zu emotional und schön und halfen ihm viel zu gut dabei, sich in seiner Stimmung zu suhlen. Gerade „Better Days“ funktionierte perfekt, um ihn in eine Mischung aus weihnachtlicher, trauriger und distanzierter Laune zu versetzen.

Distanziert vor allem deshalb, weil er den Gedanken nicht allzu nah an sich herankommen lassen wollte, dass er den Sänger nach seiner 90er Jahre Zeit sehr charismatisch fand. Und außerdem störte ihn die Szene mit den in Baumrinde geritzten Schlagworten, im Vergleich zum ansonsten angenehm metaphorischen Kontext war das einfach zu sehr „in your face“.

Und noch dazu fand er den Sänger gut angezogen in diesem Video und seine Haare sahen auch viel besser aus, wenn sie kurz waren. Eigentlich musste er sogar zugeben, dass er den Sänger gutaussehend fand, aber dazu war sein Kopf viel zu schnell dabei, ihn einige Meter von diesem Gedanken zu distanzieren.

Er fand keine männlichen Menschen gutaussehend und wenn, dann nur im objektiven Sinne. Wahrscheinlich dachte er einfach schon zu wissenschaftlich und analysierte innerlich die Symmetrie des Gesichts des Sängers und fand ihn deshalb gutaussehend.

Und Simon hatte sicher auch nur ein herausragend symmetrisches Gesicht.


Der höllische Schneider wurde aus seinem Bett geklingelt und begann noch im Halbschlaf die Garderobe Lucifer Seniors zu erneuern. Es war ausgesprochen unpraktisch, wenn der Herr der Hölle in seinem Schlafzimmer seine Kontrolle verlor, und der letzte Wutschrei hatte vermutlich sogar die Bevölkerung im Himmel aus dem Schlaf gerissen.


Am Montag hoffte Liam darauf, dass er sich die letzten drei Tage nur eingebildet hatte. Keine merkwürdigen Verwandlungen, keine Verbrüderungen mit dem Feind. Das war sicher alles nur ein verrückter Traum gewesen.

Gegen zwei Uhr mittags hatte er sich fast selbst von seiner Theorie überzeugt, als seine schlimmste Befürchtung sich bewahrheitete. Er saß nichtsahnend im Audimax und wartete auf seine Statistikvorlesung, als er schon von Weitem Simon auf seine Reihe zusteuern sah. Er konnte nicht einmal mehr darauf hoffen, dass vielleicht jemand zwischen ihm und Simon saß, zu dem der Ältere sich setzen wollte. All seine gedankliche Arbeit war dahin und gleich, gleich würde er viel zu sehr spüren müssen, wie sehr er sich hatte gehen lassen, gleich…

„Hey, Teufelchen!“

Er würde sterben müssen vor Scham.

„Hallo, Simon.“

„Schön dich zu sehen, ich muss nämlich dringend mit dir reden.“

„Ich wüsste nicht, worüber.“

Simon lachte. „Woher auch, Griesgram? Dafür weiß ich genau, worüber.“

Plötzlich hatte er ein Smartphone im Gesicht und mit einem Seufzen patschte er Simons Hand weg und nahm das Handy selbst.

„Einladung! Weil es langsam ganz schön schnell Winter wird und weil wirklich langsam Weihnachten näher kommt und weil Gabriel es mir erlaubt, seid ihr alle zum Wintergrillen bei uns im Garten eingeladen. Beilagen, Glühwein, Lebkuchen und Decken inklusive, Grillfleisch und alles Merkwürdige (ja, Timo, du bist gemeint) müsst ihr selbst mitnehmen. Der Grill wird um sieben angefeuert, Glühwein und Lebkuchen gibt es ab fünf, kommt also vorbei, wann immer ihr Lust habt und bringt mir schöne Gastgebergeschenke! Bis Samstag, Simon (und Gabriel).“

Liam befürchtete Schreckliches.

„Und?“, fragte er also desinteressiert und hoffte, dass man nicht zu sehr merkte, wie betont er sich dumm stellte.

„Was und? Hast du Samstag Zeit? Wobei, nein, das brauch ich gar nicht fragen, du hast eh niemanden, mit dem du etwas machen könntest und nach Hause, hast du gesagt, fährst du erst an Weihnachten wieder. Also, um wie viel Uhr kommst du vorbei? Finden tust du unser Haus ganz einfach, ich hab dir die Adresse eh schon mit der Einladung per Mail geschickt.“

Oh Gott. Warum hatte er nur seinen blöden Mund aufgemacht und auch nur ein nettes Wort zu Simon von sich gegeben? Warum hatte er nicht weiter angeekelt von ihm sein können und einfach, nachdem er ihn geschlagen hatte, nach Hause gehen können?

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“

„Das ist eine voll geniale Idee! Du hast keine Freunde, ich hab einen ganzen Haufen. Außerdem haben wir uns am Freitag toll unterhalten und du hast bestimmt noch nie bei einem Wintergrillen mitgemacht, stimmt‘s?“

„Das mag sein. Aber nur weil ich hier keine Freunde habe, muss ich mich doch nicht mit deinen anfreunden. Und ohne Whiskey bin ich ein deutlich langweiligerer Gesprächspartner und ich werde ganz bestimmt nicht noch mal so etwas trinken.“

„Ach, stell dich nicht so an. Ich mag dich, du bist eigentlich ein netter Kerl und ich hab beschlossen, dass es dringend nötig ist, dass du kennenlernst, wie man sich richtig auf Weihnachten freut. Nicht, dass du das bisher falsch machst, aber du kratzt gerade mal an der Oberfläche von all den Sachen, die eben nur toll sind, wenn man sie nicht alleine macht!“

„Das macht keinen Sinn, Simon. Und danke für deine Einladung, aber ich habe am Samstag keine Zeit.“

„Unsinn. Natürlich hast du Zeit und du kommst auch, am besten schon gegen fünf, da sind noch nicht so viele Leute da. Bis Samstag! Ich geh jetzt besser, keine Lust auf Statistik.“

Simon grinste und ehe Liam sich versah, war er wieder allein und blickte völlig vor den Kopf gestoßen auf den leeren Platz neben sich.

Was für ein unhöflicher, dreister Mensch!

Hatte der Typ denn wirklich gar keinen Respekt anderen Menschen gegenüber? Er konnte ihn doch nicht einfach zu sich nach Hause bestellen, wie wenn er eine Putzfrau oder eine Hure engagierte! Was fiel ihm denn ein?

Natürlich würde Liam nicht zu der Feier kommen. Wer grillte denn schon im Winter? Das war doch völlig absurd. Und Simons Freunde wollte er erst recht nicht kennenlernen, wenn das alles solche Verrückte waren wie er selbst.


„Er tut mir fast ein bisschen leid.“

„Weshalb? Er ist ein Teufelssohn, er hat verdient, was ihm geschieht!“

„Aber was kann er dafür? Es muss doch schlimm sein. Seine Mutter ist eine tolle Frau, er hatte eine schöne Kindheit und doch kann er sich nie wirklich gut fühlen, kann nie so recht glücklich sein und das nur seines Vaters wegen.“

„Ihr seid so …“

„Gnädig, huh?“ Sie lachte. „Das bin ich wohl. Sogar der Teufelssohn bekommt seinen eigenen Engel, auch wenn es kein Schutzengel sein konnte.“


„Ich wette, er kommt nicht.“

Hastig wich er den Küchenutensilien aus, die in seine Richtung flogen.

„Hey!“

„Halt endlich deinen Mund!“, riefen Klara und Gabriel synchron, während sie Salatbesteck und Grillzange vom Boden aufsammelten.

Gut, vielleicht übertrieb er es wirklich ein wenig. Aber er war aufgeregt und wenn er aufgeregt war, dann fiel es ihm viel zu schwer, seine Gedanken im Kopf zu behalten, statt sie auszusprechen. Und der Gedanke schien nun schon den ganzen Tag wie ein Gummiball durch seinen Kopf zu hüpfen. Eigentlich schon seit Anfang der Woche, aber er hatte sich bis zum Vortag zusammengerissen, nicht zu sehr daran zu denken.

Ihr Kleingruppentreffen mit Oliver am Vortag war gut gelaufen. Niemand hatte sie nach ihrer Verwandlung gesehen, sie hatten sich nur gewundert, weshalb sie plötzlich verschwunden waren und nicht auf Anrufe reagiert hatten. Simon hatte sich erbarmt und behauptet, er hätte mit einem Mal schreckliche Bauchschmerzen bekommen und Liam hätte sich bereiterklärt, ihn von einer öffentlichen Toilette zur nächsten zu begleiten, bis er Zuhause gewesen sei. Die Geschichte war peinlich genug, dass niemand sich traute nachzufragen.

„Geh raus und häng deine blöden Zuckerstangen auf und wehe du kommst wieder, bevor du jegliche Liam-Gedanken aus deinem Kopf verbannt hast!“, beauftragte Gabriel ihn, vermutlich weil es seinem Gesicht zu sehr anzusehen war, woran er noch immer dachte.

Mit einer extra großen Packung Zuckerstangen begab er sich dann tatsächlich nach draußen und fing an, sie an Lichterketten und Zweigen aufzuhängen. Ein paar platzierte er auf der Außenseite der Hecke, damit sich vielleicht ein, zwei Kinder aus der Nachbarschaft freuten. Er hätte sich sicher gefreut – nicht nur als Kind.

Ob Liam auch Zuckerstangen mochte?

„Ahhh!!“, schrie Simon sich nun selbst an und schüttelte seinen Kopf.

Er steigerte sich vielleicht wirklich mittlerweile ein wenig zu sehr in diese Sache hinein. Aber er mochte Liam! Er mochte ihn ausgesprochen gern und er mochte den Gedanken, noch mehr von ihm zu haben, sogar noch mehr.  

Außerdem würde es sich für Liam sicher lohnen, wenn er zur Grillparty kam. Es kamen lauter gute Freunde von ihm und Gabriel und es war jedes Mal ein voller Erfolg, allein deshalb, weil sich mit der Zeit alle mit Decken und dicken Jacken um die Feuerschalen versammelten und immer irgendwer mit Weihnachtsliedern und Weihnachtsgeschichten anfing.

Gruppenkuscheln!

Simon hatte große Lust, mit seinem neuen Freund zu kuscheln, natürlich nur, weil sie sich sicher eine Decke teilen mussten.

„Simon! Wehe die Lichterketten fallen runter, weil du zu viele dämliche Stangen dranhängst!“

Der junge Student streckte seinem Vater die Zunge entgegen und nahm vier der fünf Zuckerstangen, die er versehentlich in Gedanken versunken zwischen zwei Lampen gehängt hatte, wieder ab und hängte sie rechts und links der Lichter an die Kette.

Ihr Garten sah wirklich toll aus. Alle Bäume und Büsche waren mit Lichterketten geschmückt und an den Unterseiten der Bierbänke waren mit Saugnäpfen weitere Lichter befestigt, was Simon noch immer als seine geniale Idee betitelte, auch wenn Klara das anders sah. Der Grill stand bereits fertig vorbereitet auf der Terrasse, gemeinsam mit einem kalten, noch verdeckten Salatbuffet und Eis zum Nachtisch, was bereits seit Anfang der Woche in einem Schneeberg neben der Terrasse gelagert hatte.

Liam musste einfach kommen!


„Wenn du auch nur einen Fuß in diese Abartigkeit von gottesfrönender Ekelhaftigkeit setzt, kannst du dir deinen Platz als Thronfolger abschminken!“

Lucifer Sr. hatte die Neigung seines Abkömmlings, Weihnachten zu zelebrieren, schon immer kritisch beäugt, jedoch bisher gewöhnlich als unbewusste Verbundenheit zu seinem Bruder abgetan. Aber jetzt? Eine Adventsfeier? Gemeinschaftliches Lobpreisen Gottes?

Seine Erzfeindin würde vor Freude zerplatzen, wenn sie hörte, wie der Sohn des Teufels sie ohne einen Plan dahinter verehrte!

Der Kirchenchor war geplant gewesen, immerhin war Religion seine eigene Idee gewesen und hatte dem Knaben gut beigebracht, die Schwulen zu verachten. Aber dieses weihnachtliche Feiern auf der Erde erschien ihm immer mehr wie ein generelles Preisen von Gott und nicht mehr das bloße Geburtstagsfeiern von Jesus.

„Du Made! Du dreckiges Unding! Verachten werde ich dich, wenn du das Haus der Schwuchtel betrittst! Schäm dich, du verdammtes Weichei!“

Er schnaufte heftig und hielt dann mit einem Mal gespannt die Luft an.

„DU VERFLUCHTES MISTVIEH!“


„Liam! Gut, dass du da bist. Fast hätte Gabriel mehr Gäste hier gehabt als ich. Außerdem kannst du mir gleich helfen, der Glühwein muss nachgefüllt werden.“

Er hoffte inständig, dass seine Freude über Liams Ankunft nicht allzu merklich war, auch wenn er seit etwa 17:01 Uhr bereits nicht mehr mit ihm gerechnet hatte und nun umso ekstatischer war, seinen Kollegen zu sehen. Mittlerweile war es 18:20 Uhr und Simon musste zugeben, dass das die perfekte Zeit zwischen „viel zu früh“ und „unhöflich spät“ war.

„Hallo“, entgegnete Liam auf seinen Enthusiasmus nur sanft und ließ sich ohne Widerstand ins Haus ziehen.

„Das Wetter ist perfekt!“, schwärmte Simon, während er die beiden großen Thermoskannen nachfüllte. „Zum Glück hat es gestern noch mal geschneit, ansonsten wäre es viel weniger weihnachtlich. Und heute Abend Schneefall wäre auch blöd gewesen, da wird man jedes Mal total nass, wenn man wieder ins Warme geht. Außerdem…“

„Hey!“, unterbrach Liam seinen Kollegen, der sich überrascht zu ihm drehte.

Der Jüngere sah sich kurz um und holte dann aus seiner Umhängetasche eine der kostenlosen Zeitungen aus den öffentlichen Verkehrsmitteln hervor. Hastig blätterte er auf die dritte Seite und hielt sie Simon unter die Nase.

„Lies!“

„Heilige Schlacht auf dem Weihnachtsmarkt? Der diesjährige Weihnachtsmarkt sorgte für allgemeine Aufregung. Nicht nur war der Glühwein am ersten Abend nach nur drei Stunden ausverkauft, den Besuchern bot sich zudem ein Anblick epischen Ausmaßes. Zwischen bunten Lichterketten, köstlich duftenden Leckereien und fröhlich beschwingten Weihnachtsmelodien kam es gegen 20 Uhr zu einem Schauspiel, das wohl niemand erwartet hatte. Engel und Teufel standen sich gegenüber. Zunächst nur in einem hitzigen Wortgefecht, doch dann geschah das Unglaubliche: die beiden verkleideten Jungen gingen mit erhobenen Fäusten aufeinander los. Kindern wurden die Hände vor die Augen gehalten und jemand informierte die Polizei. Als die eintraf, war jedoch weder vom Engel noch vom Teufel eine Spur zu finden.“

Simon wusste nicht, ob er in Panik ausbrechen oder lachen sollte. Nach einem kurzen Durchatmen entschied er sich allerdings für Letzteres.

„Ach, komm schon!“, lachte er. „Das ist die Triumph-Zeitung, die hat letzte Woche geschrieben, George Michael hätte sein Konzert gerockt, obwohl es vorher abgesagt wurde. Noch dazu stimmt das ja gar nicht so richtig, immerhin waren wir noch gar nicht… verkleidet, als wir angefangen haben, uns zu streiten.“

„Aber wir wurden gesehen! Offenbar von mehreren Leuten und sogar Journalisten!“

„Aber niemand weiß, wer wir sind, dass wir das waren, ansonsten hätte sich sicher schon jemand bei uns gemeldet. Und jetzt beruhig dich, es ist nichts passiert und die ganze Sache ist zwar extrem komisch, aber genauso sehr ist sie auch vorbei, und solang wir unser Blut nicht noch mal vermischen, sollte das keinen Stress geben.“

Gut, es war etwas seltsam, wenn er eine übermenschliche Metamorphose so bagatellisierte, aber er wollte Glühwein trinken und Würstchen essen und nicht darüber philosophieren, ob irgendein blöder Klatschreporter etwas gesehen hatte. Liam sollte sich auch beruhigen, er war deutlich unlustiger, wenn er hysterisch war.

„Jetzt komm, ich will dich vorstellen.“

Diesmal schubste er den Jüngeren sanft nach draußen, da er beide Hände für den Glühwein brauchte. Draußen stellte er sie zum Lebkuchenbuffet und wandte sich dann sofort um, um sich zu versichern, dass Liam noch da war, und suchte dann nach Gabriel und Klara.


„Gabriel!“, rief Simon unnötig laut, während er einem etwas größeren Mann eine Hand auf die Schulter legte und ihn herumdrehte.

Liam hatte das Gefühl, sein Studienkollege hatte sich in ein hyperaktives Meerschwein verwandelt.

„Das ist Liam! Und das ist Gabriel, mein Vater“, stellte das Nagetier vor und Liam hielt brav seine Hand hin.

„Ah, das ist also der junge Herr, den du verbal hierher geprügelt hast“, lachte der Mann, der so deutliche Ähnlichkeit zu seinem Sohn aufwies, dass es fast etwas gruselig war. „Ich kann mich nur für ihn entschuldigen, aber ich freue mich, dich kennenzulernen.“

Liam lächelte. Simons Vater schien eindeutig normaler zu sein als er selbst.

Tatsächlich hatte er das Gefühl, nicht sonderlich freiwillig auf dieser Feier zu sein. Immerhin hatte Simon ihm keine Möglichkeit gegeben, nein zu sagen, und er konnte jawohl nicht einfach so nicht auftauchen, das sprach gegen jeglichen Anstand, den seine Mutter ihm beigebracht hatte.

Natürlich war er gekommen.

Und die Idee, ihm per Mail oder SMS anstatt persönlich abzusagen, war ihm erst am Freitagabend gekommen, viel zu spät also um noch abzusagen.

„Ebenfalls“, betonte er und erinnerte sich selbst dran, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen und dabei zu lächeln.

„Gut, da ist Klara!“

Liam spürte sich selbst vom Fleck gerissen werden und sah nur noch, wie Gabriel ihm einen mitleidigen Blick und ein Lächeln zuwarf.

„Klara, das ist Liam und Liam, das ist Klara!“

Das Mädchen in Ohrenschützern und einem dazu passenden Schal mit riesigen Maschen lachte hellauf und er verzog hoffentlich nicht allzu sichtbar sein Gesicht. Ihre Stimme war schrill und trocken und klang ein bisschen wie ein bremsender Zug. Außerdem hatte er das Gefühl, dass das Lachen ein wenig ihm galt, und er fand es unhöflich, dass sie ihn nicht begrüßte.

„Du bist unmöglich, Simon. Hallo Liam, schön den Chorknaben mal persönlich kennenzulernen!“

„Pssscht! Sonst kriegst du auch gleich Salatbesteck an den Kopf!“

„Wieso das? Soll ich ihn etwa nicht Chorknaben nennen? Ich könnte ihn auch…“

Simon hielt ihr den Mund zu und auch wenn Liam sich von der vertrauten Interaktion etwas unangenehm berührt fühlte, musste er zugeben, dass er dagegen gar nichts hatte.

Okay. Simon und auch Gabriel fand er wohl nicht mehr so schlimm wie bei seinem ersten Eindruck. Klara fand er noch immer genauso nervtötend, wie als Simon das erste Mal in der Kleingruppe von ihr erzählt hatte. Sie kannte ihn immerhin gar nicht und auch wenn ihre Scherze eigentlich nicht ihn treffen sollten, schlossen sie ihn ja doch mit ein, und er fand das definitiv weniger unterhaltsam.

Nachdem er Klara erfolgreich ruhig gestellt hatte, wandte Simon sich ihm wieder zu und lächelte entschuldigend.

„Sie hat schon etwas zu viel Glühwein erwischt. Apropos, hast du Lust auf Glühwein?“

„Besser nicht, aber Dankeschön.“

„So ein Unsinn. Sei ehrlich, du hast nur Angst, dass du dich wieder viel zu gut mit mir verstehst, wenn du etwas getrunken hast und nicht mehr zu griesgrämig bist, deinen Mund aufzumachen.“

„Nein, ich muss heute noch…“ Er stockte.

„Ha! Autofahren musst du ganz bestimmt nicht mehr heute“, lachte Simon. „Komm, ich hol uns mal zwei Tassen.“

Wenig später hielt er dampfenden Glühwein in der Hand und war zumindest über die ausstrahlende Wärme recht froh. Warum veranstaltete jemand auch im verdammten, tiefsten Winter ein Grillfest? Draußen!

„Ich habe übrigens eine neue Idee, was wir machen können, um dein Gemeinschafts-Weihnachtserlebnis-Repertoire zu vergrößern. Willst du es schon mal wissen?“

„Ich habe nie gesagt, dass ich nach heute überhaupt noch etwas mit dir machen möchte. Und hier bin ich auch nicht freiwillig, du hast mir ja keine Chance gegeben, nicht zu kommen, und ich bin zu gut erzogen, um nicht aufzutauchen.“

„Okay. Meine Idee ist eine Advents-Vorweihnachts-Party. Nächstes Wochenende ist in dem einen Club, den kennst du sicher, dem unter der U-Bahn Station, eine Weihnachtsparty. Die machen lauter Cocktails und Shots mit Weihnachtsgeschmack und wenn man sich weihnachtlich anzieht, dann kommt man umsonst rein.“

„Nein.“ Er schluckte und hoffte, dass er sich diesmal besser anstellte, Simon zu überzeugen. „Danke, aber ich gehe nicht gern in Clubs. Ich wünsch dir aber viel Spaß.“

Killing him with kindness!

„Aber wie soll ich ohne dich Spaß haben?“ Simon zwinkerte ihm zu wie einem Fünfjährigen, nur ein wenig anzüglicher. Anzüglich! Ihm! Zuzwinkern! Sein Bauch rumorte bei dem Gedanken.

„Ich denke, du hast sicher genug Freunde.“

„Aber ich will ja dir meine Weihnachtlichkeit näher bringen!“

„Danke, aber das brauchst du gar nicht. Ich mag Weihnachten bereits sehr gern.“

„Ach, das ist mir aufgefallen. Trotzdem würdest du es noch viel mehr mögen, wenn du es in all seinen Facetten kennen würdest.“

Liam schüttelte nur noch den Kopf und versteckte sich hinter seiner Tasse. Wieso fiel es ihm so schwer, einfach nein zu sagen und wegzugehen?

„Na gut. Kein Weihnachts-Clubbing. Wie wäre es dann mit einem Weihnachts-Workshop-Tag im Kulturhaus? Im Advent gibt es jeden Samstag ein Angebot, wo man von früh bis spät weihnachtliche Sachen machen kann, Christbaumschmuck selber machen und Weihnachtsgeschichten als Impro-Theater und sowas. Ich hab zwar seit zwei Jahren nicht mehr mitgemacht, aber das macht riesig Spaß.“


Fast tat Liam ihm ja leid, wenn er daran dachte, wie der Jüngere gewöhnlich seine Zeit verbrachte. Wenn er ihn richtig einschätzte, dann waren all diese Dinge pure Qual für ihn und Simon war sich unsicher, ob er Mitleid mit ihm hatte, weil er ihn zu so etwas überreden wollte oder weil Liam so viele tolle Sachen verpasste. Vermutlich war es eher Letzteres, immerhin entschied er sich viel zu bewusst dafür, seinen Kollegen mit Vorschlägen zu quälen, da konnte es ihm ja schwer gleichzeitig leidtun.

„Ich bin nicht gut im Schauspielern und habe zwei linke Hände. Ich glaube nicht, dass ich mich da sonderlich fröhlich oder weihnachtlich fühlen würde.“

„Du bist eine Spaßbremse. Okay, dann machen wir es ganz anders. Aber du musst ehrlich sein!“

Grinsend zog er wieder einmal an Liams Jacke und platzierte ihn auf einer der Bierbänke, setzte sich danach gegenüber, um ihm ganz intensiv in die Augen zu sehen.

„Würdest du lieber etwas mit vielen oder wenigen Menschen machen?“

„Wenigen.“

„Würdest du lieber etwas Lautes oder etwas Leises machen?“

„Leise.“

„Würdest du lieber Glühwein oder Whiskey trinken?“

„Glühwein“, kam Liams Antwort ungewöhnlich schnell und Simon musste grinsen.

„Hoch oder tief?“

„Hoch.“

„Groß oder klein?“

„Klein.“

„Hell oder dunkel?“

„Dunkel.“

„Ha! Dann weiß ich genau, was wir morgen machen können.“

„Morgen?“ Liams Augen wurden groß und Simon hatte das Gefühl, sein Gegenüber würde gleich aufspringen und den Tisch umwerfen. „Wir haben nie von morgen gesprochen!“

„Ah, also von einem anderen Tag? Okay, dann sehen wir uns Dienstag nach der Bio-Vorlesung.“

Er lachte. Er wusste genau, dass Liam gerne ja sagen wollte. Die Ausrede, dass er nicht hätte absagen können, war völliger Humbug. Natürlich hätte er anrufen können und Simon hatte ihn sogar während der Woche mehrfach in Vorlesungen gesehen, spätestens während ihres Kleingruppentreffens hätte er mit ihm reden können.

Liam mochte ihn!

Zumindest mochte er ihn ein bisschen und er mochte ihn mehr als noch vor anderthalb Wochen, da wäre er nie zu dieser Feier gekommen.

Sicherheitshalber wandte er jedoch trotzdem seine bereits erprobte Technik an und ließ Liam, bevor dieser etwas zu seinem Überfall sagen konnte, allein auf der Bank sitzen. Immerhin hatte er Gastgebertätigkeiten zu verrichten und musste sich dringend darum kümmern, die Hitze des Grills zu überprüfen und dann das erste Grillgut aufzulegen.


„Er hüpft herum wie ein aufgeregtes Känguru.“

„Und er spielt den Teufelsjungen wie eine Harfe.“

„Er ist wirklich talentiert. Und manipulativ.“

„Na ja, wenn der Junge es anders nicht begreift…“


Der Abend plätscherte immer angenehmer fort, je öfter Simon ihm neue Glühweintassen in die Hand drückte. Er wusste, dass er nicht zu viel trinken sollte, um weitere peinliche Gespräche zu vermeiden, aber ständig wurde er von fremden Leuten angesprochen und der Smalltalk wurde anstrengend.

Der Glühwein tat gut und war noch dazu wunderbar warm.

Er musste zugeben, dass Letzteres auch durch das Essen erfüllt worden war. Sein mitgebrachtes Steak hatte toll geschmeckt und er musste zugeben, dass es Spaß machte, heißes Essen draußen zu sich zu nehmen. Alles dampfte, als wär es 1000°C warm, sogar der Ketchup auf seinem Teller. Das Eis als Nachtisch war eine gute Idee gewesen. So paradox es sich auch anhörte, Glühwein und Stracciatella-Eis passten unterhaltsam gut zusammen. Insgesamt war die Feier ein voller Erfolg und abgesehen von der kommunikativen Seite des Abends gefiel es sogar Liam wirklich gut. Wenn eben die ganzen Menschen nicht gewesen wären…

„Hast du Lust mir eben schnell zu helfen?“, unterbrach eine mittlerweile bekannte Stimme seine Gedanken und Liam versuchte sein Erschrecken zu überdecken, indem er den Schwung nutzte, um aufzustehen.

„Natürlich!“

„Sehr gut. Das Holz für die Feuerschalen muss noch herübergeholt werden und ich könnte zwei extra Arme gebrauchen“, erklärte Gabriel und deutete auf einen Holzstapel an der Hausseite.

Gemeinsam liefen sie nur zweimal hin und her und verteilten die Holzscheite und Spreißel in den großen Schalen. Ungefragt half Liam dabei, kleine Zelte zu bauen, damit das wenig später angezündete Feuer genug Luft bekam.

„Danke für deine Hilfe, Liam.“

„Gar kein Problem“, lächelte er. „Ich bin froh, wenn ich etwas zu tun habe und nicht herumsitze, wenn ich eigentlich helfen könnte.“

Gabriel sah sich offensichtlich kurz um, ob er noch etwas zu erledigen hatte und klopfte dann seine Hände ab, bevor er auf zwei der Stühle vor einer Schale deutete. Beide setzten sich und Liam vertiefte sich sofort in den Anblick des Feuers.

„Du bist nicht der größte Konversationskünstler, habe ich gehört.“

Liam sah auf, unsicher, wie der Satz gemeint war. Gabriel lächelte jedoch, selbst mit seinem Blick im Feuer gefesselt.

„Ich kenne ja außer Simon niemanden und ich weiß nicht so recht, worüber ich mit fremden Leuten reden soll.“

„Das kann ich verstehen. Simon hat mich mit seinem… Talent schon immer etwas beeindruckt.“

„Mit seinem Plappermaul?“

Er wurde rot. Knallrot. Nicht teufelsrot, aber so rot wie ein gewöhnlicher Mensch werden konnte. Dieser verdammte Glühwein!

„Ja, mit seinem Plappermaul“, lachte Gabriel und stocherte ein wenig im Feuer herum. „Aber auch mit seiner Fähigkeit, in jeder Runde ein Gespräch zu starten und Stimmung aufzubauen, selbst wenn niemand sich kennt oder niemand gute Laune hat. Von mir hat er das definitiv nicht.“

Liam nickte kurz und beruhigte sein klopfendes Herz. Aber er wusste, wovon Gabriel sprach. Seine Mutter hatte diese Fähigkeit auch und er hatte sich immer gewundert, warum er nicht einmal einen kleinen Funken davon abbekommen hatte. Er war ein sozialer Analphabet und darauf alles andere als Stolz, jedoch viel zu wenig motiviert, daran etwas zu ändern.

Das war es wohl, was Simon sich vorgenommen hatte: seinen Nachhilfelehrer zu spielen.

„Aber selbst wenn er es übertreibt, er meint selten etwas wirklich böse. Hin und wieder fehlen ihm nur ein paar gesunde Hemmungen.“

Wieder wurde er rot, gerade als seine Wangen sich angefühlt hatten, als kühlten sie ab. Dieser Satz von Gabriel klang viel zu sehr, als hätte Simon ihm erzählt, dass er ihn geküsst hatte! Gott, war das peinlich…

Simons Vater war ihm wirklich sympathisch und jetzt musste er herausfinden, dass er so etwas von ihm wusste! Wie konnte Simon das nur herumerzählen? Er wollte sich schon selbst beruhigen, als er merkte, dass er gar nicht wütend wurde. Sein Gewissen schien mit den Augen zu rollen. Eigentlich war es ja keine große Sache, auch wenn es sich so anfühlte, und selbst wenn, dann war es immer noch für Simon peinlich, nicht für ihn, denn er hatte ja gar nichts dazu gekonnt. Gabriel würde auch sicher nicht denken, dass er schwul war, ansonsten hätte es ja nie einen Grund gegeben, dass Liam die Sache so unangenehm sein konnte, dass Gabriel in Verlegenheit käme, ihn zu beruhigen.

„Hey! Was sitzt ihr so Trübsal blasend hier herum? Gabriel, du musst beim Schneemann-Contest mitmachen, Simon häutet dich, wenn du dich drückst!“

Diesmal war es zum Glück nicht er, der weggezogen wurde, und Liam warf Gabriel sympathisierend einen ähnlich hilflosen Blick zu.


Sein Schneemann hatte Brüste auf dem Kopf und einen Gartenschlauch zwischen seinen nicht vorhandenen Beinen. Leider wollte niemand den gesellschaftskritischen Hintergrund seiner Idee anerkennen und so wurde Timos Engel-Schneemann zum Sieger gekürt, der nur wegen des bildhauerischen Talents und gar nicht aufgrund der Idee gewonnen hatte.

Liam hatte sich, wie zu erwarten gewesen war, auffallend talentiert im Hintergrund gehalten und nur einmal Gabriel den Anstoß gegeben, Schokoeis als Haarpracht seiner Figur zu verwenden. Simon hatte trotzdem das Gefühl, dass der Jüngere Spaß hatte und war ausgesprochen beruhigt darüber.

Gegen elf beruhigte sich die Feier merklich und die Schneemannbauer versammelten sich um die Feuerschalen, um ihre Kleidung zu trocknen. Simon wechselte die Musik auf ruhigere Töne und setzte sich zu Gabriel, Klara und Gabriels langjähriger Immer-Mal-Wieder-Freundin. Auch nach nur zwei Tassen Glühwein fühlte er sich warm und etwas benebelt, vermutlich weil er beim Aufkochen zu viel Glühweindampf eingeatmet hatte. Zwischen seinen engsten Freunden kuschelte er sich unter seine Lieblingswinterdecke und betrachtete ausgiebig das Feuer vor seinen Füßen.

Gott, er fühlte sich verdammt wohl.

Nur eine Sache fehlte ihm noch und er begann, sich nach seinem momentanen Favoriten für die Position des warmen Körpers zum Schmusen umzusehen.

An der Terrassentür sah er ihn und er entschloss sich, ihn mal wieder durch die Gegend zu ziehen, diesmal allerdings verbal. Zielstrebig ging er auf den Jüngeren zu.

„Und, wie gefällt es dir?“

Liam sah ihn an, als hätte er ihn aus einem tiefen Gedankengang herausgefischt, und schien im ersten Moment gar nicht zu realisieren, was Simon gesagt hatte. Dieser fand den Moment und den verträumten Blick einfach unbeschreiblich süß und wollte ihn noch viel dringender auf einen Liegestuhl ziehen, um mit ihm zu kuscheln.

„Die Feier ist schön. Also, wirklich, ich bin… froh, dass ich gekommen bin.“

Oha! Das hätte er nicht erwartet!

„Das ist toll! Und jetzt kommt der beste Teil, komm mit!“

Liam folgte ihm bereitwillig und setzte sich auf den zugewiesenen Stuhl, den Simon absolut gar nicht so platziert hatte, dass sie nah beieinander und etwas von den anderen abgesondert saßen.

Die Runde wurde immer ruhiger, bis einige Zeit später mit einem Mal völlige Stille herrschte, die nur durch das Knistern der Feuerstellen und die leise spielende Musik gebrochen wurde. Die Romantik des Moments stieg ins Unermessliche, etwa parallel zu Simons Drang, Liams Hand zu nehmen. Um die Situation jedoch nicht kaputtzumachen, rutschte er stattdessen nur unmerklich näher, so dass sich zumindest ihre Unterarme berührten, und als sie sich zurücklehnten gezwungenermaßen auch ihre Schultern.

„Du hast eine tolle Familie“, sprach Liam Minuten später, als die Gespräche um die Schalen herum langsam wieder begannen, ohne vom Feuer aufzusehen.

„Wie kommst du darauf?“

„All das hier, die Feier, eure Freunde… Gabriel und du seid wie zwei Freunde, die zufällig auch Vater und Sohn sind. Und Klara ist die perfekte, nervtötende kleine Schwester. Und all die anderen Leute, ich kenn das so nicht wirklich. Zuhause sind es nur meine Mutter und ich. Aber ihr… Ich weiß nicht, ihr geht mit euren Freunden um, als wären alle hier Teil eurer Familie.“

Simon überlegte bereits, wie er Liams Worte kommentieren sollte, war jedoch viel zu überrascht, dass sein Kollege so etwas und so viel gesagt hatte, dass er gar nicht dazu kam, etwas hinzuzufügen, bevor Liam noch einmal das Wort ergriff.

„Sogar ich. Dein Vater ist toll und trotz all des bescheuerten Smalltalks, ich hatte kaum das Gefühl, dass ich nicht hergehöre. Es war… schön. Danke, dass du mich eingeladen hast.“


„Aber ich hab keine Lust, schon wieder Sex zu haben!“

„Von wegen! Gewöhnlich muss ich vor dir fliehen, weil deine Libido nicht zufriedenzustellen ist.“

Sie schlug entrüstet seinen Arm und schüttelte den Kopf.

„Rede nicht solchen Unsinn. Du willst doch nur schon wieder mit mir schlafen, weil du dir einen neuen Erben zeugen willst.“

„Wie kommst du auf so eine Idee?“

„Wo ist Liam?“

Aus Lucifer Seniors Nase kam ein kleines Rauchwölkchen.

„Auf-der-Schwuchtelfeier-und-gesteht-dem-verfluchten-Engel,-wie-er-ihn-liebt“, murmelte er und ballte seine Fäuste zusammen.

„Wenn du mit mir schlafen möchtest, dann musst du ein Kondom verwenden.“

Für einen Moment herrschte Stille, bis Lucifer Sr. eine etwas größere Rauchwolke ausstieß und nach seiner Hose griff.

„Dann brauch ich auch keinen Sex mit dir zu haben.“


Am Dienstagmittag begann es Liam schwer zu fallen, zu behaupten, dass er sich nicht darauf freute, Simon zu sehen.

Die Erkenntnis traf ihn so hart, dass er vor lauter Panik sofort begann, mit dem Gedanken zu spielen, nicht zur Vorlesung zu gehen und Simon stehen zu lassen. Natürlich musste er zugeben, dass die Feier am Wochenende wirklich großen Spaß gemacht hatte und natürlich musste er auch einräumen, dass es sich angenehm anfühlte, dass jemand Zeit mit ihm verbringen wollte. Aber warum musste es ausgerechnet Simon sein? Warum musste er ausgerechnet jemanden sympathisch finden, den er objektiv gesehen so völlig verabscheute?

Am Dienstagmittag begann es auch immer schwerer für ihn zu werden, im Kopf zu behalten, warum er Simon objektiv so schrecklich fand.

Er mochte Simons Vater, das wollte er gar nicht bestreiten. Seine beste Freundin mochte er ausgesprochen wenig, aber den Grund dafür wollte er nicht näher analysieren, dazu hatte er viel zu beunruhigende Vermutungen. Er mochte Simons Humor. Er mochte seinen Musikgeschmack, die Filme und Serien die er ansah, seinen Geschmack für Bücher und Zeitschriften, auch wenn er ihn teilweise nicht teilte. Er mochte Simons Art zu reden, als war alles, was er sagte, doch eh selbstverständlich richtig, jedoch ohne dass er dabei tatsächlich arrogant klang. Er mochte es – zumindest ganz heimlich –, dass Simon ihn gerne etwas herum scheuchte, ihm sagte, was er zu tun hatte, ihm Entscheidungen abnahm, indem er ihm stattdessen Befehle gab, aber all das fand er etwas gruselig und dachte ungern darüber nach, dass er es mochte.

Liam mochte es definitiv nicht, dass Simon schwul war. Er mochte keine Schwulen, er mochte nicht, wie sie sich gaben, was sie machten, wie sie sich gesellschaftlich darstellten. Er mochte die Vorstellung nicht, dass Simon das Bedürfnis hatte, irgendwelche Männer zu küssen oder Sex mit ihnen zu haben.

Am Dienstagnachmittag saß er nervös in der Vorlesung über biologische Grundlagen der Psychologie und starrte ständig zu Simon, der etwa genau zwölf Reihen vor ihm saß und zu spät gekommen war. Er schob den Gedanken weit, weit weg, dass er ihn nicht gesucht hatte, sondern sich zum ersten bekannten Gesicht – Andreas – gesetzt hatte.

Angestrengt in sein bunt angemaltes Skript vertieft, bekam er das Ende der Vorlesung gar nicht mit, bis seine Verabredung neben ihm stand und ihn ansprach. Der Gedanken, dass Simon sein Date war machte ihm für einen kurzen Moment Bauchschmerzen, bis er sich selbst beruhigen konnte.

„Hast du warme Sachen dabei?“

Simon strahlte aufgeregt und wieder fühlte Liam sich an das hyperaktive Meerschwein erinnert.

„Natürlich.“  

Handschuhe, eine Mütze, einen Schal, warme Schuhe und seine wärmste Jacke. Diese anzuziehen hatte Simon ihm zur Verabschiedung am Samstag oder vielmehr Sonntag früh aufgetragen. Er war sehr gespannt, weshalb.

„Na dann auf! Wir haben noch einen weiten Weg vor uns!“

Der selbst in einen großen Wollschal vermummte junge Student hüpfte voraus und Liam fühlte sich mal wieder von ihm mitgezogen werden. Ja, es gefiel ihm aus irgendeinem wirklich seltsamen Grund wohl tatsächlich, wenn er das machte.

Wie angekündigt war ihr Weg für Großstadtverhältnisse noch merkwürdig lang. Während der Fahrt in der Straßenbahn ließ Simon sich jedoch keinerlei weitere Informationen darüber herauslocken, was sie vor hatten. Stattdessen erzählte er begeistert davon, was für ein Erfolg die Feier am vergangenen Wochenende gewesen war. Als hätte Liam sie nicht selbst erlebt!

„Oh, und Gabriel meint, du bist ein ausgesprochen netter Junge und ich solle aufhören mich dir gegenüber so ungezogen aufzuführen.“

Liam spürte seine Wangen rot werden.

„Siehst du. Also erzähl mir, wo wir hinwollen!“

„Vergiss es“, lachte Simon, „und jetzt steig aus, wir sind an der Endstation.“

Sie waren in einem Liam völlig unbekannten Bezirk, über den er gerade einmal wusste, dass die stadtbekannte Bierbrauerei hier stand. Was sie hier wohl wollten?

„Komm schon, wir müssen den Bus dahinten erwischen.“

Er rollte die Augen, als er den Bus auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung an die Haltestelle fahren sah.

„Wenn du mir sagen würdest, wo wir hinmüssen, dann müsstest du mich viel weniger stressen!“, rief er schnaufend.

„Aber dann wäre es ja nur halb so viel Spaß machen!“, grinste Simon zurück.

Liam ließ sich viel zu erschöpft auf die Rückbank des Busses fallen und atmete betont durch die Nase, damit es nicht so deutlich war, dass er nach dem kurzen Sprint bereits völlig außer Atem war.

„Siehst du, das war fast schon ein Abenteuer. Aber jetzt kannst du dich ausruhen, wir fahren jetzt erst einmal ein Stückchen Bus.“

„Wie groß ist das Stückchen, Simon?“

„Ach, bestimmt fünf Minuten!“


Sie lachte. Der Junge hätte sie sicher auch irgendwann völlig den Verstand verlieren lassen mit seiner Art.

Sie hoffte sehr, dass er glücklich werden würde, dass er dieses wahnsinnige Talent, in jeder Situation einen Grund zum Glücklichsein zu finden, beibehalten konnte.

Und vielleicht konnte er ja dem Teufelssohn ein wenig davon abgeben, verdient hatte er es immerhin auch zumindest ein bisschen.


„Du hast nie, niemals von Wandern gesprochen!“

„So ein Schwachsinn, das hier ist doch kein Wandern. Das ist ein Winterspaziergang!“

„Es geht den Berg hoch. Steil. Das ist fast Bergsteigen.“

Er konnte es sich kaum verkneifen, hysterisch aufzulachen. Bergsteigen! Und das sagte das Landei zu ihm als Stadtmenschen! Der Schneeball, der dafür in Liams Richtung flog war strategisch völlig gerechtfertigt.

„HEY!“, entrüstete sich der Jüngere und klopfte weißes Pulver aus seiner Mütze.

Simon griff derweil bereits wieder zum Boden und formte den nächsten Ball.

„Was ist denn? Ich hab doch gesagt, Winterspaziergang!“

Und natürlich ging sein Plan auf. Um den darauffolgenden Schneebällen auszuweichen rannte Liam vor ihm weg, weit genug, dass er in Ruhe seine Rache planen konnte: Mehr Schneebälle. Ihre Schlacht trieb sie lachend, kreischend und kreuz und quer den Berg hinauf und bevor sie es merkten, waren sie bereits an der Straße angekommen, die zu ihrem Ziel führen würde.

Gabriel hatte ihn als Kind ausschließlich mit solchen Taktiken dazu gebracht Berge zu besteigen, vor allem wenn es kalt war und kein Erwachsener einsehen wollte, dass es für Kinder viel anstrengender war, durch den Schnee zu laufen. Aber Winterspaziergänge waren es wert und waren sicher nichts, was Liam in den Kopf kam, wenn er neben seinen Weihnachtsfilm-Marathons nach einer neuen Beschäftigung suchte, weil man so etwas einfach nicht allein machte.

Zudem hatte ihr Weg ein Ziel und zwar der wahrscheinlich schönste Weihnachtsmarkt, den es in ihrer Stadt gab: Im Garten eines Schlosses auf einem Berg über der Stadt. Auch hier war er als Kind oft mit seinem Vater gewesen, war eben den Weg, den er Liam hinauf gescheucht hatte, schon oft genug hoch gestapft. Aber es lohnte sich vollkommen, vor allem jetzt wo es langsam dunkel wurde, als sie näher kamen.

„Sind wir jetzt langsam da?“

Simon grinste und ignorierte wie niedlich es war, dass Liam wie ein kleiner Junge klang, betont aber nicht „schon da“ als Formulierung verwendet hatte.

„Ja, sind wir. Aber gib’s zu, die Schneeballschlacht hat den Weg deutlich angenehmer gemacht, stimmt’s?“

„Pff. Auch nur in deiner Welt.“

Aber er lachte und warf eine Hand voll zusammengepressten Schnee, den er gerade in seiner Kapuze gefunden hatte, in Simons Richtung. Auch die letzten Meter verbrachten sie also zwischen hin und her fliegenden Schneebällen, bis sie nach insgesamt einer dreiviertel Stunde Fußweg am Schloss ankamen.

„Ich präsentiere, der Karlinenberg, das Karlinenschloss und der Weihnachtsmarkt am Karlinenschloss! Der höchste Weihnachtsmarkt der Stadt und bewiesenermaßen der mit dem schönsten Ausblick.“

Umgeben von nur zwei Händen voll Marktbuden befand sich tatsächlich eine Aussichtsplattform aus Holz, vor deren Füßen sich die gesamte Stadt in all ihrer erleuchteten, glitzernden Pracht zeigte. Das Wetter war klirrend kalt, dafür jedoch auch glasklar und sie konnten sogar die Bürogebäude auf der anderen Seite des Flusses noch erkennen. Alles war hell und angestrahlt und Liam übernahm schon wieder die Rolle eines kleinen Jungen und begab sich auf die Suche nach allen sehenswürdigen Gebäuden, die ihm einfielen.

Als er die Suche nach der Kirche neben der Universität schon fast aufgeben wollte, erbarmte Simon sich.

„Schau mal her.“ Er trat näher, bis er direkt hinter dem Jüngeren stand und legte einen Arm über dessen Schulter, dessen ausgestreckte Hand auf die Kirche deutete. „Genau grade an dem großen Baum da vorne vorbei, du musst nur der Ringstraße folgen und dann nach links gehen.“

Liam freute sich und bemerkte entweder nicht, dass Simon in ähnlicher Position wie bei ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuch bei ihm stand, oder fand es tatsächlich mittlerweile nicht mehr ganz so tragisch. Simon hoffte auf Letzteres und legte ungeachtet seine Hände auf die Balustrade, gegen die Liam gelehnt stand, um den Jüngeren zu umschließen. Leise atmete er tief durch.

Himmel, fühlte sich das gut an…

Als Liam mit seiner Suche zufrieden war, holten sie sich Glühwein und Simon kaufte eine Portion geröstete Maroni, die er seinen Kollegen zwang, mitzuessen.

„Das gehört dazu, die schmecken hier oben besser als an jedem anderen Stand in der Stadt!“

„Als nächstes willst du mir sicher auch noch ein Lebkuchenherz umhängen und mich dem Weihnachtsmann auf den Schoß setzen.“

„Niemals! Dich würde ich viel lieber selbst auf den Schoß nehmen!“

Er lachte über den völlig überforderten Blick des Anderen und steckte ihm eine Maroni in den offenstehenden Mund.

„Pass auf, sonst fliegen da noch ganz andere Sachen rein!“

Gott, dieses ungezwungene Hin und Her fühlte sich verdammt gut an. Mit Klara und Gabriel hatte er so etwas auch, aber es war schon so lang her, dass er das letzte Mal geflirtet hatte und mit Liam machte es so viel mehr Spaß, weil er es ernst meinte. Er mochte den Jüngeren wirklich gern, nicht mal mehr nur, weil er ihn aufregend fand, sondern weil er ihn aufrichtig… mochte. Er war gern mit ihm zusammen, er hatte sich riesig auf ihren Nachmittag allein gefreut, hatte sich riesig auf Liam selbst gefreut.

Vielleicht war ein bisschen verliebt.

Vielleicht.

Ein bisschen.


„Er ist verloren. Ich glaube es einfach nicht.“

„Vielleicht solltest du deine Pläne besser ausarbeiten.“

„Vielleicht solltest du deinen Mund halten!“


Liam war begeistert. Der Weihnachtsmarkt erinnerte ihn ungemein an den Adventmarkt, den es am Wochenende vor Weihnachten in seinem Dorf immer gegeben hatte. Klein, beschaulich, gemütlich. Er war Simon dankbar dafür, dass er ihm das hier gezeigt hatte, er wäre tatsächlich allein nie auf die Idee gekommen, so etwas zu suchen.

Und auch der Weg hierher hatte ihm gefallen. Vielleicht hatte ihn sogar die Schneeballschlacht ein wenig Spaß gemacht.

Eventuell hatte auch diese Idee von Simon Erfolg damit, den Tag zu einem schönen Tag zu machen.

Und ganz eventuell war es auch möglich, dass es Liam gefiel, etwas mit jemandem zusammen zu unternehmen und es konnte auch möglich sein, dass das zum aller größten Teil an seiner Begleitung persönlich lag.

Leider leerte sich der Markt bereits kurz nachdem sie ihren zweiten Glühwein geholt hatten, was aufgrund seiner Lage und der Tatsache, dass es mitten unter der Woche war, fast zu verstehen war. Liam fand es trotzdem schade und überlegte seit der Weihnachtsmann als Zeichen des Abbaus in einer Hütte verschwunden war, ob er Simon irgendwie fragen konnte, ob sie noch einmal herkommen wollten. Vielleicht tagsüber, wenn es nicht ganz so bitterkalt war und man mehr von der Stadt sehen konnte.

Sie waren die letzten, die ihre Tassen noch abgaben, bevor der Weihnachtsmarkt ganz offiziell schloss.

„Wir müssen noch eines erledigen, bevor wir heimfahren.“

Liam sah auf, sicher, dass er viel zu begeistert von diesem Satz aussah.

„Was willst du hier oben denn noch machen?“

„Das bleibt noch ein bisschen mein Geheimnis. Aber ich verspreche dir, dass es nicht lang dauert und auch nicht weit zu laufen ist.“

Sie verließen den Markt und traten auf der anderen Straßenseite ins Stockdunkle. Ein Wald umgab das Schloss an drei von vier Seiten und durch diesen stapften sie nun eher im Schneckentempo, um an Simons ominöses Sonderziel zu gelangen. Liam war ein wenig an schlechte Horrorfilme und Nachtwanderungen als Kind erinnert, folgte seinem Kollegen jedoch ohne zu murren. Er mochte ihre Stille, das angenehm ruhige Gefühl, das Musik und Glühwein bei ihnen beiden offenbar hinterlassen hatten. Nach einigen hundert Metern, die sich anfühlten als wären sie schon meilenweit gelaufen, lichtete sich der Wald.

„Jetzt sind wir wirklich gleich da.“

Simons Stimme war leise, obwohl sie in dieser Menschenleere eh niemanden stören konnten.

Sie überquerten einige Acker und Felder, bis sie an einer weitläufigen Wiese ankamen, die ein weiteres Mal steil den Berg hinaufging. Nach einer kleinen Anhöhe erkannte Liam auf der tatsächlichen Spitze einige blattlose Bäume, die im Mondlicht fast schmerzhaft romantisch aussahen, und im selben Moment blieb Simon neben ihm stehen.

Sie atmeten für einige Momente tief durch.

„Siehst du diese kleinen runden Büschel in den Bäumen?“

Liam nickte.

„Weißt du, was das ist?“

Er schüttelte den Kopf.

Offenbar wollte Simon ihm zeigen, was das war, denn er ging zielstrebig weiter bergauf, bis sie oben angekommen waren und diesmal beide noch deutlich lauter schnauften. Liam sah sich um und bemerkte erst jetzt, dass sie ein weiteres Mal an einer Aussichtsstelle angekommen waren. Wieder lag die Stadt vor ihnen, mit all ihrem Rauschen und Funkeln, während sie selbst in völlige Stille gehüllt waren.

Im Augenwinkel sah er, wie Simon seine Handschuhe auszog und sich mit einem Labello-Stift über die Lippen fuhr. Vermutlich aufgrund der Kälte.

„Dieser Platz hier ist mein liebster Punkt, um auf die Stadt zu sehen, weil hier oben gar nichts ist, keine Gebäude, keine Straße, keine Menschen. Und, siehst du jetzt, was das dort oben ist?“

Wieder musste Liam den Kopf schütteln.

„Dann komm mit.“

Simon packte ihn am Ärmel seiner Jacke und zog ihn mit sich, bis sie direkt unter einem der Bäume standen. Liam folgte seinem Blick nach oben, konnte jedoch noch immer nicht erkennen, was die buschartigen Kugeln zwischen den Ästen sein sollten.

„Misteln“, beantwortete Simon seine eigentlich nur in Gedanken gestellte Frage.

Hastig sah Liam herunter und blickte den anderen überrascht an, genau wissend, was man traditionell unter Misteln machte.

Simon küsste ihn.

Langsam genug, dass er jederzeit hätte ausweichen können. Ohne ihn weiterhin festzuhalten, damit er jederzeit hätte zurücktreten können.

Liam blieb stehen, ohne sich zu bewegen, bis Simon selbst einen Schritt zurücktrat.

Er konnte sehen, dass der Ältere erwartete, dass er wütend wurde, aber er wusste nicht, warum er es sollte. Er konnte die Wut, die beim letzten Mal durch seinen Körper pulsiert hatte, nicht mehr finden.

Simon begann zu grinsen, als eine abwehrende Reaktion ausblieb.

„Weißt du, was jetzt das Lustigste wird?“

„Und zwar?“

„Wir müssen da hoch und müssen eine Beere abpflücken!“


„Wie abstoßend.“


„Wie schön!“


Am 23. Dezember stieg Simon wie selbstverständlich nach der letzten Vorlesung mit in die Straßenbahn zum Hauptbahnhof, von dem aus Liams Zug nach Hause abfuhr. Nachdem sie eingestiegen waren hatten sie sich mit einem Mal nichts mehr zu sagen, was obwohl es in einem krassen Gegensatz zu den letzten Wochen stand, keinen von ihnen wunderte.

Simon half Liam nicht dabei, seine Taschen zu tragen, auch wenn sie beide genau wussten, dass er es wollte, allein schon weil der Jüngere sich absolut mitleidserregend abmühte. Simon lachte ihn aus, nahm ihm vor der Rolltreppe im Bahnhof dann trotzdem eine Tasche aus der Hand, was Liam mit einem typischen, griesgrämigen Murmeln bedachte und den anderen noch mehr zum Lachen brachte.

Am Bahnsteig angekommen war wieder nichts mehr zu sagen da, obwohl nun beide nach Worten rangen. Es überraschte sie beide, dass es Liam war, der genau die Worte fand, nach denen sie gesucht hatten.

„Ich glaube, es könnte passieren, dass dich vermisse.“

„Also, bei mir könnte das vielleicht der Fall sein. Aber du vermisst mich und meine absolut überragende Weihnachtlichkeit bestimmt sobald du auch nur einen Fuß in den Zug setzt!“

Liams Blick wurde erst griesgrämig, dann konnte er das Lachen jedoch nicht mehr zurückhalten.

„Weißt du was? Damit könntest du fast recht haben. Denkst du, du hättest etwas dagegen, wenn ich mich melde, sobald ich wieder hier bin?“

„Ich denke, du weißt ganz genau wie wahnsinnig viel ich dagegen habe. Und jetzt fahr nach Hause, Chorknabe!“

Ende

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