zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Mit anderen Augen

Teil VI

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel XXXIV Konfrontationen

Andreas stand am folgenden Morgen allein an der Essensausgabe. Neben seinem Frühstück holte er für Carsten lediglich Kaffee und Orangensaft und orderte die Ration für Max. Bald schon erreichte er den Tisch an dem der Rest der Clique saß. Nach dem obligatorischen ‚Guten Morgen‘ ging es vorwiegend um Carstens Gesundheit.

Andreas war am frühen Morgen durch ein lautes Stühlerücken geweckt worden. Nachdem er sich Licht gemacht hatte um der Ursache auf den Grund zu gehen, hatte er einen fürchterlichen Schreck bekommen. Carsten war neben dem Tisch gelegen und hatte kein gutes Bild abgegeben. Andreas war aufgestanden und hatte seinem Freund wieder ins Bett geholfen. Allein schon an seinem Erscheinungsbild war jeder Erklärungsversuch, dass er sein Gleichgewicht verloren hatte, gescheitert. Kurzerhand hatte Andreas entschieden, dass Carsten bis zum Frühstück im Bett bleiben sollte. Der blinde Junge erkannte schnell, dass es keinen Sinn hatte etwas dagegen zu sagen. Andreas war mit Max vor die Tür zur ersten Gassirunde gegangen. Als die beiden von ihrer Runde zurück gekommen waren, hatte Carsten sich soweit unter Kontrolle gehabt, um die Morgentoilette zu bewerkstelligen. Mit Andreas Hilfe hatte er es anschließend bis in die Mensa geschafft um dort etwas zu sich zu nehmen.

Der Kaffee half ihm auch etwas auf die Sprünge. Doch das Ergebnis war nicht sonderlich berauschend. Chris - nein die ganze Clique - war der Meinung, dass Carsten zumindest bei der Ersten Hilfe vorbei schauen sollte. Insgeheim wusste Carsten wohl selber, dass etwas nicht in Ordnung war und Max verhielt sich sehr ruhig. Er gab sich geschlagen und bat Ralph ihn zu begleiten. Zum Einen, weil er kräftiger als Andreas war und zweitens: Er kannte das Vergnügen einer langweiligen Rektoransprache, welches Carsten Andreas zumindest einmal gönnen wollte. Gespielt beleidigt ließ sich Andreas darauf ein, was die Stimmung am Tisch anhob. Leider hielt die gute Stimmung nicht lange an und Carstens Alarmglocken klingelten. Melanie kam auf den Tisch zu.

„Guten Morgen Carsten, hier bist du also. Kann ich mich zu euch setzen?“

„Guten Morgen. Darf ich euch Melanie Kühn unsere neue Mitschülerin vorstellen? Ralph und Andreas hast du ja bereits kennengelernt. Christiane sitzt zu meiner Linken und ihr gegenüber Britta. Und nein, der Tisch ist belegt.“

„Du irrst dich! An der Stirnseite neben dir ist noch Platz, es fehlt nur ein Stuhl.“

„Aber nein, ich irre mich nicht. Der Platz ist für Max reserviert.“

„Weggegangen, Platz vergangen.“

„Soweit ich weiß, ist Max sicherlich noch nicht gegangen.“

Andreas nahm sich zusammen um nicht los zu lachen. Ein Blick in die Runde und er ahnte, dass es ihm nicht allein so ging. Jeder der Max kannte, wusste dass sie sich nicht von allein entfernte, wenn nicht ein entsprechendes Kommando von Carsten kam. Schon gar nicht nach einer Mahlzeit. Und Carsten? Wie er es auch anstellen mochte, er war sich immer sicher wo sich die Hündin aufhielt. Gespannt harrte Andreas der kommende Reaktion. Das Mädchen ging um den Tisch herum und sah die Hündin dort liegen.

„Iih, was ist das denn? Ein Köter in der Mensa? Weg da!“

„Melanie. Max ist kein Köter, sondern eine Hund. Um genau zu sein: Eine Hundedame und des Weiteren sagte ich doch: Der Tisch ist belegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass an meinen Worten etwas falsch zu verstehen war. Oder?“

„Hunde dürfen nicht in die Mensa, steht in der Hausordnung. Also, muss das Viech raus.“

Obwohl Carsten sich nicht besonders gut fühlte und es ihn momentan sehr anstrengte, änderte sich etwas in seinem Gesichtsausdruck. Andreas kam es vor als würden sich die sonst weichen Züge von Carstens Mimik in scharfen Kanten wandeln. Sein Erscheinungsbild wirkte auf einmal wie aus kaltem Marmor gehauen. Und seine Stimme, so ruhig sie auch klang, hatte etwas Bedrohliches an sich.

„Max bleibt da wo sie ist! Sie ist meine ständige Begleiterin und ist auch dort zu finden, wo ich mich aufhalte. Wenn es dir, Melanie, irgendwelches Unbehagen verursacht, dann bleib von uns fern.“

„Es gibt eine Hausordnung und an die musst auch du dich halten. Ich werde es dem Rektor melden.“

Schlagartig änderte sich Carstens Ausdruck wieder. Andreas konnte sich nicht des Eindrucks verwehren, dass es schon fast ironisch klang als Carsten zu sprechen fortfuhr. Dieser beschied dem Mädchen, mit den Konsequenzen leben zu können. Dann wünschte er ihr einen angenehmen Tag. Das Mädchen verschwand postwendend und ließ die Gruppe wieder allein. Ungläubig starrte Andreas seinen Freund an.

„Kannst du wirklich mit den Konsequenzen leben?“

„Sicher doch, weil es keine geben wird. Oder glaubst du allen Ernstes, ich hätte Max illegal hier? Versuche sie mal zu verstecken. Max darf hier sein, weil ich sowohl vom Rektor als auch von dem Küchenchef eine Genehmigung habe. Daniel hat sich ja auch bereit erklärt, sich um das Futter zu kümmern. Also, warum sollte ich mir Sorgen darum machen? Etwas anderes finde ich momentan viel wichtiger: Mir ist schlecht!“

Noch bevor Andreas reagieren konnte, stand Ralph neben Carsten, half ihm aufstehen und begleitete ihn zügig zur Toilette. Dort sorgte Carsten dafür dass die Raumpflegerin einiges zu tun bekam. Dann gingen sie weiter zum Sanitätsraum. Max trotte hinter den beiden her und ließ ihr Herrchen nicht aus den Augen. Im Erste-Hilfe Raum legte sich Carsten direkt auf die Pritsche. Der herbeigerufene Lehrer maß Fieber und entschied dass Carsten zum Arzt muss. Von da an bekam der Junge nicht mehr allzu viel mit. Er blieb liegen, da ihm die Kraft zum Aufstehen fehlte. Max trollte sich in eine Ecke von der sie Carsten beobachten konnte. Ralph hatte den Eindruck die Hündin mache sich um ihr Herrchen Sorgen. Er selber blieb bei ihm bis der Hausarzt des Internats eintraf.

„Guten Morgen Carsten.“

„Guten Morgen Doktor. Entschuldigen sie bitte, dass ich nicht aufstehe, aber ich habe den Eindruck in den Beinen Pudding zu haben.“

„Das ist nicht schlimm. Setz dich mal aufrecht hin und mache den Oberkörper frei. Ralph hilf ihm.“

Die Untersuchung dauerte nicht sehr lange. Neben dem Blutdruck wurde noch einmal Fieber gemessen, abgehorcht und zu guter Letzt noch eine Blutprobe entnommen. Seine Tätigkeiten kündigte er für Carsten an. Gerade bei der Blutentnahme war es wichtig den Jungen zu informieren, nicht dass er sich verkrampfte wenn die Nadel seine Haut durchstach. Aber Carsten zuckte nicht einmal mit der Wimper. Nachdem der Arzt die Wunde mit einem Pflaster abdeckte hatte, teilte er seine Diagnose mit.

„Vorweg, Carsten, du hast die Grippe. Um welche es sich genau handelt, wird die Blutuntersuchung zeigen. Hast du dich letzten Herbst nicht impfen lassen?“

„Ging nicht, meine regelmäßigen Tetanus- und Hepatitisimpfung standen an. Ich bin davon ausgegangen, die aus dem Vorjahr würde noch wirken.“

„Nein, leider nicht. Seltsamerweise haben sich in dieser Saison zwei Virenstämme verbreitet welche nichts mit dem Influenzavirus aus dem Vorjahr zu tun haben. Ich werde dir ein Medikament geben das deine Beschwerden lindert. Du wirst einige Tage das Bett hüten und viel Flüssigkeit zu dir nehmen, dann solltest du binnen zwei Wochen wieder auf den Beinen sein.“

„Gibt es kein Antibiotikum?“

„Nein Ralph. Antibiotika helfen nur bei bakteriellen Infektionen, nicht bei viralen. Carsten wird da wohl durch müssen. Hast du jemanden der sich um deinen Hund kümmert?“

„Ich denke meine Clique und einige Lehrer.“

„Gut, dann zieh dich wieder an. Ralph, bitte sorge dafür, dass Carsten heil auf sein Zimmer kommt. Carsten du gehst sofort zu Bett. Ich werde mit Herrn Neubert sprechen, es könnten noch mehrere Fälle auftreten. Wie sieht es mit dir aus Ralph?“

„Ich habe mich wohl oder übel impfen lassen müssen, auf ausdrücklichen Wunsch meiner Freundin. Sie hätte mir sonst die Hölle heiß gemacht.“

„Dann solltest du dich bei ihr bedanken. Vorerst wirst du von mir zu Carstens Pfleger ernannt. Carsten hast du etwas gegen Kopfschmerzen?“

„Allerdings. Darauf kann ich liebend gern verzichten.“

„So meinte ich das auch nicht, Scherzkeks. Vorsichtshalber gebe ich dir noch ein Kopfschmerzmittel mit. Das solltest du aber nur bei Bedarf nehmen. So, das war es schon. Ich mache mich dann auf den Weg. Gute Besserung.“

„Danke.“

Der Arzt packte seine Sachen. Er gab Carsten die Medikamente und die Anweisung wie er jedes verwenden sollte. Danach verließ er sie. Ralph begleitete den blinden Jungen auf sein Zimmer. Max trotte hinter den Beiden her und verkrümelte sich auf ihren Platz. Carsten bedankte sich, zog sich wieder um und legte sich hin. Kaum zugedeckt, fiel er in den Schlaf. Als er aufwachte, wusste er nicht wie spät es war. Er tastete zum Wecker.

„Es ist kurz nach halb elf, Schatz.“

„Mutti?“

„Ja, Andreas hat mich angerufen. War aber nicht nötig, ich war vorgewarnt. Andrea liegt auch danieder. Wie geht es dir?“

„Ich fühle mich, als wäre ich Karussell gefahren. Meine Füße fühlen sich an, als wären sie aus Eis und ich höre alles wie durch Watte. Wahrscheinlich mache ich keine so gute Figur. Warum bist du hier?“

„Machst du auch nicht. Ich bin gekommen um dich nach Hause zu holen.“

„Glaubst du dass es sinnvoll ist? Nichts gegen deine Pflege, doch Papa ist in der Praxis oder unterwegs. Du in der Uni. Wer sollte mir helfen, wenn ich schnell Hilfe brauche? Und reicht dir nicht die Pflege um Andrea?“

„Nein, ich möchte etwas in deinen Gedanken gerade rücken. Meine Studenten haben noch Semesterferien, ergo bin ich daheim und ich kann mich um meine Babys kümmern. Ihr Beide seid nicht zum ersten Mal gleichzeitig krank. Waschechte Zwillinge würde ich sagen. Komm, ich helfe dir dich anzuziehen und dann geht es los.“

Carsten sah ein, dass Widerstand zwecklos war. Vielleicht war er insgeheim auch froh über diesen Umstand. Denn hier im Internat wäre er zwar bei seinen Freunden gewesen aber was, wenn er sie ansteckte? Gut, von Ralph wusste er ja, dass er sich hatte impfen lassen, folglich auch Britta. Bei Chris, Maria und Andreas war er sich nicht sicher. Darum kein unnötiges Risiko eingehen. Außerdem brauchten sie ein gesundes Team für die Zeitung.

Eine halbe Stunde später war Carsten soweit. Luise packte noch die Medikamente ein und befestigte die Leine an Max Geschirr. Bevor sie das Zimmer verließen, schrieb Luise noch eine kurze Mitteilung für Andreas. Dann ging es langsam die Treppe hinunter zum Auto. Luise machte die Beifahrertür zu, nachdem Carsten sich gesetzt hatte. Max sprang in die Transportbox im Fond des Wagens. Luise schloss die Hecktür und setzte sich hinter das Steuer.

„Sag mal weiß Dr. Neubert Bescheid?“

„Ich habe ihn schon gesprochen und er war erleichtert dass ich dich nach Hause hole. Laut Artest bist du eh für zwei Wochen vom Unterricht befreit.“

„Ob das meinen Noten gut tut?“

„Sag einmal, bist du sicher dass du Carsten von Feldbach bist?“

„Wieso?“

„Bisher sind mir nur Teenager untergekommen, die froh wären zwei Wochen ohne Schule zu sein. Aber du?“

Carsten musste lachen. Da ging es ihm wirklich nicht gut und er dachte an seine Leistungen. Letztendlich schob er es auf eine Nebenwirkung dieser Grippe. Langsam bewegte sich das Gefährt und zügig ging es nach Hause. Auf halbem Weg schlief Carsten schon wieder.


„Und wie geht es unserem Kranken?“

„Seine Mutter hat ihn abgeholt, es ist also etwas Ernstes. Sie hat mir eine betreffende SMS geschickt.“

„Der Doktor sagte etwas von Grippe heute Morgen. Ich denke so ist uns allen geholfen. Carsten kann sich in heimischen Gefilden erholen und es besteht nicht die Gefahr eine Grippeepidemie.“

„Glaubst du es wäre soweit gekommen, Ralph?“

„Gegenfrage, wer von uns hat sich Impfen lassen?“

Betretendes Schweigen trat in die Runde. Ralph hatte recht behalten, weniger als die Hälfte der Klasse hatte sich dem kleinen Pieks ausgesetzt. Zu seinem Erstaunen war unter den wenigen auch Andreas, der nun keinen so glücklichen Eindruck machte.

Chris lenkte das Thema auf die bevorstehenden Kurspläne. Bei dem was am Ende des Schuljahres verlangt wurde, musste einiges geplant werden. Schon nach ein paar Minuten waren kleine Gruppen damit beschäftigt, Stundenpläne aufzustellen und wieder zu verwerfen um neue zu entwickeln. Andreas fand es alles andere als einfach, den Vorgaben der Schule gerecht zu werden. Nach gut einer Stunde und heißen Diskussionen war es geschafft. Andreas war recht zufrieden mit dem was er aufgestellt hatte. Einzig Herrn Kramer musste er fragen, ob sie die Klavierstunden verschieben könnten. Als er sich umsah, schien auch der Rest seiner Clique mit den eigenen Ergebnissen zufrieden zu sein. Gemeinsam gingen sie zurück zum Internat. Im Speisesaal war nur mäßig Betrieb, was wohl daran lag, dass die unteren Klassen noch im Schulgebäude waren. Aber bald würde sich das ändern, denn die Mittagspause stand bevor.

Nachdem jeder aus der Gruppe sein Menü hatte, gesellten sie sich zu einem abgelegenen Tisch. Routiniert stellte Andreas einen Stuhl beiseite. Diese Tätigkeit führte zur allgemeinen Erheiterung am Tisch.

„Habe ich etwas verpasst?“

„Wir fragen uns gerade, warum du den Stuhl beiseite gestellt hast.“

„Na, Max braucht doch auch Platz.“

„Ja, schon Andreas, aber sie ist gar nicht da.“

„Oh! Gut, dann sieht es so aus als ob der Tisch belegt sei, Chris. Ich habe keine Lust dass Melanie wieder so eine Szene wie heute Morgen aufführt. Ich will zum Essen meine Ruhe.“

„Okay, das Argument rechtfertigt deine Aktion. Melanie wusste eh nicht was sie will, ich habe ihren Kursplan gesehen. In den sogenannten Leistungsfächern belegt sie Englisch, Deutsch, Ethik und Sport. Die Grundkurse dagegen Deutsche Literatur, Physik, Chemie, Biologie, Religion und Musik.“

„Da wird sie wohl eine Einladung von Frau Möller-Klein bekommen.“

„Warum?“

„Du stellst Fragen, Andreas, weil in dieser Kombination von Leistungskursen Mathematik bzw. eines der naturwissenschaftlichen Fächer fehlt. Dann kann Mathematik grundsätzlich nicht abgewählt werden, also muss sie zumindest den Basiskurs belegen. Stand alles in der Präambel des Vorgabenkatalogs.“

„Nein, so meinte ich meine Frage nicht. Ich wollte wissen warum Frau Möller-Klein ihr eine Einladung schickt?“

„Weil sie als Stufenleiterin alles genehmigen muss, sollten wir ihr den Kursplan per E-Mail zukommen lassen…“

„Sch…eibenkleister! Ich habe ihn Dr. Neubert geschickt, weil er doch der Direx ist.“

„Ist doch nicht schlimm. Du bist sicherlich nicht der erste dem das passiert und auch nicht der Letzte. Dann leitet er sie eben an Frau Möller-Klein weiter. Ich frage mich nur wie Carsten das jetzt macht?“

„So wie ich ihn verstanden habe, wollte er sich mit Frau Möller-Klein zusammensetzen. Neben den Gemeinschaftsfächern hat er noch die speziellen Blindenkurse und seine Musik.“

„Und so wie ich ihn kenne, Andreas, nimmt er das volle Programm. Aber das hat jetzt etwas Zeit.“

„Darf ich euch einmal eine Frage stellen?“

„Nur raus damit, wenn wir sie nicht beantworten können dann sagen wir es dir schon.“

„War Carsten eigentlich schon einmal Klassensprecher?“

„Wie kommst du darauf?“

„Einmal ist es nicht höflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Zum anderen finde ich, er hat doch alles was ein Klassensprechen für den Job benötigt: Autorität, Selbstbewusstsein, Charisma und nicht zu vergessen er ist gewitzt.“

„Er wollte nie Klassensprecher sein. Wir haben es ihm angeboten.“

„Hat er auch gesagt warum?“

„Wie war das noch Ralph?“

„Carsten sagte einmal, dass seine Talente hinsichtlich der Schulpolitik in der zweiten Reihe lägen. Er meinte, dass er aus dem Hintergrund mehr erreicht.“

„Wie habe ich denn das zu verstehen?“

„Ganz einfach, Carsten agiert nicht offen, sondern versteckt. Eine zufällige Bemerkung hier, ein Artikel da oder an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit an einer Tür geklopft und schon passiert etwas. Dann, wie du schon angedeutet hast, hat er Charisma und ist ein sympathischer Artgenosse. Es fällt einem schwer, Schüler wie auch Lehrer, ihm etwas auszuschlagen, wenn er von seiner Sache überzeugt ist.“

„Und die Lorbeeren sacken dann andere ein?“

„Das stört ihn nicht im Geringsten. Auf das Ergebnis kommt es an. So, nun zum Tagesgeschehen zurück. Was machst du heute noch?“

„Ich werde mich gleich etwas hinlegen. Dann werde ich meinen neuen Kursplan in meinen elektronischen Kalender integrieren und zu guter Letzt mache ich den Pflegeplan für das Pflanzenbeet fertig. Dafür möchte ich noch etwas recherchieren. Eventuell versuche ich noch mit Carsten zu telefonieren. Ich möchte doch wissen, wie es ihm geht.“

„Du machst es richtig, lässt das neue Halbjahr ruhig angehen. Wenn du heute Lust und Laune hast, kannst du nach dem Abendessen zu uns kommen. Britta und ich planen einen Spieleabend.“

„Für die weibliche Fraktion der Clique finde ich immer Zeit. Gerade Jetzt. So, ich mache mich mal auf, bis später.“

Andreas packte sein Tablett und verschwand damit. Auf seinem Zimmer angekommen, schaltete er seinen Laptop an. Dabei stellte er erst einmal fest, dass die Administratoren wegen Wartungsarbeiten die Server abgeschaltet hatten. Er schnappte sich einen Notizblock und entsprechendes Schreibgerät. Statt sich hinzulegen, ging er hinunter in die Bibliothek des Internats, um die Recherche eben in den guten alten Büchern zu machen.

Im zweiten Stock des Treppenhauses traf er auf Martin, einen Schüler der Elf den er schon von den Gartenarbeiten im Herbst kannte.

„Wohin des Weges?“

„Runter in die Bibliothek, ich muss etwas recherchieren.“

„Wieso machst du das nicht im Internet, Andreas?“

„Es funktioniert nicht, weil die Techniker heute ihre Wartungsarbeiten machen. Sag mal, wolltest du etwas von mir?“

„Ja, ich wollte dich fragen, ob du mir helfen würdest. Vor ein paar Monaten habe ich mir von diesem blinden Jungen auf unserem Flur sagen lassen müssen, dass ich etwas mehr für mich und das Internat tun solle. Gut, du kennst mich ja schon von den Schulgärten und weißt, dass ich mit anzupacken weiß. Doch nun will ich etwas für mich tun. Dr. Gabriel sagte mir vor den Ferien, dass ich mich mehr anstrengen müsse um in Englisch eine bessere Note zu bekommen.“

„I am to give you helping lessons? Then tell me of your difficulties.“

„Wie bitte?“

„Jetzt einmal auf Deutsch. Wenn ich dir helfen soll, muss ich schon wissen wo bei dir Probleme sind. Am besten du erzählst mir jetzt auf dem Weg zur Bibliothek von deinen Schwächen. Aber bitte in Englisch. So kann ich mir ein Bild machen.“

Martin zuckte mit den Schultern und begann in stammelndem Englisch zu berichten. Vor der Bibliothek unterbrach Andreas ihn. Er erklärte sich bereit dem Mitschüler zu helfen. Aber er machte sehr deutlich was er von ihm erwartete. Und falls er merken würde, dass er sich nicht bemühe, wäre der Unterricht beendet. Martin stimmte dem zu. Daraufhin nannte Andreas ihm den Titel eines Buches welches er lesen und über das er anschließend eine kleine Inhaltsangabe erstellen sollte. Martin, bedankte sich und ging mit einem zufriedenen Ausdruck.

Andreas schaute ihm noch einen Moment hinterher. Dann betrat er die heiligen Hallen der Internatsbibliothek. Am Tresen der Leiterin machte er halt und fragte nach einem Buch der Pflanzenkunde. Postwendend hatte er eine kleine Auswahl an Titel die er sich zusammensuchte. Anschließend suchte er sich einen freien Platz und fing an sich aus den verschiedenen Büchern Notizen zu machen.

Wie die Zeit verging merkte er gar nicht. Doch plötzlich wurden seine Gedanken schroff unterbrochen.

„Hier sitzt du also. Verkriechst dich vor den anderen. Perversling.“

Noch bevor er antworten konnte, sprach Melanie weiter.

„Herr Gabriel verlangt von mir eine dreiseitige Abhandlung von Shakespeares Macbeth. Am Freitag ist Abgabe. Ich gehe davon aus du hast es bis dahin, wenn nicht: du weißt ja.“

„Nun …“ setzte Andreas an.

„Nichts ist. Donnerstag will ich es in meinen Händen halten. Und denke daran, wenn du mich reinlegen willst, merke ich das.“

Andreas nickte nur kurz. Dann widmete er sich seinen Aufzeichnungen und ließ Melanie stehen. Nachdem er fand, dass er alle seine fehlenden Daten hatte, brachte er die Bücher gewissenhaft wieder zurück zu ihren Standorten und verließ die Bibliothek. Sein Weg ging direkt zu dem kleinen Musikraum, in dem er Herrn Kramer vermutete. Normalerweise hätte Carsten jetzt seinen Klavierunterricht.

Herr Kramer war erstaunt dass Andreas das Musikkabinett betrat. Der Junge unterrichtete den Professor von den Umständen und brachte auch sein Anliegen vor. Der Pädagoge entschied kurzentschlossen, Andreas einige Lektionen zu erteilen.

„So Andreas, ich denke wir können deinen Unterricht ruhig auf den Freitag verlegen. Du sagtest etwas von einer Freistunde?“

„Ja, am Freitag morgen. Zehn Uhr?“

„Das ist gut. Freitags um Zehn Uhr. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?“

„Wie kommen sie darauf?“

„Du unterscheidest dich kaum von deiner Mutter. Wenn immer sie über etwas nachdenken musste, spielte sie auf eine eigenwillige Art Klavier. Das machst du auch. Was liegt an?“

Andreas fasste sich ein Herz und berichtet von allem was in den letzten Wochen geschehen war. Herr Kramer war ein geduldiger Zuhörer und Andreas hatte nicht den Eindruck, dass er ihn nicht ernst nehmen würde. Auch als die Sprache auf Carsten und seine Beziehung zu ihm kam, verzog der Professor keine Miene. Nach einer Weile beendete er seine Erzählung und Andreas fühlte sich gut danach.

„Andreas, ich denke es war gut, mir davon zu erzählen. Wegen des Mädchens brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Dr. Gabriel wird sehr schnell herausbekommen, wer was macht. Vergiss nicht, Dr. Gabriel hat an der Universität Oxford studiert.“

„Deswegen mache ich mir auch keine Sorgen. Die Sache ist die, ich habe mich in München jemandem anvertraut und der Schuss ging nach hinten los. Dass ich in der Schule gemobbt wurde, war später irgendwie noch erträglich. Aber ich wurde zuvor auch anders schikaniert. Erst wurde ich dazu gezwungen seine Hausaufgaben zu machen, dann war ich Anschauungsobjekt. Für ihn und seine Freundin. Es war erniedrigend...“

Andreas sprach nun zum Klavier um den Professor nicht ansehen zu müssen. Seine Stimme klang schluchzend. Er schämte sich. Der Junge bekam nicht mit wie der Professor sich hinter ihn stellte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

„… und jetzt wo ich endlich glücklich bin, holt die Vergangenheit mich ein. Wie soll ich Carsten noch ansehen können, wenn er das erfährt?“

Herr Kramer schloss für einen Moment die Augen. Seine Gedanken setzten kurz aus. Er fühlte was Andreas durchmachen muss. Dann fiel ihm seine Schülerin, Andreas Mutter ein.

„Weißt du Andreas, deine Mutter war eine bemerkenswerte Frau. Ich kann mich daran erinnern, wie ich ihr einige Etüden von Chopin aufgegeben habe. Wahrlich keine einfachen Stücke aber sie hat sich daran gemacht. Was soll ich sagen, sie hat nicht klein beigegeben. Nach einem Monat intensivem Üben konnte sie die Etüden auswendig spielen. Sie war eine Kämpfernatur mit Temperament und Herz. Aufgeben galt bei ihr nicht. Dies hat sie an dich weitergegeben. Du weißt, nein du fühlst, dass du Carsten vertrauen kannst. Sag es ihm.“

Andreas sah zu seinem Klavierlehrer hoch. In dessen Gesicht lag sehr viel Zuversicht. Langsam nickte er zustimmend. Herr Kramer hatte Recht. Carsten vertraute ihm und es würde ihn mehr verletzen, wenn er es von einer anderen Seite erfahren sollte als von ihm selbst.

Kapitel XXXV Krankengeschichten

Zwei Tage war Carsten schon daheim. Die Grippe hatte den Tagesablauf der von Feldbachs ordentlich durcheinander gebracht. Nach dem Frühstück wurde Ercan von Tim und dessen Mutter zum Kindergarten gebracht. Paul und Luise kümmerten sich um ihre Patienten. Paul sorgte dafür; dass sie sich wuschen beziehungsweise duschten. Während Luise die meist durchgeschwitzte Bettwäsche wechselte. Danach wurde Fieber gemessen. Anschließend wurden die Medikamente verabreicht und zu guter Letzt wurde beiden Suppe zum Frühstück serviert. Nach der ganzen Prozedur waren beide so geschafft, dass sie sich wieder schlafen legten. Luises Prophezeiung, Carsten würde nach einigen Tagen quengelig werden, bewahrheitete sich nicht. Es schien, dass er sogar froh war, schlafen zu können. Gegen Mittag wurde meist noch einmal Suppe serviert, das Fieber gemessen und Medikamente verteilt. Wenn einer der beiden zwischendurch noch Wünsche hatte, riefen sie meist über Telefon in der Praxis an.

Carsten wachte wieder auf. Die letzten Stunden Schlaf hatten ihm gut getan. Dennoch fühlte er sich wie durch einen Fleischwolf gedreht. Er tastete nach dem Wecker. Es war noch früh am Abend. Normalerweise müssten seine Eltern im Wohnzimmer sein. Er wählte vom Telefon, das auf der Nachtkonsole seines Bettes stand, die entsprechende Nummer. Kurz darauf hörte er die Tür seines Zimmers sich öffnen.

„Na, wie geht es dir Junge? Was fehlt dir?“

„Papa, ich fühle mich immer noch mies. Vor allem, weil jemand der Meinung ist, in meinem Kopf Pauke spielen zu müssen. Außerdem habe ich Durst.“

„Mama hat schon gesagt, ich solle Tee mitnehmen. Dann lass uns mal das ganze Programm abspulen. Ich werde erst einmal Fieber messen, dann dir deine Medikamentenration geben.“

„Was macht Max?“

„Sie guckt gerade über die Bettkante und will wohl wissen, wie es ihrem Herrchen geht. Ansonsten lässt sie dich kaum aus den Augen. Ercan war mit ihr schon Gassi.“

„Dann richte ihm meinen Dank aus.“

Carsten klopfte dabei mit der linken Hand auf die Matratze und spürte kurz danach Max kalte Nase. Dann strich er ihr behutsam über den Kopf. Dem Jungen tat diese Berührung gut. Dann hörte er wie Paul etwas auf dem Schreibtisch abstellte und wieder zum Bett kam. Carsten tat alles nach den Anweisungen seines Vaters. Das Thermometer unter die Zunge. Das Blutdruck- und Pulsmessgerät am Handgelenk. Nach fünf Minuten war der Spuk schon wieder vorbei. Dann wurde ihm das Medikament gereicht, welches er mit einem Schluck Tee einnahm. Zuletzt drehte er sich gehorsam auf den Bauch. Sein Papa machte ihm den Popo frei und verpasste ihm ein Zäpfchen. Nachdem alles wieder gerichtet war, setzte sich Carsten auf. Sein Vater reichte ihm die Tasse Tee aus der er kleine Schlucke trank.

„Wie geht es Andrea?“

„Sie schläft wieder. Luise hat ihr vor einer Stunde ihre Medikamente gegeben. Ihre Temperatur ist etwas höher als bei dir. Sie soll ausreichend trinken, darauf müssen wir achten.“

„Hört sich nicht gut an.“

„Na, wir sind der Meinung, dass dir das auch noch passieren wird. Sie ist dir mit der Grippe etwas voraus. Falls es dich interessiert, ihr habt das gleiche Virus.“

„Nee, das interessiert mich nicht wirklich. Wie steht es mit euch und Max?“

„Da kann ich dich beruhigen. Wir sollen zwar vorsichtshalber ein Grippemittel nehmen, aber nur einen Bruchteil deiner Dosis. Und Max hat im Herbst eine Impfung bekommen, die sie davor schützt. So und nun gib mir mal deine leere Tasse und leg dich wieder hin. Wirkt das Kopfschmerzmittel?“

„Das Trommeln ist weg. Darf ich dich noch etwas fragen? Hattest du jemals das Gefühl, Mama würde dir etwas verheimlichen?“

„Wie kommst du darauf?“

„Wir haben eine neue Schülerin bekommen und ich denke sie hat etwas gegen Andreas in der Hand. Zumindest was aus den Bruchstücken hervorgeht, welche ich gehört habe. Ich wollte nicht lauschen, doch die haben direkt vor unserer Tür gestanden. Ich musste auf die Toilette und wollte gerade hinausgehen, als ich die beiden sprechen gehört habe. Sie sagte etwas von Carsten erzählen, wenn er nicht etwas für sie tut.“

„Du hast Andreas darauf angesprochen?“

„Nein! Aber es tut weh, wenn ich das Gefühl habe, er vertraut mir nicht.“

„Das ist ein gutes Zeichen, dass du ihn wirklich liebst. Und mein Rat lautet: Lass eure Beziehung wachsen. Ihr kennt euch doch erst seit einem halben Jahr. Vielleicht ist es etwas wofür er sich schämt oder so. Damit geht man nicht hausieren. Schenk ihm weiterhin dein Vertrauen.“

„Du hast mir bisher immer gute Ratschläge erteilt. Ich werde darüber nachdenken.“

Carsten gähnte, langsam schienen auch die Medikamente zu wirken. Paul deckte seinen Sohn behutsam zu, strich ihm noch einmal über die Stirn und ließ Carsten und Max allein zurück. Bevor er die Etage verließ, sah er nach Andrea. Seiner Tochter ging es wirklich schlecht. Gegenüber Carsten hatte er nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das Fieber wollte einfach nicht sinken und das Medikament schien einfach nicht zu wirken. Auch bei ihr richtete er die Zudecke und strich über ihre Stirn. Sorgenvoll schaute er zu ihr hinab. Momentan schlief sie den Schlaf der Gerechten. Wenn es ihr nicht langsam besser ging, blieb ihnen nichts anderes übrig als sie ins Krankenhaus zu bringen. Danach ging er hinunter um seiner Frau zu berichten. Das Abendessen fiel entsprechend ruhig aus.

„Papa, darf ich zu Carsten?“

„Nein, Ercan. Deinem Bruder geht es nicht gut, er braucht heute seine Ruhe. Wenn es ihm morgen besser geht, darfst du eventuell. Gut?“

„Einverstanden, aber ich darf doch mit Leon und Max Gassi gehen?“

„Morgen, für heute hast du das richtig toll gemacht. Carsten lässt dir seinen Dank ausrichten. Was gibt es denn neues im Kindergarten, du hast noch gar nichts erzählt.“

Ercan seufzte gewichtig auf und berichtete, dass viele krank seien. Die Grippewelle hatte die Gegend im Griff. Aber es schien auch Lustiges zu geben, denn er berichtete von Kindern mit denen er viel Spaß gehabt hatte. Anschließend erzählte er wie er mit den Hunden Laufen gewesen war. Dass Leon Max zum Spielen aufgefordert hat und die beiden wie wild durch den Schnee getobt sind. Nach einiger Zeit waren die Hunde bestens im Schnee getarnt und Ercan musste lange rubbeln bis die Tiere trocken waren. Paul lobte seinen Jüngsten, für die große Verantwortung die er übernahm. Es waren diese kleinen Momente die Paul und Luise für einen Moment ihre Sorgen vergessen ließen. Wie üblich bat der Junge aufstehen zu dürfen um sich das Sandmännchen anzusehen. Luise gestattete es und zusammen mit ihrem Mann räumte sie die Küche wieder auf. Bevor sie die Küche verließen, füllte Paul noch frisches Wasser in die Näpfe der Hunde.

Später am Abend, als Ercan schon im Bett war, machten Carstens Eltern noch einen letzten Besuch bei den Patienten. Luise weckte Carsten um ihn noch einmal eine Medikamentenration zu verpassen und Fieber zu messen. Luise war erfreut zu sehen, dass seine Temperatur seit dem Nachmittag konstant bei 39 Grad blieb. Es sah so aus, als wollten die Natur und die pharmazeutischen Produkte gemeinsame Sache machen. Auf Anfrage, ob er noch einen Wunsch habe, erwiderte Carsten lediglich etwas zu Trinken haben zu wollen. Luise stellte daraufhin die Thermoskanne mit dem Tee und eine Tasse auf die Nachtkonsole des Bettes. Bevor sie ging, richtete sie noch Grüße und Genesungswünsche aus dem Internat aus. Carsten war zwar etwas beleidigt, dass sie das Telefonat nicht durchgestellt hatten, doch seine Eltern hatten Prioritäten gesetzt.

Anders verhielt es sich bei Andrea, sie war gerade wach und klagte über Übelkeit und Kopfschmerzen. Paul stützte sie bis zur Toilette, wo sie sich über das Waschbecken beugte. Ob es wohl allen Eltern so ging, wenn ihre Sprösslinge krank danieder liegen und einem Haufen Elend gleichkommen? Paul tat es sehr weh, seine Tochter krampfhaft würgen zu sehen und selber nichts tun zu können. Sie bekam, in ihrer Zusammensetzung die gleichen Medikamente wie sein Sohn, doch es wurde nicht besser. Während Andrea und Paul im Bad waren, wechselte Luise Andreas Bettwäsche und legte einen neuen Schlafanzug heraus. Einige Minuten später bedankte sich Andrea mich krächzender Stimme bei ihren Eltern. Dann bekam auch sie ihre Medikamente und noch ein Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen. Aber das Fieberthermometer verriet, was beide Elternteile vermuteten: Die Temperatur war wieder um ein halbes Grad, auf nun fast 40 Grad Celsius gestiegen. Es bedurfte nur eines Blickes und die Entscheidung stand fest. Wenn am Morgen die Temperatur nicht gefallen war, musste Andrea ins Krankenhaus. Paul deckte das Mädchen zu und strich ihr über die glänzende Stirn. Und Luise stellte auch hier die Thermoskanne mit Tee und eine Tasse auf die Nachtkonsole. Ihre Tochter schlief schon wieder als sie das Zimmer verließen.

Mitten in der Nacht, stand Max bei Paul am Bett und weckte ihn. Nachdem er sich seinen Bademantel übergeworfen hatte, führte sie ihn zu seiner Tochter. Schnell war die Müdigkeit vergessen. Andreas Temperatur war wieder gestiegen und nun gab es keine andere Möglichkeit. Das Mädchen musste ins Krankenhaus. Paul weckte seine Frau, die schnell eine Tasche mit dem Nötigsten zusammenpackte. Paul orderte einen Krankenwagen und informierte den diensthabenden Arzt des Hospitals über den Zustand des Mädchens. So würden bis zu deren Ankunft entsprechende Vorbereitungen getroffen sein. Paul zog dem Mädchen noch dicke Socken und ihren Bademantel an. Es stand außer Frage, dass er das Mädchen begleiten würde. Dementsprechend hatte er sich angezogen. Es dauerte keine halbe Stunde und der Krankenwagen stand wieder vor der Notaufnahme des Krankenhauses. Andrea wurde erst einmal in ein Untersuchungszimmer geschoben. Der Arzt untersuchte sie gründlich, nahm noch einmal Blut ab und veranlasste ein Eisbad um die Temperatur zu senken.

Gegen Morgen wurde Andrea auf ihr Zimmer gebracht, nachdem das Fieber etwas gesenkt war. Selbst der Arzt, der die Medikamente begutachtet, wunderte sich dass sie nicht richtig anschlugen. Andrea bekam neben einer Nährlösungsinfusion, damit ihr Kreislauf nicht zusammenbrach, noch einige Elektroden für die Herz-Kreislaufüberwachung aufgeklebt. Da keiner sich so ein Reim auf diesen Grippeverlauf machen konnte, wurde vorsichtshalber ein Sauerstoffzelt verordnet.

Müde kehrte Paul mit einem Taxi vom Krankenhaus zurück. Luise empfing ihn mit einem großen, starken Kaffee.

„Was sagen die Ärzte?“

„Andreas Zustand ist stabil, aber noch kritisch. Sie wurde isoliert und bekommt eine Dauerinfusion. Selbst aber der Arzt wundert sich, dass die Medikamente bei ihr nicht richtig wirken. Sie bekommt schon das optimale Präparat, einzig die Dosierung wurde erhöht. Sie bekommt jetzt per Infusion die gleiche Tagesdosis wie Carsten nur kontinuierlich mit der Infusion. Der Arzt geht davon aus, dass im Laufe des Tages eine Besserung eintreten sollte.“

„Und wenn nicht?“

„Luise, ich hoffe nur unser Baby hat eine gute Kondition, sie sind jetzt schon an ihre maximale Belastung gegangen. Ihr Kreislauf wird ständig überwacht. Mehr ist nicht drin ohne ihr Leben zu gefährden.“

Luise sah über Pauls Wange eine Träne laufen. Alles was sie tun konnte, war ihren Mann zu umarmen und ihm in dieser Zeit beizustehen.

„Was macht unser Ältester?“

„Er schläft noch, ich wollte ihn nicht wecken. Aber es sieht so aus, als ob er schon das Schlimmste überstanden hat. Er hat die Thermoskanne geleert und, ich hoffe es ist ein gutes Zeichen, Max liegt ganz entspannt neben seinem Bett.“

„Dies ist ein gutes Zeichen. Wie sie heute Nacht darauf gekommen ist uns zu wecken?“

„Vielleicht hat sie es gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Andrea und Carsten sind nun einmal Zwillinge.“

„Schon möglich, jedenfalls hat sie sich einen besonderen Knochen verdient. So und nun lass uns mal nach Carsten sehen. Ich glaube er ahnt etwas.“

„Guten Morgen Junge, wie geht es dir heute?“

„Guten Morgen, welch eine Ehre erteilt ihr mir, gleich beide Elternteile! Was ist Sache? Wie geht es meiner Schwester? Und danke der Nachfrage, ich fühle mich den Umständen entsprechend wohl. Nur habe ich das Gefühl etwas fehlt. Ich kann es nicht richtig beschreiben.“

„Die Ehre gebührt dir, da du unser Ältester bist. Die Sache ist die, deine Schwester musste ins Krankenhaus. Ihr Fieber ist auf über 40 Grad gestiegen, es blieb uns keine Wahl. Daher sind wir schon froh, wenn es dir besser geht. Du konntest schon immer besser mit Krankheiten fertig werden. So, nun lass uns mal sehen was die Instrumente sagen.“

Carsten murrte nicht. Paul maß erst die Temperatur und danach noch Blutdruck und Puls. Gut Fieber hatte er noch, aber Carsten selber bezeichnete es schon als erhöhte Temperatur. Dann bat er, die Toilette besuchen zu dürfen, denn irgendwo müsse doch der viele Tee hin. Paul und Luise konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Paul begleitete ihn und Luise wechselte wieder die Bettwäsche. Da Carsten eh schon im Bad war, entschied er sich unter die Dusche zu gehen. Fit genug fühlte er sich. Er sagte seinem Vater Bescheid und bald schon stand er unter dem warmen Wasserstrahl. Er fühlte sich frisch. Nach einer halben Stunde war er aber wieder froh im Bett zu sein. Es hatte ihn doch etwas mehr angestrengt als er sich selber eingestehen wollte. Dann gab es wieder eine Ration Pillen und zum Frühstück zur Abwechslung Toast und Milchkaffee. Paul blieb die ganze Zeit bei ihm.

„Du bist spät aus dem Hospital zurückgekommen, fühlst du dich denn fit genug für deine Sprechstunde?“

„Heute Vormittag bleibt die Praxis zu, am Nachmittag mache ich meine Hausbesuche. Ein Kollege übernimmt für mich den Notdienst. Meine Helferin freut sich, endlich mal die Patientenkartei auf Vordermann zu bringen.“

„Kannst du dir es denn auch leisten? Wenn ich daran denke wie oft du deinen Rechnungen hinterherläufst.“

„Ich muss schon sagen, du bekommst einfach zu viel mit, Carsten. Ja, wir können uns es leisten. Ich habe ein recht großes Versorgungsgebiet, Luise hat auch schon einmal angefragt, ob es sich nicht lohnen würde, einen Kollegen mit in die Praxis zu nehmen. So ganz abgeneigt bin ich von der Idee nicht. Platz haben wir genug und ich würde etwas mehr Zeit für meine Familie und Freunde haben.“

„Dann tu es, meinen Segen hast du und auch Andrea hätte sicherlich nichts dagegen. Vor allem, weil sie mal gerne wieder mit dir Ausreiten würde. Und ich dich schon lange nicht mehr Gitarre spielen gehört habe.“

„Lass uns nichts übers Knie brechen, erst einmal müsst ihr wieder gesund werden.“

„Papa, als du vorhin über Andreas Zustand gesprochen hast, klang deine Stimme sehr traurig. Was sagen denn die Ärzte dazu?“

„Willst du es wirklich wissen?“

„Hätte ich sonst gefragt, großer Mann?“

Paul berichtete ausführlich was im Krankenhaus geschehen und was die Meinung des Arztes war. Auch davon, dass er sich so hilflos fühlt. So ganz im Reden schweifte er in die Vergangenheit ab. Wie Carsten Andrea nach der Geburt im Babybett beruhig hatte, nur weil sich ihre Hände berührten. Oder als beide im Kindergarten sich die Windpocken eingefangen hatten. Jede Kinderkrankheit haben seine Zwillinge grundsätzlich gemeinsam durchstanden. Nach den Masern war dann Schluss, wenn leichte Erkältungen und Schnupfen nicht dazu gezählt wurden. Diese Grippe wäre wohl seit Jahren wieder das erste schwerwiegende Ereignis, welches beide betraf. Plötzlich wurde Carsten ganz aufgeregt.

„Papa, das ist es!“

„Was?“

„Na, das was mir fehlt!“

„Was fehlt dir denn?“

„Andrea!“

„Wie?“

„Du hast doch gerade selbst gesagt, wir beide hätten jede Krankheit gemeinsam gemeistert. Soweit ich mich erinnere, haben wir bis zu den Masern ein gemeinsames Zimmer gehabt. Wir waren immer füreinander da. So wie ich Andrea geholfen habe, hat sie mir geholfen alles durchzustehen. Wir geben uns gemeinsam die Kraft. Diese Grippe ist die erste Krankheit bei der wir getrennt sind.“

„Da ist schon etwas Wahres dran. Hätte eure Medizin nicht auch bei ihr sofort wirken müssen? Ihr seid immerhin Zwillinge.“

„Wir sind aber keine eineiigen Zwillinge. Einzig was uns immer verbunden hat, war die Nähe und der Kontakt zueinander. Ich meine in einer Gebärmutter ist nicht sehr viel Platz um sich aus dem Weg zu gehen. Mutti hat mir einmal gesagt, dass wir uns alles geteilt haben. Kann es möglich sein, dass die Medizin bei ihr nicht so wirkt wie bei mir, weil ich nicht in ihrer Nähe bin?“

„Vom rein humanmedizinischen Standpunkt aus kann ich nicht viel dazu sagen. Aber bei Tieren habe ich schon mal feststellen müssen, dass Medikamente in weitaus geringeren Dosen verabreicht werden müssen, wenn die Pflege durch andere Familientiere unterstützt wird.“

„Sollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen?“

„Und wenn du dich bei ihr wieder ansteckst?“

„Hattest du mir gestern nicht gesagt wir hätten das gleiche Virus? Okay, ganz so fit wie ich vorgebe, bin ich nicht, aber Andrea zu liebe würde ich es durchstehen.“

„Deal, ich spreche mit Mutti darüber. Wenn sie dem zustimmt und sich bei Andrea keine Besserung einstellt, bringen wir dich zu ihr. So und nun, wo du mit Frühstücken fertig bist, versuche noch etwas zu schlafen. Ich halte dich auf dem Laufenden, versprochen.“

Paul räumte die Utensilien auf ein Tablett und deckte den Jungen zu. Beim Hinausgehen folgte ihm Max, sie musste wohl langsam in den Garten. Unten in der Küche saß Luise über die Ortspresse gebeugt. Paul öffnete die Terrassentür und ließ die Hunde in den Garten.

„Die Grippe hat unser Städtchen im Griff, Paul. Die Verwaltung lässt verlautbaren, dass das Bürgerbüro wegen Krankheit vorübergehend nur vormittags geöffnet ist.“

„Hm, hast du noch Kaffee für mich?“

„Hier Liebling. Ich sehe, Carsten hat gut gefrühstückt, alles weg.“

„Ja, wir haben recht viel gesprochen. Er glaubt, er könnte Andrea helfen.“

„Du hast dich sicherlich verhört Schatz. Willst du dich nicht noch etwas hinlegen? Die Nacht war kurz.“

„Es geht und nein, ich habe ihn schon richtig verstanden. Seine Ansicht hat etwas für sich und ich bin geneigt dem zu folgen.“

Luise hörte ihrem Mann sehr aufmerksam zu. Es lag in ihrer Natur, jede Sache erst einmal von verschiedenen Seiten zu betrachten. Paul endete mit dem Deal, den er Carsten vorgeschlagen hatte. Luise stand auf und holte sich ebenfalls eine Tasse Kaffee. Sie bewunderte ihren Sohn für seine Scharfsinnigkeit. Gemeinsam erörterten sie die Vor- und Nachteile. Schweren Herzens stimmte sie dem Vorschlag zu.

Paul küsste seine Frau und zog sich auf die Couch im Wohnzimmer zurück.

Der Anruf aus der Klinik war nicht sehr erfreulich, Andrea hatte ein Fiebertraum. Der Arzt informierte sie, dass auch die Temperatur noch immer konstant bei 39 Grad Celsius sei. Im Ergebnis keine Besserung. Der Arzt war, das sagte er zwar nicht wörtlich, doch Paul hörte es zwischen den Zeilen heraus, mit seinem Latein am Ende. Herr von Feldbach informierte ihn über ihr Vorhaben und dass er bitte die nötigen Vorbereitungen treffen möge. Luise weckte ihren Sohn und sorgte dafür, dass er warm genug angezogen war, packte seine Tasche und gemeinsam gingen sie hinunter zum Auto. Da Paul noch seine Hausbesuche zu absolvieren hatte, verabschiedete er sich von den Beiden.

„Papa, nimm Max mit und versuche sie ein wenig geistig zu beschäftigen.“

„Mach ich, Junge. Es würde auch Leon gut tun. So, und nun wünsche ich dir viel Erfolg, ich komme heute nach meiner Runde vorbei. Okay?“

Carsten nickte. Luise beschleunigte den Wagen. Im Krankenhaus war alles vorbereitet. Carsten bekam eine Eingangsuntersuchung, sein Zustand war besser als der seiner Schwester. Der Chefarzt war an sich zufrieden und entschied, den Jungen direkt auf das Zimmer seiner Schwester bringen zu lassen. Paul hatte ihn zwar über die Idee, welche dahintersteckte, informiert, doch er glaubte nicht an den Erfolg.

Gegen halb neun am Abend betrat Paul in Begleitung das Krankenzimmer. Der Stationsarzt hatte seine Anweisungen direkt umgesetzt. Die Betten waren direkt nebeneinander gestellt worden. So konnte Carsten ohne Probleme Andrea berühren, was er auch tat, sie hielten sich an ihren Händen.

Hunde wurden zwar nicht gern gesehen, doch er kannte den Stationsarzt der in ihrem Fall eine Ausnahme genehmigte. Max wusste sich zu benehmen. Als sie spürte, dass Carsten in der Nähe war, wurde sie neugierig. Sie schnupperte an jedem Bett und bei Carstens sprang sie mit den Vorderpfoten hoch, stupste Carsten an und wartete auf eine Reaktion. Es dauerte auch nicht lange und seine Hand strich über ihren Kopf.

„Hallo Max, hast du Papa mitgebracht?“

„Hat sie, wie steht’s?“

„Ich habe gut geschlafen und ich denke, Andrea schläft auch noch ganz friedlich. Zumindest schließe ich das aus ihren regelmäßigen Atemgeräuschen. Es war ein seltsames Gefühl als ich ihre Nähe spürte. Dann habe ich nach ihrer Hand getastet und gerade als wir uns berührten, fühlte ich, wie soll ich es beschreiben? Ja das trifft es am besten: Eine Energie. Danach fiel ich in einen ruhigen Schlaf, bis die Schwester uns um Sieben die Medikamente verabreichte und Fieber gemessen hat. Während Andrea wieder einschlief, bekam ich eine leichte Mahlzeit und was zu Trinken. Seitdem döse ich ein wenig vor mich hin.“

„Hört sich ja nicht schlecht an. Deine Theorie scheint also richtig zu sein. Ich werde euch jetzt mal wieder allein lassen und versuchen, den Arzt zu sprechen. Max hole ich später wieder ab.“

„Danke, dass du sie mitgebracht hast. Ich gebe es ja ungern zu, doch ich vermisse sie, wenn sie nicht um mich herumwuselt.“

„Och, ich kann dich gut verstehen. Übrigens: sie hat einen echten Dickkopf. Ich wollte vorhin einfach über eine rote Ampel, weit und breit kein Auto. Weit gefehlt! Sie hat sich hingesetzt und ist erst wieder losgelaufen als das Grünsignal leuchtete. Dabei schaute sie mich an, als ob sie sagen wollte: Alter Mann, es ist doch Rot!“

„Tja, was für dich lapidar ist, ist für mich lebenswichtig. Vergiss das nicht.“

„Hallo Papa, ist Mama auch da?“

„Hallo Prinzessin, nein Mama ist nicht da. Wie geht es dir?“

„Den Umständen entsprechend, ich fühle mich wie durch den Wolf gedreht. Habe einen riesigen Gong in meinem Kopf auf dem eine Horde wildgewordener Zwerge wie blöd herumkloppen. Aber mir ist nicht mehr übel und ich bin echt müde.“

„Dann schlafe ruhig weiter. Ich bin froh das von dir zu hören.“

„Danke, und kannst du der Schwester sagen, dass ich auch etwas zu trinken haben möchte?“

„Wird erledigt.“

Paul verließ das Zimmer. Auf dem Gang lief ihm ein Pfleger über den Weg, dem er die Bestellung seiner Tochter ausrichtete. Dann ging er weiter zum Sprechzimmer des Arztes.

„Also, Herr von Feldbach, ich wollte es ja nicht glauben, doch sehen sie sich diese Diagramme an: Herzfrequenz, Puls, Blutdruck. Die rote Linie habe ich gemacht als ihr Sohn auf das Zimmer kam. Es dauerte keine halbe Stunde und die Werte ihrer Tochter pendelten langsam in Richtung normal. Ich gehe davon aus, dass spätestens Morgen ihre normalen Werte erreicht werden. Nur Fieber wird sie wohl länger haben.“

„Das ist wirklich eine gute Nachricht. Woran glauben sie hat es gelegen?“

„Der Chefarzt ist zwar anderer Meinung, nach ihm scheinen langsam die Medikamente zu wirken. Doch ich bin der Ansicht, dass die Nähe ihres Sohnes den ausschlaggebenden Impuls geliefert hat. Mein Doktorvater hatte schon die Meinung vertreten, dass die Schulmedizin nur ein Teil des natürlichen Heilprozesses ist. Ein noch unerforschter Teil ist der, was wir geringschätzig als Schamanentum bezeichnen. Aber sehen wir uns mal die Medizin der Urvölker an, so waren ihre Heilmethoden in manchen Fällen wirksamer als die Pharmazie heute. Hier lässt sich auch das Phänomen ihrer Kinder einordnen. Vielleicht fehlte ihrer Tochter einfach ein Pheromon um eine Wirkkaskade bei sich auszulösen. Oder durch die Berührung ihres Sohnes wurde der Hormonspiegel ihrer Tochter verändert. Es sind Mikroprozesse die wir heute noch nicht richtig erfassen können.“

„Ich verstehe, dann hat Carsten also recht behalten, als er sagte, ihm fehle Andrea wie er ihr fehlt um wieder gesund zu werden.“

„Dann bin ich richtig froh, ihn als meinen Patienten zu haben. Ich sollte mich vielleicht noch einmal mit ihm unterhalten.“

„Tun sie es. So ich muss wieder los. Max war lange genug bei den Kindern und ich gehöre wirklich ins Bett.“

Herr von Feldbach holte Max wieder ab und verabschiedete sich. Carsten bat ihn noch, das Buch aus seinem Zimmer beim nächsten Mal mitzubringen. Paul versprach es. Unterwegs dachte er noch eine Weile über das Gespräch mit dem Arzt nach. Dann beschloss er für sich, zu seiner Veterinärmedizin sich auch mal über alternative Heilmethoden zu informieren.

Daheim brachte ihm Luise ein leichtes Abendbrot. Er berichtete von den Neuigkeiten. Nur der Aussicht, die Kinder am Wochenende wieder bei sich zu haben, schob er einen Riegel vor. Mama von Feldbach war mehr als erfreut und pflichtete ihm bei, dass die Kinder in Ruhe genesen sollten. Dann informierte sie ihren Gatten über zwei wichtige Telefonate. Jeweils die Freunde ihrer Kinder hatten angerufen. Marc und auch Andreas wollten sie am Wochenende besuchen kommen. Kurzum: Luise hat beiden eine Absage erteilt. Ihrer Meinung nach sollten ihre Sprösslinge erst wieder Gesund sein.

„Oh-ha, Frau. Ich glaube da hast du einen Fehlgriff getätigt.“

„Wieso?“

„Einen Krankenbesuch macht man üblicherweise dann, wenn jemand krank ist und nicht gesund. Sowohl Carsten als auch Andrea werden nicht davon begeistert sein.“

„Nein, die Beiden haben genug Stress.“

„Auch da irrst du dich. Ich habe das EKG von Andrea gesehen. Es zeigte keine typischen Stressfaktoren.“

„Du bist Tierarzt und da gibt es Unterschiede.“

„Luise, egal welches EKG du betrachtest, bei Stressfaktoren wird der Rhythmus gestört und der von Andrea war regelmäßig. Lediglich die Frequenz variierte kontinuierlich. Und Carsten war die Ruhe in Person. Mein Vorschlag zur Güte: Wir lassen die Kinder entscheiden. Wenn sie der Meinung sind Besuch könnte nicht schaden, hole ich Andreas am Sonntag im Internat ab und rufe Marc an dass Andrea ihn zu sehen wünscht. Einverstanden?“

„Okay, ich muss mich wohl daran gewöhnen, dass unsere Babys langsam erwachsen werden. Aber für uns gilt jetzt ab in die Falle. Wir sind nämlich nicht mehr die Jüngsten.“

„Luise, für mich wirst du immer die junge Studentin sein …“

„Oh, das Kompliment geht wie Balsam die Seele runter.“

„... die ihre Konkurrentinnen mit Rizinusöl außer Gefecht setzt …“

„Du weißt davon?“

„Sicher. Du hättest nicht gerade das Rizinusöl in der Uniapotheke um die Ecke kaufen sollen. Ich habe mich nämlich damals gefragt warum meine Rendez-vous nacheinander, bis auf das mit dir, abgesagt wurden. Jemand aus meinem Semester sprach von einer ungewöhnlichen Durchfallserie. Da habe ich eins und eins zusammengezählt und auf Verdacht mal in der Apotheke nach Rizinusöl für eine Tierbehandlung gefragt. Die Apothekerin erzählte mir von einer jungen Dame die regelmäßig das Zeug kaufte. Ich war echt sauer.“

„Und nun, bist du noch immer böse?“

„Habe ich dich nicht geheiratet? Haben wir nicht wunderbare Kinder? Haben wir nicht gemeinsam viel durchgemacht und davon graue Haare bekommen? Nein, es dauerte vielleicht eine halbe Stunde, dann musste ich lachen. Du hattest Mut zu kämpfen und warst listig vorgegangen. Keine deiner Konkurrentinnen ist je auf den Gedanken gekommen, dass du dahinter stecken könntest. Da habe ich mir gedacht: So eine Frau wird mit einer Horde Kinder, Hunden und einem Tierarzt leicht fertig. Ich habe mich nicht geirrt. Und nun komm. Das Bett wartet.“

Luise hakte sich bei ihrem Mann ein und wie frisch verliebt, gingen sie die Treppe in den dritten Stock hinauf.

Am folgenden Tag hielt es Luise nicht mehr aus, sie musste zu Andrea und Carsten. Sie packte Max und einige Utensilien ins Auto und fuhr los. Im Krankenhaus lief Max ihr voraus, dennoch wartete sie vor dem Zimmer bis Luise auch da war. Gemeinsam gingen sie hinein.

„Hunde sind hier nicht erlaubt!“

„Guten Tag, warum nicht? Wir haben die Erlaubnis vom Stationsarzt.“

Luise war ein wenig verärgert über diese barsche Begrüßung. Max scherte sich nicht darum und tapste sofort zu Carstens Bett und sprang wie am Vorabend daran hoch. Carsten kraulte ihren Kopf und war glücklich sie in seiner Nähe zu wissen.

„Tierhaare setzen sich überall hin ab. Dies ist nicht nur unhygienisch, sondern auch allergiefördernd.“

„Dann müssten meine Kinder alle schwere Allergiker sein, schon in ihren Windeln habe ich Hundehaare entdeckt. Außerdem ist sie die Hündin meines Sohnes. Es wäre meiner Ansicht nach nicht gerade seiner Gesundheit förderlich, wenn Max nicht zu ihm Kontakt aufnehmen würde. Wie sie sich denken können, gehört sie mit zum Heilplan des Arztes. Und nun wäre ich sehr erfreut ein paar Sätze mit meinen Kindern wechseln zu können.“

Die jetzt etwas irritierte Pflegerin verließ den Raum und Luise konnte sich nun selbst über den Zustand ihrer Zwillinge informieren. Andrea war schon munterer und sah auch bei weitem besser aus als noch vor Tagen. Wie sie selber sagte, habe sie zwar noch erhöhte Temperatur aber das wäre wohl noch normal im Grippeverlauf. Dann erzählte sie vom Frühstück und Mittagessen. Beide hatten ausgiebig gespeist. Das Pflegepersonal war sogar so freundlich gewesen und sorgte beim Kaffee für Nachschub. Dann hatten sie auch beide ein Duschbad genommen, bevor die Visite gekommen war. Andrea zog Carsten ein wenig mit dem Pfleger auf, der ihn hatte begleiten müssen. Luise merkte schnell, dass beide sich bemühen, hier wieder raus zu kommen. Und ein prüfender Blick auf Carsten bestätigte ihre Vermutung, dass er nun doch langsam quengelig wurde. Darum gab sie ihm das Buch welches er erbeten hatte und Andrea ermahnte sie, nicht zuviel fern zu sehen. Zwei Stunden später verließen Luise und Max die Beiden.

Kapitel XXXVI Besuche

Am folgenden Morgen kam der Stationsarzt noch vor dem Frühstück um nach seinen Patienten zu sehen. Dass er schon so früh erschien, lag an der Tatsache, dass er von jedem eine Blutprobe haben wollte. Einer Entlassung schon am Wochenende erteilte er eine Absage, nachdem er bei jedem seiner Patienten wieder Fieber feststellte. Zwar gäbe es im typischen Verlauf einer Grippe mehrere Fieberschübe, wie er den Jugendlichen erklärte, doch in ihrem Fall wollte er kein unnötiges Risiko eingehen. Carsten fragte ihn, ob denn Besuch von Freunden erlaubt sei. Der Arzt begrüßte die Idee ausdrücklich, denn seiner Meinung nach wirkten sich Abwechslungen meistens positiv auf die Genesung aus. Bevor der Meister der Medizin mit der Untersuchung fortfahren konnte, bat Andrea ihn, sie von den Elektroden zu befreien. Diese würden langsam anfangen zu jucken.

„Würden sie bitte mal ihr Oberteil ausziehen? Oh, soll ich erst den Sichtschirm schließen?“

„Nein warum?“

„Ist es ihnen denn nicht unangenehm vor ihrem Bruder?“

„Davon einmal abgesehen dass Carsten nichts sieht, gibt es sehr wenig, was wir nicht voneinander kennen.“

Währenddessen öffnete Andrea ihren Schlafanzug um vom Arzt die lästigen Elektroanschlüsse entfernen zu lassen. Dann horchte er sie ab und befand das Resultat als zufriedenstellend. Die Blutentnahme war dann doch etwas unangenehm für das Mädchen. Sie mochte es nun mal nicht, gepiekst zu werden. Nicht viel anders sah es bei Carsten aus. Obwohl der Arzt seine Tätigkeiten vorher ankündigte, empfand der Junge den abschließenden Stich in den Arm als lästig. Der Arzt versprach, die Analysewerte gegen Mittag mit ihnen besprechen zu wollen. Auch Carsten zog sich sein Oberteil wieder an, dann gab es ein üppiges Frühstück, welches der Arzt seinen Patienten verordnete. Anschließend verschwanden beide Jugendliche unter die Dusche. Carsten ließ sich noch ein Telefon geben um seine Eltern auf den neusten Stand zu bringen. Begeistert waren sie nicht gerade, vor allem Ercan fragte immer öfters nach seinen Geschwistern. Kurzum, am Nachmittag wurde der Familienbesuchstag beschlossen. Dann rief er noch Andreas im Internat an. Es war zwar noch recht früh für einen Teenager, aber Andreas war nicht der typische Langschläfer. Außerdem hatten sie sich jetzt schon so lange nicht mehr gesprochen. Andreas freute sich von seinem Freund zu hören. Um aber die Telefonkosten nicht unnötig in die Höhe zu treiben, vertagten sie ihr Gespräch auf den Sonntag, wo er ihn im Krankenhaus besuchen wollte. Auch Andrea rief ihren Marc an um ein Rendez-vous am Sonntag zu verabreden.

Noch vor dem Mittagessen kam der Arzt um die Resultate zu besprechen. Für eine Grippeinfektion waren die Blutbilder akzeptabel. Aber wie schon am Morgen angedeutet, kam eine Entlassung nicht in Frage.

„Kann ich noch etwas für euch tun? Irgendwelche Beschwerden von denen ich wissen sollte?“

„Was mich betrifft, ich fühl mich nur ein wenig schlapp.“

„Das wundert mich nicht Andrea, ihr Körper arbeitet auf Hochtouren gegen diese Infektion. Schonen sie sich und geben sie der Natur eine Chance. Diese Grippe ist nicht gerade ohne.“

„Es wird mir zwar schwergefallen, aber ihnen zu Liebe lass ich es ruhig angehen.“

„Ich fühle mich geehrt, junges Fräulein. Und Carsten?“

„Oh, ich fühle mich eigentlich fit, nur meine Finger sind ein wenig steif. Ich kann sie nicht richtig bewegen.“

„Darf ich mal sehen?“

Der Arzt stellte sich neben Carstens Bett und sah sich dessen Hände an. Er sah dass sie etwas geschwollen waren und konnte den Jungen dahingehend beruhigen, dass es sich um eine Nebenwirkung des Medikamentes handelte. Da das Resultat aller Untersuchungen bei Carsten besser ausfiel als bei seiner Schwester, reduzierte der Arzt die tägliche Medikamentendosis. Weiter sollte der Junge etwas Fingergymnastik betreiben, so konnte er aktiv gegen die Schwellungen angehen. Der Arzt verabschiedete sich und ließ seine Patienten allein. Carsten legte sich hin und entspannte sich. Andrea tat es ihm gleich. Dann unterhielten sie sich über Gott und die Welt. Irgendwann kamen sie auch auf das Thema Freunde zu sprechen.

„Was bin ich froh Andreas gefunden zu haben. Immer wenn er in meiner Nähe ist, fühle ich mich richtig glücklich berauscht.“

„Wie wenn man leicht beschwipst ist und alles nicht mehr so ernst erscheint. Geht mir genauso, wenn Marc mich umarmt. Glaubst du an die Liebe auf den ersten Blick?“

„Ja warum denn nicht? Gut bei mir müsste es wohl ‚Liebe auf den ersten Ton‘ heißen aber ich glaube daran. Dieses Gefühl hat mich bei Andreas damals wie ein Stromschlag getroffen. Ich war echt durch den Wind. Besonders als mir dämmerte, dass ich mich in einen Jungen verliebt habe. Wie sagte noch Chris: Die beliebtesten Jungs der Klasse sind schwul. Wenn das im Internat die Runde macht, werden Ströme von Tränen fließen.“

„Und wie willst du das nun meistern? Ich denke auch im Internat gibt es intolerante Individuen.“

„Wir nutzen die News als Sprungbrett. Maria, unsere neue Chefredakteurin, möchte gern das Schwerpunktthema Liebe im Internat in allen Facetten bringen. Wird zwar nicht gerade einfach werden, aber wir haben ein gutes Team.“

„Kommt da auch das Thema Sex vor?“

„So wie sie das Vorhaben abgesteckt hat, soll auch darüber berichtet werden. Vor allem was im Internat erlaubt ist und was nicht. Wie kommst du darauf?“

„Na Marc und ich haben mal darüber gesprochen. Er wollte wissen wie weit er gehen darf und wo ich eine Grenze ziehe.“

„Auch wenn ich jetzt etwas neugierig bin, wo steht bei dir der Limes?“

„Du bist nicht neugierig, Brüderchen. Also, ich erlaube alles was oberhalb der Gürtellinie ist. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, dass ich noch nicht soweit bin mit ihm schlafen zu wollen.“

„War er enttäuscht?“

„Ich denke ja, auch wenn er das Gegenteil beteuert. Aber ich möchte mir sicher sein, dass ich das erste Mal mit ihm erleben will. Wie steht es bei dir? Du hast dir doch sicher auch Gedanken dazu gemacht.“

„Ja, habe ich. In mir streiten die beiden Seelen noch. Weder Andreas noch ich können schwanger werden, aber es gibt nun nur einmal ein erstes Mal. Außerdem weiß ich nicht, ob das weh tut wenn er in mich eindringt. Schwesterchen, ich weiß gar nichts in diesen Dingen. Ich weiß ja noch nicht einmal wie er zu Safersex steht.“

„Habt ihr noch nie darüber gesprochen?“

„Andeutungen gab es schon, wir sind uns zum Beispiel sicher, es langsam angehen zu lassen. Andreas und ich möchten nichts überstürzen. Wir beide wollen unsere Beziehung langsam erlernen, ich glaube, noch steht sie auf nicht so sicheren Beinen.“

Carsten berichtete von dem, was er im Internat mitbekommen hatte. Wie er damit umgehen soll, ob Andreas ihm nun etwas verheimlicht oder nicht. Von Pauls Rat, Andreas eine Chance zu geben und die ganze Sache mal aus der Distanz zu betrachten. In Andrea hatte er eine gute Zuhörerin der er getrost seine Gedanken mitteilen konnte. Langsam fühlte er sich sogar etwas erleichtert und er merkte, welche Last er mit sich herumschleppte. Andrea kommentierte ihn nicht, sie äußerte sich noch nicht einmal dazu. Das war auch nicht nötig, Carsten verstand ihr Schweigen. Dann hörte Carsten seine Schwester ein Gähnen unterdrücken, na er selbst war auch etwas müde. Es dauerte nicht sehr lange, und beide schliefen wieder.

Warum auch immer, das Pflegeteam hatte die beiden Jugendliche wohl in ihr Herz geschlossen. Zumindest hatten sie die Beiden nicht zum Mittagessen geweckt, sondern schlafen lassen. Die beiden Essen hatten sie einfach in die Teeküche gestellt, wo sie später in einer Mikrowelle erwärmt werden konnten. Als auch der Rest der Familie Feldbach erschien, waren beide gerade dran ihre Suppe zu löffeln. Ercan freute sich, seine Geschwister endlich wieder zu sehen, und ergatterte den Vanillepudding von Carsten. Dann berichtete er erst einmal von der großen Verantwortung die er übernahm, um mit den Hunden täglich Gassi zu gehen. Dass Leon Max in seinem Revier akzeptierte und obendrein von ihr Benehmen lernte.

„Leon springt nicht mehr ins Bett, sondern legt sich auf seine Matte. Ich glaube er ist sogar ganz glücklich dabei. Es sieht immer so aus, als ob er grinst, Carsten.“

„Dann machst du alles richtig.“

„Ja und er kann wirklich überall schlafen. Gestern oder war es davor? Da hat er unter dem Klavier auf seinem Stoffigel gelegen. Das sah lustig aus oder als er sich bei Max auf die Decke gelegt hat. Halb unter ihr hat er geschlafen. Macht ihm nichts aus. Im Kindergarten sind viele krank. Jetzt darf ich nur noch morgens hin.“

Mama von Feldbach erläuterte, dass der Kinderhort nachmittags geschlossen bleibt. Dann wandten sie sich den beiden Kranken zu. Da Andrea zu Ende gegessen hatte, räumte Paul ihr Geschirr zur Seite. Dann berichteten sie ausführlich von der mittäglichen Visite und dass der Arzt ihnen erlaubt hatte ihre Freunde zu sehen. Paul erklärte sich bereit, Andreas abzuholen und auch wieder zurück zu bringen. Dann, da sie nun schon einmal alle zusammen saßen, sprach Paul sein Vorhaben an, eventuell einen Kollegen mit in die Praxis zu nehmen. Von Carsten wusste er ja, dass er dem zustimmen würde. Wichtig war nun was Andrea dazu sagen würde. Gemeinsam sprachen sie noch einmal alle Aspekte durch. Aber es wäre nicht sonderlich nötig gewesen. Andrea freute sich, dass ihr Vater wieder mehr Zeit haben würde.

Wie es nun einmal ist, in angenehmer Gesellschaft fliegt die Zeit dahin. Paul, Luise und Ercan verabschiedeten sich und ließen die Patienten wieder allein. Kurz darauf kam der junge Pfleger vom Vortag um das Geschirr abzuholen und die Betten noch einmal frisch aufzuschütteln. Es traf sich, dass Carsten auf die Toilette musste. Als er wenige Minuten später zurückkam, verschwand auch Andrea kurz. Der Pfleger machte auch ihr Bett und summte eine kleine Melodie vor sich hin.

Allegretto grazioso - un poco più presto.

„Wie bitte?“

„Sie summen ein Motiv aus dem 2. Klavierkonzert in B-Dur von Johannes Brahms. Den vierten Satz, das Allegretto grazioso - un poco più presto.“

„Hey, das ist nicht schlecht, ich überlege schon den ganzen Tag von wem das sein mag. Ich dachte zuerst an Schumann, eventuell noch Mendelssohn - Bartholdy. Aber Brahms? Wieso weißt du so etwas? Ich hätte bei dir eher auf Hits und Charts getippt.“

„Ich spiele selbst Klavier und dieses Konzert habe ich mal als Konzentrationsübung einstudiert. Es gehörte zu meinen ersten Klavierkonzerten, welche ich von einer CD gelernt habe. Also, ich habe das Stück zwar als Blindenpartitur, aber mein damaliger Klavierlehrer meinte ich solle mal lernen auch mit einer CD zu üben.“

„Ist das schwer?“

„Gewöhnungsbedürftig, vor allem darf man sich nicht damit zufrieden geben nur eine Variante zu hören. Dann lernt man nämlich nur eine Interpretationsmöglichkeit kennen. Ich glaube von diesem Konzert allein habe ich fünf verschiedene Aufnahmen. Warum interessieren sie sich für klassische Musik?“

„Ich bin in meiner Freizeit Leader einer Band und suche immer nach guten Motiven für Songs. Ich bin da genauso wie die ehrwürdigen Komponisten. Ein bisschen hier abgehört, ein wenig da, etwas daran geändert und mit ordentlichem Beat unterlegt und plötzlich ist etwas Neues entstanden. Dieses Klavierkonzert habe ich irgendwo mal gehört und dieses Motiv passt zu meinem neuen Projekt. Wenn du möchtest, kann ich dir ja mal eine Aufnahme zukommen lassen, wenn dich das interessiert.“

„Gerne, dann lassen sie sie mir ins Johann Heinrich Pestalozzi Internat schicken.“

„Warte mal, du bist Carsten von Feldbach aus dem Internat?“

„Ja. Ganz so viele von meiner Sorte gibt es in der Gegend nicht.“

„Du hast im vergangenen Jahr das Jubiläumskonzert gegeben und vor Silvester das Konzert in Dresden?“

„Ja. Warum fragen sie? Stimmt etwas nicht?“

„Nein, nein. Ein Freund rief mich im Dezember an und so ganz nebenbei erwähnte er das Internat und das Konzert dort. Das Dresdener Konzert kenne ich nur deswegen, weil meine Freundin ein Faible für diesen Musikstil hat, wir haben uns das Konzert im Radio angehört. Deine Zugabe hat mich daran erinnert, doch mal wieder zu den Anfängen der Musik zurück zu kehren. Vielleicht ist da auch der Grund zu finden warum mir der Brahms im Kopf schwirrt. Du kennst Thomas Gärtner?“

„Ja, er hat mich für ein Benefizkonzert zu Ostern engagiert. Woher kennen sie ihn?“

„Ich habe in jenem Krankenhaus meinen Zivildienst geleistet, wo er sich mit Freunden um die Kinderstation gekümmert hat. Du kannst mich ruhig Sebastian nennen. Darf ich dich um ein Autogramm bitten?“

„Kannst du Braille lesen?“

„Nein, warum?“

„Weil ich nun einmal in Punktschrift schreibe. Das machen die meisten Blinden so.“

„Na Brüderchen, sei mal nicht so. Ich schlage vor, du gibst Sebastian dein Autogramm und ich übersetze es ihm. So hat er ein Original und kann es dennoch lesen.“

„Meine praktische Schwester. Können wir so machen. Ich werde Papa bitten, die Punktschrifttafel mitzubringen.“

Sebastian war auch damit einverstanden und fragte nach Wünschen, nachdem er mit dem Bettenaufschütteln fertig war. Carsten hatte einen. Jetzt wo er mehrere Tage hintereinander im Bett gelegen war, würde er gerne einige Meter umhergehen. Andrea fühlte sich noch nicht so fit um ihn begleiten zu können. Sebastian erklärte sich bereit, nach dem Abendessen mit ihm durch die Station zu gehen. Außerdem wollte er eine entsprechende Notiz für den Frühdienst hinterlegen. Mit diesem Vorschlag war Carsten zufrieden.

Andrea stellte sich die Frage, in welcher Klasse sie gebettet wurden. Erstklassiges Frühstück, zuvorkommendes Personal und das Abendessen war ein Traum. Bei soviel Fürsorge musste man ja wieder gesund werden. Nach dem Abendbrot ging Carsten mit dem Pfleger eine gute halbe Stunde quer durch das Krankenhaus. Als er anschließend wieder auf dem Zimmer eintrat, schlief seine Schwester schon wieder. Sebastian berichtete von dem was er sah und Carsten war sehr zufrieden. Nach dem Zähneputzen legte er sich hin und tastete nach dem Buch. Als er langsam müde wurde, klingelte er noch einmal nach dem Pflegepersonal um noch einmal für frische Getränke zu sorgen. Danach legte er sich hin. Die Nachtschwester stellte die Flasche Wasser auf die Konsole und deckte den schon schlafenden Jungen zu.


„Er schläft wieder. Nach dem Mittagessen hat er sich noch einmal hingelegt, Andreas.“

„Hingelegt ja, schlafen nein. Hallo Andreas, ist sonst noch wer da?“

„Ja Max ist bei mir. Dein Vater hat uns hier abgesetzt, er will uns in zwei Stunden wieder abholen. Wie geht es dir?“

„Jetzt schon viel besser, sehr viel besser.“

Andreas beugte sich vor und gab seinem Freund einen liebevollen Kuss. Auf einmal winkelte Carsten sein Bein an. Andreas grinste einen verlegenden Carsten an und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Worauf Carsten eine gesunde Gesichtsfarbe annahm. Andreas setzte sich auf die Bettkante und hielt Carstens Hand. Andrea empfing ihren Marc etwas später. Max, Carsten und Andreas verzogen sich ins Krankenhauskaffee. Die beiden Jungen flirteten was das Zeug hielt. Was zwischen den anderen Besuchern gar nicht so einfach war. Andreas berichtete vom Internatsleben und wie langweilig es ohne Carsten dort sei. Dass er Martin Nachhilfe in Englisch gab und Frau Möller-Klein Melanies Kursplan korrigierte. Übrigens ließ die Pädagogin ausrichten, dass sie Carsten einen entsprechenden Kursplan vorbereitet hatte. Korrekturen könne er später noch machen. Von Herrn Kramer richtete er Grüße aus und dass er jetzt endgültig den Klavierabend absagen wolle. Sichtlich enttäuscht war Carsten zwar nicht, doch fühlte er sich um eine Prüfung betrogen.

„Komm, sei nicht traurig. Herr Kramer weiß ganz gut was du leistest und kannst.“

„Ich habe langsam das Gefühl mir werden meine Leistungen geschenkt.“

„Pustekuchen. Du gibst dir doch selbst keine Auszeit. Immer auf einhundert Prozent. Dies kann auf Dauer nicht gut für dich sein. Vielleicht solltest du diese Grippe als ein Warnzeichen betrachten.“

„Andreas, ich weiß sehr wohl, wo meine Grenzen sind und meine Aufpasserin heißt Max. Aber ich werde den Teufel tun mit dir darüber zu streiten. Etwas anderes liegt mir am Herzen, wie läuft es in der Redaktion?“

„Letzten Dienstag gab es eine Redaktionssitzung. Maria hat das Thema in allen Einzelheiten vorgestellt und - obwohl einige ihre Zweifel hatten - von Allen Unterstützung zugesagt bekommen. Dieses Mal hat sie auch Lehrer mit ins Boot geholt, sie geht auf Nummer sicher.“

„Geschickter Schachzug von ihr. Da lag ich mit meiner Vermutung seiner Zeit gar nicht so falsch.“

„Du liegst eigentlich nie falsch mit deinen Vermutungen. Martin hatte mir nämlich gesagt, dass du ihm den Tipp, für sich und das Internat etwas zu tun, gegeben hättest. Ich denke er hat schon einige Freunde gefunden, nachdem er mir im Garten geholfen hat. Und dass er um Nachhilfe bittet, ist ein gutes Zeichen dass er an sich arbeitet.“

„Ich meinte damals, er sollte mehr Sport treiben. Aber so ist es auch gut.“

„Oh, er sieht zwar etwas pummelig aus aber als er mir im Garten half, wirkte er nach zwei Stunden noch recht fit. Wie bist du darauf gekommen?“

„Er atmete oberflächlich und war kurzatmig bei unserer ersten Begegnung.“

„Vielleicht hat er ja auch mehr Sport gemacht, du kennst doch unseren Sportlehrer. Schülern ohne Kondition hilft er sprichwörtlich auf die Beine.“

„Da sagst du etwas Wahres. Gibt es noch Kaffee?“

Andreas schenkte nach und wunderte sich, dass Paul auf einmal im Café auftauchte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte seine Vermutung, zweieinhalb Stunden waren schon vergangen. Paul setzte sich zu ihnen und bestellte sich einen Kaffee. Nachdem er ihn ausgetrunken hatte, gab es keine Entschuldigung mehr. Andreas verabschiedete sich von seinem Freund, nachdem sie ihn wohlbehalten auf das Zimmer gebracht hatten. Paul legte noch die Braille-Tafel samt Zubehör auf den Tisch und forderte auch Marc auf, den Besuch langsam zu beenden. Bis zum Abendessen dauerte es noch etwas, daher machte sich Carsten an das Autogram für Sebastian. Als er damit fertig war, übergab er es an Andrea die mit Tinte den Text unter der letzten Zeile schrieb. Carsten wollte es ihm später geben. Er fragte, wie lange es noch dauern würde bis das Abendbrot serviert wird. Als Andrea ihm sagte, er müsse noch eine Stunde warten, nahm er sich vor, noch eine Runde über den Flur zu gehen. Da die gesamte Station mit einem Handlauf ausgestattet war, traute er sich mit seinem Stock allein auf den Weg. Sebastian hatte ihm am Abend zuvor noch ein wenig erklärt wo was zu finden war, so dass Carsten eine ungefähre Orientierung hatte. Langsam schlenderte er drauf los, es war richtig ruhig auf der Etage.

„Nein, Melanie, so läuft das nicht. Andere Jugendliche kommen mit weit weniger als 150 Euro Taschengeld aus und bei dir reicht es noch nicht einmal für ein Drittel des Monats. Was machst du damit?“

„Das ist meine Sache, Onkel Klaus.“

„Wenn du es so siehst, im Internat gibt es genug zu essen, Schulkleidung bekommst du auch. Du musst weder verhungern noch erfrieren. Ende der Diskussion. Ich werde deinen Vater von deinem Bettelversuch unterrichten, das bin ich ihm schuldig. Wenn es nach mir gehen würde, müsstest du mit dreißig Euro im Monat auskommen.“

„Es geht aber nicht nach dir und überhaupt hast du ja keine Ahnung. Zum Glück dürfen Schwule keine Kinder haben.“

„Davon abgesehen dass deine Argumentation an der Sache vorbeigeht, kann ich ja deinem Vater vorschlagen die zehntausend Euro Schulden, die du in München gemacht hast, von deinem Taschengeld abzuziehen. Das macht bei einer monatlichen Rate von 120 Euro immerhin eine rechnerische Darlehenszeit von sechs Jahre, zehn Monate und elf Tage.“

„Ich werde im kommenden Jahr volljährig.“

„Das wird dir auch keiner streitig machen, Fräulein. Doch scheint mir, dass du noch lange nicht so reif bist.“

Das Telefon auf dem Schreibtisch des ärztlichen Sprechzimmers summte und der Arzt nahm ab. Er sprach leise und legte wieder auf.

„Dein Taxi ist da, der Fahrer wird dich hier abholen.“

„Dann gibst du mir das Geld?“

„Das Taxi ist bereits bezahlt, Melanie.“

Carsten machte sich davon. Wie sagte noch sein Vater? Er bekommt einfach zu viel mit. Nun, hier hat der Zufall ordentlich mitgemischt. Die Richtung auf dem Gang schlug der Junge aufs Geratewohl ein und dass die Tür zum ärztlichen Sprechzimmer offen war, lag sicherlich nicht in seiner Schuld. Aber selbst wenn sie geschlossen gewesen wäre, Melanie hatte nicht gerade leise gesprochen. Aber die Informationen waren nicht schlecht. Melanie hatte finanzielle Probleme und die waren alles andere als einfach zu bewältigen.

„Hallo Carsten, was machst du hier?“

„Spazieren gehen Herr Neubert, guten Abend. Falls sie wissen wollen warum ich im Krankenhaus bin, ich kuriere meine Grippe gemeinsam mit meiner Schwester aus. Es hat sich gegenüber allen Voraussagen eine kleine Komplikation eingestellt die eben nur hier behandelt werden konnte. Und um ihrer nächsten Frage zuvor zu kommen, laut dem Stationsarzt sind wir auf dem Weg der Genesung.“

„Schön, kannst du mir auch sagen, wo ich den genau finde?“

„Gehen sie noch ein Stück den Gang entlang, das Sprechzimmer ist auf der anderen Seite.“

„Danke, dir und deiner Schwester wünsche ich gute Besserung.“

Carsten ging weiter auf sein Zimmer. Die Szene die sich gleich abspielen würde, brauchte er gar nicht mitzubekommen. So gut kannte er seinen Direktor, dass er Melanie gehörig den Kopf waschen würde. Sie hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, sich vom Internat abzumelden, sonst würde Herr Neubert nicht persönlich kommen. Das Abendessen wurde von einer jungen Pflegerin serviert. Auf Nachfrage wo denn Sebastian sei, teilte sie mit, dass er erst zur Nachtschicht am Montag wieder da sei. Carsten bedankte sich für diese Information. Nach dem Essen wurden die Betten wieder aufgeschüttelt und noch die Getränke bereitgestellt. Der restliche Abend verlief eher ruhig. Beide hingen ihren Gedanken um ihren jeweiligen Besuch nach.

„Sag mal Carsten, warum warst du heute Nachmittag so plötzlich verlegen als Andreas dich küsste?“

„Hm, weil sich eine unerwartete Reaktion einstellte.“

„Oh, du hattest eine Erektion, wie süß. Ich vermute mal Andreas hatte auch eine und hat es dir zugeflüstert.“

„Okay, du hast getroffen. Zufrieden? Es war auch ein richtig zutraulicher Kuss und im Café hat er pausenlos mit mir geflirtet.“

„Oh, soviel Mühe hat sich Marc nicht gemacht. Übrigens, Andreas hat dir auch einen wundervollen Blumenstrauß mitgebracht. Rosafarbene und rote Rosen, dann noch blaue und gelbe Blumen, Schleierkraut und grünes Blattwerk. Sieht echt stark aus, Marcs Sträußchen ist nur halb so groß und schön.“

„Och höre ich da Neid in deiner Stimme? Vergiss bitte nicht, dass Andreas die Floristik im Blut hat. Sein Vater war Landschaftsarchitekt. Ich kann ihn ja anrufen damit er dir auch so ein Gebinde macht.“

„Untersteh dich! Willst du Marc eifersüchtig machen? Nein, lass gut sein. Mein Freund hat wohl nicht so den richtigen Draht für das Romantische. Aber er ist hilfsbereit, wenn es darum geht mich zu unterstützen. Er kümmert sich momentan ausgiebig um die Pferde und das neben seiner täglichen Arbeit auf dem Hof. Er sah heute auch richtig müde aus.“

„Tja, Schwesterchen, du forderst eben deinen Freund.“

Da Carsten es mit einem charmanten Lächeln unterstrich, begnügte Andrea sich damit ihn einen Knuff zu verpassen. Gespielt beleidigt wandte sich Carsten seinem Buch zu. Andrea schaltete das Fernsehgerät ein und sah sich einen Spielfilm an. Als dieser zu Ende war, schaute Andrea hinüber zu Carsten. Sein Buch lag offen auf der Bettdecke, seine Hände lagen schlaff auf die offene Buchseite und er schnarchte leise vor sich hin. Andrea schmunzelte, dann stand sie auf, zog das Buch zur Seite und deckte ihren Bruder zu. Einen Moment schaute sie ihn an. Bartstoppeln zierten sein jugendliches Gesicht. Dennoch sah er für einen Jungen richtig hübsch aus. Es hatte etwas Unschuldiges an sich, Andrea fand sogar, dass er ein Engelsgesicht hatte. Carsten drehte sich etwas und diese Bewegung ließ Andrea nun auch ihr Bett aufsuchen.

Am folgenden Morgen war die Nacht um halb sieben Uhr um. Eine Horde Pflegerinnen und Pfleger betraten das Zimmer um die Bettwäsche zu wechseln. Carsten nahm den Trubel zum Anlass eine größere Sitzung abzuhalten. Auf der Toilette war es bei weitem ruhiger. Andrea verzog sich praktischerweise unter die Dusche. Das Frühstück nahmen sie gemeinsam am Tisch sitzend ein. Andrea hatte sogar eine Tageszeitung organisiert und las daraus die lokalen Neuigkeiten vor.

Der Stationsarzt war erfreut sie so beieinander zu sehen. Er teilte ihnen mit, dass einer Entlassung am folgenden Tag nichts mehr im Wege stand. Die Temperatur lag bei beiden um den Normalwert und auch sonst hatte er den Eindruck, dass die Zwillinge die Grippe überstanden hatten. Der Arzt war schon im Gehen als Carsten noch um ein Gespräch bat. Nach der Visite sollte Carsten in sein Sprechzimmer kommen.

„Herr Doktor, ich habe gestern Abend noch eine kleine Runde allein über den Flur gedreht und mein Weg führte hier an diesem Zimmer vorbei.“

„Ich weiß davon, der Flur hat eine Videoüberwachung und ich einen der dazugehörenden Monitore. Du hast das Gespräch mitbekommen?“

„Melanie war nicht gerade leise und die Tür stand auf. Ich möchte aber zunächst versichern, dass ganz offiziell dieses Gesprächsthema nie erwähnt wurde.“

„Gut. Ich wünschte, jemand würde dem Mädchen mal die Leviten lesen. Mein Bruder ist durch seine Montagearbeit oft unterwegs. Melanies Erziehung hat er seiner Frau überlassen. Sie hat das Mädchen verhätschelt und vertätschelt. Als mein Bruder von ihren Schulden erfuhr, hat er kurzentschlossen entschieden, sie auf ein Internat zu schicken. Es ist ihre letzte Chance. Und nun kommt sie her und bittet mich um Geld. Vielleicht kannst du mir verraten wie ein Teenager in einer Woche hundertfünfzig Euro ausgeben kann?“

„Ein Flakon Chanel No. 5 im Internet bestellt und das Geld ist in null Komma nichts futsch. Hat sie denn gar keine positiven Seiten?“

„Ich vermute: Nein! Sie war schon als Kind sehr von sich überzeugt, aber leider nicht gerade auf eine Art und Weise die einem gefällt. Im Kindergarten wollte sie immer die Prinzessin sein, war sie es nicht, hat sie auf stur gestellt bis sie ihren Willen bekommen hat. Ein gewaltiger Fehler wenn du mich fragst.“

„Da schlage ich drei Kreuze dafür dass meine Eltern mir hin und wieder einen Klaps auf die Windeln gegeben haben. Wobei ich sagen möchte dass der Klaps nie wehgetan hat, soweit würden meine Eltern nie gehen. Ich war wohl mehr über die Aktion an sich erschrocken. Ja und Andrea. Sie hat mich so manches Mal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Man, was konnten wir uns streiten und dann kam die ultimative Waffe: Heiße Schokolade. Bei einem Kakao schlossen wir immer Frieden.“

„Vielleicht liegt es daran, dass Melanie so eingenommen von sich ist. Sie ist eben ein Einzelkind.“

„Das glaube ich nun weniger, meine beste Schulfreundin ist auch Einzelkind und sie ist nicht machthungrig und auch nicht eingebildet. Nein, ich denke das ist wohl doch ein Fehler der Erziehung.“

„Dr. Neubert war echt sauer, als ich ihn anrief. Er hat gestern Abend nichts mehr gesagt, doch sein Blick sprach Bände.“

„Da ich nun einmal auch auf das Internat gehe, kann ich ihnen schon sagen was geschehen wird. Ihre ganzen Privilegien werden gestrichen. Ihr Zimmer wird auf den Lehrerkorridor verlegt, für sie wird es quasi ein Knast. Herr Neubert ist wirklich ein sehr zuvorkommender Direktor, hat eine richtig liberale Einstellung würde ich sagen. Doch er wird zum Drachen, wenn einer seine Regeln verletzt.“

„Geschieht ihr recht, auch wenn es sich jetzt nach Schadensfreude anhört. Wie ist es eigentlich mit Alkohol? Sie ist auch da nicht ganz abgeneigt.“

„Es gibt eine ganz lustige Abmachung zwischen dem Internat und dem Dorf. Ich kann in die Dorfkneipe gehen und ein Bier trinken, ich kann im Laden eine Flasche Bier kaufen - sie wird mir zwar im Internat abgenommen - aber ich kann. Gehe ich los und würde mir eine Flasche Wodka kaufen wollen, zahle ich den Preis und bekomme eine Originalflasche gefüllt mit Leitungswasser. Whisky, Brandy etc. ist Tee und so weiter.“

Gut dass die Tür zum Sprechzimmer geschossen war, der Arzt lachte lauthals los. Bis er sich wieder gefangen hatte, dauerte es einen Moment

„Schmuggeln?“

„Sehen sie, es ist nicht ausgeschlossen dass jemand Alkohol ins Internat schmuggelt. Ein Klassenkamerad schmuggelt jedes Jahr eine Flasche Glühwein hinein und wird seltsamerweise nie ertappt. Und ich bin davon überzeugt die Lehrer wissen davon. Andere Schüler bekommen einen schriftlichen Tadel und beim nächsten Mal sind sie draußen. Es kommt also darauf an, welchen Charakter derjenige hat. Ralph trinkt eher selten mal ein Bier und da könnte der Grund liegen warum die Lehrer es dulden. Wer öfters mit einer Fahne erwischt wird, hat schlechte Karten. Ansonsten gilt im Internat striktes Alkoholverbot. Falls also Melanie auf die Idee kommen sollte jetzt noch Alkohol zu konsumieren, ist das ihre sichere Fahrkarte nach Hause. Aber ich vermute, noch einen Fauxpas wird sie nicht machen. Dazu schätze ich sie viel zu intelligent ein.“

„Dumm ist sie nicht, aber faul. In München gab es so eine Geschichte, dass sie ihre Hausaufgaben von jemandem erpresst hat. Nur durch einen Zufall ist die dazu gehörige Grundlage aufgeflogen und sie musste wieder selber Hand anlegen. Aber du bist nicht wegen meiner Nichte hier. Stimmt es? Ich kann mich daran erinnern gestern ein junges Paar in der Cafeteria gesehen zu haben. Dem Gesichtsausdruck zu folge rosa Wolke Nummer Sieben.“

„Waren wir so auffällig?“

„Nur für jemand aus der gleichen Liga und um deiner Befürchtung zuvor zukommen: Die anderen Gäste haben entweder nichts gemerkt oder wollten es nicht bemerken.“

Carsten berichtete dem Arzt von seinen Ängsten um schwulen Sex und war sehr erstaunt wie sachlich diese von dem Arzt beantwortet wurden. Es sprudelte einfach alles aus ihm heraus und als er das Sprechzimmer verließ, waren seine Bedenken in Bezug auf den Sex zwischen Männern zwar nicht verschwunden, aber auf die Größe eines Stecknadelkopfes geschrumpft. Er freute sich regelrecht darauf es mit Andreas anzugehen.

Andrea war erfreut ihn wiederzusehen, sie war schon fast in Begriff eine Suchmeldung los zu lassen. Das Mittagessen stand schon längere Zeit für ihn bereit und war sicherlich nicht mehr warm. Carsten klingelte nach dem Pflegepersonal und ließ sich das Essen aufwärmen. Er berichtete Andrea von dem Gespräch.

„Siehst du, es ist alles halb so schlimm wie es scheint. Und? Springst du mit ihm sofort ins Bett, wenn du wieder zurück bist?“

„Wenn du ebenfalls mit Marc ins Bett springst.“

„Och dir steht der Sinn nach einem flotten Vierer?“

„Okay, diese Runde geht an dich. Ich gebe mich geschlagen. Nein, wir werden nichts überstürzen und unseren Regeln stehen vorerst fest. Aber jetzt wo ich sehr viel mehr weiß, kann ich damit besser umgehen. Wusstest du, dass in den letzten Jahren die Neuinfektionen an HIV wieder gestiegen sind? Und seltsamerweise sind die meisten davon in unserem Alter. Liegt es am mangelnden Wissen? Ergo, meint der Doktor, ist Safersex immer noch der beste Schutz.“

„Oh, dann werde ich später auch mal darauf bestehen, solange Marc kein Testergebnis vorweisen kann.“

„Glaubst du er braucht einen?“

„Ich bin nicht seine erste Freundin, so blauäugig bin ich nun doch nicht. Wenn ich ihn frage, würde er mir sogar seine Liebschaften beichten. Nein, ich habe nur dieses eine Leben und leichtfertig setzte ich es nicht aufs Spiel. Außerdem, was würdest du ohne mich auf Erden anfangen?“

„Hm, gute Frage. Ich denke die Familie würde jeden Sonntag zu dir ans Grab kommen und anschließend …“

„Carsten wir sind quitt.“

„Schwesterchen, ich würde dich immer vermissen, du bist nun einmal ein Teil von mir.“

„Das ist lieb von dir.“

Sebastian kam am Abend und räumte das Geschirr wieder weg. Dann schüttelte er noch einmal die Betten auf und versorgte die Beiden noch mit ihren Medikamenten. Bevor Carsten nun seine letzte Nacht im Krankenhaus antrat, übergab er Sebastian das Autogramm und verabschiedete sich. Seines Wissens hatte dieser schon Feierabend, bevor sie geweckt wurden. Andrea tat es ihm gleich. Der junge Pfleger bedankte sich bei seinen pflegeleichten Patienten und wünschte ihnen eine gute letzte Nacht.

Beide waren am folgenden Morgen aufgeregt und fieberten der Visite entgegen. Der Chefarzt selbst übergab ihnen ihre Entlassungen. Dann gab es kein Halten mehr für die Jugendlichen. Anziehen und die Taschen packen. Luise und Max holten ihre Schützlinge ab. Andrea und Carsten verabschiedeten sich noch vom Pflegepersonal und dem Stationsarzt. Dann ging es im gemütlichen Tempo zum Wagen. Andrea sah zu ihrem Bruder hinüber wie dieser von Max geführt wurde. Sowohl Carsten als auch die Hündin machten einen sehr zufriedenen Eindruck.

Lesemodus deaktivieren (?)