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Racheengel

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Vorwort:

Hier also nicht die erste Geschichte, die ich geschrieben habe aber meine erste Story, die bei Nickstories veröffentlicht wird. Ich hoffe sehr, dass euch die Geschichte um die beiden Hauptcharaktere Lauri und Finn gefällt und wenn ihr während oder nach dem Lesen etwas dazu loswerden möchtet, freue ich mich jederzeit über ein Feedback.

 

Hören
Das leise Wispern des Windes in den Blättern
Die gedämpften Gespräche der Männer
Das qualvolle Stöhnen einer bekannten Stimme

Schmecken
Der süße Geschmack getrockneten Blutes auf den Lippen
Der bittere Geschmack abgestandenen Weines
Der salzige Geschmack von Tränen

Riechen
Der bekannte Geruch von verkohltem Holz
Der grauenhafte Gestank von Angstschweiß
Der wohlige Geruch von nasser Erde

Fühlen
Das unangenehme Gefühl von rauen Fesseln
Die beruhigende Wärme eines menschlichen Körpers
Das schmerzende Pochen der blutigen Schläfe

Sehen
Der schwache Schein des Feuers
Das undeutliche Funkeln der Sterne am bedeckten Himmel
Der verschwommene Schatten eines Mannes


„Los! Steh auf!“

Der Tritt in die Rippen nahm Lauri die Luft. Wimmernd krümmte sich der kleine Körper vor Schmerz und Angst. Gerade noch in der barmherzigen Umarmung der Ohnmacht gelegen, wurde sich der Junge nur langsam wieder der Situation bewusst, in der er sich befand.

„Verschont den Jungen doch! Bei Gott, er hat euch nichts getan!“

Lauri erkannte die erzürnte Stimme seines Vaters, der bis vor wenigen Stunden noch der Anführer dieser unsäglichen Bande gewesen war, die ihn und seinen Sohn nun malträtierten.

„Du hast hier gar nichts mehr zu sagen!“ Ein hässliches, feistes Gesicht schob sich in Lauris Gesichtsfeld und spuckte dessen Vater herablassend an.

In dämmrigem Zustand wollte sich der 9-jährige wieder der Bewusstlosigkeit hingeben, als er erneut die Stimme seines Vaters vernahm, jedoch flüsternd, eindringlich und doch sanft, so wie Lauri sie kannte.

„Lauri! Lauri hörst du mich?“

„Vater?!“ Nur ein Wispern.

„Hör mir zu, Lauri! Hör gut zu! Wenn ich es dir sage, dann läufst du los! Hast du mich verstanden? Sieh dich nicht um, egal was passiert! Egal was du hörst, sieh dich nicht um, sondern lauf... !“

„Vater, ich …“ Verwirrung stand ins Gesicht des Jungen geschrieben, doch der Vater fuhr unbeirrt fort.

„Lauri! Hörst du mir zu? Lauf wie der Wind! Lauf zu unserer Hütte, du weißt welchen Ort ich meine … Niemand sonst kennt das Versteck! Dort findest du alles, was du brauchst … Lauri! Hörst du?“

„Vater …“

„Hast du mich verstanden?“

Lauri schluckte schwer … Was hatte das alles zu bedeuten? Die vergangenen Stunden - es konnte noch nicht lange her sein – erschienen so fern. Was war nur passiert? Lauri erinnerte sich nicht. Die Worte seines Vaters drangen nur langsam zu seinem Bewusstsein durch.

„Lauri!“

„Ich, ja … ja ich habe verstanden!“

„Ich glaube es wird Zeit dir das Maul zu stopfen!“

Nur aus dem Augenwinkel sah der Junge, wie der dreckige, dunkle Mann von eben seinen Vater auf die Knie zerrte und ihn näher an den Schein des Feuers brachte. Langsam erwachte Lauri aus seiner Erstarrung. Sein wachsamer Blick erfasste in Sekundenschnelle die Situation. Die Anzahl der Männer, einige von ihnen hatte er schon mal gesehen, die Pferde, deren heißer Atem weiße Wolken in der dunklen Nacht hinterließen und das heimtückische Schimmern der metallenen Waffen. Augenblicklich begriff Lauri die Worte seines Vaters - und die Absicht des feisten Mannes. Fahrig sprangen seine Augen umher und unruhig doch vorsichtig rückte er langsam Stück für Stück aus dem Feuerschein. Der Handlanger, welcher Lauris Vater nun ein Messer an den Hals hielt, grinste abschätzig und entblößte dabei eine Reihe fauliger Zähne.

Plötzlich - ein Rascheln, dann ein dumpfer Aufprall und ein unterdrückter Schmerzensschrei ließ die Männer augenblicklich aufhorchen und die meisten von ihnen bewegten sich mit gezückten Waffen auf den vermeintlichen Eindringling zu. Sogar der Feiste schien verunsichert den Griff am Gefangenen zu lockern und spähte in Richtung des Geräusches.

Die nächsten Momente erlebte Lauri wie durch Nebel. Während einer der Männer einen kleinen, wimmernden Blondschopf am Kragen packte und für alle sichtbar in die Höhe hob, wandte der Gefangene seinen Kopf und schrie. Lauri verstand die Worte zwar nicht, aber er wusste, was sein Vater ihm sagen wollte. Blitzschnell sprang der kleine geschundene Körper auf die Beine und rannte los. Obwohl alles in Sekundenschnelle geschah, erschien es Lauri, als ob die Zeit nur wie Baumharz, klebrig und langsam verging. Er hörte die Schreie der Männer, die sich gegenseitig aufforderten ihm, dem Flüchtling, zu folgen und er vernahm auch die Laute der aufgeschreckten Pferde, die plötzlich wieder Lasten auf ihren Rücken spürten. Außerdem hallte immer und immer wieder der Ruf seines Vaters in seinem Kopf, bis dieser ganz plötzlich verstummte.

Durch den kalten Wind und die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen und ihn blutig kratzten, traten Tränen in seine Augen. Er rannte weiter, immer weiter. Ohne zu denken, ohne zu fühlen …

Nach einer Weile forderten die Schläge und Tritte, diese ganze furchtbare Nacht ihren Tribut und Lauri stellte resigniert fest, dass seine Kräfte nachließen. Obwohl er im dunklen Wald flinker und wendiger war als seine Verfolger auf den massigen Pferden, holten sie langsam auf und der Junge wusste, dass sie ihn töten würden.

Allein sein Überlebenswille trieb ihn an, bis er aus dem Augenwinkel einen hohlen Baumstamm erspähte. Schnell schlug er einen Haken und rutschte über das nasse Laub, direkt in die kleine Höhle. Sein Puls schlug so stark, dass Lauri fürchtete man könne ihn gar hören und er bemühte sich seinen Atem zu beruhigen, als er die Pferde näher kommen hörte. Noch beängstigender erschien dem Entflohenen, dass sich die Geschwindigkeit der Tiere verringerte und schließlich, ganz in seiner Nähe, gänzlich anhielten.

Mit vor Panik weit aufgerissenen Augen hielt Lauri die Luft an, als er die Stimmen der Mörder seines Vaters vernahm.

„Er kann nicht weit gekommen sein! Los sucht weiter!“

„Genzo! Es hat keinen Zweck! Wir finden ihn hier nicht mehr. Tut nichts zu Sache, er wird allein sowieso nicht überleben! Wenn wir ihn nicht finden, finden ihn die Wölfe!“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht. Vermutlich wird er sowieso nicht zurückkommen, selbst wenn er überlebt. Kehren wir um und erstatten Luca Bericht! Er hat jetzt schließlich was er wollte …“

Die Stimmen wurden leiser und Lauri wartete, bis er die Pferde nicht mehr hörte, bevor er es wieder wagte zu atmen. Dennoch wagte er nicht sein Versteck zu verlassen. Er zog die Knie an, schlang seine noch immer gefesselten Arme darum und legte seinen Kopf, der nun wieder schwer wurde, darauf. Schlafen, nur schlafen wollte er und vergessen. Übelkeit wallte in ihm auf, und obwohl er seit Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte, übergab er sich. Die Galle brannte in seinem Hals und ließ abermals Tränen in seine Augen schießen. Nein! Nicht vergessen – Niemals. Der kleine Junge ballte voller Wut die Hände zu Fäusten und schickte ein stummes Versprechen an seinen toten Vater. Niemals vergessen! Rache!


„Was hast du dir dabei gedacht?“ Luca sah nicht auf, während er seinen Sohn ansprach. Beschäftigt kritzelte er Anweisungen für seine Handlager aufs Papier. Dennoch spürte Finn die Wut seines Vaters, die er so fürchtete.

„Ich …“ begann er leise, aber ihm fiel nichts ein, was er hätte antworten sollen. Eigentlich war er nur neugierig gewesen und hatte sich nachts aus dem Bett gestohlen, um zu sehen, was draußen vor sich ging. Jetzt wünschte er sich er wäre in seinem Lager geblieben und hätte nicht mit ansehen müssen, was auf der Lichtung geschehen war.

„Antworte mir!“, polterte Luca und schlug dabei auf den Tisch. Finn zuckte zusammen und Tränen liefen ihm über die Wangen.

„Und hör verdammt noch mal auf zu flennen wie ein Waschweib!“

Finn wich instinktiv vor seinem Vater zurück, der sich erhoben hatte und bedrohlich um den Tisch herum kam. Er packte den 7-jährigen am Kragen und hob ihn soweit an, dass seine Zehenspitzen gerade noch den Boden berührten. Der Junge schaffte es nicht die Tränen unter Kontrolle zu bringen und biss sich auf die Unterlippe, um nicht noch lauter zu schluchzen. Der Atem seines Vaters stank sauer nach abgestandenem Wein und widerte Finn an. Auch die blutunterlaufenen Augen machten dem Jungen Angst und er wünschte sich, sein Vater würde ihn einfach auf sein Zimmer schicken. Nach einer endlos scheinenden Minute seufzte Luca resigniert und ließ das Kind unsanft zurück auf den Boden fallen. Er setzte sich müde wieder an den Tisch und massierte seine Schläfen.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich kaum glauben, dass du mein Sohn bist. Ich werde deinem Onkel schreiben, morgen reist du ab. Verschwinde jetzt!“

Finn nickte nur, auch wenn sein Vater ihn gar nicht ansah, und drehte sich leise zur Tür um. Jeder Ort war ihm lieber als hier. Auch wenn sein Onkel genauso streng war wie sein Vater, wünschte Finn sich im Moment einfach nur meilenweit fort von hier. Denn noch mehr als vor seinem Vater fürchtete er sich vor dem, was er diese Nacht gesehen hatte. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes, der so schrecklich geschrien hatte und dann plötzlich das Aufblitzen der Klinge, dieses abartige gurgelnde Geräusch und dann die Augen, die plötzlich immer leerer wurden, blind. Finn schüttelte sich am ganzen Körper und stürzte raus in die sternenklare Nacht, wo er sich hinter dem Haus erbrach. Warum war er diesmal nur nicht im Bett geblieben, wie sein Vater es ihm befohlen hatte? Völlig erschöpft ließ er sich an der Hauswand herunterrutschen und genoss für einen Moment den kühlen Nachtwind, der sein schweißnasses Gesicht trocknete. Nachdem sein Atem wieder etwas ruhiger geworden war, öffnete er die Augen ohne etwas um sich herum wirklich zu sehen. Stattdessen drängten sich erneut die Bilder dieser Nacht in sein Bewusstsein. Diesmal kamen ihm jedoch auch noch andere Details in den Sinn, die er eben scheinbar verdrängt hatte. Da war doch noch jemand gewesen. Ein Kind. Ein Junge, der kaum älter war als er selbst. Was war aus ihm geworden? Finn zog die Knie an und schlang die Arme um seine Beine, weil er begann, in der kalten Nacht zu zittern. Der Junge konnte doch nichts Schlimmes getan haben, oder? Hatten die Männer ihn auch getötet?

Plötzlich drangen Geräusche heran. Die Männer kamen aus dem Wald zurück. Der fette Mann, Finn kannte ihn, führte die Gruppe an. Alle lachten und schienen bester Laune zu sein. Bei ihnen hatten die Ereignisse dieser Nacht wohl keine Spuren hinterlassen, dachte Finn leicht vorwurfsvoll, als Genzo um die Ecke kam, um sein Pferd anzubinden.

„Was machst du denn hier?“, raunzte der grobschlächtige Mann den Jungen an.

„Hast wohl noch nicht genug Ärger gehabt heute, was?“

Finn war aufgesprungen und machte sich nun klein, um bei der nächsten Gelegenheit an Genzo vorbei ins Haus zu schlüpfen. Der feiste Mann war aber auch nicht in der Stimmung, sich weiter mit dem Bengel zu befassen und lies ihn laufen.

Als Finn sich schließlich doch wieder ins Heu gekuschelt und die Decke fest um sich gewickelt hatte, dachte er, kurz bevor der Schlaf ihn endlich übermannte, daran, dass er sich fast darauf freute, die nächsten Wochen oder Monate bei seinem Onkel in der Stadt zu verbringen. Überall war es besser als hier …

Diese Augen. Sie starrten ihn an oder durch ihn hindurch, besonders als sie begannen, ihren Glanz zu verlieren. Als das Leben aus ihnen hinaus glitt, quälend langsam. Immer leerer und dann glasig, schließlich blind, tot.

„NEIN!“ Schweißnass gebadet schreckte Finn auf, wie in so vielen Nächten. Erschöpft sank er zurück aufs Kissen und schlug die Hände vors Gesicht. Warum konnte er diese Nacht nicht endlich vergessen? Es war schon bald länger als 10 Jahre her, aber der Schrecken saß immer noch zu tief.

Das abschätzige Lachen seines Cousins drang an sein Ohr.

„Na? Hat der Kleine wieder schlecht geträumt?“

Finn konnte den Sohn seines Onkels nicht leiden. Dieser arrogante Schnösel hatte ihm von Anfang an das Leben in der Stadt zur Hölle gemacht. Dennoch mussten sich die beiden jungen Männer ein Zimmer teilen, so dass Colin mehr als einmal mitbekommen hatte, dass Finn jede Nacht von Albträumen geplagt wurde, was er wiederum gegen den zurückhaltenden Jungen nutzte.

„Los steh auf!“, raunzte Colin seinen Cousin jetzt an, da er keine befriedigende Antwort auf seine Provokation bekam, und warf Finn ein Hemd zu.

„Mein Vater will, dass du ihm bei der Abrechnung hilfst!“

Ohne zu antworten, stand Finn auf und warf sich das Hemd über. Colin beobachtete ihn eine Zeit lang mit säuerlichem Gesichtsausdruck und Finn wusste, dass er überlegte, wie er ihn doch noch treffen könnte. Colin hatte nur dann gute Laune, wenn er anderen Menschen oder wenigstens Tieren irgendein Leid zufügen konnte. Aber Finn hatte in den Jahren gelernt sich gegen Colins Art abzuschotten. Als sie noch jünger gewesen waren, hatte Colin seinem jüngeren Cousin auf sehr körperliche Weise zu verstehen gegeben, wer der Stärkere von beiden war. Aber mit der Zeit hatte er eingesehen, dass er Finn nicht bei jeder Gelegenheit verprügeln konnte. Auch wenn sein Vater es durchaus gutgeheißen hat, dass die Jungen „ihre Kräfte messen“. Finn war sich sicher, dass sein Onkel das Ganze auch nur deswegen befürwortet hatte, weil sein Sohn seinem Neffen haushoch überlegen war und Finn immer den Kürzeren gezogen hatte, wenn es um körperliche Stärke ging. Finn seufzte beim Gedanken daran, dass sein Onkel durch Colin wahrscheinlich die eigene Unterlegenheit gegenüber Luca kompensierte. Dennoch hatte Finn es nie bereut, in die Stadt geschickt zu werden. Er hatte hier vieles gelernt und wusste, dass er seinem Cousin in dieser Hinsicht einiges voraus hatte.

„Ah Finn! Da bist du ja!“ Der Onkel sah nur kurz von den Unterlagen auf, die er stirnrunzelnd betrachtet hatte. Finn wusste, dass sein Onkel genauso wenig Ahnung von Buchhaltung hatte wie Colin und dass er wohl wieder den ganzen Tag über den Büchern verbringen musste, um Licht ins Dunkel der Unterlagen zu bringen.

Finn hatte sich schon in das Durcheinander aus Zahlen gestürzt, als sein Onkel sich noch einmal räuspernd zu ihm umdrehte.

„Ach übrigens: Dein Vater hat geschrieben. Er erwartet dich und Colin in einem Monat in Wessington Forrest.“ Damit verschwand er durch die Tür und lies Finn allein. Der junge Mann wusste nicht so recht, ob man von ihm erwartete, sich über diese Nachricht zu freuen. Colin würde sich sicher über die Nachricht freuen. Er hatte seinem Vater schon seit Jahren in den Ohren gelegen, weil er sich der Bande anschließen wollte. Aber Finn fühlte sich hier immer noch wohler und beim Gedanken an die Lichtung liefen ihm erneut Schauer über den Rücken. Er war so in Gedanken versunken, dass er die Magd Emma nicht bemerkte, die leise ins Zimmer getreten war, um dem Neffen ihres Herrn ein Frühstück zu bringen.

„Guten Morgen Herr!“

Finn schrak fast zusammen, als sie das Wort an ihn richtete und sie errötete leicht, als er sie daraufhin verdutzt ansah. Sie machte einen leichten Knicks und gewährte ihm damit einen tiefen Einblick in ihren Ausschnitt. Finn war sich bewusst, dass sie das mit voller Absicht tat. Emma hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie sich durch diverse Dienste etwas dazuverdiente und Finn wusste auch, dass Emma nach wie vor hoffte, dass er diese Dienste eines Tages in Anspruch nehmen würde. Er konnte es selbst nicht erklären, aber obwohl die junge Magd wirklich hübsch war, verspürte er nicht das geringste Interesse an ihr. Manchmal hatte er zwar darüber nachgedacht, es trotzdem einmal mit ihr zu versuchen. Aber er konnte sich bisher nicht überwinden.

„Habt ihr gut geschlafen?“, versuchte das Mädchen es weiter, während sie Finn warmen, gewürzten Wein und etwas Brot mit Käse auftischte und dabei immer wieder wie aus Versehen seinen Arm streifte. Finn bemühte sich nach wie vor, freundlich zu ihr zu sein, während er sie sanft abwies. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre ihm so oder so nicht nach derartiger körperlicher Betätigung gewesen. Die Bemerkung seines Onkels, die er so nebensächlich hatte fallen lassen, beschäftigte ihn viel mehr. Er wusste, dass sein Vater nach wie vor hoffte, dass er einmal in seine Fußstapfen treten würde. Dabei wusste Finn bereits sehr sicher, dass er das niemals können würde. Seine Welt war hier. Mit Büchern und Zahlen kannte er sich aus, aber die Brutalität und Gewalttätigkeit seines Vaters und der Bande widerte ihn an. Colin wäre da der richtige Ansprechpartner und Finn war sich sicher, dass sein Onkel und sein Cousin diese Hoffnung ebenfalls hatten.

Bei all diesen Gedanken fiel es Finn schwer, sich auf die Zahlen zu konzentrieren und er entschied sich für einen Spaziergang, um den Kopf wieder freizubekommen. Als er aus dem Haus trat, bemerkte er, dass es schon relativ spät war. Dass er so lange über den Zahlen gehangen und sich gleichzeitig so sehr in seinen eigenen Gedanken verstrickt hatte, hatte er gar nicht bemerkt. Jetzt dämmerte es bereits und der kühle Herbstwind lies in frösteln. Er wanderte ein Stück am Fluss entlang und bog dann in eine der kleinen Gassen ab, um sich wieder auf den Heimweg zu machen. Wieder in Gedanken versunken, bemerkte er die drei Männer nicht, die sich am Rande der Gasse aufgebaut hatten, bis der Anführer ihm den Weg versperrte ...


Er hatte gerade den letzten Sack Getreide auf den Kahn seines Arbeitgebers geworfen und seinen Lohn eingestrichen. Von der harten Arbeit war er verschwitzt, aber jedes Mal, wenn er seine Muskeln spürte, wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war. Er hatte immer hart trainiert und sich nie vor körperlicher Arbeit gescheut, weil er wusste, dass er alle Kraft brauchen würde, um seinen Plan eines Tages durchzuziehen. Wut war es, die ihn jeden Tag aufs Neue antrieb, die ihn jeden Morgen zwang aufzustehen, um an seinem Plan zu arbeiten. Für etwas anderes lohnte es sich nicht zu leben.

Er strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als er Stimmengewirr aus einer der Nebengassen hörte. Erst zuckte er für sich mit den Schultern und wand sich ab. Nicht sein Problem. Dann hörte er einen erstickten Schmerzensschrei und hielt inne.

„Verdammt Lauri, ist nicht dein Problem!“, sagte er seufzend zu sich selbst, als er trotzdem einen Blick in die Gasse warf. Im Halbdunkeln konnte er drei Männer erkennen, die sich um einen schmalen Körper gruppiert hatten. Die gedämpften Stimmen bedrohten die Person in der Mitte ganz offensichtlich und Lauri verdrehte genervt die Augen, weil er eigentlich keine Lust hatte, sich einzumischen, aber wenn er etwas hasste, dann waren es solche ungleichen Kämpfe. Die Person in der Mitte lag bereits am Boden und die dunklen Flecken auf der hellen Kleidung machte Lauri sofort als Blut aus.

„Hey, was habt ihr für’n Problem!“

Im ersten Moment schauten die drei Männer überrascht auf, aber der scheinbare Anführer der Gruppe hob nur sein Messer für Lauri sichtbar vor seine Brust und erwiderte gelangweilt: „Das geht dich nen Scheiß an! Verpiss dich lieber, bevor wir uns dich als Nächstes vorknöpfen!“

Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, den jungen Mann durch die Präsentation seiner Waffe und die großen Worte einzuschüchtern, aber Lauri blieb ganz entspannt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich glaube, der Typ hat genug, also solltet ihr euch jetzt lieber verpissen!“

Überrascht ließen die Männer von ihrem Opfer ab, das sich sogleich an die schützende Häuserwand presste und mit angehaltenem Atem abwartete was nun passieren würde.

„Was hast du da grad gesagt?“, fragte der Anführer eisig und machte einige Schritte auf den Eindringling zu. Lauri blieb ungerührt stehen und wiederholte ruhig: „Ich sagte, ihr sollt euch verpissen!“

„Ich glaube, der Kerl will wirklich Ärger haben!“, sagte der Größte der Gruppe und ließ seine Fingerknöchel knacken, so dass das Opfer in der Ecke unwillkürlich zusammenzuckte.

Lauri spürte wie die Wut zurückkam und sich seine Muskeln wie von allein anspannten. Er hatte nicht übel Lust, diesen Kerlen eine rein zu hauen und wartete ruhig darauf, dass die Gruppe näher kam. Das eigentliche Opfer schien vergessen, aber der junge Mann rührte sich kein Stück, sondern starrte wie gebannt auf das Schauspiel. Die Angreifer schienen zwar etwas verunsichert, ob der Ruhe und Selbstsicherheit des Eindringlings, dennoch sprang der Anführer schließlich nach vorn und versuchte Lauri mit seinem Messer anzugreifen. Lauri hatte damit gerechnet und packte den Mann mit einer Hand am Handgelenk und mit der anderen Hand an der Schulter, während er geschickt auswich. Durch die leichte Drehung war es ganz einfach und der Anführer schrie erschrocken und vor Schmerzen auf, als sein Schultergelenk mit einem lauten Knacken heraussprang. Das Messer fiel ihm sofort aus der Hand und er sank mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie, während er seinen Kumpanen zubrüllte: „Nun packt euch doch dieses Schwein!“

Zögernd, und durch die überraschende Wendung verunsichert, kamen die beiden Männer nur langsam näher und warfen ihrem Anführer immer wieder fragende Blicke zu. Der größere und bulligere von beiden traute sich zuerst zuzuschlagen und lieferte sich mit Lauri, der zwar kleiner aber wendiger war, einen kurzen Faustkampf, bis er durch einen Faustschlag unters Kinn fürs Erste außer Gefecht gesetzt wurde. Der Dritte im Bunde hatte scheinbar genug gesehen und nahm die Beine in die Hand, um nicht auch mit Lauris Fäusten Bekanntschaft zu machen. Lauri warf nur einen kurzen Blick auf die beiden Übriggebliebenen, die sich langsam wieder aufrappelten, um sich ebenfalls aus dem Staub zu machen, und wand sich dann dem eigentlichen Opfer zu.

Der junge blonde Mann saß in der Ecke gekauert und starrte Lauri immer noch ungläubig an ohne sich zu rühren. Lauri betastete kurz seine Augenbraue, die beim Faustkampf aufgeplatzt war und wischte sich etwas Blut von der Unterlippe, während er einige Schritte auf das Opfer zu machte.

„Hey, alles in Ordnung?“, murmelte er und reichte dem Jungen die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Der Junge nickte kaum merklich und nahm zitternd die ihm angebotene Hand.

„Ich, ähm … ja … danke!“, war alles was er herausbrachte. Als sie so voreinander standen, konnte Lauri den Jungen zum ersten Mal richtig betrachten. Zerzauste blonde Haare, grüne aufgeweckte, wenn auch etwas verängstigte Augen. Der arme Kerl hat ganz schön was abbekommen, dachte Lauri bei sich, als er den Faustabdruck auf dem Wangenknochen entdeckte, der schon begann, sich violett zu färben. Auch die gerade, schmale Nase hatte einen Schlag einstecken müssen, aber Lauri sah sofort, dass der Junge Glück gehabt hatte und die Nase nicht gebrochen war. Dennoch tropfte nach wie vor Blut aus dem rechten Nasenloch und lief über die vollen, schön geschwungenen Lippen, so dass diese ein unnatürlich starkes Rot angenommen hatten. Die guten, hellen Kleider des jungen Mannes waren voller Schmutz und Blut und Lauri bemerkte eine Schnittwunde am rechten Arm, die ebenfalls noch weiter blutete, auch wenn sie nicht tief zu sein schien.

Eigentlich sieht er echt hübsch aus, dachte Lauri und schüttelte über diesen Gedanken kaum merklich den Kopf. Er wusste nicht warum er es tat, und innerlich schalt er sich einen Dummkopf, aber er entschloss sich, den jungen Mann erst mal mit zu sich nach Hause zu nehmen und seine Wunden zu versorgen, bevor er ihn nach Hause schicken würde.

„Komm mit!“, sagte er nur knapp und stützte den Jungen, während er ihn sanft in Richtung der Siedlung schob.

„Ich, aber … wo gehen wir hin?“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und Lauri merkte, wie sein Schützling sich leicht versteifte.

„Keine Panik! Aber deine Wunden sollten wir wohl versorgen!“, grummelte Lauri und zog den Jungen weiter mit sich. Gleichzeitig arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren, als er sich immer wieder selbst fragte, warum er den blonden, eingeschüchterten Jungen mit zu sich nehmen wollte. Ihm fiel jedoch keine sinnvolle Antwort ein und so zog er seinen Schützling einfach schweigend mit, bis sie die kleine Hütte am Rande der Siedlung erreicht hatten. Er stieß die Tür auf und zündete zuerst eine Lampe an. Als er sich umdrehte, stellte er überrascht fest, dass der junge Mann noch immer unschlüssig vor der Tür stand.

„Willst du was trinken?“, fragte er nur und kramte in der Truhe nach zwei Bechern. Langsam kam der Junge näher und stand schließlich etwas verloren in der Stube. Ab und zu wischte er sich mit dem Ärmel Blut von der Nase, traute sich aber scheinbar nicht, sich zu setzen. Lauri seufzte leise und holte etwas Wein und etwas Wasser zum Säubern der Verletzungen.

„Setz dich dahin!“, dabei deutete er auf einen der Hocker und stellte dem Jungen einen Becher mit Wein hin. Ohne zu antworten, nahm der blonde Junge Platz und beobachtete seinen Gastgeber vorsichtig. Lauri setzte sich ihm gegenüber und wollte grade mit einem feuchten Tuch beginnen seinem Gast das Blut aus dem Gesicht zu wischen, als dieser zurückzuckte. Überrascht hielt Lauri inne und sah seinen Schützling fragend an.

„Warum hast du mir geholfen?“, fragte der Junge schließlich mit weit gefassterer Stimme als zuvor. Lauri seufzte und begann mit der Säuberung.

„Wenn ich das wüsste … keine Ahnung! Ich fand‘s halt nicht fair, was da abging! Drei gegen einen …“

„Autsch … Aber … du hast dich ja selbst in Gefahr gebracht und du kennst mich nicht mal! Die Kerle hätten dich fertigmachen können!“

„Haben sie aber nicht, mh?!“ Lauri presste die Lippen aufeinander, arbeitete konzentriert weiter und fragte sich abermals, warum er den Jungen mitgenommen hatte.

„Zumindest hast du auch was abbekommen …“ erwiderte der Blonde und strich vorsichtig über die aufgeplatzte Augenbraue seines Retters. Das brachte Lauri für einen kurzen Moment aus der Fassung. Aber der Junge zog seine Hand sofort zurück und wenn es nicht so schummrig im Raum gewesen wäre, hätte Lauri vielleicht eine leichte Rötung auf den blassen Wangen seines Gastes erkennen können.

„Ich hole neues Wasser“, teilte er knapp mit und stand ruckartig auf. Draußen kippte er das blutige Wasser aus und schöpfte frisches Wasser aus dem Regenfass. Nach kurzem Zögern steckte er seinen Kopf komplett ins Wasser und genoss die Kühle, die sein erhitztes Gemüt wieder etwas beruhigte.

„Was machst du hier eigentlich?“, fragte er sich selbst, als er seine dunklen Locken ausschüttelte und mit dem frischen Wasser wieder in die Stube trat.


Irgendwie war das alles ein bisschen zu viel für einen Tag. Finn stützte seinen Kopf auf die linke Hand und atmete tief durch. Erst die Nachricht seines Vaters, dann der Überfall und jetzt das hier. Der junge Mann schien ihm zwar freundlich gesinnt, aber dennoch war er misstrauisch gewesen, als dieser ihn einfach mit in die Siedlung gezerrt hatte. Warum war er überhaupt mitgegangen? Gut, der dunkelhaarige, kräftige Junge war sicher deutlich stärker als er, aber Finn war sich sicher, dass er ihn nicht gezwungen hätte mitzukommen, wenn Finn deutlich gemacht hätte, dass er nicht will. Sein rechter Arm pochte schmerzhaft und holte ihn wieder zurück in die Gegenwart. Er warf einen Blick auf den blutverschmierten Ärmel und spürte, wie die Übelkeit in ihm hochstieg.

In diesem Moment stieß sein Retter die Tür auf und kam mit frischem Wasser zurück. Von seinen dichten Locken tropfte Wasser auf das Leinenhemd, das daraufhin auf der Haut des jungen Mannes klebte. Finn schluckte und schaute erschrocken zurück auf seinen Arm. Hatte er seinen Retter wirklich gerade so blöd angestarrt?

„Das ist nur der Schock“, redete er sich in Gedanken selbst ein. Dennoch hielt er kurz die Luft an, als der Junge ihm gegenüber wieder Platz nahm.

„Mh … wie heißt du eigentlich? Ich weiß ja nicht mal, wem ich dankbar sein muss!“

„Du musst mir nicht dankbar sein!“, erwiderte der Lockenkopf sofort und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: „Aber meine Name ist Lauri …“

Lauri … das kam Finn irgendwie bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, wo er den Namen schon mal gehört hatte.

„Ähm, ja trotzdem Danke … Lauri! … Ich, ich heiße Finn“, stammelte der Verletzte.

„Mh! Zieh das Hemd aus!“, wies Lauri ihn ungerührt an.

„Was?!“

Lauri deutete auf den blutverschmierten Oberarm.

Finn versuchte seinen Atem ruhig zu halten und hoffte, dass Lauri nicht sehen würde, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, während er langsam sein Hemd aufknöpfte.

„Was geht hier eigentlich vor sich?“, fuhr es ihm durch den Kopf. Und er wünschte sich er könnte seinen Kopf auch für einen kurzen Moment in kühles Wasser tauchen, so wie sein Gegenüber es offensichtlich eben getan hatte.

„Autsch!“

Der Schmerz, als Lauri so vorsichtig wie möglich versuchte den angetrockneten Stoff von der Wunde zu entfernen, brachte Finn wieder auf den Boden zurück.

„Die Wunde ist nicht tief, aber wir sollten sie gut reinigen, sonst könnte sich was entzünden.“ Lauri arbeitet konzentriert weiter und bemerkte nicht, wie Finn immer blasser wurde, bis er sich schließlich kaum mehr halten konnte.

„Hey … alles in Ordnung?“, überrascht lies Lauri das feuchte Tuch sinken und fing Finn gerade noch rechtzeitig auf, bevor dieser unsanft mit dem Kopf auf die Tischplatte gefallen wäre.

„Ich … also … ich … weiß nicht …“ Finn stammelte unzusammenhängend vor sich hin und, obwohl er sich total benebelt fühlte, schämte er sich, weil er so sinnlos vor sich hin brabbelte.

„War wohl ein bisschen viel heute, was?“ Lauri konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er Finn stützte und zum Strohsack in der Ecke schob, damit er sich wieder erholen konnte. „Ich … es … tut mir leid! Ich weiß auch nicht …“ Finn legte sich beschämt eine Hand über die Augen, um Lauri nicht ins Gesicht sehen zu müssen.

„Oh, Mann, der muss dich doch für nen absoluten Volltrottel halten“, fuhr es Finn durch den Kopf und gleichzeitig wurde er wütend auf sich selbst, weil er sich fragte, warum er sich überhaupt Gedanken darüber machte, was dieser fremde Kerl über ihn denken könnte. Aber Lauri ließ sich nichts anmerken, sondern machte sich weiter an Finns Arm zu schaffen. Säuberte die Wunde, riss einen Streifen des Hemdes ab und verband damit die Verletzung.

Finn lag noch eine Weile mit geschlossenen Augen da, während Lauri an die Tür getreten war und etwas frische Luft in den engen Raum lies.

„Die Ausgangssperre hat bereits begonnen …“, sagte er tonlos. Finn setzte sich überrascht auf. So spät war es schon. Dann konnte er nicht mehr nach Hause. Unschlüssig blieb er auf dem Strohbett sitzen und überlegte. Lauri warf nur einen kurzen Blick über die Schulter. „Natürlich kannst du hier bleiben! Wenn die Wächter dich um diese Zeit draußen erwischen, kann ich dir auch nicht weiterhelfen.“

Finn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Einerseits wusste er, dass er keine andere Wahl hatte, aber etwas unwohl war ihm bei dem Gedanken schon, die Nacht bei einem Fremden verbringen zu müssen, auch wenn dieser ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Trotzdem merkte er plötzlich wie müde er wirklich war. Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten. Wortlos ließ er sich wieder auf die Decke sinken und schloss dankbar die Augen. Es dauerte nicht lange, bis der Schlaf ihn übermannte.

… Die Augen … schon wieder! Finn fuhr mit einem Schrei hoch. Warum träumte er nur immer wieder denselben Albtraum?

„Du hast nur schlecht geträumt!“, vernahm er aus der Ecke des Raumes und für einen Moment war er verwirrt, weil es nicht die gehässige Stimme seines Cousins war. Er brauchte einen Augenblick, um sich in der unbekannten Stube zu orientieren. Richtig … Der Überfall und der dunkelgelockte junge Mann, der ihm vielleicht das Leben gerettet hatte. Schwerfällig erhob Finn sich von seinem Lager und setzte sich zu Lauri an den Tisch.

„War wohl ein bisschen viel für dich, was?“, grinste Lauri distanziert. Finn schüttelte erschöpft den Kopf.

„Nein, dieser Traum hat nichts mit gestern zu tun! Diesen Traum habe ich schon lange und er kommt immer wieder!“ Da Lauri im Schatten der Lampe saß, konnte Finn sein Gesicht kaum erkennen, aber er nahm das kurze Nicken wahr.

„Und warum schläfst du nicht?“

„Gewohnheit!“, war die knappe Antwort und Finn spürte, dass er keine genauere Antwort bekommen würde.


Er hatte den blonden Jungen im Schlaf beobachtet. Schon kurz nachdem er eingeschlafen war, hatte er sich unruhig hin und her geworfen und leise vor sich hingemurmelt. Lauri hatte schon lange nicht mehr in Gesellschaft eines anderen Menschen geschlafen und, auch wenn er selbst die Anwesenheit seines Gastes forciert hatte, fühlte er sich unwohl bei dem Gedanken die Augen zu schließen. Also saß er am Tisch, leerte nach und nach seinen Becher mit verdünntem Wein und betrachtete seinen Schützling. Der schlanke junge Mann wirkte jünger als er vermutlich war. Lauri schätzte ihn auf 17 oder 18 Jahre, also kaum jünger als er selbst. Die Kleidung wies darauf hin, dass er zumindest aus besseren Kreisen stammte, als Lauri selbst und auch Finns körperliche Verfassung ließ darauf schließen, dass er wohl eher keiner harten Arbeit nachging. Vielleicht ein Schreiber, oder einfach nur ein verwöhntes Söhnchen aus reichem Hause, mutmaßte Lauri und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Becher. Nach wie vor fragte er sich, warum er sich in der Gasse überhaupt eingemischt hatte und vor allem, warum er den gutaussehenden schüchternen Jungen mitgenommen hatte. Er konnte von sich nicht unbedingt behaupten, ein geselliger Mensch zu sein. Soviel wie an diesem Abend hatte er schon lange nicht mehr mit einer anderen Person gesprochen. Normalerweise ging er Menschen aus dem Weg, da er sowieso nur ein Ziel hatte und seinen Plan strikt verfolgte. Also was hatte ihn geritten, heute nach der Arbeit nicht einfach nach Hause zu gehen?

Plötzlich zog Finn wieder Lauris Aufmerksamkeit auf sich. Er schien jetzt wirklich einen schlechten Traum zu haben, denn er warf sich immer heftiger hin und her, zuckte und stammelte vor sich hin. Einen kurzen Moment überlegte Lauri, ob er seinen Gast wecken sollte, um ihn von diesem Dämon zu befreien, aber im nächsten Augenblick schreckte Finn mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch und blickte sich verwirrt um. Wahrscheinlich hatte er kurzzeitig vergessen, wo er war.

„Du hast nur schlecht geträumt!“, sagte Lauri sanft, um seinen Gast nicht noch mehr zu erschrecken. Trotzdem wirkte Finn noch immer überrascht und sah sich nervös in der Stube um. Mit einem Seufzen erhob er sich schließlich und tapste zu Lauri an den Tisch.

„War wohl ein bisschen viel für dich, was?“

So einen aufregenden Tag hatte der feine Kerl wahrscheinlich lange nicht erlebt. Aber Finn schüttelte müde den Kopf, als er sich auf den freien Hocker fallen ließ.

„Nein, dieser Traum hat nichts mit gestern zu tun! Diesen Traum habe ich schon lange und er kommt immer wieder!“ Lauri runzelte die Stirn und fragte sich, was der junge Mann wohl so Schlimmes erlebt haben konnte, was ihn seit Jahren nicht los ließ. Dabei spürte er einen kurzen schmerzhaften Stich in der Brust, als er in Gedanken seine eigene Vergangenheit streifte.

„Und warum schläfst du nicht?“, die Frage holte ihn zum Glück schnell wieder zurück. „Gewohnheit!“, antwortete er kühl. Schnell stand er auf und holte den Krug mit Wein, nur um irgendetwas zu tun. Als er seinem Gast einen Becher mit verdünntem Wein reichte, bemerkte er, dass die Schwellung unter Finns rechtem Auge nun eine bläulich-violette Färbung angenommen hatte. Sein Blick wanderte weiter nach oben und traf auf die neugierig fragenden Augen seines Schützlings.

„Was für lange Wimpern er hat“, schoss es Lauri durch den Kopf und sofort darauf schüttelte er kaum merklich den Kopf ob dieses Gedankens.

„Danke!“ Finn nahm den Becher entgegen und leerte ihn fast in einem Zug. Einen kurzen Augenblick beobachtete Lauri gebannt seinen Gast, der die letzten Tropfen des Getränks von den Lippen wischte. Gleichzeitig fühlte er sich ertappt und drehte sich schnell um, als hätte er bei etwas Ungehörigem zugesehen. Finn schien jedoch nichts bemerkt zu haben. Er stellte den Becher ab, stand auf und stellte sich neben Lauri, der zur offenen Tür gewandert war.

„Es wird bald hell! Sicher wirst du zu Hause schon erwartet!“

Lauri konnte sich einen leicht spöttischen Unterton nicht verkneifen. Finn überhörte dies jedoch und schüttelte nur seufzend den Kopf.

„Ich denke nicht, dass dort jemand auf mich wartet. Ich wohne bei meinem Onkel und ich glaube nicht, dass der sich Sorgen um mich machen würde.“ Lauri zuckte zu dieser Information nur mit den Schultern, aber Finn sprach weiter.

„Ich habe sehr lange bei meinem Onkel gelebt, aber nächsten Monat werde ich zurück zu meinem Vater nach Wessington Forrest gehen!“

Wäre Finn ausgeschlafen und wachsam gewesen, hätte er vielleicht bemerkt, wie Lauri bei diesem Satz leicht zusammengezuckt war. Wessington Forrest! Die Erinnerungen waren sofort wieder da. Lauri wunderte sich, dass der fremde Junge so redselig war. In bestimmten Kreisen wusste man sehr wohl, welche Geschäfte sich in diesem Wald abspielten. Lauris Puls beschleunigte sich und er musste sich bemühen ruhig zu atmen, um seine Aufregung nicht zu verraten.

„Wessington Forrest!?“ Sollte das Glück ihm heute doch einmal zuspielen? War das der Grund gewesen, warum alles so gekommen war? Würde dieser gesprächige, blonde junge Mann ihm seinem Ziel einen Schritt näher bringen, ohne es zu wissen?

Finn sah Lauri einen Moment mit hochgezogener Augenbraue an. Hatte er doch etwas gemerkt? Lauris Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Wie könnte er es geschickt anstellen? Finns Vater schien aller Wahrscheinlichkeit nach zu dieser Bande zu gehören. Zu diesen miesen Schweinen, die seinen Vater getötet hatten. Dieser Kontakt war einfach zu wichtig, um ihn ungenutzt zu lassen.


Finn fragte sich gerade, ob er wohlmöglich Zuviel erzählt hatte. Der Wald bei Wessington war sicherlich dem ein oder anderen ein Begriff. Wusste der dunkelhaarige Junge genug? Finn hatte gespürt wie sich Lauris Tonfall minimal verändert hatte. Vielleicht sollte er mit weiteren Informationen vorsichtiger sein. Er räusperte sich.

„Äh … ja! Kennst du die Gegend?“

„Nein!“, kam es prompt zurück. Ein bisschen zu schnell vielleicht. Finn betrachtete das Gesicht seines Gastgebers verstohlen aus dem Augenwinkel.

„Vielleicht kommst du ja irgendwann mal dorthin …“, versuchte er es vorsichtig und wachsam zugleich. „Es gibt dort ein paar wirklich schöne Ecken!“

Lauri schien einen Moment zu zögern, bevor er antwortete.

„Um ehrlich zu sein, habe ich schon seit Längerem geplant, mal einen Besuch im Wessington Forrest zu machen …“ Finn nickte überrascht. Er wurde das Gefühl nicht los, dass beide genau wussten, wovon die Rede war, sich aber nicht trauten, offen darüber zu sprechen, weil die Konsequenzen weitreichend sein könnten.

„Vielleicht möchtest du mich begleiten, nächsten Monat?“ Finn beobachtete Lauri jetzt ganz offen und mit wachsamen Augen. Lauri schien wieder zu überlegen, bevor er ruhig antwortete. „Ja, vielleicht … Ich habe gehört, dass dort starke Männer gute Aussichten auf eine lohnende Arbeit haben …“ Finn nickte. Die Beschreibung passte. Verstohlen ließ er seinen Blick über die gesamte Statur seines Retters wandern. Er war etwa genauso groß wie Finn, dabei aber weit kräftiger gebaut. Unter dem Leinenhemd konnte man deutlich die Muskeln erkennen, die Lauri angespannt hatte. Dennoch war er lange nicht so wuchtig wie einige der Männer aus der Bande von Finns Vater, sondern schlank und wendig, was er heute Abend bereits unter Beweis gestellt hatte. Wenn Finn die vorsichtigen Antworten seines Gegenübers richtig gedeutet hatte, schien Lauri darüber nachzudenken, sich der Bande anzuschließen und Luca wäre sicher erfreut über eine solche Unterstützung. Von seinem eigenen Sohn würde er sicher enttäuscht sein, fuhr es Finn schmerzhaft durch den Kopf. Im Vergleich zu anderen jungen Männern seines Alters war er geradezu schmächtig und schwach. Luca hatte sicher gehofft, dass in der Stadt doch noch etwas aus seinem viel zu weichen Sohn werden würde, aber Finn hatte immer gewusst, dass er die Erwartungen seines Vaters niemals würde erfüllen können. Fast war er ein bisschen neidisch auf Lauri. Gleichzeitig begann er sich zu wünschen, dass der fremde junge Mann wirklich mitkommen würde. Eine angenehmere Wegbegleitung als Colin wäre Lauri allemal. Auch wenn ihn die Vorstellung ein wenig ängstigte, dass Lauri genauso ein brutaler Schlägertyp sein könnte wie Genzos Truppe. Das konnte er sich jedoch kaum vorstellen.

Als die ersten Sonnenstrahlen den Horizont in rötliches Licht tauchten, bedankte Finn sich für die Gastfreundschaft und die Hilfe des schweigsamen jungen Mannes. Er teilte Lauri mit, wann er Finn und Colin treffen könnte, sollte er sich dafür entscheiden mit den beiden nach Wessington zu reisen und machte sich auf den Heimweg. Lauri stand nachdenklich an der Tür der kleinen Hütte und sah ihm nach, bevor er sich kurzerhand auf den Weg zur Arbeit am Fluss machte.


Obwohl er die kleine Hütte wieder für sich hatte, fiel es Lauri dennoch schwer in den folgenden Nächten genug Schlaf zu finden. Zu groß war die Aufregung. Endlich kam er seinem Ziel ein ganzes Stück näher. Mit Finn nach Wessington zu reisen, war das Beste, was ihm passieren konnte. Sich alleine in den Wald zu begeben, wäre um einiges gefährlicher gewesen. Aber in Begleitung von Finn und dessen Cousin war er sicher. Der Wunsch nach Rache wurde fast unerträglich und brannte in seiner Brust wie Feuer. Aber bald, so bald … Lange musste er sich sicher nicht mehr gedulden.

Sicher war es Schicksal gewesen, dass er dem schwächlichen Jungen an diesem Abend geholfen hatte. Unter normalen Umständen hätte er sicher nicht so gehandelt, aber ab jetzt war das Glück auf seiner Seite und er würde Genzo und dem Anführer der ganzen Truppe heimzahlen, was sie seinem Vater angetan hatten.

Immer wieder musste Lauri sich selbst zur Ruhe ermahnen. Er durfte natürlich nicht auffallen und musste sich erst in der Gruppe einleben, bevor er endgültig zuschlagen konnte.

Verbissen trainierte er daher auch noch nach der harten Arbeit, bis jeder Muskel seines Körpers schmerzte.

In seltenen Momenten verschwendete er den ein oder anderen Gedanken an Finn und wunderte sich jedes Mal aufs Neue, dass der blonde Junge ihm immer wieder in den Sinn kam. Er wischte dann jedoch jeden Gedanken beiseite, indem er sich einredete, dass er nur froh darüber war, dass Finn ihm diese Chance ermöglicht hatte, ohne es zu wissen.


Schließlich war es endlich soweit und der Tag brach an, an dem Lauri sich endlich auf den Weg machen würde seinen Vater zu rächen.

Sie hatten sich an der Weggabelung außerhalb des Stadttores verabredet und Lauri wunderte es nicht, Finn und dessen Cousin auf zwei kräftigen Pferden anzutreffen. Er selbst besaß natürlich kein Pferd, aber er hatte sich bereits darauf eingestellt, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Der abschätzige Gesichtsausdruck von Finns Cousin entging ihm nicht, als er auf die beiden zukam, aber genauso wenig war Finns offensichtliche Freude über das erneute Aufeinandertreffen zu übersehen. Die Schwellung unter dem Auge war bereits völlig verschwunden, geblieben war nur der grünliche Rand des Blutergusses. Beim Licht des anbrechenden Tages fiel Lauri auf, dass Finn eigentlich wirklich ein hübscher junger Mann war. Das blonde Haar, das in etwa die Farbe von frischem Korn hatte, glänzte in der Sonne und fiel ihm wirr über die leuchtenden grünen Augen, so dass er es immer wieder mit der Hand zur Seite streichen musste.

Noch bevor Finn den Neuankömmling begrüßen konnte, fauchte dessen Cousin: „Ich habe nicht vor, erst in zwei Tagen in Wessington anzukommen! Ich kann auf Fußvolk keine Rücksicht nehmen!“ Mit diesen Worten gab er seinem Hengst die Sporen und trieb das Tier übertrieben schnell über die Landstraße, so dass er bald schon aus dem Sichtfeld der beiden jungen Männer verschwunden war.


Beschämt über das Verhalten seines Cousins, stieg Finn mit rotem Kopf von seinem Reittier ab. „Es macht mir nichts aus, auch ein Stück zu Fuß zu gehen!“

Lauri quittierte diese Aussage nur mit einem kurzen Kopfnicken und so trotteten beide die staubige Straße entlang. Finn hatte sich wirklich gefreut, Lauri an diesem Morgen zu sehen. Insgeheim hatte er gefürchtet, der schweigsame junge Mann würde nicht zum vereinbarten Treffpunkt kommen. Aber als er die dunklen Locken an der Stadtmauer gesehen hatte, war ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Er wusste selbst nicht warum, aber die Anwesenheit des kräftigen Jungen beruhigte ihn und fühlte sich auf seltsame Weise gut an. Manchmal hatte er sich gefragt, ob diese Tatsache ein Grund war sich zu schämen. Aber er versuchte diesen dummen Gedanken jedes Mal genauso schnell zu verdrängen, wie er gekommen war. Er war Lauri einfach nur dankbar für die Hilfe, die ihn wahrscheinlich davor bewahrt hatte, mit aufgeschlitzter Kehle irgendwo in der Gosse zu landen.

Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Aber das fühlte sich nicht unangenehm an. Ab und zu warf er einen verstohlenen Blick auf seinen Begleiter und musterte bewundernd die fließenden Bewegungen, die ihm schon bei der Schlägerei in der Gasse aufgefallen waren.

„Wie eine Katze“, kam es Finn in den Sinn und er musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass Lauri wahrscheinlich auch genau so ein Einzelgänger war. Er sprach nicht viel und wenn, dann schien es immer wohl überlegt. Im Gegensatz zu Colin, der viel erzählte, auch wenn es nichts zu erzählen gab. Am Nachmittag machten sie eine kurze Rast und nahmen etwas Brot mit geräuchertem Schinken zu sich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie den Wald erreichen würden und Finn kam es so vor, als wäre auch Lauri immer angespannter. Finn verband mit dem Wald nicht nur schlechte Erfahrungen. Seine frühe Kindheit war eigentlich recht glücklich verlaufen. Bis zu dem Winter, in dem seine Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war. Er war fast 5 zu dieser Zeit und sein Vater war offensichtlich der Meinung, dass er den Jungen lange genug in der fürsorglichen Obhut der sanften Mutter gelassen hatte. Er nahm Finn hart ran, ließ in arbeiten, aber hielt ihn dennoch so gut es eben ging von der Bande fern. Nicht selten hatte Finn eine Tracht Prügel einstecken müssen, wenn er die Aufgaben seines Vaters nicht zufriedenstellend erledigt hatte, was oft der Fall war. Aber alles war erträglich gewesen bis zu jener Nacht. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken daran zu verscheuchen. Was ihn jetzt erwartete. nach über 10 Jahren, konnte er nur erahnen. Es schauderte ihn beim Gedanken daran, dass er die Erwartungen seines Vaters auch jetzt nicht erfüllen konnte.

Am frühen Abend erreichten sie Wessington Forrest und Finn versuchte sich an den genauen Weg durch das Dickicht zu erinnern, der zum Lager führte. Er machte sich jedoch keine Sorgen, denn früher oder später, würden Luca’s Männer die Jungen finden. Ihnen blieb im Wald so lange nichts verborgen.

Für Ende Oktober war es überraschend mild und obwohl Finn einen Kloß im Hals verspürte, stellte sich gleichzeitig ein seltsames Gefühl von Nach-Hause-Kommen ein, dass sein Herz schneller schlagen ließ.

Das Lager hatte sich kaum verändert. Die große Hütte und die beiden Baracken im Süden, in der Mitte der Platz mit dem Lagerfeuer. Finn erkannte nicht alle Gesichter wieder, aber die Männer schienen dennoch zu wissen, wer ihnen entgegenkam und nickten den beiden Neuankömmlingen nur kurz zu, bevor sie sich wieder ihren Aufgaben zuwendeten.

Luca stand an der Tür der Hütte, neben ihm Colin, der ihm etwas zuflüsterte, um Finn gleich danach wieder hämisch anzugrinsen. Wahrscheinlich hatte er schon auf die Ankunft seines Sohnes gewartet.

„Er ist alt geworden!“, kam es Finn in den Sinn, als er seinen Vater betrachtete. Das Haar war dünner geworden, von grauen Strähnen durchzogen. Die Augen lagen tief unter den buschigen Augenbrauen und das Gesicht wirkte eingefallen. Aber dadurch wirkte er für seinen Sohn nicht weniger bedrohlich.

„Vater!?“, Finn deutete ein Kopfnicken an. Plötzlich klärte sich das abweisende Gesicht für einen Moment etwas auf und Luca trat seinem Sohn lächelnd entgegen. Er umarmte ihn wie einen alten Freund und klopfte ihm so kräftig auf die Schulter, dass Finn fast das Gleichgewicht verloren hätte, was Colin erneut ein gehässiges Grinsen entlockte.


Für einen kurzen Moment brachte Lauri die Erkenntnis aus dem Konzept und er musste sich beherrschen, um sich nicht zu verraten. Finns Vater gehörte nicht nur zur Bande dazu, er war sogar ihr Anführer. Aber das würde die Sache nicht komplizierter machen, als sie sowieso schon war. Vielleicht wäre das sogar ein Vorteil. Der blonde Junge schien Lauri ja zu mögen und vielleicht würde es ihm möglich sein, über den Sohn an den Vater heranzukommen.

Er merkte wie er unbewusst seine Hände zu Fäusten geballt hatte und versuchte sofort sich zu entspannen, um die Aufmerksamkeit nicht unnötig auf sich zu ziehen.

Der restliche Abend plätscherte vor sich hin. Luca nahm ihn lediglich zur Kenntnis und wies ihn an, sich im Lager nützlich zu machen, bevor er mit seinem Sohn und seinem Neffen in der Hütte verschwand. Also wanderte Lauri zunächst das Gelände ab und verschaffte sich einen groben Überblick. Die Hütte mit dem Vorplatz und dem Feuer bildete das Zentrum des Lagers. Im Süden standen zwei kleinere Baracken, die seiner eigenen Hütte recht ähnlich sahen. Eines von beiden schien jedoch ein Vorratsraum zu sein. Die andere Stube diente den etwas höher gestellten Mitgliedern der Bande als Schlafraum. Der Rest musste sich mit einem Platz am Lagerfeuer zufriedengeben. Hinter der größeren Hütte stellten die Männer ihre Pferde ab und am Rande der Lichtung deutete leises Plätschern auf eine Quelle frischen Wassers hin. Es gab mehrere Trampelpfade, die von der Lichtung in südlicher und westlicher Richtung wegführten. Wohin, würde er früher oder später auch herausfinden.

Nachdem er sich so einen Plan des Lagers verschafft hatte, half er beim Holz hacken und die Arbeit tat ihm gut. Sie half den Kopf freizubekommen und die nächsten Schritte zu planen. Zuerst musste er die genaue Rangordnung innerhalb der Gruppe evaluieren und sich einen Überblick über den Tagesablauf im Lager verschaffen. Dann würde er weitersehen.

Vor Anspannung war es ihm erst schwergefallen einzuschlafen, aber nach einiger Zeit konnte er die Augen nicht mehr offen halten und war doch eingenickt. Schläfrig hörte er Stimmengewirr und Lachen, Schritte von Menschen und Pferden, die scheinbar gerade von einem Raubzug zurückgekehrt waren. Nichtsahnend wickelte er sich enger in die Wolldecke, da die Nächte noch äußert frisch waren und drehte sich auf die andere Seite, als er plötzlich von starken Händen gepackt und hochgerissen wurde.

Panik stieg in ihm auf. Konnte es sein, dass er sich irgendwie verraten hatte? Hatte ihn doch jemand erkannt? Aber obwohl die Behandlung grob war, registrierte er schnell, dass es hier um etwas anderes gehen musste. Die lachenden Männer standen im Kreis um das Lagerfeuer und Lauri entdeckte auch schnell Luca mit Finn und Colin. Die beiden Jungen sahen ebenfalls ziemlich verunsichert aus, so als hätte man sie eben erst aus dem Schlaf gerissen. Luca hielt sich vornehm zurück und betrachtete das Spektakel mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Stattdessen übernahm ein feister, stinkender Mann, den Lauri sofort wiedererkannte, das Wort. Da er sich unwillkürlich anspannte, packten auch die Männer rechts und links von ihm wieder fester zu, als fürchteten sie der Junge würde sich losreißen. Überrascht stellte er fest, dass auch neben Finn und Colin Männer standen, um sie notfalls am Weglaufen zu hindern. Was war hier los?

„Wir haben also ein paar Frischlinge dazubekommen!“, grunzte Genzo und die restlichen Männer grölten voller Vorfreude darauf, was nun passieren würde.

„Wie es Brauch ist hier im Wessington Forrest, müssen wir natürlich sicher sein, dass ihr euch uns aus freien Stücken anschließen wollt …“ Er grinste Lauri fies an und entblößte dabei seine fauligen Zähne, die der Junge noch bestens in Erinnerung hatte.

„Um eure Loyalität auf die Probe zu stellen und um euch fest an uns zu binden, müssen wir euch natürlich einem Test unterziehen …“

Die Männer lachten wieder und johlten als Genzo einen Schritt zur Seite trat und den Blick auf das Lagerfeuer freigab, vor dem einer der Männer saß und einen glühenden Schürhaken ins Feuer hielt. Lauris Puls beschleunigte sich und er sah wie sowohl Finn als auch Colin blass geworden waren. Der Griff seiner beiden Bewacher wurde noch fester. Genzo wickelte sich ein schmutziges Tuch um die Hand und nahm dem Handlanger am Feuer den Schürhaken ab. Er zog ihn aus den Flammen und nun konnte Lauri erkennen, dass sich am glühenden Ende ein Brandzeichen befand, wie man es Weidetieren ins Fell brannte, um sie als Eigentum zu markieren.

„Na, wer möchte anfangen? – Du vielleicht?“ Genzo stand so nah vor Lauri, dass dessen fauliger Gestank ihm Übelkeit verursachte, aber er schwor sich keine Schwäche zu zeigen vor diesem Mann, der seinen Vater getötet hatte. Also presste er nur die Lippen aufeinander und starrte zurück. Dass Genzo keine Angst in Lauris klaren blauen Augen erkennen konnte, machte ihn wütend und so zischte er seinen Männern nur etwas zu, worauf hin diese Lauris Hemd am Kragen aufrissen, so dass seine nackte Brust zum Vorschein kam.

„Haltet ihn fest!“, raunzte er, bevor er das glühende Brandzeichen mit einem Zischen auf Lauris Haut presste. Schlimmere körperliche Schmerzen hatte der Junge noch nie in seinem Leben gespürt. Die Stelle auf seiner Brust brannte wie kaltes Feuer und der Gestank von verbrannten Haaren und Haut raubte ihm fast den Verstand. Da Genzo ihn aber nach wie vor mit seinen Schweinsäuglein fixierte, erlaubte er sich keine Schwäche, so dass er die Luft anhielt und nur schwach zitterte, bis der sadistische Handlanger das Eisen von seiner Brust nahm. Lauri riskierte einen kurzen Blick auf die Brandwunde und konnte dabei grob eine Schlange erkennen, die sich um einen Stern schlängelte und sich dann selbst in den Schwanz biss. „Wie passend…“, fuhr es Lauri nur durch den Kopf, als er sich unsanft von seinen Bewachern losmachte, die ihn jetzt frei ließen und dabei dreckig lachten.

Als er auf die andere Seite des Feuers rüber sah, vernahm er ein kurzes Kopfnicken von Luca, dass er als Anerkennung interpretieren konnte. Genzo hatte sich mit dem Schürhaken, den er zwischenzeitlich erneut ins Feuer gehalten hatte, bereits umgewandt und trat auf Finn und Colin zu, die beide aussahen, als würden sie gleich in Ohnmacht fallen. Bei dem Gedanken, dass Genzo gleich die Haut des zurückhaltenden Finn verbrennen würde, stieg erneut Wut in ihm auf und der eigene Schmerz ließ augenblicklich nach. Luca beobachtete seine beiden Schützlinge sehr genau und Lauri hatte das Gefühl Missbilligung über die offen gezeigte Angst in seinem Blick lesen zu können. Finn warf Lauri einen hilfesuchenden Blick zu. Aber was konnte er schon tun, außer ihm aufmunternd zuzunicken. Finn schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, als Genzo das Eisen mit dem ekelhaft zischenden Geräusch auf seine Brust drückte. Dennoch konnte er ein Aufstöhnen nicht unterdrücken, was einige der Männer zum Lachen brachte. Danach wirkte Finn nur noch erschöpft und Lauri hoffte fast, dass Finns Bewacher ihn noch einen Moment festhalten würden, damit er nicht zusammenbrechen würde. Aber irgendwie schaffte Finn es auch so, sich auf den Beinen zu halten. Colin stellte sich als die größte Memme heraus. Ihm liefen die Tränen bereits übers Gesicht als Genzo das Brandzeichen noch in den Flammen aufheizte und er wimmerte leise, obwohl man ihm anmerkte, dass er seinen Onkel nicht enttäuschen und vor allem nicht schlechter als sein Cousin wegkommen wollte.

Nachdem die abartige Prozedur ein Ende gefunden hatte, verkündete Luca feierlich, dass die drei jungen Männer damit unwiderruflich in die Bande aufgenommen worden waren und die schaulustigen Mitglieder der Gruppe verstreuten sich, um in dieser Nacht doch noch ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Die Brandwunde schmerzte und spannte so unangenehm, dass Lauri sich dafür entschied, das Hemd ganz auszuziehen, so dass der kühle Wind vielleicht etwas Abhilfe schaffen konnte. In diesem Moment war er froh, dass er nur einen Platz am Feuer zugewiesen bekommen hatte und sich nicht mit vielen Männern einen Platz in der stickigen Baracke teilen zu müssen.

Seine Gedanken kreisten immer wieder nur um seinen Wunsch nach Rache und die Wut auf Luca, Genzo und den Rest der Bande, dass es ihm wieder schwer fiel einzuschlafen. Kurz bevor er dennoch einnickte, kam ihm der Anblick von Finns entblößtem Oberkörper in den Sinn, als Genzo ihm das Brandzeichen verpasst hatte. Dass er den unbändigen Wunsch verspürt hatte, dem Sohn seines Erzfeindes zu helfen, verwirrte ihn und bescherte ihm einige noch verwirrendere Träume.


Die nächsten Tage zogen nur langsam dahin. Colin biederte sich auf ekelhafte Weise bei Luca an und nutzte jede Gelegenheit, um Finn vor seinem Vater schlecht zu machen. Das perverse Aufnahmeritual der Bande saß Finn noch immer in den Knochen und jedes Mal, wenn die Stelle auf seiner rechten Brust brannte, kam ihm Lauri in den Sinn, der nur kaum merklich gezittert hatte, als Genzo das glühende Eisen auf seine Haut gepresst hatte. Wie konnte ein Mensch nur so viel Selbstbeherrschung aufbringen? Gleichzeitig spürte er in letzter Zeit immer häufiger ein merkwürdiges Ziehen im Bauch, wenn er an den dunkelhaarigen Jungen dachte und er sehnte sich danach, wieder in dessen Nähe zu sein.

Die ganzen ersten Tage hatte Luca Colin und Finn jedoch von der Gruppe abgeschottet und sie mit Fragen nach Colins Vater und dem Leben in der Stadt gelangweilt. An diesem Morgen war er daher froh so früh wach zu sein, dass aus dem Zimmer seines Vaters nur gedämpftes Schnarchen herüberklang und auch Colin schien diesmal nicht aufgewacht zu sein, als Finn aus dem immer gleichen Alptraum hochgeschreckt war. Hastig warf er sich ein Hemd über und schlich sich aus der Stube. Die Tage wurden immer milder und entspannt sog Finn die frische Luft ein, als er aus der Tür trat. Die meisten von Luca’s Männern schliefen noch und nur wenige waren bereits auf den Beinen und kümmerten sich um die Pferde oder das Feuer, das nur noch leicht vor sich hin glimmte. Finn wanderte um die Hütte herum und strich seinem Pferd, das dort angebunden war, sanft über die Nüstern. „Du hast auch schon lange keine Bewegung mehr gehabt, mh?“, murmelte er und machte die nussbraune Stute los. Geschickt schwang er sich auf den Rücken des Pferdes, ohne es vorher zu satteln und lenkte das Tier geradewegs in den Wald in Richtung des kleinen Flusses.

Diese Momente verband er mit den glücklichen Kindertagen seiner Vergangenheit.

Den kurzen Ausritt am frühen Morgen hatte er wirklich genossen. Die angenehme kühle Luft hatte seinen Kopf frei gemacht und er war bereits abgestiegen, als er das Lager wieder erreichte. Als er das Tier über den Platz führte, um es wieder anzubinden, fiel ihm Lauri auf, der dabei war Holzscheite für das große Feuer zu hacken. Gebannt sah er einen Moment dabei zu, wie der dunkelhaarige junge Mann einen neuen Holzscheit auf den Block legte. Die Ärmel des groben Leinenhemdes hatte er hochgekrempelt und wischte sich mit dem Arm etwas Schweiß von der Stirn. Die Axt, von der Finn überzeugt war, dass er sie nicht mal auch nur ansatzweise anheben könnte, nahm Lauri locker mit der rechten Hand auf. Finn entging nicht, wie sich die Muskeln an Arm und Rücken unter dem Hemd geschmeidig spannten, als Lauri die Axt über den Kopf hob und das Holzscheit mit einem kräftigen Schlag spaltete. Finn war wie hypnotisiert stehen geblieben und spürte ein seltsames Kribbeln in den Fingerspitzen. Als Lauri sich plötzlich umdrehte und Finn direkt ansah, kam das bekannte Ziehen im Bauch hinzu. Von der kühlen Luft und der körperlichen Anstrengung war sein Gesicht leicht gerötet. Die blauen Augen strahlten durch das Rot der Wangen noch stärker als sonst und ein belustigtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er Finn dort stehen sah. Verlegen lächelte Finn zurück und hob die Hand zum Gruß. Beschämt kam ihm plötzlich der Gedanke, dass dieses Ziehen im Bauch vielleicht das Gefühl war, dass er normalerweise beim Anblick von Emmas gewaltigen Brüsten hätte bekommen sollen, dass sich aber nie eingestellt hatte, als die Magd mit ihren Reizen kokettiert hatte.

Er spürte, wie er einen roten Kopf bekam, und ging schnell weiter, ohne noch einmal aufzusehen. In der letzten Zeit hatte er sich insgeheim die Frage gestellt, ob er vielleicht nicht ganz normal war. Warum stahl sich Lauri immer wieder in seine Gedanken und warum sehnte er sich so danach, in seiner Nähe zu sein? Wütend band er sein Pferd fest und stapfte ohne aufzusehen zurück in die Hütte. Gerade als er durch die Tür trat, kam ihm Genzo entgegen und rempelte ihn unsanft an der Schulter an.

„Pass doch auf!“, pampte dieser nur und schritt mit großen Schritten weiter. Offensichtlich hatte er gute Laune, denn ein fieses Grinsen, dem von Colin sehr ähnlich, umspielte seine Lippen.

„Ah Finn, gut dass du kommst!“ Luca warf sich bereits einen Umhang um und Colin machte neben ihm einen erwartungsvollen Eindruck.

„Mach dich fertig, wir reiten gleich los!“ kommandierte Luca und verließ eilig die Stube. „Was ist denn los?“, fragte Finn seinen Cousin verständnislos. Colin schien sich wirklich zu freuen, was Finn etwas Angst machte.

„Das Dorf unten am Fluss hat das Schutzgeld nicht bezahlt und einer von Genzo‘s Männern wurde sogar verletzt, als diese dummen Bauern meinten, sich wehren zu müssen!“ Colin lachte kalt und Finn fuhr es eiskalt über den Rücken.

„Das heißt …?“

„Was soll es schon heißen!?“, raunzte Colin genervt.

„Luca und Genzo werden diesen Idioten eine Lektion erteilen, die sie so schnell nicht vergessen werden!“ Damit verließ er auch den Raum und ließ Finn allein zurück. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er fröstelte, obwohl er draußen nicht gefroren hatte, und trottete den anderen Männern langsam nach.

Das Dorf lag nur etwa eine Meile vom Lager entfernt und war auf diesen Angriff in keinster Weise vorbereitet. Luca saß gemeinsam mit Genzo, Colin und Finn hoch zu Ross auf dem Hügel und betrachtete voller Genugtuung das Chaos, das seine Männer anrichteten. Bis auf eine Handvoll Männer, die das Lager bewachen mussten, hatte Luca seine ganze Gefolgschaft mitgebracht, um das Dorf niederzubrennen. Jeglicher Widerstand wurde brutal niedergeschlagen und Finn stellte mit Schrecken fest, dass selbst Frauen und Kinder kaum eine Chance hatten. Ihm war schlecht und er merkte, wie er am ganzen Körper zitterte, als er das schreckliche Schauspiel auf Anordnung seines Vaters betrachten musste. Einer von Genzos Männern schleifte eine völlig verängstigte junge Frau an den Haaren den Hügel hinauf. Finn schluckte schwer, als er die Platzwunde auf ihrer Stirn sah.

„Was sollen wir mit den Weibern machen?“

Luca zuckte mit den Schultern.

„Macht mit ihnen was ihr wollt! Mir ist es gleich!“

Der Mann betrachtete seinen Fang einen Moment unschlüssig und erst als er sie mit lüsternen Blicken hinter den nächsten Busch schleifte, begann sie vor Angst zu schreien. Finn wand sich angewidert ab. Er merkte wie sich im der Magen umdrehte und mit zitternden Beinen stieg er ab. Colin war ebenfalls abgestiegen, aber eher um sich wie Genzo und die anderen unter die Menge zu mischen und auch noch ein bisschen „Spaß zu haben“, wie er es nannte.

Finn konnte sich nicht mehr lange halten und stürzte hinter das nächste Haus. Er hoffte inständig, dass es dort nichts Schlimmes zu sehen gab, und übergab sich geräuschvoll. Die Schreie der Opfer, das Knistern des Feuers, das die einfachen Hütten der Bauern niederbrannte, die anfeuernden Rufe der brutalen Handlanger drangen nur noch gedämpft zu Finn herüber. Er stützte sich schluchzend an der Wand ab und würgte, obwohl er nichts mehr im Magen hatte. Wie nur konnten die Männer seines Vaters das tun? Wie konnten sie Spaß daran haben? Er konnte sich nur mit Mühe beruhigen und spuckte aus, in der Hoffnung den bitteren Geschmack von Galle aus seinem Mund verbannen zu können.

„Geht’s dir nicht gut?“

Erschrocken fuhr er auf und stellte mit einer Mischung aus Erleichterung und Scham fest, dass es nur Lauri war, der ausdruckslos an der Wand lehnte und ihn mit verschränkten Armen beobachtete.

„Ich … nein, doch … Alles in Ordnung!“ stammelte er und wischte sich fahrig durchs Gesicht in der Hoffnung, dass Lauri die Tränen nicht gesehen hatte. Lauri zog verwundert eine Augenbraue hoch und kam langsam näher. Finn wich unwillkürlich ein Stück zurück und überrascht fing er gerade noch rechtzeitig den Weinschlauch auf, den Lauri ihm zugeworfen hatte.

„Hier! Das vertreibt den Geschmack!“

„Danke!“

Finn ließ sich an der Häuserwand herunterrutschen, während er den Schlauch aufdrehte und einige Schlucke nahm. Der Wein breitete sich warm in seinem gereizten Magen aus und langsam entspannte er sich wieder. Er lehnte seinen Kopf an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Warum musste er Lauri eigentlich immer in solchen Momenten begegnen?

„Besser?“

Lauri hatte sich vor ihn hingehockt und schaute ihm aufmerksam direkt in die Augen. Finn nickte.

„Warum bist du nicht bei den Anderen und hast „ein bisschen Spaß“?“

Lauri lachte trocken auf.

„Spaß haben nennen die das? Ich kann mir spaßigere Dinge vorstellen!“

Finn schien es als hätte Lauri die Hände kurz zu Fäusten geballt. Aber im nächsten Moment wirkte er wieder völlig unbeteiligt.

„Ich denke unsere Arbeit hier ist getan! Wenn noch jemand übrig ist, wird dieser nie wieder vergessen, sein Schutzgeld an Luca zu zahlen!“

Er stand auf und reichte Finn die Hand, um ihm aufzuhelfen.


Dieser blonde seltsame Junge überraschte ihn immer wieder. Scheinbar schien er nicht viel mit seinem Vater und seinem arroganten Cousin gemeinsam zu haben. Lauri war der festen Überzeugung, dass Finns Reaktion dem grausamen Massaker galt, dessen Zeuge er scheinbar unfreiwillig geworden war. Lauri selbst hatte sich bemüht, sich aus dem Angriff herauszuhalten. Er hatte mehrere Hütten in Brand gesetzt, so wie Genzo es ihm befohlen hatte. Aber von sinnloser Gewalt gegen unschuldige und wehrlose Personen hatte er Abstand genommen. Um den Gewalttaten aus dem Weg zu gehen, hatte er sich schließlich abseits gehalten und war hinter der letzten Häuserreihe verschwunden. Als er dort auf den völlig aufgelösten Finn traf, war er im ersten Moment unschlüssig gewesen, wie er sich verhalten sollte, entschied sich aber schließlich doch dafür, ihn anzusprechen.

Irgendwie tat Finn ihm leid. Er wirkte so zerbrechlich zwischen all diesen brutalen Männern hier. Es schien als gehörte er nicht wirklich hier her. Gleich darauf schüttelte er den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Womit beschäftigte er sich hier eigentlich? Finn konnte ihm egal sein! Er war schließlich nur aus einem Grund hier … Finn war Lucas Sohn und somit der Feind, auch wenn er sich in vielen Punkten deutlich von seinem Vater unterschied. Also keine sinnlosen Gedanken mehr über verweichlichte Muttersöhnchen. Lauri presste die Lippen aufeinander, was seinen Gesichtsausdruck hart machte. Er hatte sich schon viel zu oft von Finn ablenken lassen.

Zusammen mit dem jungen Mann, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte, machte er sich auf den Weg zurück ins Lager.

Der restliche Tag verlief ruhig. Genzo war in Feierlaune und Luca hatte für die Männer Met und Wein holen lassen. Auch er schien mit dem Verlauf des heutigen Tages zufrieden zu sein. Lauri hielt sich abseits und achtete darauf nicht zu viel zu trinken, um nicht genauso betrunken zu werden, wie Luca’s Männer, die sich zum größten Teil um das Lagerfeuer versammelt hatten und unzüchtige Lieder grölten.

An die Wand der Hütte gelehnt, bekam er einige Gesprächsfetzen zwischen Genzo und Luca mit. Luca erklärte lachend, dass solche Aktionen ab und zu nötig wären, um die Moral der Gruppe zu festigen und Genzo stimmte ihm zu. Angewidert wandte Lauri sich ab und trottete zu den angebundenen Pferden. Erst dachte er hier endlich ungestört zu sein, als er Stimmen vernahm, die aus dem hinteren Fenster der Hütte zu ihm drangen. Nach kurzem Überlegen entschied er, dass es sich um Colin und Finn handeln musste.

„… Ich denke sie war noch Jungfrau, hat meine ganze Hose versaut mit ihrem Blut …“

„Halt die Klappe Colin! Ich will das nicht hören!“

„Wo hast du eigentlich gesteckt?“

„Das geht dich nen Scheiß an!“

„Oh, wird der Kleine etwa aufmüpfig!“

Lauri hörte Schritte und wich ein Stück vom Fenster zurück, als er sah, dass Colin seinen Cousin am Kragen gepackt hatte und ihn gegen die Wand presste.

„Pass bloß auf, wie du mit mir sprichst!“

„Ich habe keine Angst vor dir!“

Aber Finn rührte sich auch nicht und Colin holte gereizt mit der rechten Faust aus und hielt sie drohend in Augenhöhe.

„Du weißt genau so gut wie ich, dass du der lausigste Anführer der Wessington Bande wärst, den die Welt je gesehen hat! Du brauchst gar nicht zu glauben, dass du Lucas Platz einfach so einnehmen könntest, nur weil du zufälligerweise sein Sohn bist!“

Lauri musste sich anstrengen, weil Colin die letzten Worte nur noch zischend zwischen den Zähnen hervorgepresst hatte. Er hatte ganz offensichtlich auch schon einige Becher Wein geleert. Finn antwortete nicht auf die Provokation und Lauri zuckte zusammen bei dem knirschenden Geräusch, als Colin seinem Cousin einen gezielten Kinnhaken verpasste. „Schwächling!“, zischte Colin nur und Lauri hörte, wie er die Tür hinter sich zuknallte.

Er bemühte sich unbeteiligt und überrascht auszusehen, als Finn kurze Zeit später um die Ecke kam. Seine Lippe blutete noch und er rieb sich das Kinn, als er ebenfalls überrascht zu Lauri aufsah.

„Was ist dir denn passiert?“, fragte Lauri mehr aus Höflichkeit. Finn zuckte mit den Schultern. „Colin …“

Er ließ sich neben den Pferden ins Gras sinken und wischte mit seinem Ärmel über die aufgeplatzte Unterlippe.

„Ich glaube, er hat nur etwas zu viel getrunken“, murmelte er weiter, als er gedankenverloren das Blut auf seinem Ärmel betrachtete. Lauri ging nicht weiter darauf ein und striegelte eines der Pferde weiter, um den Anschein zu erwecken, dass er etwas zu tun hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete er jedoch weiter Finn, der stumm vor sich hinstarrte, in Gedanken versunken, die Lauri nicht erahnen konnte. Ob er überlegte, wie er Colin loswerden könnte? Scheinbar schien der Cousin ein echter Rivale zu sein. Lauri biss sich wütend auf die Lippe. Er wollte doch nicht mehr über Finn nachdenken. Konnte das denn so schwer sein? Seit er dem blonden jungen Mann zum ersten Mal über den Weg gelaufen war, dachte er viel zu viel über solche Nichtigkeiten nach. Er durfte sein Ziel nicht aus den Augen verlieren.


Er hatte zwar nicht wirklich gewusst, was ihn erwarten würde, wenn er zu seinem Vater zurückkehren würde, aber nach und nach hatte er immer mehr das Gefühl, dass es ihm in der Stadt doch besser gefallen hatte. Diese ganze Gewalt hier machte ihn völlig fertig. Colin schien sich prächtig zu amüsieren und ging nun sogar noch brutaler gegen seinen Cousin vor als in den letzten Jahren. Finn hatte über Colins Worte nachgedacht. Schon bevor Colin es ausgesprochen hatte, waren Finns Gedanken immer wieder um diese Situation gekreist. In vielen Punkten hatte Colin sicher recht. Er würde deutlich besser in Lucas Fußstapfen treten können als Finn. Er war skrupellos, berechnend und fand in etwa so viel Gefallen an Gewalt jeglicher Art wie Genzo. Finn verspürte nicht die geringste Lust irgendwann den Platz seines Vaters einzunehmen. Am liebsten wäre er schon jetzt weit weg von hier.

Gedankenverloren starrte er auf seinen blutigen Ärmel. Er gehörte einfach nicht hier hin. Er wusste das und Colin wusste es auch. Wie lange würde sein Vater brauchen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen …? Oder war er sich dessen bereits bewusst? Konnte er einfach so gehen? Würde sein Vater das zulassen? Und wohin sollte er überhaupt gehen?

Er seufzte und legte den Kopf auf seinen angewinkelten Knien ab. Das alles macht ihn müde, so unglaublich müde. Am liebsten würde er sich jetzt einfach zusammenrollen und einschlafen. Aber auch hier ließen ihn die Bilder in seinen Träumen nicht los. Er hatte sogar fast das Gefühl, dass seine Träume hier wieder schlimmer, realistischer geworden waren und jede Nacht schreckte er schweißgebadet hoch.

Lauri kümmerte sich währenddessen weiter um die Pferde und Finn fragte sich wieder einmal, warum der schweigsame junge Mann sich immer abseits hielt. Auch jetzt feierte er nicht mit den Anderen und machte auch nicht den Eindruck, als hätte er schon von dem Met getrunken, den Luca zur Feier des Tages spendiert hatte.

„Willst du nicht mit den Anderen feiern?“, fragte Finn irgendwann. Lauri sah nicht von der Arbeit auf, als er antwortete.

„Ich wüsste nicht, was es zu feiern gibt!“ Finn nickte, da er Lauri zustimmte.

„Du bleibst generell lieber für dich, mh?“ Jetzt hielt Lauri kurz inne. Finn war es sofort aufgefallen, auch wenn Lauri sich bemühte die kurze Unterbrechung zu überspielen. „Heutzutage ist sich jeder selbst der Nächste!“

„Brauchst du nie jemand Anderen? Zum Reden oder so?“ Lauri presste die Lippen aufeinander und striegelte verbissen weiter, ohne zu antworten. Finn wand seinen Blick wieder ins Dickicht, das kurz vor ihnen begann. Was stellte er auch für komische Fragen. Er selbst hätte gern jemanden zum Reden gehabt. Jemanden der ihm helfen würde, über die grausige Nacht von damals hinwegzukommen. Oder wünschte er sich, dass Lauri dieser Jemand sein könnte? Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Verlegen legte er seinen Kopf wieder auf den Knien ab, damit Lauri nicht bemerkte, wie er plötzlich rot angelaufen war. Warum kamen ihm in letzter Zeit bloß immer diese Gedanken? Erst hatte er es nur auf die Dankbarkeit geschoben, die er Lauri gegenüber empfand für den Abend in der Gasse, als der dunkelhaarige Junge ihm vielleicht das Leben gerettet hatte. Aber mittlerweile musste er sich eingestehen, dass es doch um mehr ging als das. Um was genau, wusste er noch nicht. Oder wollte er es vielleicht nicht so genau wissen? Warum war eigentlich alles so kompliziert?


Die Frage hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Und wieder hatte Finn es geschafft, dachte er missmutig. Ihm fiel einfach keine Antwort auf die Frage ein. Brauchte er jemand Anderen? Er wusste es nicht so recht. Schließlich hatte er sich viele Jahre allein durchs Leben geschlagen. Sogar in den wahrscheinlich schlimmsten Jahren seines Lebens war er auf sich gestellt gewesen. Aber bedeutete das, dass er sich nicht wünschte, jemanden an seiner Seite zu haben? Vielleicht nicht mal zum Reden, einfach nur um zu wissen, dass man in diesem beschissenen Leben nicht ganz allein war. Aber war er nicht auch selber Schuld? Seit der Flucht hatte er jeglichen näheren Kontakt zu anderen Menschen vehement abgeblockt. Nichts sollte ihn von seinem Plan abbringen, Rache zu üben, an denen, die das Leben seines Vaters ausgelöscht hatten. Andere Menschen wären dabei nur hinderlich gewesen. Aber bisher hatte er auch kein Bedürfnis nach Nähe gehabt. In den letzten Tagen und Wochen schien sich das geändert zu haben.

„Du bist zu weich geworden!“, schalt Lauri sich gedanklich selbst und warf einen unauffälligen Blick auf Finn, der seinen Kopf wohl erschöpft auf den Knien abgelegt hatte. Er merkte, dass er die Momente in Finns Gegenwart genoss und manchmal sogar insgeheim forcierte. Er hätte den Jungen mit den wirren blonden Haaren schon längst allein hier sitzen lassen können, aber etwas hinderte ihn daran, sich einfach umzudrehen und zu gehen. Als ob eine unsichtbare Macht ihn immer wieder zu Finn hinzog. Finn, der Feind. Sohn von Luca, der den Mord an Lauris Vater angeordnet hatte.

„Sollen wir was trinken gehen?“ Die Frage war über seine Lippen gekommen, bevor sein Verstand sich einschalten konnte und Finn hob überrascht den Kopf. Lauri war über sich selbst mindestens genauso überrascht und hoffte, dass die peinliche Stille bald enden würde. Finn enttäuschte ihn nicht.

„Gern …“ Er stand auf und blieb einen Moment unschlüssig vor Lauri stehen. Lauri drehte sich um und ging voraus. So hatte er wenigstens Zeit, seinen Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle zu kriegen, denn er war der festen Überzeugung, dass er ob seines eigenen Vorschlages einen ziemlich geschockten Eindruck machte.

„Was mache ich hier?“, fragte er sich immer wieder und lauschte auf Finns Schritte, die dicht hinter ihm waren. Er hatte das Gefühl die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Konnte er denn nicht mal mehr sich selbst steuern?

Am Lagerfeuer war es mittlerweile deutlich ruhiger geworden. Die meisten Männer waren im Rausch schon längst eingeschlafen und Finn und Lauri mussten über einige schnarchende Körper steigen, um sich am Feuer niederzulassen.

Finn füllte zwei Becher, reichte einen davon an Lauri und setzte sich diesem schräg gegenüber. Nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten, stellte Finn unvermittelt fest: „Ich weiß eigentlich nichts über dich!“ Lauri zuckte mit den Schultern.

„Was willst du denn wissen?“ Ihm war als wäre Finn bei dieser Frage rot geworden, aber vielleicht täuschte ihn nur der Schein des Feuers.

„Mh, ich weiß nicht … Was ist zum Beispiel mit deiner Familie?“

Lauri zögerte einen Moment, aber wenn er die entscheidenden Stellen weglassen würde, konnte er durchaus etwas erzählen.

„Meine Mutter habe ich nie kennengelernt. Sie starb bei meiner Geburt, aber mein Vater wollte nach ihrem Tod keine andere Frau. Deshalb blieben wir allein, wir beide …“

Er machte eine Gedankenpause.

„Ich war nicht das erste Kind, aber das einzige, das überlebte. Ich glaube, meinen Eltern hat es zu schaffen gemacht, dass es ihnen scheinbar nicht vergönnt war, Kinder zu bekommen. Und als sie es dann doch endlich schafften, überlebte meine Mutter nicht …“

Da Lauri seine Mutter nicht kannte, brachte ihr Tod ihn nicht zu sehr aus der Fassung, aber er wusste, dass sein Vater seine Mutter abgöttisch geliebt und sehr unter dem Verlust gelitten hatte. Da Lauri damals noch klein war, hatte er das meiste mit sich selbst ausgemacht, aber auch einem Kind bleiben manche Dinge nicht verborgen.

„Aber wir kamen ganz gut zurecht …“ Er wusste nicht, was er noch sagen sollte und sah Finn einen Moment nachdenklich an.

„Meine Mutter ist auch schon gestorben!“, erklärte Finn.

„Da war ich vier! Eine Lungenentzündung …“

Lauri nickte und wunderte sich über den nicht unangenehmen Gedanken etwas mit Finn gemeinsam zu haben.

„Was macht dein Vater jetzt?“, fragte Finn unvermittelt.

Lauri stocherte mit einem Zweig im Feuer herum und ließ sich Zeit mit der Antwort.

„Er ist tot …“

„Oh!“

Lauri wartete auf die Frage, wann und warum sein Vater gestorben war und überlegte krampfhaft, was er darauf antworten sollte, aber stattdessen fragte Finn: „Und wie war er so?“ Lauri blickte Finn verwundert an. Als er über die Frage nachdachte, musste er schmunzeln. „Er war mein Held, glaube ich! Er war mutig, stark und ehrlich und als Kind dachte ich, er könnte alles und niemand könnte ihm etwas anhaben. Und ich dachte mir könnte nie etwas passieren, weil er mich vor allem beschützen würde …“

Etwas Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, auch wenn Lauri das nicht beabsichtigt hatte. Er war immer noch stolz auf seinen Vater. Er hatte ihn ja schließlich beschützt, sein Leben gegeben, damit Lauri die Chance hatte zu fliehen. Er war es seinem Vater schuldig zu überleben … und Rache zu üben. Lauri musste die aufkeimende Wut zügeln und stocherte weiter im Feuer.

Als er wieder aufsah, war er überrascht über Finns Gesichtsausdruck. Er konnte ehrliches Bedauern über Lauris Verlust ablesen, aber da war noch etwas anderes, was er nicht zu deuten vermochte. Eine andere Art von Trauer …

„Das klingt wunderbar …“, sagte Finn plötzlich und schlagartig war Lauri klar, was er in Finns leuchtenden grünen Augen gesehen hatte. Finn dachte an seinen eigenen Vater. Das Verhältnis der beiden konnte man im besten Falle wohl als gespannt bezeichnen. Ob Finn ihn darum beneidete?

„Dann war die Zeit, die ihr miteinander verbringen konntet, zumindest gut genutzt!“

Lauri nickte. „Ja!“

„Tut mir wirklich leid …“

Lauri spürte, dass die Anteilnahme ehrlich war, dennoch kochte die Wut wieder hoch. Was wenn Finn wüsste, wer diesen Tod zu verantworten hatte? Lauri entschied, dass er genug erzählt hatte. Er nickte Finn zu und stand auf, um das Gespräch als beendet zu markieren. Finn reagierte sofort und erhob sich ebenfalls.

„Dann gehe ich jetzt wohl mal …“, murmelte er vor sich hin und lenkte seine Schritte in Richtung der Hütte. Lauri sah ihm nach und kam sich irgendwie schäbig vor. Er konnte sich selbst nicht erklären wieso.

„Selenenwurzel!“, sagte er unvermittelt.

„Mh?!“ Finn drehte sich verwundert um.

Lauri tippte an seine Lippe. „Für … für die Lippe! Hilft gut gegen die Schwellung.“

Finn legte seine Finger ebenfalls an seine Lippe, als hätte er vergessen, was vor einigen Stunden passiert war.

„Oh, äh, ja … danke!“

Die folgenden Tage zogen dahin. Lauri war froh, wenn er irgendeine körperliche Arbeit im Lager verrichten konnte, was meistens der Fall war. Als „Frischling“ wie Genzo ihn bezeichnete, musste er es sich erst verdienen bei den Streifzügen dabei sein zu dürfen. Lauri war jedoch äußerst zufrieden mit seiner derzeitigen Situation. Ihm war nicht daran gelegen, mit den anderen Männern brutale Gewalttaten zu verüben. Colin und Finn hingegen mussten meistens mit. Zwar gehörten sie eigentlich auch zu den Neuen, aber die Verwandtschaft zum Anführer der Gruppe hatte die beiden jungen Männer sofort in einen anderen Status erhoben.

Während Colin stets bester Laune war, wenn die Gruppe von ihren Streifzügen zurückkam, nahm Lauri stirnrunzelnd zur Kenntnis, dass Finn jedes Mal blasser zurückkam und den Eindruck machte, als könne er sich noch gerade so im Sattel halten.

Als Finn dieses Mal zurückkam, sah er wirklich elend aus. Lauri hockte auf dem Dachbalken, wo er gerade dabei war, die Abdeckung der Hütte zu erneuern, als die Gruppe zum Lager zurückkehrte. Finn war wieder mal verdammt blass und als er von seiner Stute abstieg, konnte Lauri erkennen, dass Finns Beine zitterten.

Gerade als Lauri Finn ansprechen wollte, kam Colin aufgedreht um die Ecke. Weder Finn noch Colin schien Lauri bis jetzt bemerkt zu haben, sodass er sich abwartend ruhig verhielt.

„Na Finn? War das nicht lustig?“, Colin grinste ironisch, denn auch wenn er vermutlich wirklich Spaß an der heutigen Aktion gehabt hatte, wusste er sicher auch, dass Finn das Spektakel keineswegs so amüsant fand.

„Lass mich in Ruhe Colin!“, wehrte Finn seinen Cousin schwach ab und band seine Stute an.

„Hast du gesehen, wie das Blut raus gespritzt ist, als …“

„Halt die Klappe!“, fuhr Finn diesmal energischer dazwischen.

Lauri beobachtete die beiden jungen Männer stumm. Finn hatte tiefe Augenringe unter den sonst so strahlenden Augen. Lauri vermutete, dass Finn wahrscheinlich wieder kaum geschlafen hatte und die Bilder, die er sich nun Tag für Tag ansehen musste, hatten wahrscheinlich ihr Übriges getan.

Colin schien hingegen Spaß daran zu finden, seinen Cousin zu provozieren.

„Und wie er geschrien und geheult hat, wie ein kleines Kind …“

Finn wand sich angewidert ab und wollte sich an Colin vorbei drängen. Doch Colin verstellte ihm den Weg und schubste ihn unsanft zurück. In seinem Gesichtsausdruck spiegelte sich die Wut gegen Finn wieder, der mal wieder nicht auf seine Provokation reagierte.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, fauchte er Finn an.

„Lass mich doch einfach nur in Ruhe!“, seufzte Finn und ließ müde die Schultern hängen.

Lauri wunderte sich ebenfalls, dass Finn sich so wenig gegen diesen Idioten wehrte.

Colin hatte bereits die Fäuste geballt und Lauri befürchtete, dass Finn gleich wieder ein paar Schläge einstecken musste.

„Du bist doch nicht ganz normal du Penner! Warum biste denn überhaupt hier?“, schnauzte Colin weiter und hinderte Finn weiterhin daran, an ihm vorbei zu schlüpfen.

„Du bist echt eine Schande für die ganze Familie!“, presste Colin zwischen den Zähnen hervor.

„Na wer hier die Schande ist, ist wohl eine andere Frage …“, fuhr es Lauri durch den Kopf und wütend, wie er nun war, konnte er den Mund nicht mehr halten.

„Hey … was hast du für’n Problem?“ Mit einem geschmeidigen Sprung vom Balken landete er sicher ein kurzes Stück hinter Finn. Dieser wirbelte überrascht herum und riss seine hübschen grünen Augen bei Lauris Anblick auf. Colin hingegen kniff die Augen genervt zusammen.

„Wüsste nicht, was dich das angeht? Bist du sein Kindermädchen oder was?!“

Betont locker schlenderte Lauri in Colins Richtung, bis er etwa auf einer Höhe mit Finn stand.

Colin schien einen Moment lang abzuschätzen, ob er es mit Lauri aufnehmen könnte. Scheinbar entschied er sich jedoch dafür, es fürs erste nicht darauf ankommen zu lassen.

„Wir sprechen uns noch!“, zischte er Finn zu und mit einem kalten Blick in Lauris Richtung fügte er hinzu: „Und du solltest dich nicht in Sachen einmischen, die dich nichts angehen!“

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Finn und Lauri allein.

Lauri war immer noch wütend. Colin war wirklich ein mieser Arsch. Eine Schande für die Familie… Beim Gedanken an diesen dämlichen Satz hätte Lauri beinahe laut aufgelacht. Seiner Meinung nach war Finn der Einzige in dieser furchtbaren Familie, der auch nur ansatzweise „normal“ war.

Finn schwieg immer noch und starrte vor sich hin.

Da Lauri selbst kein Freund vieler Worte war, entschied er sich Finn durch eine sinnvolle Aufgabe abzulenken.

„Kannst du mir mit dem Dach helfen?“, fragte er als wäre nichts geschehen und schwang sich behände wieder zurück auf den Dachbalken. Die simple Frage schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Als wäre er gerade erst aufgewacht, blinzelte Finn verwirrt und drehte sich zu Lauri um.

„Ähm, klar?!“

Lauri kam es fast so vor, als wäre Finn dankbar für die Aufforderung.

„Was soll ich tun?“

„Du kannst mir die Strohbahnen angeben!“

Lauri zeigte auf die ordentlich zusammengerollten Bahnen, die das Dach aufs Neue isolieren sollten.


Eine Weile arbeiteten die beiden schweigend.

Finn hatte selbst keine große Lust über Colin nachzudenken. Sein Cousin war einfach ein Idiot. Auch wenn er bereits einiges an Prügel von Colin einstecken musste, hatte er trotzdem keine Angst vor seinem aggressiven Cousin. Sollte er ihn doch weiter schlagen. Diese Schmerzen waren nichts gegen die schrecklichen Bilder, die nun schon seit Wochen in seinem Kopf herumschwirrten.

Er konnte kaum noch schlafen und wenn ihm doch einmal vor lauter Müdigkeit die Augen zufielen, schien der so bekannte Alptraum noch grausamer und realistischer als sonst.

„Finn? … Finn?!“

„Was?“ Erschrocken sah er zu Lauri auf, der ihn auf dem Balken sitzend nachdenklich ansah.

„Du schläfst ja gleich im Stehen ein!“

„Mh …“

Müde fuhr Finn sich mit der Hand über die Augen.

„Warum gehst du nicht rein und legst dich hin?“

Energisch schüttelte Finn den Kopf.

„Nein! Äh ich … mir geht’s gut! Ich schlafe nachher!“

Rasch landete Lauri neben Finn und klopfte die Hände an seiner Kleidung ab. Er sah nicht überzeugt aus …

„Lass uns was essen gehen!“, schlug er knapp vor und ging voraus zum Lagerfeuer.

Als Finn Lauri um die Ecke folgte, rempelte er den dunkelhaarigen jungen Mann beinahe an, der so unvermittelt stehen geblieben war.

„Was ...?!“, verwundert trat Finn neben Lauri und verschaffte sich schnell einen Überblick über den Lagerplatz.

Genzo war gerade mit einer Gruppe zum Lager gestoßen, die die Aufmerksamkeit sämtlicher Männer der Lichtung auf sich zog. Wahrscheinlich mal wieder zur „Stärkung der Moral“ hatte Genzo sechs leichte Mädchen aus der Stadt mitgebracht, die sich kokettierend an die hoffentlich gut zahlenden Männer heranwarfen.

Angewidert beobachtete Finn wie Colin bereits mit einer Hand grob in den Ausschnitt einer der Frauen griff. Beim Gedanken daran, sich dieses Schauspiel länger ansehen zu müssen, schüttelte es ihn. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Lauri bereits in entgegengesetzte Richtung davon gestapft war.

„Lauri warte mal!“

Finn stolperte hinter Lauri her und musste sich bemühen, nicht hinzufallen. Da es mittlerweile schon dämmerte und Finn eigentlich völlig übermüdet war, sorgten nicht nur Steine und der unebene Boden dafür, dass er immer wieder ins Straucheln geriet.

Abgesehen davon fragte er sich mal wieder, warum er Lauri überhaupt hinterher lief.

Bei der nächsten Wurzel bleib er schließlich hängen und schaffte es nicht mehr sich aufrecht zu halten.

„Autsch!“

Der Länge nach hatte Finn sich komplett auf die Nase gelegt.

„Blöde Scheiße …“, grummelte er vor sich hin, als plötzlich zwei Stiefel in sein Blickfeld traten. Verlegen blickte er an den beiden Beinen hoch, bis er Lauris missbilligenden Blick erreicht hatte.

„Gibt es auch nur einen Menschen auf der Welt, der noch schusseliger ist als du?“

Zum Glück war es mittlerweile so dunkel geworden, dass Lauri sicher nicht sehen konnte, wie Finn wieder mal knallrot anlief.

Warum musste er sich auch ständig so dämlich anstellen, wenn Lauri in der Nähe war? Kein Wunder, dass er Finn für einen Trottel halten musste. Zerknirscht nahm er Lauris Hand an, die ihm aufhalf und als er so nah vor Lauri stand, fing das Kribbeln wieder an.

Finn war wie erstarrt direkt vor Lauri stehen geblieben und bemerkte nun erschrocken, dass er immer noch dessen Hand umklammert hielt.

Hastig ließ er die Hand los, auch wenn er das Gefühl insgeheim genossen hatte. Aber was sollte Lauri denn von ihm denken?

„Ähm … Danke!“

Lauri stand nach wie vor stumm vor Finn und schien ihn mit seinem unergründlichen Blick zu taxieren. Aber da nur wenig Licht in diese Ecke des Lagers drang, war Finn sich nicht ganz sicher.

„Du solltest wirklich schlafen gehen!“, sagte Lauri plötzlich ungewohnt sanft.

Finn spürte erneut Hitze in seinem Gesicht aufflammen.

„Ich … äh … schlafe im Moment eh schlecht … also ich meine noch schlechter als sonst …“ Schlecht war eigentlich gar kein Ausdruck. Sobald er die Augen schloss, spielten sich all die grausamen Bilder vor seinem inneren Auge ab und sein ewiger Alptraum war noch realistischer als sonst.

Finn kam es fast so vor, als würde Lauri einen kurzen Moment zögern. Dann vernahm er ein leises Seufzen.

„Willst … du reden?“

Einerseits war Finn überrascht über Lauris Angebot, andererseits wusste er nicht so recht, ob es richtig war, Lauri sein Herz auszuschütten. Dennoch …

Erschöpft lehnte er sich an die Holzwand der Baracke und rutschte langsam daran herunter, bis er müde auf dem Boden saß.

„Es ist einfach ekelhaft! Genzo hat heute einem Mann die Hand gebrochen. Jeden Finger einzeln … Es war furchtbar. Und das nur, weil er Genzo angeblich noch Geld schuldet …!“ Die Worte sprudelten mit einem Mal nur so aus ihm heraus und Finn konnte nicht verhindern, dass erste Tränen seine Wangen herabliefen.

„Morgen werden sie wieder dorthin gehen und natürlich wird er morgen auch nicht bezahlen können … Dann wird Genzo ihm auch die andere Hand brechen …“

Finn atmete schwer und nur mit Mühe konnte er ein Schluchzen unterdrücken.

„Es ist einfach … ich … ich kann das nicht! Ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nicht mehr essen. Ich …“


Lauri hatte sich vor Finn hingehockt. Er wusste mal wieder selbst nicht, warum er Finn aufgefordert hatte zu erzählen. Im Grunde konnten Finns Probleme ihm schließlich egal sein. Trotzdem konnte Lauri sich eines Gefühls nicht erwehren, das in ihm aufstieg als er den völlig verzweifelten und zitternden jungen Mann betrachtete. Mitgefühl?! Mitleid?! Finn tat ihm leid! Er sah wirklich furchtbar aus. Die dunklen Ränder unter den sonst so hübschen Augen ließen Finn krank aussehen und dass er in den letzten Tagen regelrecht abgemagert war, war Lauri auch schon aufgefallen.

„Ich … es tut mir leid … ich will dich damit gar nicht belästigen …“, schniefte Finn und rieb sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.

„Schon ok!“, brummte Lauri nur. Was sollte er dazu auch sagen. Dass Genzo ein ekelhaftes, blutgieriges Schwein war, wusste er ja bereits und dass Luca diese Gewalttaten veranlasste, war ihm auch klar. Schließlich war das der Grund, warum er überhaupt hier war. Um dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Etwas linkisch tätschelte er Finns Schulter.

Er fühlte sich plötzlich komisch in Finns Nähe. Gerne hätte er ihn einfach tröstend in den Arm genommen, aber das war natürlich ausgeschlossen.

Der Hass auf Genzo und Luca flammte erneut auf, durch die Tatsache bereichert, dass Finn unter den beiden Männern zu leiden hatte. Er gehörte hier wirklich nicht hin. In diesem Punkt musste er Colin sogar recht geben. Finn war so anders. Ruhig, sanft und so zerbrechlich.

Colin hingegen blühte in der neuen Umgebung völlig auf. Schon nach wenigen Wochen hatte er einige Anhänger gefunden, die ihm ständig folgten und denen er wohl glaubhaft vermitteln konnte, dass ER der würdige Nachfolger von Luca werden würde.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend nahm Lauri zur Kenntnis, dass Luca seinen Sohn auch immer öfter mit Colin und seiner Bande fortschickte, um diverse Arbeiten zu erledigen. Lauri wusste nicht recht wieso, aber irgendwie machte er sich jedes Mal Sorgen, wenn er Finn und Colin zusammen wegreiten sah.

Auch diesmal gefiel es Lauri gar nicht, dass Luca die jungen Männer gemeinsam runter zum Fluss geschickt hatte.

Um sich von den verwirrenden Gedanken abzulenken, versuchte er unauffällig mehr über Lucas Bande zu erfahren. Ganz offensichtlich hatte sich die Gruppe in den letzten Jahren stark verändert. Lauri wusste, dass sein Vater mit seinen Männern damals stets bemüht war, die Menschen in den umliegenden Dörfern wirklich zu schützen. Luca hatte das ganze grotesk umgekehrt. Er knöpfte den Bauern zwar Schutzgeld ab, aber im Grunde schützte er die Dörfler nicht, sondern stellte selbst die größte Gefahr für die Bewohner rund um Wessington Forrest dar. Er war nur damit beschäftigt seinen Reichtum zu mehren und ließ seinen Bruder das Geld dann in der Stadt waschen. Es machte ihn wütend, dass Luca den damals guten Ruf der Gruppe so in den Dreck gezogen hatte. Lauris Vater war wie ein Robin Hood gewesen, aber Luca war einfach nur ein Verbrecher, der die Drecksarbeit auch noch von Anderen erledigen ließ.

Es begann schon zu dämmern als Colins Trupp endlich zum Lager zurückkehrte. Selbstgefällig warf Colin Lauri die Zügel seines Pferdes zu, als wäre er ein Stallbursche. Mit einem kurzen Blick erfasste Lauri, dass Finn nicht mit den Anderen zurückgekommen war.

Bevor Colin sich mit einem abfälligen Grinsen abwand, packte Lauri ihn an der Schulter.

„Wo ist Finn?“

Colin schüttelte die Hand des jungen Mannes ab.

„Ah, da spricht wieder das Kindermädchen!“

Lachend suchte er die Bestätigung seiner Jungs, die prompt in sein Gelächter einfielen.

Kühl betrachtete Lauri den Haufen und bemerkte angewidert, dass die jungen Männer offensichtlich schon einiges an Met und Wein intus hatten.

„Ich hab dich was gefragt!“

Colins Gelächter verstummte, als er sich Lauri wieder zu wand.

„Was geht dich das an? Mein werter Cousin hat es vorgezogen, den Damm noch mal auf eigene Faust zu überprüfen. So war’s doch, oder?“

Die jungen Männer stimmten Colin sofort zu, doch Lauri entging weder das fiese Grinsen auf Colins Gesicht, noch die Blicke, die sich manche Jungs zuwarfen.

Wortlos drehte Lauri sich um, schwang sich behände auf den Hengst und lenkte das Pferd sofort in Richtung Wald.

„Hey du Bastard! Das ist mein Pferd!“

Colins Flüche verhallten schnell, während Lauri rasch tiefer und tiefer in den Wald vordrang.

Er konnte sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass etwas an Colins Geschichte nicht stimmte.

Bald hörte er das Rauschen des Flusses und ließ den Hengst langsamer werden. Überrascht stellte er fest, dass sein Herz heftig gegen seine Rippen schlug.

„Warum mache ich mir nur solche Sorgen um den Sohn meines Feindes?“, fuhr es ihm in den Sinn, aber der Drang Finn zu finden war einfach übermächtig.

Als er die schweren Holzblöcke des Damms erkennen konnte, spornte er das Pferd erneut an.

„Finn? Wo bist du?“

Keine Antwort.

„Finn!“

Da! Lauri meinte die blonden Haare im Wasser zu entdecken, aber es wurde jetzt schnell dunkler. Als er nah genug war, sprang Lauri ab und watete sofort ins kalte Wasser des Flusses, der sich immer weiter am Damm staute. „Finn!“, rief er nochmal und erhielt endlich eine Antwort, was ihm ein seltsam kribbelndes Gefühl in der Magengegend verpasste.

„Lauri?!“

„Was zum Teufel machst du da?“

„Ich … ich hänge fest! Mein Bein ist eingeklemmt …“ Völlig durchgefroren klammerte Finn sich an einen Holzbalken und versuchte seinen Kopf über Wasser zu halten. Ohne zu zögern tauchte Lauri unter und tastete sich bis zu der Stelle vor an der Finns Bein zwischen einigen Balken eingeklemmt war. Er rüttelte am Damm, was unter Wasser schon nicht besonders einfach war, aber die Balken waren ohnehin dermaßen ineinander verkeilt, dass er Finns Bein nicht befreien konnte. Ein stechendes Gefühl in der Brust erinnerte ihn daran aufzutauchen und Luft zu holen.

„Lauri?! Die Balken sind zu schwer …“ In Finns Augen spiegelte sich die Panik wieder, da das Wasser immer noch langsam anstieg und ihm mittlerweile nicht nur sprichwörtlich bis zum Hals stand.

„Warte!“

Der dunkelhaarige junge Mann war mit wenigen Zügen wieder am Ufer und suchte hektisch den Waldboden ab.

„Komm schon!“, sagte er mehr zu sich selbst und bemühte sich bedacht zu handeln, auch wenn die furchtbare Vorstellung eines leblosen Körpers im Wasser ihm fast den Verstand raubte. Da! Endlich! Er wog den stabilen Ast einen kurzen Moment abschätzend in der Hand.

„Lauri?!“

Finns Stimme riss ihn sofort zurück in die Realität. Er rannte zurück zum Fluss und sprang mit dem Ast erneut ins Wasser. Finn musste bereits den Kopf in den Nacken legen und schluckte trotzdem immer wieder Wasser.

„Warte! Ich hol dich da raus!“, versprach Lauri mit einem festen Blick in Finns Augen, bevor er wieder abtauchte. Sofort fand er den richtigen Ansatzpunkt und hebelte die Holzblöcke ein Stück auseinander. Finn musste gespürt haben, dass der Druck nachgelassen hatte, denn sofort zog er sein Bein aus der entstandenen Lücke.

Völlig entkräftet und durchgefroren schleppten die beide sich ans Ufer. Erst jetzt spürte Lauri selbst den Schmerz in seinen Lungen und die beißende Kälte, die durch seine nasse Kleidung noch verschlimmert wurde. Eine Weile lagen beide schwer atmend aber schweigend am Ufer.

„Danke!“, drang Finns Stimme gedämpft zu ihm herüber. „Wenn du nicht gewesen wärst …“

Finn beendete den Satz nicht und Lauri schüttelte müde den Kopf, um diesen Gedanken los zu werden. Ja, was wäre wenn …?

Als er wenig später aufstand und sich hinter Finn aufs Pferd setzte, stieg eine wahnsinnige Wut in ihm auf. Colin! Beinahe hätte dieser ekelhafte feige und schmierige Kerl, auf dessen Mist diese ganze Aktion mit Sicherheit gewachsen war, seinen eigenen Cousin auf dem Gewissen gehabt. Ohne mit der Wimper zu zucken.

„Was für eine abartige Brut! Die haben alle nichts Besseres verdient als den Tod!“, schoss es Lauri durch den Kopf und er griff die Zügel so fest, dass das Leder ihm schmerzhaft in die Hände schnitt, nur um sich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.


Müde! Einfach nur müde! Und diese Kälte. Finn zitterte am ganzen Körper. Die Kleidung klebte ihm klamm auf der Haut und der kalte Wind tat sein Übriges. Dass sein Verstand sich abgeschaltet hatte, war ihm eigentlich ganz recht. Nach diesem Vorfall wollte er gar nicht mehr denken. Im Grunde war es aber nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die dämlichen Sticheleien und verhältnismäßig harmlosen Prügeleien von Colin zu etwas anderem, Gefährlicherem führen würden. In dieser Hinsicht war sein Cousin leider skrupellos.

Gott sei Dank, war Lauri rechtzeitig dagewesen. Warum war er überhaupt da? Finn schloss erschöpft die Augen. Er konnte jetzt einfach nicht denken. Mit einem leisen Seufzen lehnte er sich vorsichtig an Lauris Brust. Auch wenn dessen Kleider genauso nass waren, spürte Finn die Wärme des Körpers, was ihn etwas weniger frösteln ließ.

Nur noch schlafen … Das wünschte er sich im Moment.

Endlich konnte er die Lichter des Lagers erkennen und die Stimmen der Männer hören, die sich wahrscheinlich wie immer zum größten Teil um das große Feuer gescharrt hatten.

Lauri lenkte den Hengst zur Rückseite der Hütte und Finn konnte es langsam kaum erwarten endlich in trockene Kleider zu schlüpfen, sodass er Colin und seine Anhänger fast nicht bemerkt hatte. Doch die plötzliche Anspannung von Lauris Körper ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren.

Die jungen Männer lachten und stießen sich gegenseitig an, als sie die beiden Rückkehrer entdeckten. Colin nickte abfällig in die Richtung der Beiden.

„Ach wie dumm! Ist der kleine Finn etwa ins Wasser gefallen?! Na zum Glück war sein Kindermädchen ja da, um ihn auszufischen!“ Seine Jungs grölten zustimmend.

Finn war überrascht wie schnell Lauri vom Pferd gesprungen war. Ungläubig beobachtete er wie der dunkelhaarige junge Mann das Lager durchquerte, Colin am Kragen packte und ihn von seinem Platz am wärmenden Feuer auf die Beine zog.

Die Gespräche und das Gelächter waren schlagartig verstummt, während alle zum Teil neugierig, zum Teil überrascht die beiden Gestalten beobachteten, die sich nun am Feuer gegenüberstanden.

„Das wagst du nicht du Bastard!“, zischte Colin, doch Finn erkannte an seiner steifen Körperhaltung und den weit aufgerissenen Augen, dass er sich wohl doch nicht so sicher war, ob der deutlich stärkere Lauri nicht doch zuschlagen würde.

„Meinst du?!“, presste Lauri zwischen den Zähnen hervor und ballte seine rechte Hand bedrohlich zur Faust.

Finn kletterte ungelenk vom Pferd. Seine Beine waren noch steif von der Kälte und das eine Bein schmerzte da, wo es zwischen den Balken eingeklemmt gewesen war.

„Hey, hört auf damit! Lauri! Er ist es nicht wert!“

Nicht, dass Finn sich nicht gewünscht hätte, dass Colin auch mal ein paar Schläge einstecken müsste. Finn hatte Colins Trupp im Auge, die aufgesprungen waren und ihrem Anführer sicher nur zu gern zu Hilfe kommen würde. Und auch wenn Lauri sicher stark und wendig war, konnte er es sicher nicht mit einer solchen Überzahl aufnehmen.

„Ich habe Angst um ihn?!“, bemerkte Finn verwundert, als Lauri sich scheinbar etwas entspannte und sich zu Finn umdrehte.

Dann ging es plötzlich ganz schnell.

„NEIN!“, schrie Finn und Lauri schien die Bewegung auch aus dem Augenwinkel bemerkt zu haben. Dennoch war er diesmal zu langsam.

Der Holzscheit, den Colin in diesem kurzen unachtsamen Moment vom Stapel Feuerholz gegriffen hatte, traf Lauri hart an der Schläfe.

Der Körper des jungen Mannes sackte sofort in sich zusammen, was alle anderen auf dem Platz aus ihrer Erstarrung riss. Die Männer aus Colins Trupp stürmten los und malträtierten den bereits am Boden liegenden jungen Mann mit weiteren Schlägen und Tritten.

„NEIN! Hört auf! Sofort!“

Finn stolperte los und bemühte sich nach Kräften die anderen Männer an der Schlägerei zu hindern.

„Was ist hier los?“

Luca hatte nicht laut gesprochen, aber seine eisige Stimme schnitt durch die Luft und ließ alle sofort innehalten. Mit Genzo im Schlepptau machte der Anführer einige wenige Schritte auf die Gruppe zu. Kalt und bedrohlich langsam sprach er weiter: „Ich dulde keine Schlägereien in meinem Lager!“ Er warf seinem Sohn und seinem Neffen warnende Blicke zu.

„Colin! Finn! In mein Zimmer! Sofort!“

„Aber …“ Finn warf einen entsetzten Blick auf Lauris regungslosen Körper.

„SOFORT!“

Nur mühsam konnte Finn sich zwingen seinem Vater Folge zu leisten. Genzo grinste ihn mit seinen verfaulten Zähnen an, bevor er in die Runde brüllte: „Und der Rest von euch verzieht sich jetzt besser!“

Immer noch zitternd stand Finn vor dem groben Schreibtisch seines Vaters. Es schien ihm fast so, als würde sein Körper sich selbstständig machen. Innerlich drängte alles an ihm nach draußen. Der Gedanke an Lauris gekrümmten Körper am Boden machte ihn wahnsinnig. Sich auf die Worte seines Vaters zu konzentrieren war fast unmöglich.

„… ich habe keine Lust mehr, mir eure halbstarken Eskapaden anzusehen! Colin du reitest morgen zurück zu deinem Vater! ...“

Finn bemerkte schwach, dass Colin protestieren wollte, sich jedoch gerade noch zusammenreißen konnte, sodass Luca eisig weitersprach.

„Du wirst dort etwas für mich abholen. Dein Vater weiß Bescheid! Und du Finn …“

Erschrocken sah Finn auf. Luca betrachtete seinen Sohn einen Moment abschätzend.

„Du wirst die Hütte auf der Lichtung im Süden wieder aufbauen!“

„Die … die Hütte …?“

„… die im Sommer von diesen dummen Bauerntölpeln abgefackelt wurde! Im kommenden Sommer brauche ich die Hütte! Daher erwarte ich, dass du die Baracke wieder instand setzt!“

Finn öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber der kalte Blick seines Vaters ließ ihn verstummen.

„Bevor die Hütte nicht steht, brauchst du nicht wieder hier aufzutauchen. Und jetzt: Aus meinen Augen! Alle beide!“

Luca vertiefte sich augenblicklich in seinen Unterlagen und machte damit deutlich, dass das ohnehin äußerst einseitige Gespräch beendet war.

Colin grinste seinen Cousin selbstgefällig an und rempelte Finn beim Verlassen des Raumes unsanft an.

Finn schluckte schwer ob der harten Worte seines Vaters. Dennoch war er in Gedanken sogleich wieder bei Lauri und rannte zurück zur Feuerstelle. Sein Herz schlug schneller als er den scheinbar leblosen Körper an derselben Stelle liegen sah, an der er den jungen Mann eben zurücklassen musste.

„Lauri?!“, flüsterte er eindringlich, als er neben dem dunkelhaarigen Jungen auf die Knie gefallen war. Erleichtert stellte er fest, dass Lauris Atem in der kalten Nachtluft in sichtbaren Wölkchen aufstieg.

„Lauri?!“, fragte er nochmal und strich diesem sanft eine Strähne aus dem Gesicht. Ein schmales Rinnsal getrockneten Blutes zog sich von Lauris Schläfe über dessen Wange bis hin zu seinen leicht geöffneten vollen Lippen, aus denen nun ein leises Stöhnen drang.

„Hey! Alles klar?“

Im selben Moment hätte Finn sich für diese dumme Frage ohrfeigen können und half Lauri sich vorsichtig aufzusetzen.

„Kannst du aufstehen?“

Lauri nickte nur schwach und ließ sich beim Aufstehen von Finn stützen.

„Du musst aus den nassen Sachen raus! Komm!“, murmelte Finn vor sich hin, als hätte er völlig vergessen, dass er selbst ebenfalls noch in den feucht-kalten Kleidern steckte.

Lauri ließ sich anstandslos von Finn in die Hütte führen. Trotzdem merkte Finn, dass Lauri langsam wieder zu Kräften kam. „Einfach unglaublich, was Lauri alles wegstecken kann!“, dachte er.

In Finns Zimmer angekommen, verschloss der blonde junge Mann zuerst die Tür und begann dann in der Kleidertruhe in der Ecke des Zimmers nach trockenen Hemden zu kramen.

„Hier! Das müsste passen!“

Als er sich zu Lauri umdrehte, stockte ihm der Atem. Der junge Mann hatte sein nasses Hemd gerade über den Kopf gezogen und wandte Finn den Rücken zu. Der durchtrainierte Körper schien wirklich perfekt, wären da nicht die großflächigen Prellungen, die sich bereits jetzt bläulich auf der glatten Haut abzeichneten.

„Oh mein Gott! Du siehst ja furchtbar aus!“

Lauri drehte Finn überrascht das Gesicht zu und ein erstes schwaches Grinsen ließ seine Mundwinkel zucken.

„Na danke!“

Finn spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

„Ähm, nein … also ich meine …äh … wie die Jungs dich zugerichtet haben!“

Lauri ließ vorsichtig seine linke Schulter kreisen und tastete anschließend abschätzend über seine Rippen. Finn fiel es dabei schwer, seinen Atem unter Kontrolle zu halten. Denn abgesehen von den Blessuren, bot sich ihm eigentlich ein sehr angenehmer Anblick. Er fühlte wieder dieses Kribbeln in der Magengegend und zwang sich den Blick von diesem makellosen Körper zu wenden. So nah …

„Mh, hab schon Schlimmeres erlebt. Scheint nichts gebrochen zu sein …“, brummte Lauri und schien von Finns Gefühlschaos zum Glück nichts mitzubekommen.

„Darf ich?“

„Mh?“

Verwirrt starrte Finn auf Lauris ausgestreckte Hand.

„Das Hemd?“, half Lauri nach und nickte in Richtung des Kleidungsstückes, das Finn immer noch fest umklammert hielt. Ein erneutes Grinsen konnte Lauri sich dabei nur schwerlich verkneifen.

„Oh, äh … ja natürlich!“, stammelte Finn und spürte einen erneuten Schwall Blut in seinem Gesicht aufsteigen. Peinlich, einfach nur peinlich …

„Tut mir leid!“

„Schon gut!“

Amüsiert warf Lauri das trockene Hemd über.

„Nein, ähm … ich meine … ich hab das Gefühl, dass ich dich ständig in Schwierigkeiten bringe …“

„Da könntest du recht haben!“, grinste der dunkelhaarige junge Mann. Als er Finns niedergeschlagenen Gesichtsausdruck bemerkte, trat er einige Schritte näher und lächelte Finn so zärtlich an, dass diesem erneut ganz warm wurde.

„Hey, mach dir keine Gedanken, ok?“

Finn schluckte schwer und nickte stumm. So nah …

Wie gerne würde er Lauri jetzt berühren. Er bräuchte nur die Hand auszustrecken, um die warme weiche Haut seines Gegenübers mit den Fingerspitzen zu streifen.

Aber was, wenn Lauri gar nichts in dieser Richtung empfand? Was, wenn er Finn für einen ekelhaften Perversen halten würde?

Lauri schien derweil gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht betastete er die blutige Beule an seiner Schläfe und stöhnte dabei leicht auf.

Sollte er einen Versuch wagen? Finn kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe und nestelte nervös am Saum seines immer noch feuchten Hemdes. Zumindest schien Lauri ihn ja in welcher Form auch immer zu mögen. Schließlich hatte er ihm heute nicht nur mal wieder das Leben gerettet, sondern auch irgendwie für Finn diese Schlägerei in Kauf genommen. Zumindest bildete er sich das ein …

„Du solltest dich wirklich etwas ausruhen …“, begann er unsicher.

„Ja, hast wahrscheinlich recht!“, brummte Lauri während er sich mit seinem alten, feuchten Hemd das getrocknete Blut vom Gesicht wischte.

Finn holte tief Luft und nahm seinen ganzen Mut zusammen in der Hoffnung, dass seine Stimme selbstbewusst klingen möge.

„Also … wenn, wenn du willst …“ Lauri sah überrascht auf und der Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, brachte Finn völlig aus dem Konzept, sodass er hektisch weiter stammelte:

„… also ich meine, du, du könntest auch hier bleiben … heute Nacht …“

Lauris Blick, der starr auf Finn gerichtet war, ließ sich nicht deuten. Finn schlug das Herz bis zum Hals. Dieses Gefühl kaum noch Luft zu bekommen, verstärkte sich noch ins unermessliche, als Lauri langsam den letzten Meter zwischen sich und Finn hinter sich brachte. Er stand jetzt so nah vor Finn, dass dieser die Wärme von Lauris Körper spüren konnte und befürchtete der hübsche junge Mann könne seinen Herzschlag hören. Als er tief einatmete, bemerkte er zusätzlich den angenehm erdigen Duft, der von Lauri ausging, was es ihm noch schwerer machte sich zu konzentrieren.

„Bitte sag was!“, flehte Finn innerlich und zwang sich seinem Gegenüber in die wunderschönen strahlenden Augen zu sehen, die ihm doch keine Antwort offenbarten.

Lauri atmete geräuschvoll aus und es schien Finn fast so, als würde er einen Moment überlegen. Finn bemerkte überrascht, dass Lauri seine Hand gehoben hatte und sich scheinbar unsicher war, was er jetzt mit seiner Hand anfangen sollte. Zögerlich ergriff er eine blonde Haarsträhne und strich diese sanft zur Seite. Finn hatte die Luft angehalten und befürchtete gleich in Ohnmacht zu fallen.

„Finn …“ Lauris Stimme klang seltsam belegt. Er sah mit einem Mal fast gequält aus und seine Blicke schienen Finn um Verzeihung zu bitten, als er mühsam herausbrachte: „Ich … tut mir leid Finn! Ich kann nicht!“

Finn bemühte sich krampfhaft die Fassung zu wahren, bis Lauri sich gnädigerweise abwand, nach seinem Hemd griff und sich anschließend wortlos nach draußen verzog.

Als die Tür ins Schloss fiel, fiel auch die Anspannung von Finn ab. Erschöpft sackte er in der Mitte des Zimmers zusammen und schlug sich die Hände vors Gesicht.

Oh Gott wie peinlich! Er schämte sich vor sich selbst und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Was Lauri jetzt wohl von ihm dachte? Wahrscheinlich hatte er gerade alles versaut! Als sein Puls sich einigermaßen beruhigt hatte, spürte er wie die Müdigkeit ihn überrollte. Mit letzter Kraft zog er die feuchten Kleider aus, in denen er immer noch steckte, und kroch fröstelnd unter die wärmenden Decken.

Sowieso alles unerheblich. Ab Morgen würde er ja ohnehin auf der südlichen Lichtung sein und diese beschissene Hütte wieder aufbauen. Vielleicht wäre Gras über die Sache gewachsen, bis er mit dieser dämlichen Aufgabe fertig war.


Fast fluchtartig hatte er die kleine Stube verlassen. Als die Tür ins Schloss fiel, lehnte er sich schwer gegen das raue Holz und fuhr sich mit der Hand fahrig durchs Gesicht.

Nicht genug, dass die Beule an seiner Schläfe schmerzhaft pochte, eine Flut von Bildern und Gedanken wirbelte verwirrend in seinem Kopf herum. War es überhaupt noch möglich Ordnung in dieses Chaos zu bringen?

Einen Moment hielt er die Luft an und lauschte angestrengt. Aus Finns Zimmer drang kein Laut.

„Verdammt, was passiert mit mir?“, fuhr es ihm durch den Kopf.

Lautlos stieß er sich von der Holztür ab und schlich aus der Hütte.

Obwohl er eben noch gefroren hatte, tat ihm die kalte Nachtluft jetzt gut. Er atmete einige Male tief ein, um den Kopf freizubekommen, was ihm aber nicht ganz gelingen wollte.

Die Geschehnisse des Tages liefen an seinem inneren Auge vorbei und hinterließen nur noch mehr Fragen.

Warum zum Teufel war Finn ihm auf einmal so wichtig geworden? Warum riskierte er alles, um diesen Idioten immer wieder aus dem Schlamassel zu holen? Er hatte schon so viele Fehler gemacht, die seinen Plan gefährdeten. Eigentlich wäre es sinnvoller gewesen sich auf Colins Seite zu schlagen, aber allein der Gedanke, sich bei diesem miesen Angeber anzubiedern, widerte Lauri dermaßen an, dass er einen Würgereiz unterdrücken musste.

Und dann war da noch Finns Blick von eben …

Es schien Lauri fast so, als würden sein Körper und sein Verstand ständig gegeneinander arbeiten. Seit Jahren hatte es keinen Menschen mehr gegeben, dessen Nähe er sich ständig so sehr wünschte. Manchmal fühlte es sich fast so an, als könne er nur in Finns Gegenwart frei atmen. Wahrscheinlich verursachte ihm die Vorstellung, dem jungen Mann könne etwas zustoßen, deshalb ein so Übelkeit erregendes Gefühl im Magen. Sein Körper schien ihn zu Finn zu ziehen, obwohl sein Verstand ihm sagte, wie dumm das sei. Er fühlte sich so zerrissen und hilflos wie schon lange nicht mehr. Das Schlimmste war wahrscheinlich, dass Finn so eindeutige Signale aussandte. Natürlich waren Lauri Finns Blicke nicht entgangen. Natürlich hatte er gesehen, wie oft Finn in seiner Gegenwart rot wurde und natürlich hatte er bemerkt, dass auch Finn seine Nähe suchte. Es wäre so einfach gewesen, dem nachzugeben. Auch heute Abend … Nur mit Mühe hatte er sich losreißen können, indem er sich fest an seinen Plan klammerte, wie an einen Anker, der ihn mit sich in die Tiefe zog. Und gleichzeitig fühlte er sich trotzdem irgendwie schuldig.

Müde zog er sich in seine Ecke zurück, wickelte sich in eine Decke und bemühte sich wenigstens ein bisschen auszuruhen.

Über Nacht war das Wetter noch schlechter geworden. Zwar schneite es nicht, aber der eisige Wind peitschte ihm den Regen unbarmherzig ins Gesicht. Dennoch versuchte er sich durch die Arbeit von all zu viel Grübelei abzulenken. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Finn ihm bis jetzt noch nicht über den Weg gelaufen war. Auch wenn ein Teil von Lauri sich nach wie vor danach sehnte.

Auch Colin ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Als es nach Mittag war und Lauri immer noch keinen von beiden gesehen hatte, breitete sich langsam ein leichtes Unbehagen in ihm aus. Ständig wanderte sein Blick hektisch umher und suchte die Umgebung ab.

„Träum nicht!“ Mit einem unsanften Schlag auf den Hinterkopf holte Genzo den jungen Mann zurück in die Realität. Da Lauris Schädel noch vom gestrigen Schlag schmerzte, musste er die Lippen zusammenpressen, um keinen Laut der Schwäche von sich zu geben.

„Hier! Stell mein Pferd unter!“, raunzte Genzo und klopfte seine schmutzigen Hände an seiner Kleidung ab, nachdem er Lauri die Zügel zugeworfen hatte.

Stumm und mit zusammengebissenen Zähnen führte Lauri das Tier die wenigen Schritte um die Ecke der Hütte, während Genzo mit selbstgefälligem Grinsen dabei zu sah.

Als Lauri den Hengst angebunden hatte, sah er nur kurz zu den anderen Tieren herüber. Die plötzliche Übelkeit, die in ihm hochstieg, ließ sein Herz sofort schneller schlagen.

Finns braune Stute fehlte. Und der schwarze Hengst von Colin auch.

Kein Wunder, dass er die beiden heute noch nicht gesehen hatte. Sie waren nicht da!

Die Bilder des gestrigen Tages schossen ihm sofort schmerzhaft durch den Kopf und zogen noch einige weitere nicht minder schreckliche Bilder nach sich. Verdammt! Waren die beiden zusammen weg? War Finn in Gefahr? Wo steckten die beiden nur?

Vorsichtig schielte Lauri um die Ecke. Genzo stand lässig an die Holzwand gelehnt, die Arme vor der fetten Brust verschränkt. Er kaute auf einigen Tabakblättern herum und betrachtete gelangweilt den Platz, der dank des Regens langsam im Schlamm versank.

Um irgendwie beschäftigt zu wirken, begann Lauri den Hengst zu striegeln und fragte mit betont gleichgültiger Stimme: „Wo sind denn Colin und Finn?“

Genzo wandte ihm nicht mal das Gesicht zu, als er ausspuckte und abfällig brummte: „Kriegst wohl gar nichts mit?! Nach der Prügelei hat Luca den beiden Hitzköpfen erst mal ne Strafe aufgebrummt!“ Lauri hielt den Atem an und spürte, wie der lederne Zügel im schmerzhaft in die Hand schnitt, weil er vor lauter Anspannung zu feste zupackte.

„Colin ist auf dem Weg zu seinem Vater und Finn baut die Hütte auf der südlichen Lichtung wieder auf …“ Genzo ließ ein grunzendes Lachen vernehmen. „… oder zumindest versucht er’s!“

Lauri wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte, weil die beiden voneinander getrennt waren, oder ob doch die Wut überwiegte, über diese schwachsinnige Aufgabe, die Luca seinem Sohn gegeben hatte. Allein? Bei diesem Wetter? Das war der reinste Selbstmord!

„Das kann er unmöglich alleine schaffen!“, grummelte Lauri vor sich hin.

„Kannst ihm ja helfen, wenn du unbedingt willst!“, lachte Genzo gehässig und spuckte erneut geräuschvoll aus.

Lauri überlegte nicht lange. Mal wieder schien sein Körper völlig selbstständig und ohne Rücksprache mit seinem Verstand zu handeln. Er ließ den verdutzen Genzo stehen, packte schnell einige Vorräte und Decken ein, schnappte sich eines der Pferde und machte sich trotz, oder doch wegen des denkbar schlechten Wetters auf den Weg zur Lichtung.

Die Kapuze des schweren Umhangs tief ins Gesicht gezogen ärgerte er sich immer noch über diese unsinnige Aktion und gleichzeitig über sich selbst. Jetzt lief er Finn schon wieder hinterher.

Das schlechte Wetter hinderte ihn an einem raschen Vorankommen, sodass er für den Weg zur Lichtung länger brauchte als gedacht. Der eiskalte Regen peitschte ihm wie tausende kleine Nadeln ins Gesicht. Seine Hände schienen an den Zügeln festgefroren und das Pferd rutschte auf dem aufgeweichten Waldboden immer wieder aus, sodass es nur langsam voran ging. Das verbesserte seine Laune nicht besonders und als er am Rande der Lichtung angekommen war, musste er ob des Anblicks einen Moment innehalten.

Die Hütte war etwas kleiner als das Haupthaus im Lager und bestand ursprünglich aus drei Räumen. Durch den Anschlag der Dorfbauern war jedoch die eine Hälfte fast völlig abgebrannt. Das Dach war zu einem Drittel eingebrochen und die verkohlten Balken hatten beim Einsturz die halbe Vorderwand mitgerissen.

Die Arbeit würde sicher auch vier bis fünf Männer einige Zeit beschäftigen. Das Finn diese Aufgabe alleine bewältigen sollte, war einfach nur Wahnsinn.

Lauris Wut kochte erneut hoch, insbesondere, weil Finn bei diesem Wetter tatsächlich auf den verkohlten Balken herumkletterte, statt im Inneren des intakten Teils der Hütte auf besseres Wetter zu warten.

Zähneknirschend musste er mit ansehen, wie Finn immer wieder auf den nassen Balken ausrutschte und ohnehin schon völlig fertig war. Für körperliche Arbeit war Finn einfach nicht geschaffen. Gerade versuchte Finn einen der schweren Trägerbalken für die Dachkonstruktion zurück in seine ursprüngliche Position zu heben. Völlig aussichtslos.

Lauri ahnte genug, um schnellstmöglich eingreifen zu wollen. Wenige Schritte vor der Hütte sprang er ab und konnte den massiven Balken gerade noch rechtzeitig abfangen, bevor dieser den hübschen Kopf des jungen Mannes zertrümmern konnte.

Finn hatte in Erwartung des Schlages bereits die Augen zusammengekniffen und die Schultern schützend hochgezogen, als er bemerkte, wie ihm der rutschige Holzbalken aus den Händen glitt.

Umso erstaunter starrte er jetzt Lauri an, der mit wutverzerrtem Gesicht den aufgefangenen Balken wegschleuderte.

„Was zum Teufel tust du da?“, brüllte Lauri.

Finn schien zunächst völlig erstarrt und begann dann stammelnd weiter nach den Trümmern zu greifen.

„Ich … ich muss die Hütte aufbauen …!“

„Willst du dich umbringen oder was? Hör sofort auf und komm mit rein!“

Lauri kam es fast so vor, als würden seine Worte den völlig erschöpften jungen Mann gar nicht erreichen. Entgeistert stellte er fest, dass Finn immer noch weiter versuchte seine Aufgabe zu erfüllen, obwohl sowohl Wind als auch Regen noch an Stärke zugenommen hatten. Da Finn auch auf weitere Zurufe nicht reagierte, handelte Lauri schließlich kurzentschlossen.

Der Faustschlag traf Finn am Kinn. Nicht stark genug, um ihn ernsthaft zu verletzen, aber immer noch schmerzhaft genug, um Finn endlich wieder in die Realität zurückzuholen. Mit plötzlich wachem, wenn auch erschrockenem, Blick starrte Finn ihn an und schien Lauri erst jetzt wirklich wahrzunehmen.

„Komm!“, befahl Lauri diesmal nur knapp und Finn folgte ihm wie ein Hund in die Hütte.

Finn stand noch etwas unschlüssig im trockenen Teil der Baracke und rieb sich das schmerzende Kinn, während Lauri eilig die Satteltasche ins Trockene holte. Mit wenigen Handgriffen entfachte er im gemauerten Kamin ein Feuer und drückte Finn anschließend eine der Decken in die Hand.

„Hast du schon was gegessen?“

Finn schüttelte leicht den Kopf und wickelte sich dabei zitternd in die wärmende Decke.

„Was zum Henker geht eigentlich in seinem Kopf vor?“, dachte Lauri grimmig während er aus den Satteltaschen Brot, Käse und Wein hervorzauberte.

„Wie kann man nur so unvorbereitet an so eine Sache herangehen?“

Schroff knallte er die Lebensmittel auf den schmalen Holztisch und versuchte dabei wieder seinen Atem zu beruhigen.

Finn hatte sich die ganze Zeit kaum gerührt und Lauri hatte auch vermieden ihn anzusehen, weil er ihm vor lauter Wut am liebsten noch ein paar rein gehauen hätte. Es fiel ihm schwer sich zu beruhigen und gleichzeitig schwirrte die Frage in seinem Kopf, warum dem so war.

„Bist du sauer?“

Fast hätte er Finns schüchterne Frage überhört. Er presste die Lippen fest aufeinander.

„Auf mich?“

Unwirsch fuhr Lauri herum.

„Natürlich bin ich sauer du Idiot! Was sollte denn das bitteschön? Glaubst du vielleicht, ich fische dich aus dem Wasser, damit du dich hier umbringen kannst?“

Beim Anblick von Finns überraschten großen Augen wurde er endlich ruhiger. Seufzend wand er sich ab, griff nach dem Weinschlauch und ließ sich ebenfalls in eine Decke gewickelt vor dem Feuer nieder.

Langsam, so als wolle er Lauri nicht erschrecken, sank auch Finn auf den Boden und starrte wie er in die Flammen. Eine Weile blieben beide stumm, bis Finns Stimme plötzlich leise herüberklang.

„Weißt du, ich wollte ihm eigentlich immer alles Recht machen. Wollte, dass er stolz auf mich ist. Ich hab mir immer solche Mühe gegeben, aber ich glaube, ich habe ihn jedes Mal enttäuscht …“

Lauri hatte schon bei den ersten Worten verstanden, dass Finn von seinem Vater sprach und mit einem Mal erkannte er, dass seine Wut eigentlich Luca galt und nicht Finn.

„Dass er mich zurück nach Wessington Forrest geholt hat, gab mir erst Mut, weil ich dachte, das wäre die Chance. Aber ich glaube ich habe mich getäuscht …“

Eine Weile schwieg Finn und Lauri versuchte ihn unauffällig aus den Augenwinkeln zu beobachten. Waren das Tränen, die in Finns Augen glitzerten?

Finn schien sich wieder gefangen zu haben, als er weiter sprach:

„Ich glaube, ich kann meinem Vater nichts Recht machen. Ich glaube, er empfindet gar nichts für mich - außer vielleicht Scham …“

Lauri hätte ihm gern widersprochen, um Finn zu trösten. Aber er konnte nicht, da er wusste, dass Finn wahrscheinlich die Wahrheit sagte. Mit einem Mal empfand er tiefes Mitleid für Finn und die kleine aber ausgesprochen verwirrende Frage, wer von beiden es schlechter getroffen hatte, waberte durch seine Gedanken. Er hatte seinen Vater zwar gewaltsam verloren, doch wusste er mit tiefster Gewissheit, dass sein Vater ihn stets über alle Maßen geliebt hatte, so sehr, dass seine letzte Tat war, seinem Sohn das Leben zu retten. War es nicht viel schlimmer zwar noch einen Vater zu haben und doch zu wissen, dass dieser einen überhaupt nicht liebt?

Und war das nicht ein weiterer Grund Luca zu hassen? Wie konnte er das seinem eigenen Sohn nur antun?

„Manchmal glaube ich, er würde sich wünschen, dass Colin sein Sohn ist und nicht ich …“ Finn hatte die Knie angezogen und mit seinen Armen fest umschlungen, so als müsse er sich selbst umarmen, weil es ja sonst niemand tat.

Lauri fühlte sich schlecht. Er hatte immer von sich selbst gedacht, der einsamste Mensch auf Erden zu sein, aber gerade befürchtete er, diesen Titel vielleicht zu schnell an sich gerissen zu haben.


Er konnte nicht mehr weiter sprechen. Der Kloß im Hals war einfach zu groß. Und es wäre einfach viel zu peinlich gewesen vor Lauri in Tränen auszubrechen, wie ein kleines Mädchen. Also schluckte er nur schwer und bemühte sich, sich zusammen zu reißen.

Davon mal ganz abgesehen hatte er ohnehin schon viel zu viel gesagt. Finn zog die Beine noch etwas enger an seinen Körper und legte seine Stirn auf den Knien ab. Sein Kopf war plötzlich bleischwer und ihm war kalt. Er zitterte von einer inneren Kälte, die kein Feuer und keine Decke zu vertreiben vermochte.

„Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Lauri mir nicht jedes Mal das Leben gerettet hätte …“, schoss es ihm durch den Kopf und er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht doch noch loszuheulen. Vielleicht wären dann jetzt alle Beteiligten glücklich!

Plötzlich spürte er Lauris Hand auf seiner Schulter. Erst zögerlich streiften seine Fingerspitzen von Finns Schulter hin zu seinem Nacken. Finn wagte kaum mehr zu atmen und die meisten Gedanken von eben wurden in Sekundenschnelle verdrängt. Jetzt spürte er nur noch das Kribbeln, das sich überall da wärmend ausbreitete, wo Lauris Finger ihn berührten. Als Lauri seine Finger in Finns Haar vergrub, gab Finn dem leichten Druck von Lauris Hand sofort nach, die ihn sanft in Lauris Richtung zog. Seine Stirn sank schwer an Lauris Brust und er behielt die Augen geschlossen, als er Lauris warmen Atem im Haar spürte. Er konnte Lauris regelmäßigen kräftigen Herzschlag hören, was ihn ruhiger werden ließ. Es war fast so, als würden all die negativen Gedanken durch diese sanfte, zurückhaltende Umarmung von ihm ferngehalten. Er spürte die Wärme und die angenehme Schwere von Lauris Wange an seiner Schläfe. Manchmal strichen Lauris Finger sacht über Finns Haar.

Doch nachdem er sich wieder beruhigt hatte und die Gedanken an seinen Vater erfolgreich verdrängt hatte, schlichen sich wiederum ganz andere Bilder in seinen Kopf, die seinen Puls wieder beschleunigen ließen.

Er wünschte sich, dass Lauri nicht aufhören würde, ihn zu berühren und er wünschte sich, selbst mehr von Lauri zu spüren. Zaghaft ließ er mit seiner linken Hand seine bis dahin noch immer umklammerten Knie los. Sollte er es wirklich noch mal versuchen? Nachdem der gestrige Abend ja eigentlich schon nicht mehr an Peinlichkeit zu überbieten war …

Aber konnte er die sanften Berührungen von Lauri nicht als Zugeständnis verstehen?

Er spürte, dass sein Herz wieder angefangen hatte schneller zu schlagen und er fragte sich, ob Lauri das wohl auch spüren konnte?

Vorsichtig ließ er seine Hand auf Lauris Brust sinken und wartete aufgeregt auf eine Reaktion. Vielleicht bildete er sich nur ein, dass Lauri ganz kurz innegehalten hatte. Nach wie vor spürte er seinen warmen Atem im Haar und seine Fingerspitzen, die mit einzelnen Haarsträhnen spielten.

Als Lauris Hand seinen Nacken streifte, fuhr ihm ein Schauer über den Rücken und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob das richtig sein konnte, was er gerade fühlte.

Bei dem Hausmädchen im Haus seines Onkels hatte er nie ein solches Bedürfnis verspürt, aber jetzt machte ihn der Gedanke daran Lauris weiche Lippen zu berühren fast wahnsinnig. Langsam schob er seine Hand weiter nach oben, über Lauris Schulter und dann vorsichtig über dessen Halsbeuge. Das Gefühl der warmen weichen Haut unter seinen Finger jagte ihm erneut einen wohligen Schauer durch den Körper und diesmal war er sich ziemlich sicher, dass Lauri für einen kurzen Moment den Atem angehalten halte.

Da er jedoch nicht aufhörte durch Finns Haar zu streichen, fühlte Finn sich ermutigt und wagte es den Kopf zu heben.

Lauri blickte ihn aus aufmerksamen Augen ab, hatte seine Hand aber nach wie vor in Finns blonden Strähnen vergraben und machte auch nicht den Eindruck, als wolle er dies in nächster Zeit ändern.

Zaghaft stahlen sich Finns Fingerspitzen weiter nach oben, über die weiche Haut an Lauris Hals, bis zu seiner Wange und dann ganz langsam zu den vollen Lippen, die sich bei der Berührung leicht öffneten. Finn musste schwer schlucken, als sich das prickelnde Gefühl aus seinen Fingerspitzen in seinem gesamten Körper ausbreitete. Fragend wanderte sein Blick immer wieder zwischen Lauris wachen Augen und dessen Lippen hin und her. Sollte er es wagen? Bis jetzt hatte Lauri sich ja nicht unbedingt gewehrt. Auf der anderen Seite konnte Finn aus Lauris Blick leider nicht ablesen, ob dieser einen Kuss erwidern würde, oder ob er Finn im nächsten Moment angewidert von sich wegstoßen würde.

Die Gesichter der beiden waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, sodass Finn Lauris warmen Atem direkt auf seinen eigenen Lippen spüren konnte. Einen kurzen Moment verharrte Finn unentschlossen.

„Wenn es nicht das Richtige ist, ist es jetzt sowieso schon zu spät …“, schoss es ihm durch den Kopf und mit einem letzten fragenden Blick in Lauris unergründliche blaue Augen, drückte er seine Lippen sanft auf die des jungen Mannes.

Lauri wehrte sich nicht. Er schubste ihn nicht weg und wandte auch nicht das Gesicht ab.

Ein unbeschreibliches Glücksgefühl breitete sich in Finns Bauch aus. Vielleicht empfand Lauri ja tatsächlich auch mehr für ihn!?

Vorsichtig rückte er nun wieder von Lauri ab. Dieser hatte sich immer noch nicht gerührt und Finn wurde es schlagartig wieder flau im Magen, als er feststellte, dass Lauri ihn immer noch mit diesem unergründlichen Blick ansah.

Vielleicht war die ganze Aktion doch ein riesiger Fehler gewesen? Vielleicht mochte Lauri ihn nur so, wie man einen guten Freund oder einen Bruder mochte?

Lauri sah ihn einen quälend langen Moment so an, bis er den Blick niederschlug. Als er die Hand von Finns Nacken nahm, war es Finn so, als hätte man ihm dort stattdessen einen Eisklotz hingelegt. Unwillkürlich fing er an zu zittern.

Wortlos stand Lauri auf, nahm seinen Umhang und ließ Finn völlig verwirrt alleine in der Hütte zurück.

„Oh Gott … warum hab ich aus dem Abend gestern eigentlich nichts gelernt?“, fuhr es Finn durch den Kopf und vor lauter Scham wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Er wagte es nicht mal Lauri hinterher zu laufen, um ihn um Entschuldigung zu bitten.

„Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass mich morgen wirklich ein Holzbalken erschlägt!“, dachte er und wünschte sich im nächsten Moment tot umfallen zu können.

Als er kurz in die Nacht hinaus lauschte, hörte er, dass Lauri das Pferd bestieg und damit fortritt. Sicher würde er nicht wiederkommen.

„Wer will schon was mit so einem perversen Idioten wie mir zu tun haben?“

Noch unglücklicher machte ihn allerdings der Gedanke, auch einen Freund, vielleicht den Einzigen, verloren zu haben. Er konnte gar nichts dagegen tun, dass ihm die Tränen in die Augen schossen und ihm heiß über die Wangen liefen.

Im tiefen Bewusstsein völlig allein zu sein, versuchte er auch gar nicht erst, das zu verhindern.

Heulend rollte er sich mit seiner Decke vor dem Feuer zusammen und hoffte möglichst schnell einzuschlafen, um dann nie mehr aufzuwachen.


„Verdammte scheiße!“, fuhr ihm immer wieder durch den Kopf, als er das Pferd ohne Ziel durch den Wald führte. Zum Glück hatte es aufgehört zu regnen, aber der Wind pfiff ihm eiskalt durch die Kleider. Er wusste selbst nicht so genau, was gerade passiert war und warum er mal wieder so fluchtartig weggelaufen war. Eigentlich war er ein Feigling und an allem selbst Schuld. Im Grunde war es doch verständlich, dass Finn sein Verhalten als Einladung verstanden hatte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, was im schwerfiel, musste Lauri sich auch eingestehen, dass er es auch selbst so gewollt hatte. Er mochte Finn … auch so! Aber sein Verstand sagte ihm ständig, dass es seinem Plan nur schaden würde, sich auf so etwas einzulassen. Ihn störte nicht die Tatsache, dass Finn ein Junge war. Damit hatte er schon Erfahrung. Ihn störte … ja was störte ihn eigentlich? Lauri wusste es selbst nicht. Zerknirscht ritt er planlos durch den Wald, ohne sich jedoch zu weit von der Hütte zu entfernen. Gleichzeitig plagte ihn ein schlechtes Gewissen Finn gegenüber. Ihm war klar, dass Finn aus ihm nicht schlau werden konnte. Er konnte es ja selbst nicht. Seufzend ließ er den Kopf hängen und schloss die Augen. Die Erinnerung an Finns zurückhaltenden Kuss stahl sich sofort wieder in seine Gedanken und ließ ihn unwillkürlich grinsen. Irgendwie war Finn wirklich süß und Lauri konnte nicht leugnen, dass ihm die schüchternen Annäherungsversuche gefielen. Es hatte ihm auch gefallen, Finn so nah bei sich zu spüren, seinen Herzschlag, seinen Atem, seine Hände … seine Lippen …

„Ach verdammt, wieso eigentlich nicht?“, sagte er zu sich selbst. „Nur weil du Angst hast dich auf jemanden einzulassen?!“ Er wendete das Pferd und machte sich langsam auf den Weg zurück zur Lichtung. Jetzt musste er sich lieber überlegen, was er Finn sagen sollte. Wahrscheinlich war der arme Kerl total verwirrt.

Leise stieg er vom Pferd ab und band es neben Finns Stute an. Er lauschte konnte aber von drinnen keinen Laut vernehmen. Lautlos öffnete er die Tür und warf einen Blick in die Stube. Das Feuer war fast heruntergebrannt. Finn lag zitternd in die Decke gewickelt auf dem Boden und schien zu schlafen. Leise trat Lauri ein und legte zuerst ein paar Holzscheite nach. Dann setzte er sich neben Finn auf den Boden und betrachtete ihn ein wenig. Er sah selbst im Schlaf ziemlich fertig aus und mit schlechtem Gewissen stellte Lauri fest, dass Finn offenbar geweint hatte. Tränenspuren zogen sich über die hohen Wangen und die langen dunklen Wimpern glänzten noch feucht. „Tut mir leid!“, flüsterte Lauri schuldbewusst und strich Finn eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

Finn schlief weiter, aber langsam wurde er unruhig. Er zuckte im Schlaf und zitterte immer stärker, bis er sich irgendwann regelrecht hin und her warf und dabei ängstlich wimmerte, so wie damals, als Lauri Finn nach dem Angriff mit in seine Hütte genommen hatte. „Wieder Alpträume!?“, dachte Lauri bei sich und überlegte, ob er Finn aufwecken sollte.


Fröstelnd starrte er auf die bekannte grausige Szenerie. Wieder der junge Mann auf den Knien. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, den Mund weit aufgerissen, weil er etwas rief, was Finn nicht verstehen konnte. Dann die blitzende Klinge, der Schnitt und das Blut, so viel Blut …

Und dann die Augen. Diese leuchtenden wunderschönen Augen, die dann immer mehr an Glanz verloren und schließlich leer waren, wie der Körper, zu dem sie gehörten. Finn weinte bei diesem Anblick und wünschte wieder einmal, verhindern zu können, dass das passierte. Aber wie immer fühlte er sich machtlos und hatte das Gefühl, sich nicht rühren zu können.

„Finn! Finn …“

Erschrocken riss er die Augen auf und starrte in zwei ebenso wunderschöne und ebenso bekannte Augen.

„Hey! Nur ein Traum Finn! Hörst du? Nur ein Traum …“

„Ja und was für ein grausamer Traum!“, dachte er bei sich und konnte doch den Blick nicht von Lauris hübschem Gesicht abwenden, das direkt über seinem schwebte.

Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen, als er sich fragte, warum der Schlaf ihn mit solchen Träumen quälen musste. Nicht genug, Dinge mit ansehen zu müssen, die er nicht verhindern konnte, jetzt musste er auch noch von Dingen, oder besser von Menschen träumen, die völlig unerreichbar waren.

„Finn! Nicht weinen! Bitte! Du hast nur geträumt!“

Lauris Stimme drang so sanft an ihn heran und die zarte Berührung, als er Finns Tränen von dessen Wange wischte, fühlte sich so unglaublich echt an.

Langsam nahm Finn wieder wahr, wo er sich befand. Er lag nach wie vor in der Hütte, vor dem Feuer, das seltsamerweise immer noch brannte und Lauris dunklen Locken einen warmen rötlichen Schimmer verlieh.

„Seine Hand fühlt ich so echt an, weil sie echt ist!“, fuhr es im verwirrend durch den Kopf.

Sofort war die Scham wieder da. Unbeholfen rappelte er sich etwas auf und stammelte: „Lauri … ich … es tut mir …“

Weiter kam er nicht, weil Lauri seine Lippen mit einem sanften Kuss verschloss. Erstaunt erstarrte Finn und überlegte angestrengt, ob er vielleicht doch noch träumte. Seine Überlegungen wurden jedoch schnell zerstreut. Lauris rechte Hand grub sich wieder tief in sein Haar und zog ihn so nah an Lauri heran, das jeglicher Widerstand zwecklos gewesen wäre, aber Finn hätte ohnehin nicht daran gedacht, sich zu wehren.

Lauris Linke griff nach Finns Hand, da dieser sich immer noch nicht zu rühren wagte, und legte sie sanft auf seiner Schulter ab. Danach schlang er den Arm um Finn und zog so auch dessen Körper näher an sich heran. Ungläubig klammerte Finn sich an Lauri fest und bemerkte dabei, dass dieser bis eben noch draußen gewesen sein musste, denn seine Haut und Kleidung waren kühl und feucht.

Obwohl Lauri sehr sanft war, spürte Finn plötzlich, dass Lauri seinen Mund leicht geöffnet hatte und mit seiner Zungenspitze fordernd über Finns Lippen strich. Zaghaft öffnete er ebenfalls seine Lippen.

Obgleich er immer noch überrascht über Lauris plötzlichen Sinneswandel und dementsprechend verwirrt war, spürte Finn, dass sein Körper trotzdem auf Lauris Berührungen reagierte. Das angenehm unangenehme Kribbeln breitete sich diesmal sogar sehr schnell in seinem ganzen Körper aus und er spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss, obwohl sich ganz offensichtlich jede Menge davon schon in einem ganz anderen Körperteil befand. Zuerst war Finn das eher unangenehm, aber als Lauri sich noch etwas näher an Finn presste, musste er feststellen, dass es dem jungen Mann scheinbar nicht anders ging. Finn war sich allerdings noch unsicher, ob ihn das beruhigen oder eher beunruhigen sollte. So oder so verstärkte diese Erkenntnis die Reaktionen seines Körpers nur noch und er unterbrach die Verbindung der beiden Lippenpaare nur ungern und auch nur, um kurz nach Luft zu schnappen. Lauris Lippen wanderten derweil an Finns Hals abwärts, während seine Hände sanft unter Finns Hemd glitten. Obwohl er sich sehnlichst wünschte, dass Lauri nicht damit aufhörte, räusperte er sich kurz und wartete bis er Lauris Aufmerksamkeit bekam.

„Lauri … ich … eben … ich wollte mich entschuldigen!“, stammelte er und stellte beruhigt fest, dass Lauris Hände genau da blieben, wo sie waren. Lauris Mundwinkel zuckten zu einem feinen Lächeln nach oben, obwohl seine Augen traurig wirkten.

„Das musst du nicht!“ Er lehnte seine Stirn an Finns Stirn und Finn bemerkte, dass Lauri genauso schwer atmete wie er selbst.

„Ich glaube ich muss mich entschuldigen …“ Lauri hatte die Augen geschlossen und hob erneut den Kopf, um mit seinen Lippen nach Finns zu suchen. Finns Kopf war wie leergeblasen. Keine Fragen … Er genoss das Gefühl, Lauris weiche Lippen auf seinen zu spüren und krallte sich in Lauris Locken, als wollte er den jungen Mann nie wieder loslassen.

Lauris warme Hände begannen sich jetzt auch wieder unter Finns Hemd zu bewegen und als seine Finger wie zufällig über Finns Brustwarzen streiften, entglitt Finn ein heiseres Stöhnen. Ja das fühlte sich verdammt richtig an. Wie hatte er nur jemals daran zweifeln können? …

Langsam öffnete Finn die Augen. Er wusste nicht wie lange er geschlafen hatte, aber das Feuer im Kamin war längst erloschen und helles Licht fiel durch die Löcher in den hölzernen Fensterläden. Entspannt räkelte er sich und drehte sich leise auf die Seite. Der ungewohnte Anblick ließ Finn schmunzeln.

Lauri lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Sein Gesicht war Finn zugewandt und Finn stellte erstaunt fest wie entspannt Lauri im Schlaf aussah. Seine Gesichtszüge wirkten noch weicher und dadurch sah er jünger aus als sonst. Sein Hemd war im Schlaf verrutscht und erlaubte Finn einen Blick auf sonnengebräunte Haut. Seine Brust hob und senkte sich in einem friedlichen Rhythmus und Finn stützte fasziniert seinen Kopf auf die Hand, um den schönen Anblick noch eine Weile zu genießen. Die dunklen Locken umrahmten Lauris Gesicht und Finn beobachtete gebannt das Spiel von Licht und Schatten auf Lauris glatter Haut. Es fiel im schwer, dem Bedürfnis zu widerstehen Lauris weiche Haut zu berühren, aber er hielt sich zurück, um seinen Freund nicht zu wecken. Lieber wollte er Lauri noch länger beim Schlafen zusehen. Wer wüsste schon, wann er das nächste Mal die Gelegenheit hätte?! Schließlich hatte Lauri vorher nie in seiner Gegenwart geschlafen.

Während Finns Blicke immer wieder über Lauris Körper und Gesicht wanderten, ließ er den gestrigen Abend vor dem inneren Auge Revue passieren. Beim Gedanken an manche Einzelheiten bekam er breit grinsend einen roten Kopf, auch wenn im Grunde nicht wirklich viel passiert war. Beim Gedanken an andere Situationen kam er jedoch ins Grübeln.

Was war passiert, bevor Lauri so plötzlich die Hütte verlassen hatte? Und was hatte seinen seltsamen Sinneswandel bewirkt?

„Worüber zerbrichst du dir deinen hübschen Kopf?“

Lauri strecke sich und Finn war von Lauris Muskelspiel kurz abgelenkt.

„Ich äh … ach nichts …“, er grinste entschuldigend, als er Lauris amüsierten Blick bemerkte.

„Gut geschlafen?“ Lauri drehte sich auf die Seite in eine ähnliche Position wie Finn und blickte ihn fragend an.

Finn überlegte nicht lange, da er sofort daran denken musste, wie entspannt er aufgewacht war.

„Ich glaube das war seit Langem die beste Nacht meines Lebens!“

Lauri brach in schallendes Gelächter aus. „Vielen Dank!“

Finn stieg sofort wieder die Röte ins Gesicht, auch wenn er sich innerlich freute, Lauri so gelöst zu sehen.

„Nein … äh … also ich meine …“

Lauri schaltete überraschend schnell und riss überrascht die Augen auf: „Du hattest keine Alpträume!“ Finn nickte nur schüchtern.


Lauri wusste nicht, warum Finn bisher immer so schlecht geschlafen hatte, aber irgendwie war es ein schönes Gefühl zu wissen, dass er zumindest diese Nacht nicht von Alpträumen geplagt wurde. Lauri spürte plötzlich, wie wichtig Finn ihm geworden war. Einerseits verwirrte ihn das, aber andererseits fühlte es sich auch sehr beruhigend an, jemanden an seiner Seite zu wissen.

Nach einem kurzen Blick vor dir Tür war klar, dass an Arbeit heute nicht mehr zu denken war. Es schüttete wieder wie aus Eimern, sodass sie die meiste Zeit mit essen und faulenzen verbrachten. Nach den letzten Tagen und Wochen im Lager tat das aber beiden ganz gut. Wann hatten sie schon mal die Zeit gehabt zu entspannen. Finn hatte ja sowieso wenig und wenn dann schlecht geschlafen und auch Lauri hatte nie wirklich tief geschlafen, da ihn die Anwesenheit der Männer, denen er nicht traute, wachsam bleiben ließ. Nach wie vor hatte er stets befürchtet, sich zu verraten. Vielleicht würde jemand sich an ihn erinnern oder die Ähnlichkeit zu seinem Vater erkennen. Bisher war jedoch nichts dergleichen passiert. Die Zeit, die sie nun hier auf der Lichtung verbringen würden, konnte er gut nutzen, um wieder Kraft zu tanken.


Nachdenklich betrachtete Finn Lauri. Er lag mit geschlossenen Augen entspannt auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Aber Finn wusste, dass Lauri nicht schlief. Lauris Hemd war mal wieder etwas verrutscht und Finn konnte auf der sonst so makellosen Haut die hässliche Narbe des Brandmals ausmachen. Mit den Fingerspitzen fuhr er über die verbrannte Haut. Lauri hatte nicht mal gezuckt. Nur ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Darf ich dich was fragen?“

„Das fängt ja schon gut an …“, Lauri räkelte sich und grinste mit weiterhin geschlossenen Augen.

Finn hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt, während er mit den Fingerspitzen der linken Hand weiterhin sanft über Lauris Brust strich. Er wusste nicht so recht wie er sich ausdrücken sollte, aber die Frage brannte ihm schon seit einiger Zeit unter den Nägeln.

„Mh … naja … also ich wüsste gern, wann du wusstest, dass du …“ Anders bist?! Irgendwie klang jede Formulierung blöd, aber Lauri schien ihn trotzdem verstanden zu haben. Etwas verwundert hatte er Finn nun doch angesehen und schien seinerseits ernsthaft über die Frage nachzudenken. Den Blick zur Decke antwortete er langsam:

„Mh, ehrlich gesagt hab ich mir da nie viele Gedanken drüber gemacht! Es kam halt so wie es kam. Ich hab sowohl mit Männern als auch mit Frauen geschlafen …“ Finn schluckte schwer, bemühte sich aber sich nichts anmerken zu lassen.

„Aber …“ Lauri zögerte einen Moment und zog die Stirn kraus. „… aber dabei ging es eigentlich nur um Sex. Nie um eine ernsthafte Beziehung oder so was.“

Plötzlich blickte er Finn wieder direkt an. Der nachdenkliche Ausdruck auf Lauris Gesicht war einem amüsierten Lächeln gewichen. Zärtlich strich er Finn eine blonde Strähne aus dem Gesicht, was Finn wieder mal einen Schauer über den Rücken jagte.

„Warum fragst du?“

Finn spürte, wie er schon wieder rot anlief. Diese Informationen verunsicherten ihn. Offenbar hatte Lauri schon deutlich mehr Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt. Und was sollte er von dem letzten Satz halten? Keine Beziehungen? Nur Sex? War das jetzt anders? Finn hoffte es … Verlegen räusperte er sich.

„Dann, mh, hast du mir zumindest einiges an Erfahrung voraus …“

Lauri rollte sich auf den Bauch und stützte sich erwartungsvoll auf seine Unterarme, während er Finn belustigt betrachtete. Erwartete er jetzt, dass Finn von sich erzählte? Was gab es da schon zu erzählen … eigentlich nichts!

„Äh, naja … also es gab unser Dienstmädchen im Haus meines Onkels …“

Lauris Grinsen wurde breiter, was Finn nur noch mehr erröten ließ.

„Äh, nein … also sie wollte … und sie war auch hübsch, denke ich … aber …ich … ich wollte nicht …“

„Du wolltest nicht?“, fragte Lauri ehrlich überrascht.

Finn nickte nur stumm.

„Warum nicht?“

Was sollte er darauf antworten? Vielleicht weil sie mir nicht mal halb so viel bedeutet hat wie du? So was konnte er ja schlecht sagen. Auch wenn es im Grunde die Wahrheit war. Emma war ein wirklich nettes und hübsches Mädchen gewesen, aber ihre Gegenwart hatte ihn höchstens dann in Verlegenheit gebracht, wenn sie mal wieder mit allen Mitteln versuchte ihn von ihren Vorzügen zu überzeugen. Bei Lauri war das alles so anders. Er hatte das Gefühl ständig weiche Knie zu haben, sein Herz flatterte hinter den Rippen wie ein junger Vogel und wenn Lauri ihn berührte … Schon beim Gedanken daran setzte das Kribbeln wieder ein. Aber das konnte er doch nicht sagen … Besonders nicht nachdem, was Lauri ihm eben erzählt hatte. Vielleicht war er ja nichts Besonderes für den hübschen jungen Mann? Nur eine weitere Nummer.

„Also hast du noch nie mit jemandem geschlafen?“, fragte Lauri weiter, da Finn nicht antwortete. Finn schüttelte den Kopf. Fand Lauri es vielleicht nicht gut, dass er noch so „unerfahren“ war? Lauris Blick verwirrte ihn. Irgendwie abschätzend und nachdenklich. Nervös kaute Finn auf seiner Unterlippe.

„Sag doch was!“, flehte er innerlich.

„Ist das ein Problem für dich?“, fragte er leise und senkte beschämt den Blick.

Lauri hatte sich plötzlich aufgesetzt und Finn spürte seine warme Hand unter dem Kinn, die ihn zwang Lauri in die Augen zu sehen. Lauri sah ihn eindringlich an.

„Finn … du musst nichts tun, was du nicht willst! Das weißt du, oder?“

Wieder breitete sich das wohlbekannte warme Kribbeln in Finn aus. Das war alles?! Lauri machte sich nur mal wieder Sorgen um ihn? Finn entspannte sich wieder und spürte, dass er abermals rot anlief.

„Ich weiß auch, dass du nichts tun würdest, was ich nicht will! Und davon abgesehen …“ Konnte sein Gesicht noch weiter anlaufen? „… gefällt mir alles, was du mit mir machst!“

„Ist das so?“ Lauri grinste dreckig und zog Finn am Kragen seines Hemdes zu sich rüber. Mehr aus Reflex hatte Finn die Hände auf Lauris Brust abgestützt und konnte durch den dünnen Stoff deutlich Lauris Muskeln fühlen, die sich unter der Kleidung anspannten. Er spürte Lauris heißen Atem auf seinen Wangen und wenig später auch seine Lippen. Lauris Hände waren schon längst unter Finns Hemd gewandert und jede Berührung jagte ihm Schauer über den Rücken. Es war nicht gelogen, was er eben gesagt hatte. Er genoss es sehr, Lauris Hände und Lippen zu spüren. Dennoch wusste er nicht so recht wohin mit seinen eigenen Händen. Zaghaft strich er über Lauris Brust, während Lauri ihn noch näher an sich heran zog. Als Lauri sanft über die mittlerweile nicht zu übersehende Wölbung in Finns Hose rieb, zog dieser scharf die Luft ein und krallte sich regelrecht an Lauris Schultern fest.


Finns gesamter Körper zitterte vor Anspannung und Lauri wartete einen kurzen Moment, bis er sich wieder etwas entspannt hatte. In vielen Punkten merkte Lauri schon, dass Finn im Grunde keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hatte. Das störte ihn nicht, irgendwie fand er Finns Unsicherheit sogar süß. Er fragte sich lediglich, ob er den jungen Mann womöglich überforderte. Finn schien grundsätzlich wirklich alles zu genießen, was Lauri mit ihm anstellte. Allerdings blieb er dabei ziemlich passiv. Beide atmeten schwer als Lauri sanft Finns Hand von seiner Schulter löste und langsam in tiefere Gegenden führten. Es sah fast so aus, als würden sich beide gegenseitig beobachten. Finn fragend und Lauri abwartend. Als Finns Hand die Beule in Lauris Hose berührte, stöhnte Lauri leise auf. Unsicher verharrte Finns Hand in Lauris Schoß, doch als Lauri sich begierig an Finn drängte, zog Finn seine Hand plötzlich weg.


„Finn was ist los?“, seufzte Lauri lächelnd und strich Finn eine Strähne aus dem Gesicht. Die zarte Berührung jagte Finn erneute Schauer über den Rücken. Dennoch schämte er sich und zögerte, bis er zerknirscht zugab: „Ich … ich möchte ja, aber weiß einfach nicht, was ich tun soll …“

Lauri lachte leise auf und hob Finns Kinn mit zwei Fingern an.

„Wirst du gerade rot?“

„Lachst du mich gerade aus?“, fragte Finn beleidigt zurück, auch wenn Lauri natürlich recht hatte. Finn spürte wie seine Wangen heiß brannten, was die Situation nicht besser machte. Lauri grinste dreckig und rutschte näher an Finn heran. Seine Lippen berührten Finns Ohr nur ganz leicht, als er flüsterte: „Genau genommen macht mich das ganz schön an!“

Finn musste schlucken und spürte wie sich sein Puls beschleunigte, dennoch versuchte er sich locker zu geben und schob Lauri ein Stück von sich weg.

„Es macht dich an, wenn ich rot werde? Vielleicht bist du doch pervers?“, erwiderte er mit gespielt tadelndem Blick.

„Vielleicht …“ gab Lauri zurück und kam Finn wieder nahe genug, um mit seinen weichen Lippen über dessen Hals zu fahren.

„Und im Zweifelsfall tust du dasselbe, was du auch bei dir selbst machst!“, hauchte Lauri als nachträgliche Antwort und Finn fragte sich, ob es wirklich möglich war, dass sein Gesicht sich noch weiter verfärbte. Zumindest fühlte es sich so an …

Die nächsten Tage verliefen ruhig. Finn war immer mal wieder überrascht, wie sehr sich Lauri plötzlich verändert hatte. Vom verschlossenen, distanzierten jungen Mann war nichts mehr zu sehen. Lauri war zärtlich, liebevoll und viel gesprächiger als früher.

Nach einigen weiteren verregneten Tagen hatte Lauri sich einen Überblick über den Schaden der Hütte verschafft, während Finn die Vorräte sortierte, die Lauri mitgebracht hatte.

Draußen schüttete es wieder in Strömen und schnell schlüpfte Lauri wieder zurück in die Stube. Er warf den durchnässten Umhang ab und schob sich auf die grobe hölzerne Bank. „Sieht schlecht aus. Das wird eine Menge Arbeit und bei dem Wetter können wir nichts machen. Wir müssen warten, bis es aufhört zu regnen!“ Finn setzte sich Lauri gegenüber und stellte dabei beiden einen Becher mit Wein hin. Er wusste nicht was er sagen sollte. Ihm lagen so viele Worte auf der Zunge und so viele Fragen schwirrten durch seinen Kopf. War das hier wirklich wahr? Mit Lauri in seiner Nähe fühlte sich alles so leicht an, vor allem jetzt …

Die Unsicherheit der letzten Tage war allerdings noch nicht ganz weggewischt. Was war das zwischen Lauri und ihm?

„Finn?! Finn!“

„Ähm, was?“

Lauri lachte und seine blauen Augen strahlten Finn an, sodass sich gleich wieder das Kribbeln in seinem Körper ausbreitete. Verlegen klammerte er sich an seinen Becher.

„Träumst du?“

„Ich … Entschuldigung! Ich war mit meinen Gedanken kurz woanders.“

Lauri schien die Verunsicherung nicht zu bemerken, oder er war ein guter Schauspieler und überging Finns seltsames Verhalten.


Lauri merkte, dass Finn ihn anstarrte, aber gleichzeitig nichts von dem mitbekam, was Lauri ihm erzählte. Er musste sich ein Grinsen verkneifen, auch wenn er gleichzeitig ein schlechtes Gewissen hatte. Eigentlich war er wirklich selbst Schuld an Finns Verwirrung. Besonders wenn man die letzten Tage dazurechnete. Er hatte sich Finn gegenüber nicht besonders eindeutig verhalten und auch wenn Finn Lauris Aufmerksamkeit sehr genoss, schien er doch manchmal überfordert mit der neuen Situation.

„Träumst du?“, fragte er grinsend, als Finn ihm wieder zuhörte.

„Ich … Entschuldigung! Ich war mit meinen Gedanken kurz woanders“, stammelte der blonde Junge und senkte verlegen den Blick.

Lauri entschied sich dazu, Finns Verwirrung zu überspielen.

„Also, zuerst müssen wir die Balken sortieren. Alles was verbrannt oder kaputt ist, muss weg. Einige sind aber noch ganz in Ordnung. Die können wir wiederverwenden. Dann sollten wir die Wand wieder hochziehen. Wenn die steht, können wir die Dachbalken befestigen und anschließend das Dach decken. Wir werden hier wohl noch ne Weile beschäftigt sein.“

Finn nickte nur schüchtern und klammerte sich wieder an seinen Becher.

Lauri seufzte und schob seine Hand sachte über den Tisch. Mit den Fingerspitzen strich er sanft über Finns Handrücken. „Hey! Alles ok?“

Finn schien mit sich zu hadern. „Mh, ja … also … nein … ich, ich versteh das alles einfach nicht!“

Lauri kaute zerknirscht auf seiner Unterlippe, da er genau wusste, wovon Finn sprach.

„Das ist wohl meine Schuld!“

„Nein, also … so war das nicht gemeint …“

„Nein, ist schon ok! Du hast ja recht. Ich hab mich, glaub ich, nicht ganz fair dir gegenüber verhalten!“

Finn blickte ihn verwundert und abwartend an. Also fasste Lauri sich ein Herz.

„Naja, ich … ich hab gemerkt, dass du mich … magst, aber ich wusste nicht, ob es das richtige wäre. Ich glaube ich hatte einfach nur Angst mir einzugestehen, dass … dass …“

Finns Augen wurden groß. Hielt er die Luft an?

„… dass ich dich auch mag!“

Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber diese Hälfte schien seine Wirkung auf Finn nicht zu verfehlen.

Seine Wangen verfärbten sich wieder mal dunkel und er schien sich zu bemühen, nicht über das ganze Gesicht zu grinsen.

Zum Glück wurde das Wetter dann endlich besser, sodass sie bereits nach wenigen Tagen mit der Arbeit beginnen konnten. Zu zweit ging die Arbeit schnell von der Hand und Lauri stellte erfreut fest, dass Finn sich hier gut erholte. Die dunklen Augenringe waren bald verschwunden, er schlief wieder richtig und vor allem nach wie vor ohne von Albträumen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Er legte auch endlich wieder etwas an Gewicht zu und durch die körperliche Arbeit gehörten auch einige Muskeln dazu.

Davon abgesehen wurde Finn auch langsam lockerer. Er schien nicht mehr über jede Kleinigkeit nachzudenken und Lauri wurde nicht selten von einem flüchtigen Kuss oder einer zärtlichen Berührung überrascht.

Auch wenn er schon öfter Sex gehabt hatte, war das wiederum neu für ihn. Zärtlichkeit war eigentlich kein Bestandteil seiner Erfahrungen gewesen. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er die Zeit mit Finn wirklich genoss.

Mittlerweile ließ sich die Frühlingssonne immer öfter blicken und die Stimmung bei den beiden jungen Männern wurde immer gelöster.

„Sieht doch schon verdammt gut aus!“

Finn legte von hinten einen Arm über Lauris Brust und drückte ihm einen Kuss auf den Nacken. Den Blick hatten beide auf die Hütte gerichtet, deren Wand wieder bereits fast vollständig stand.

„Ja, ich denke diese Woche werden wir mit der Wand fertig. Danach können wir uns ans Dach machen!“ Lauri drückte sanft Finns Arm und drehte sich schwungvoll um, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken, doch was er hinter Finn entdeckte, ließ ihn stocken.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als Colin sein Pferd langsam zu den beiden auf die Lichtung führte. Finns Augen folgten Lauris Blick und Lauri spürte, dass Finn sofort erstarrt war.

„Keine Angst er hat nichts gesehen!“, raunte er Finn zu und nebeneinander warteten sie bis Colin bei ihnen angekommen war.

„Na ihr Turteltauben!“, grinste Colin die beiden jungen Männer an, doch Lauri war sich sicher, dass er nur provozieren wollte. Bevor Finn etwas antworten konnte, fuhr Lauri unterkühlt dazwischen.

„Was willst du hier Colin?“

Colin warf ihm einen abwertenden Blick zu, ohne vom Pferd zu steigen.

Dann betrachtete er die Hütte hinter Finn und Lauri.

„Bist ja noch nicht weit gekommen!“

„Ich denk, du bist bei deinem Vater?“, meldete sich nun auch leise Finn zu Wort.

„Da war ich auch. Aber ich dachte ich schau auf dem Rückweg mal bei meinem werten Cousin vorbei …“

Lauri spürte deutlich den Unmut in Colins Stimme, dass er Finn nicht allein angetroffen hatte. Er wendete das Pferd und ohne sich noch einmal zu den beiden umzudrehen, trieb er den Hengst an.

„Ich werde Luca Bericht erstatten, wie es um die Hütte steht!“, rief er noch und war dann auch schon zwischen den dichten Bäumen verschwunden.

Lauri bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Finn erschöpft in sich zusammensackte.

„Glaubst du, er hat was mitbekommen?“, fragte Finn ängstlich und es war deutlich, dass er gern Lauris Hand genommen hätte, sich aber nicht traute, weil Colin noch in der Nähe sein könnte. Lauri schüttelte langsam den Kopf.

„Nein, ich denke nicht. Er kam gerade erst auf die Lichtung, als ich mich umgedreht habe.“ Erleichtert atmete Finn aus und betrachtete Lauri dann nachdenklich, der immer noch auf die Stelle starrte, an der Colin im Wald verschwunden war.

„Und was war das grade?“

Lauri hatte einen schlimmen Verdacht. Er richtete seine blauen Augen auf seinen Freund.

„Ich glaube nicht, dass Luca Colin geschickt hat. Ich glaube auch nicht, dass Luca überhaupt weiß, dass Colin hierher wollte.“ Finn sah ihn verständnislos an.

„Was wünscht sich Colin mehr als alles andere?“, fragte Lauri unvermittelt.

„Du meinst abgesehen davon, anderen Schaden zuzufügen? Ich denke er wäre gern an Lucas Stelle. Er will der Anführer der Wessington Bande werden!“ Finn schien immer noch nicht zu verstehen.

„Und was hindert ihn daran?“, bohrte Lauri mit grimmigem Gesichtsausdruck weiter.

Bei Finn schien es langsam zu dämmern.

„Was … ihn hindert? … Ähm … warte … du meinst?!“ Lauri nickte knapp.

„Ich kenne deinen Cousin zwar nicht so lange und nicht so gut wie du, aber eins weiß ich: Er ist zwar ein feiges Stück Dreck aber er würde vor nichts zurückschrecken, um seine Ziele zu erreichen!“ Finn schluckte.

„Ich weiß nicht …“

„Was ist mit den Schlägen? Was ist mit der Sache beim Staudamm? Er hätte dich schon da beinahe getötet!“ Lauri hatte seinen Freund energisch an den Armen gepackt.

Finn schien sich erst jetzt der Gefahr wirklich bewusst. Entsetzt sackte er nun gänzlich in sich zusammen und Lauri musste ihn festhalten. Gemeinsam ließen sie sich auf dem Boden nieder.

„Er konnte mich von Anfang an nicht besonders gut leiden!“ Finn schüttelte müde den Kopf. „Ich dachte immer das liegt nur daran! Aber ich hätte nie gedacht, dass er mir ernsthaft was antun will?!“ Er streifte seinen linken Ärmel hoch und zeigte Lauri eine dünne Narbe am Unterarm.

„Siehst du das? Da hat er mir den Arm gebrochen, da war ich 10. Er hat seinem Vater gesagt, das wäre ausversehen beim Raufen passiert, aber er wusste ganz genau, was er da getan hat. Ich glaube mein Onkel hatte ein schlechtes Gewissen, darum ließ er sogar einen Arzt kommen, der den Bruch richten musste. Deswegen auch die Narbe.“

Lauri sah stumm zu, wie Finn den Ärmel glatt strich und sich dann einige blonde Strähnen von der Stirn wischte. Die Narbe am Haaransatz war leicht zu übersehen, aber Lauri hatte sie sofort entdeckt.

„Da hat er mich die Treppe runter geschubst … Natürlich bin ich in Wahrheit über meine eigenen Füße gestolpert!“, setzte er mit spöttischem Unterton nach. Lauri presste die Lippen aufeinander. Ganz schon bitter in so einer Familie aufwachsen zu müssen. Einen Vater, der einen verachtete und abschob, und einen Cousin, der keine Gelegenheit ausließ einem wehzutun.

„Das was du sagst, macht plötzlich Sinn und ich sehe diese ganzen Sachen von früher jetzt mit anderen Augen.“ Finns Stimme klang genauso verbittert, wie Lauri sich fühlte. Er konnte nicht anders und schlang die Arme um den blonden jungen Mann.

„Das tut mir so leid!“, flüsterte er, die Lippen in Finns Haar vergraben. Eine Weile blieben sie regungslos so sitzen, bis Lauri seinen Freund entschlossen ein Stück von sich weg schob.

„Fakt ist, du bist in Gefahr, wenn Colin in der Nähe ist!“

„Was soll ich denn machen?“

„Du musst dich wehren können. Ich bin vielleicht nicht immer da, um dir zu helfen!“

„Colin ist größer und stärker als ich!“, erwiderte Finn resigniert.

„Ach …“ Lauri rappelte sich verstimmt auf.

„Als ob das was mit Größe oder Muskelkraft zu tun hätte …Du hast viel mehr im Kopf als dieser Idiot und du hast doch damals gesehen, dass ich auch mit diesen Schlägern in der Gasse fertig geworden bin, obwohl mindestens zwei um einiges größer waren als ich!“

„Ja DU!“, gab Finn schwach zurück und stand ebenfalls langsam auf.

„Du musst nur schnell sein! Wissen, wo du ihn treffen musst! Nichts was ich dir nicht beibringen kann!“

Finn schien noch nicht ganz überzeugt, doch Lauri hatte sich in den Kopf gesetzt, einen weiteren Punkt in die Tagesplanung aufzunehmen. Neben der Reparatur und Instandsetzung der Hütte, wollte er Finn jeden Tag ein paar Lektionen in Selbstverteidigung und Kampftraining geben. Er würde schon dafür sorgen, dass Colin es nicht zu leicht haben sollte, wenn er nochmal versuchen würde, sich an seinem Cousin zu vergreifen.


„Lauri, ich kann nicht mehr!“

Finn stützte sich auf seinen Knien ab und rang nach Luft.

Lauri atmete zwar auch schwer, aber er war lange nicht so außer Puste wie Finn.

„Glaubst du wirklich, dass mir das was bringt, falls Colin auf dumme Ideen kommt?“

Finn wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah fragend zu Lauri hoch, der sich aufgerichtet hatte und den Stock sinken ließ, den sie als Waffenersatz für das Training genutzt hatten. Lauri grinste herausfordernd und wieder einmal dachte Finn bei sich: „Wie schön Lauri eigentlich ist?!“ Sein Gesicht war vom Training leicht gerötet, was die blauen Augen noch heller strahlen ließ. Die geraden, weißen Zähne blitzten zwischen den vollen Lippen hervor und die dunklen Locken rahmten das schmale Gesicht ein. Für das Training in der wärmenden Sonne hatte Lauri sein Leinenhemd ausgezogen und Finn hatte sich schwer konzentrieren müssen, um nicht ständig vom anmutigen Muskelspiel seines Freundes abgelenkt zu werden. Lauri war kein protziges Muskelpaket wie einige der Männer aus dem Lager. Bei ihm war einfach alles perfekt proportioniert fand Finn und bekam eine leichte Gänsehaut.

„Natürlich bringt das was … allerdings konnte ich ja nicht ahnen, dass wir sooo viel aufzuholen haben!“, stichelte Lauri und Finn musste neidlos anerkennen, dass Lauri nicht annähernd so fertig war wie er.

„Ach ja?! Mit dir nehm ich es jederzeit auf!“ Finn grinste frech zurück. Natürlich hatte er keine Chance. Das war wahrscheinlich beiden klar. Dennoch warf Lauri den Stock weg und winkte Finn herausfordernd zu sich herüber. Zunächst umkreisten sie sich in geduckter Haltung und Finn fiel es schwer dabei ernst zu bleiben. Schließlich warf er sich auf Lauri und schaffte es sogar ihn zu Boden zu zwingen, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob Lauri sich nicht vielleicht bereitwillig nach unten ziehen ließ. Innerhalb weniger Sekunden hatte Lauri allerdings wieder die Oberhand und Finn lag unter ihm auf dem Rücken. Fachmännisch hatte er Finns Oberschenkel eingekeilt und presste dessen Handgelenke mit seinen Unterarmen auf den Boden, sodass Finn sich kaum noch bewegen konnte.

„So du nimmst es also jederzeit mit mir auf, ja?!“, hauchte Lauri Finn ins Ohr und seine dunklen Locken strichen dabei über Finns Hals und Gesicht.

„Versuch doch dich zu befreien …“ schlug er kichernd vor und festigte seinen Griff dabei noch ein wenig.

Natürlich hatte Finn keine Chance, aber er fürchtete sich auch keinen Moment. Im Grunde genoss er die Nähe zu Lauri und wand sich nur aus Spaß ein wenig unter Lauri. Lauris grinsendes Gesicht schwebte direkt über seinem und mit Mühe schaffte er es, seinen Kopf ein wenig zu heben, sodass seine Lippen fast Lauris Ohr berührten.

„Nichts leichter als das …“, raunte er und spürte, dass sein Plan aufgehen könnte. Statt zu versuchen sich mit reiner Muskelkraft aus Lauris Klammergriff zu befreien, biss er kurz ihn Lauris Ohrläppchen, leckte dann kurz darüber und blies einen sachten Lufthauch über die feuchte Stelle. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Finn nutzte den Moment, in dem Lauri überrascht seinen Griff lockerte, und kehrte die Situation blitzschnell um. Triumphierend saß er auf Lauris Brust und grinste seinen Freund an.

„Was hab ich dir gesagt?!“

„Ich will schwer hoffen, dass du das nicht versuchst, wenn Colin dich im Schwitzkasten hat!“

Beide mussten bei dem Gedanken lachen.

Lauri legte seinen linken Arm hinter den Kopf und blickte Finn nun wieder ernster an.

„Am besten trägst du immer einen Dolch bei dir. Das ist am sichersten. Wenn du Jemanden außer Gefecht setzen willst, dann triffst du ihn am besten hier.“ Dabei strich er mit seiner rechten Hand sanft über einige Stellen an Finns Körper, was diesem erneut eine Gänsehaut bescherte.

„Und wenn du jemanden töten musst …“

„Ich werde niemals jemanden töten!“, unterbrach Finn seinen Freund mit Nachdruck. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihm Übelkeit. Lauri sah ihn weiterhin ernst an und fuhr ungerührt fort.

„Wenn du jemanden töten musst, dann triffst du ihn hier.“ Zwei Finger seiner Hand lagen genau auf Finns Herz. Diesmal rührte die Gänsehaut von einem weniger angenehmen Gefühl her.

Langsam standen beide auf. Finn half Lauri auf und wendete sich dann zur Hütte. Die Stimmung war merkwürdig angespannt und auch Lauri schien das nicht zu behagen. Er machte wenige Schritte, um direkt hinter Finn zu gehen und legte diesem sanft den Arm über die Brust. Er drückte Finn leicht an sich und vergrub sein Gesicht in Finns Haar.

„Auch wenn ich dir wünsche, dass du niemals in eine Situation kommst, in der du dieses Wissen anwenden müsstest …“


Nach Colins Auftauchen waren sie zunächst etwas vorsichtiger gewesen, wenn sie sich draußen aufhielten. Finn hatte eine wahnsinnige Panik davor, dass Colin seinem Vater etwas erzählen könnte. Lauri war sich natürlich auch im Klaren darüber, dass dies wahrscheinlich das Todesurteil für die beiden, oder zumindest für ihn, bedeuten würde, dennoch entspannte er sich nach einigen Tagen wieder. Wenn Colin etwas mitbekommen hätte, wäre Luca schon längst informiert worden. Aber Colin war ja mit einem anderen Ziel zur Lichtung gekommen. Und nachdem er gesehen hatte, dass Finn nicht allein bei der Hütte war, hatte er eigentlich keinen Grund nochmal zurückzukommen.

Finn machte sich wirklich gut. Er blühte geradezu auf. Lauri konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben. Nicht mal damals, als sie noch in der Stadt waren. Finn strahlte die meiste Zeit übers ganze Gesicht. Seine ganze Haltung hatte sich verändert. Er stand nicht mehr geduckt, sondern richtete sich endlich wieder ganz auf und Lauri stellte eines Tages erstaunt fest, dass Finn im Grunde sogar einige Zentimeter größer war, als er selbst. Oder war er in den letzten Tagen nicht nur im bildlichen Sinne über sich hinaus gewachsen?

Auf jeden Fall erkannte Lauri immer öfter, dass er sich von Tag zu Tag mehr zu Finn hingezogen fühlte. Mittlerweile war es nicht nur Finn der Lauri diese selbstverständlichen kleinen Zärtlichkeiten entgegen brachte. Lauri sehnte sich den ganzen Tag über danach, in Finns Nähe zu sein, ihn zu berühren, zu küssen.

Es war so, als ob es nur noch sie beide gäbe. Alles andere ausgeblendet. Lauri genoss es. Wer wusste schon wie lange noch?!

„Was wird eigentlich mit uns, wenn wir hier fertig sind?“

Finns Frage kreiste in Lauris Kopf.

„Was soll schon sein?“, fragte er unbeteiligt, obwohl er sich diese Frage selbst schon des Öfteren gestellt hatte. Finn nahm einen Schluck Wein und lehnte sich auf der Bank zurück.

„Na ich meine … vor den Anderen … das geht nicht! Mein Vater würde uns umbringen!“

„Wahrscheinlich!“

Sie schwiegen beide.

Lauri wollte nicht darüber nachdenken. Hier hatten sie wie in einer Blase gelebt. Da draußen war die Realität. Da draußen war alles anders. Er war ein Anderer …

„Ich möchte aber nicht, dass es aufhört!“, sagte Finn bestimmt.

Lauri konnte Finns Blicke förmlich auf sich spüren.

„Du etwa?“

„Nein … ich … keine Ahnung was wir dann machen sollen!“

Seine Antwort kam härter als es gemeint war und als er Finns traurigen Bick sah, tat es ihm leid. Finn war aufgesprungen und zu ihm herum gekommen. Seine warmen Hände legten sich um Lauris Gesicht und seine grünen Augen bohrten sich eindringlich in Lauris.

„Aber was wäre, wenn wir einfach nicht zurück müssten? Wir könnten einfach weggehen. Nur wir beide. Irgendwohin, wo uns niemand kennt und ein neues Leben anfangen!“

Wie sehr wünschte er sich das. Aber das ging nicht. Er musste seine Aufgabe erfüllen.

„Ach Finn! Das geht nicht!“, unwirsch stand er auf. Eigentlich war er mal wieder sauer auf sich selbst. Er wollte Finn nicht wehtun.

„Und warum nicht?“

„Weil das nicht geht!“

„Das ist doch keine Antwort!“

„Du verstehst das halt nicht!“

Lauri spürte, dass Finn langsam wütend wurde. „Zu Recht!“, dachte er bei sich und konnte es doch nicht ändern. Es tat ihm selbst weh, Finn so zu sehen.

„Dann erklär’s mir doch einfach! Ich bin nicht blöd! Was hält dich denn hier? Du gehörst genauso wenig hier her wie ich! Du bist keiner von diesen hirnlosen Idioten!“

„Ich kann’s dir nicht erklären!“

Finn atmete tief durch und Lauri tat es ihm gleich.

Wieder nahm Finn Lauris Gesicht in beide Hände und blickte ihn aus seinen tief grünen Augen hilfesuchend an.

„Du kannst mir doch alles sagen?! Ich hab dir alles von mir erzählt. Ich glaube es gibt nichts, was du nicht von mir weißt.“

Lauri schwieg, während in ihm alles schrie. Wie gern hätte er Finn alles erzählt, aber das wäre selbst dann riskant gewesen, wenn Finn nicht zufälligerweise der Sohn seines Feindes wäre. Und so? Wie hätte er ihm davon erzählen können? Er plante, den Vater seines Freundes zu töten …

Finn wirkte mit einem Mal nicht mehr sauer, sondern nur noch traurig, enttäuscht. Der Anblick tat Lauri in der Seele weh.

„Warum hast du Geheimnisse vor mir? Vertraust du mir nicht?“

Lauri schwieg. Es tat so weh.

„Es tut mir leid!“, flüsterte er. Er konnte Finn dabei nicht ansehen.

Einen Moment blieb Finn vor ihm stehen.

„Ja … Mir tut es auch leid!“, gab dieser schließlich traurig zurück und wendete sich ab.

Lauri hielt es nicht mehr aus.

Als Finn sich umgedreht hatte, rannte er aus der Hütte. Ohne Mantel, ohne alles … einfach weg von hier. Tief in den dichten Wald und er spürte, dass sich Tränen in seine Augen stahlen. Es tat so weh. Es fühlte sich fast so an, als würde er Finns Leid mitfühlen und das noch potenziert. Warum war alles so gründlich schiefgelaufen? Die Tränen rannen jetzt heiß über seine Wangen und als er nicht mehr weiter laufen konnte, sank er mitten im Wald auf die Knie und schrie seine Wut heraus. Natürlich war es ein riesiger Fehler gewesen, etwas mit Finn anzufangen. Aber die Vorstellung von Finn getrennt zu sein, zerriss Lauri innerlich. Jede Faser seines Körpers schrie nach Finn. Hemmungslos schluchzte Lauri nur noch und fühlte sich so hilflos wie schon lange nicht mehr.

„Was soll ich denn tun? Ich hab es versprochen …“, schrie er in die Nacht. Aber auf keinen Fall wollte er Finn verlieren.

„Was soll ich denn tun?“, wiederholte er diesmal flüsternd und sackte in sich zusammen.

Nach endlosen Minuten oder waren es bereits Stunden, die er durch den einsamen Wald strich, schleppte er sich mühsam zurück zur Hütte. Er schämte sich und er wusste auch nicht, was er Finn sagen sollte. Er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen … Vielleicht ließ er sich vertrösten?!

Leise öffnete er die Tür und spähte in die kleine Stube.

„Finn?“

Keine Antwort. Er trat leise ein und entdeckte Finn vor dem Kamin. Er war scheinbar eingeschlafen und schuldbewusst erkannte Lauri Tränenspuren auf Finns Wangen. Es versetzte ihm einen Stich zu wissen, dass er seinen Freund so verletzt hatte.

„Ich wollte dir nicht weh tun …“, flüsterte er, obwohl oder vielleicht gerade weil er wusste, dass Finn schlief und ihn nicht hörte.

„Nein …“ Finn wimmerte im Schlaf. „Nein, bitte nicht! Lauri …“

Besorgt kam Lauri näher und hockte sich neben seinen Freund. Wieder ein Albtraum? Wieder derselbe, von dem er doch so lange Zeit verschont worden war. Nein, er hatte Lauris Namen genannt … Sanft strich er Finn über die Wange und wischte eine noch feuchte Träne weg. „Tut mir leid, Finn!“, flüsterte Lauri und kuschelte sich an seinen Freund.

Fast wäre er auch eingeschlafen, aber plötzlich wurde Finns Schlaf noch unruhiger. Er warf sich hin und her und Lauri hielt in schließlich fest, weil er Angst hatte, Finn könne sich verletzen. Erschrocken riss Finn die Augen auf und starrte Lauri an.

„Finn, ich …“ Lauri wollte sich entschuldigen, aber Finn riss ihn an sich.

„Gott sei Dank! Du lebst … du lebst …!“

„Du hast nur geträumt!“, flüsterte Lauri sanft in Finns Haar und klammerte sich genauso an Finn, wie Finn an ihn.


Es war noch schlimmer gewesen als sonst. Die gleichen Bilder, aber plötzlich mit einer solchen Schärfe. Es war, als hätte er jetzt all die Dinge erkannt, die jahrelang nur verschwommen sichtbar gewesen waren.

Finn zitterte immer noch und war so froh, dass Lauri jetzt da war. Er hatte die Arme um Lauri geschlungen als wollte er sichergehen, dass er jetzt endlich wach und Lauri wirklich da war.

„War das wieder derselbe Albtraum?“

Finn schüttelte langsam den Kopf, sein Gesicht immer noch in Lauris Locken vergraben.

„Nein … ja … ich weiß nicht …“

Langsam rückte er ein wenig von Lauri ab und strich mit den Fingerspitzen über dessen Wangen und Lippen. Hatte Lauri auch geweint?

„Es war komisch … Eigentlich war es derselbe Traum ja, aber irgendwie auch anders …“

„Willst du es mir erzählen?“ Lauris Frage kam so leise und schüchtern, dass Finn innerlich fast schon wieder schmunzeln musste. Wahrscheinlich dachte auch Lauri an den Streit vor wenigen Stunden. Ja … Finn würde ihm alles erzählen, auch jetzt noch.

„Weißt du … ich habe vor einigen Jahren etwas gesehen und davon hab ich dann jede Nacht geträumt. Ich war, ich weiß nicht, vielleicht 7 Jahre oder so. Mein Vater hatte mich ins Bett geschickt, aber ich war so verdammt neugierig, als ich die Stimmen draußen gehört hab.“ Finn seufzte kurz. Lauri schwieg und hörte nur zu.

„Ich schlich mich nach draußen und kletterte auf einen Baum, damit ich besser sehen konnte. Genzo war da und einige andere Männer. Ein Mann kniete vor Genzo. Er hatte die Hände auf dem Rücken gefesselt und Genzo sprach mit ihm. Da war aber auch noch ein Junge … Ich erinnere mich nicht mehr so gut …“


„Ich erinnere mich aber sehr gut …“, fuhr es Lauri durch den Kopf. Er hatte die Luft angehalten und konnte Finn nicht ansehen. Was er da beschrieb, hatte Lauri auch gesehen. Nur aus einer anderen Perspektive. Er bemerkte, dass er leicht anfing zu zittern und die Fäuste geballt hatte.


„Und, naja … ich wollte hören was die da reden und rutschte vorsichtig auf dem Ast weiter, aber irgendwie muss ich abgerutscht sein. Auf jeden Fall fiel ich runter und dann gab es plötzlich ein riesiges Durcheinander. Der gefesselte Mann schrie so furchtbar und der Junge lief weg. Bisher wusste ich nicht mehr, was er gerufen hatte, aber heute hab ich geträumt, dass er deinen Namen ruft. Verrückt oder? Er schrie immer: `Lauf, Lauri, lauf …` und dann warst du der Junge. Aber es wurde noch verrückter heute. Plötzlich warst du nicht mehr der Junge, sondern der gefesselte Mann und Genzo …“ Finn musste schlucken und tief durchatmen. „Genzo hat dich getötet und ich konnte nichts tun … ich musste zusehen, wie er das Messer, an deinem Hals … es war furchtbar …“

Beim Reden hatte Finn auf seine Hände gestarrt und sah nun hoch zu Lauri.

Der Anblick erschreckte ihn. Lauri war schneeweiß und seine Augen wanderten fahrig über den Boden. Er zitterte und seine Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervor traten.

„Lauri …?“

Mit Mühe zwang Lauri sich, Finn anzusehen und plötzlich reifte ein furchtbarer Verdacht in Finn.

„Oh mein Gott …“


So war es also gewesen … Genzo hatte seinen Vater wirklich auf dem Gewissen. Die Wut kochte hoch und der Schmerz brannte wie Feuer in seiner Brust. Er presste die Zähne aufeinander und er hoffte immer noch, sich irgendwie zusammen reißen zu können.

„Lauri …?“

Es kostete ihn alle Überwindung, die er noch aufbringen konnte, seinen Blick zu heben. Er blickte in Finns klare grüne Augen. Die Augen, die gesehen hatten, wie sein Vater ermordet wurde. Lauri konnte erkennen, dass Finn plötzlich verstand.

„Oh mein Gott …“

Lauri sah wieder weg und schlang die Arme um sich selbst. Jetzt war es also raus …


Finn war wie erstarrt. Was konnte er nur sagen? Was konnte er tun? Er fühlte Schmerz, Scham, Mitleid …

„Es tut mir so leid …!“, flüsterte er leise. Der Streit von eben war vergessen. Obwohl, nein, nicht vergessen, aber Finn begann zu verstehen.

Gleichzeitig kam noch ein weiteres, bedrückendes Gefühl hinzu. Angst!

„Aber … warum bist du hier? Wenn mein Vater oder Genzo rausfinden, wer du bist … sie werden dich töten!“

„Nicht, wenn ich sie zuerst töte!“, presste Lauri zwischen den Zähnen hervor.

Finns Kopf war plötzlich so leer. Er wusste nichts mehr. Dafür schossen im tausende Fragen durch den Kopf. Wie hatte Lauri es geschafft, sich alleine durchzuschlagen? Wie hatte er das überlebt? Warum hatte Luca Lauris Vater getötet? Oder besser gesagt, warum hatte er den Auftrag dazu gegeben? Warum war Lauri hier? Um Genzo und Luca zu töten? Wie wollte er das anstellen?

In einem kurzen Augenblick stellte Finn überrascht fest, dass ihn die Tatsache, dass Lauri seinen Vater umbringen wollte, dabei am wenigsten traf. Stattdessen machte er sich Sorgen um Lauri.

„Das ist bescheuert Lauri! Du bist schließlich allein und im Lager sind Dutzende Männer, die meinen Vater beschützen würden! Du würdest bei dem Versuch draufgehen!“

„Und wenn schon.“ Lauris Blick war kühl und abweisend.

Finn packte ihn an den Schultern und hätte ihn am liebsten durchgeschüttelt.

„Aber ich will dich nicht verlieren!“

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Verwirrt sah Lauri auf. Hatte er Finn gerade richtig verstanden?

Finn sah ihn so liebevoll an, dass er sich sicher war, sich nicht verhört zu haben.

„Aber …“

„Hör zu Lauri! Glaub mir eins: Ich kann – wirklich – verstehen, dass du Genzo und Luca umbringen willst!“ Leise fügte er hinzu: „Und sie hätten es verdient!“

Lauri starrte Finn ungläubig an.

„Aber das ist ein völlig wahnsinniger Plan! Sie würden dich wahrscheinlich eher töten, als dass du auch nur in Reichweite meines Vaters kommst. Bitte, BITTE geh mit mir weg von hier!“

Lauri verstand nicht, was hier gerade passierte. Finn hatte gerade erfahren, dass er gekommen war, um Luca zu töten, aber Finn schien das nicht zu kümmern. Also nur in der Hinsicht, dass er sich Sorgen um Lauri machte. Verwirrt schüttelte Lauri den Kopf.

„Ich … hab es versprochen. Ich hab es meinem toten Vater versprochen! Ich werde ihn rächen!“

Finn blickte ihn traurig an.

„Ich kenne deinen Vater nicht, leider … Aber nach dem, was du mir von ihm erzählt hast, kann ich nicht glauben, dass er das gewollt hätte!“

Lauris Miene verhärtete sich erneut.

„Richtig! Du kennst ihn nicht!“

„Er hat sein Leben gegeben, um dich zu retten! Wie kannst du denken, dass er will, dass du dein Leben jetzt aufs Spiel setzt? Außerdem …“ Finn hob die Hand, um Lauri über die Wange zu streichen. „Außerdem bist du nicht so!“

„Woher willst du das wissen? Du kennst mich auch nicht!“

Lauri konnte sehen, wie sehr seine Worte Finn getroffen hatten. Er hasste sich selbst dafür.

Finn schwieg und blickte ihn nur wortlos an. Die Hand hatte er sinken lassen.

Er wusste auch nicht, warum er das gesagt hatte. Er hasste Luca, nicht Finn … Finn konnte nichts dafür.

„Ich … es tut mir leid!“ Lauri ließ den Kopf hängen und hatte erneut mit den Tränen zu kämpfen. Gerade war ihm einfach alles zu viel. Alles kam hoch. All die Jahre, die er erfolgreich verdrängt hatte. All die Jahre, in denen er nur von Hass getrieben wurde. All die Jahre, in denen er so schrecklich allein gewesen war …

Vielleicht hatte Finn auch recht? Er wusste es nicht. Ihm tat alles weh und eigentlich wollte er doch nichts anderes, als bei Finn zu sein, oder?!

Finn antwortete nicht.

„Finn … bitte verzeih mir! Ich wollte das nicht sagen …“


Die Worte hatten verdammt weh getan. Finn schluckte schwer. Aber er sah, wie Lauri mit sich selbst zu kämpfen hatte und er sah, dass die Entschuldigung ernst gemeint war.

Gleichzeitig fühlte er sich selbst schlecht. Auch wenn er nichts dafür konnte, schämte er sich für seinen Vater und fühlte sich ein Stück mitverantwortlich.

Wie konnte Lauri ihn überhaupt mögen, wo er doch wusste, dass es Finns Vater war, der den Mord angeordnet hatte?

Zaghaft rutschte er näher und nahm Lauri vorsichtig in den Arm. Er hatte Lauri noch nie so zerbrechlich erlebt und als er fest die Arme um Lauris Hals und Körper schlang, sackte der junge Mann sogar noch mehr in sich zusammen.

Er hatte Lauri noch nie weinen sehen. Lauri war doch immer der Stärkere von beiden. Er hatte Finn beschützt, ihm das Leben gerettet, ihn getröstet. Fast bekam er ein bisschen Angst, als Lauri sein Gesicht in Finns Halsbeuge vergrub und zum ersten Mal weinte. Sein ganzer Körper zitterte und Finn wusste nicht, was er tun sollte. Also hielt er Lauri einfach nur fest und strich ihm ab und zu sanft durch die Locken.

Zwar hatte Lauri sich irgendwann beruhigt, aber in den kommenden Tagen lag eine seltsame Stimmung in der Luft. Finn fragte sich ständig, wie Lauri mit ihm zusammen sein konnte, wohl wissend, dass sein Vater der Mörder von Lauris Vater war. Paradoxerweise ließ Lauri immer wieder Bemerkungen fallen, die Finn dahingehend interpretierte, dass Lauri nicht verstand, warum Finn ihn noch mochte, obwohl er wusste, dass Lauri den Mord an Luca plante. Finn verstand sich selbst nicht. Luca war sein Vater. Auch wenn er ihn immer schlecht behandelt hatte, sollte er nicht dennoch Gefühle für seinen Vater haben. Trotzdem berührte ihn Lauris Plan in dieser Hinsicht nicht. Er fürchtete nur, dass Lauri etwas zustoßen könnte, und versuchte immer wieder, seinen Freund zu überreden, mit ihm Wessington Forrest zu verlassen. Ohne Erfolg …

Wenigstens redete Lauri endlich mit ihm.

Auch wenn es ihm schwerfiel, erzählte er davon, wie er Genzo und den anderen Männern entkommen konnte. Wie er sich allein bis zur nächsten Stadt durchgeschlagen hatte und wie er durch Betteln und kleinere Diebstähle über die Runden gekommen war.

Auch, dass er seinen Körper eine Zeit lang verkaufen musste, ließ er nicht aus. Finn litt so sehr mit seinem Freund, der die ganzen Jahre scheinbar jetzt noch einmal durchlebte, und er fühlte sich jedes Mal so hilflos, wenn Lauri wieder schluchzend zusammenbrach.

Später wurde es besser. Als er älter wurde, konnte er verschiedene Hilfsarbeiten erledigen und da er stets hart trainierte, konnte er auch die schweren körperlichen Arbeiten übernehmen, vor denen andere Männer zurückschreckten. Er verdiente schließlich sogar genug Geld, um sich die kleine Baracke am Fluss zu mieten. Lauri erzählte ihm seine ganze Lebensgeschichte, bis zu dem Tag, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. In der Gasse …

Finn blickte ihn traurig und beschämt an. Er konnte mit Worten nicht ausdrücken, wie sehr er sich dafür schämte, was sein Vater Lauri angetan hatte. Und auch wenn er ein friedliebender Mensch war, konnte er Lauris Wunsch nach Vergeltung sogar wirklich verstehen. Trotzdem

fürchtete Finn den Tag, an dem sie ins Lager zurückkehren mussten. Denn die Reparatur der Hütte schritt auch immer weiter voran. Bald wäre auch das Dach wieder vollständig hergerichtet. Am liebsten hätte Finn die Hütte selbst erneut in Brand gesteckt, nur um noch länger hier bleiben zu können. Mittlerweile waren aber fast zwei Monate vergangen und Luca würde nicht ewig warten.

„Morgen werden wir fertig mit dem Dach!“

Lauri klopfte sich die Hände an der staubigen Hose ab.

„Mh …“ Finn fürchtete es. Er schloss die Tür hinter den beiden und beobachtete Lauri nachdenklich, der sich gleich daran machte, ein Feuer im Kamin zu entfachen. Die Nächte waren noch ausgesprochen kalt hier.

„Willst du es dir nicht vielleicht doch noch mal überlegen?“

Lauri seufzte und stocherte weiter in den trockenen Blättern.


Er konnte Finns Frage ja verstehen, aber er war noch zu keiner Entscheidung gekommen. Er hasste es, wenn die Gespräche auf dieses Thema hinausliefen. Er spürte wie Finn hinter ihn trat und seine Hände von hinten sanft über seine Brust und seinen Bauch wanderten.

„Ich hab nur Angst um dich!“

Lauri drückte Finns Arm leicht und lehnte sich nach hinten gegen seinen Freund.

„Ich weiß …“

„Und was machen wir, wenn wir zurück sind? Ich fürchte ich werde es kaum aushalten, wenn ich dich nicht wenigstens einmal am Tag küssen kann!“

Ein Grinsen stahl sich auf Lauris Gesicht.

„Ganz zu schweigen, von all den anderen Dingen …“

Finn hatte sich wirklich verändert. Lauri genoss es sehr, wenn Finn zur Abwechslung die Initiative ergriff und das passierte immer häufiger.

„Uns wird schon was einfallen!“, gab er zurück und drehte sich zu Finn um.


Im Gegensatz zur gedrückten Stimmung strahlte die Sonne und versprach einen wunderbaren Tag, als Lauri die letzten Handgriffe an den Dachbalken erledigte. Finn packte derweil die Satteltaschen und räumte in der Hütte auf.

Sie hatten sich entschlossen, alles soweit fertigzumachen, dann aber noch den restlichen Tag zu zweit zu genießen, bevor sie dieses Stückchen heile Welt, dass sie sich hier geschaffen hatten, aufgeben mussten.

Finn hatte lange darüber nachgedacht. Auch wenn er mittlerweile eine Menge von Lauri gelernt hatte, gab es nach wie vor etwas, was sie bisher nicht ausprobiert hatten.

Zwar wusste er noch nicht, ob er den Mut haben würde, es bis zum Ende durchzuziehen, aber zumindest hatte er sich einen Plan zurechtgelegt…

Lauri saß draußen in der Sonne und gönnte sich eine kurze Pause, als Finn mit bloßem Oberkörper, tiefsitzender Hose und den Armen voller Feuerholz vorbei schlenderte. Aus dem Augenwinkel konnte er genau erkennen, dass Lauri ihn beobachtete. Also trug er den Stoß Holz langsam in die Hütte und ließ sich Zeit die einzelnen Holzscheite dort fein säuberlich zu stapeln. Es dauerte auch nicht lange, bis er Lauri leise hinter sich hörte.

„So langsam glaube ich, du bist gar nicht so unschuldig, wie du immer tust!“

Finn drehte sich nicht zu Lauri um, sondern stapelte seelenruhig weiter, damit Lauri das Grinsen in seinem Gesicht nicht sehen konnte.

„Wie kommst du denn darauf?“

Wie nebenbei räkelte er sich nach dem letzten Holzscheit, was seine Wirkung nicht verfehlte. Sofort spürte er Lauris heißen Atem im Nacken und seine Arme, die er von hinten um Finns Oberkörper geschlungen hatte.

„Weil das, was du hier tust, eindeutig System hat!“, raunte Lauri heiser in Finns Ohr und presste seinen Körper an den des jungen Mannes.

„So ein Unsinn …“, hauchte Finn und legte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken, sodass Lauris Lippen rasch ihren Weg zu Finns Schlüsselbein fanden.

Ohne lange zu überlegen wisperte er:

„Ich will, dass du es tust ...“

Lauris Hände und Lippen wanderten weiter über Finns nackte Haut.

„Was meinst du?“

Er küsste Finns Nacken und seine rechte Hand wanderte bereits tiefer und strich herausfordernd über die Beule in Finns Hose. Finn biss sich auf die Lippe, um nicht laut aufzustöhnen. Stattdessen bewegte er seine Hüfte aufreizend, wohl wissend, dass diese eng an Lauris Becken gepresst war.

„Du weißt schon …“

Lauri schien einen Moment nachzudenken und Finn nutzte die kurze Pause, um sich in Lauris enger Umarmung zu ihm umzudrehen.

„Ich will, dass du mit mir schläfst!“

Lauris Gesicht war von der Erregung bereits leicht gerötet, doch seine blauen Augen blickten Finn skeptisch an.

„Bist du dir sicher?“

Finn grinste schief und schob seine Hände unter Lauris Hemd.

„Was ist? Hast du etwa Angst?“

„Höchstens davor, dass es dir nicht gefällt, oder ich dir wehtue!“

„Das wirst du nicht!“

Lauri sah nicht überzeugt aus, doch Finn übernahm kurzerhand die Initiative und zog Lauri erst mal das Hemd über den Kopf. Nach einigen Küssen und Streicheleinheiten und einige Kleidungsstücke später schien Lauri zumindest nicht mehr abgeneigt.

„Immer noch sicher, dass du das willst?“

Sein Gesicht schwebte über Finns und wieder einmal war Finn wie berauscht von Lauris Anblick. Er strich Lauri eine schwarze Locke hinters Ohr und nickte lächelnd.

„Aber wenn ich dir wehtue, dann sagst du mir Bescheid und ich höre sofort auf!“

„Zur Abwechslung solltest du dir mal weniger Gedanken machen!“, gab Finn sanft zurück. Auch wenn er selbst natürlich trotz allem ein wenig Angst davor hatte, wollte er das Lauri nicht zeigen. Um sich selbst zu beruhigen, konzentrierte er sich auf die angenehme Schwere von Lauris Körper auf seinem. Seine warme und weiche Haut zu spüren, seine Küsse, seine Hände auf dem gesamten Körper … all das entspannte Finn wirklich.

Lauri war wahnsinnig zärtlich und vorsichtig. Langsam tastete er sich Stück für Stück heran und achtete auf jedes Zusammenzucken und jedes tiefe Luftholen. Finn hatte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken gelegt. Mit leicht geöffneten Lippen stöhnte er auf und biss sich anschließend auf die Unterlippe.

„Hab ich dir wehgetan?“, fragte Lauri erschrocken und hielt sofort in jeglicher Bewegung inne. Energisch schüttelte Finn den Kopf.

„Nein! Nein … mach einfach weiter!“

Er griff in Lauris Locken und zog ihn für einen zärtlichen Kuss zu sich herunter. Als sich ihre Lippen berührten, strich Finn mit seinen Händen über Lauris Rücken und langsam tiefer, um ihn auch dort noch näher an sich heranzupressen.

Zwar hatte es wohl ein bisschen weh getan, aber gleichzeitig fühlte es sich auch so gut an, Lauri so nah zu spüren, dass er auf keinen Fall riskieren wollte, dass Lauri damit aufhörte.

„Ich liebe ihn …“, fuhr es Finn durch den Kopf und zumindest für einen kurzen Moment konnte er alle Sorgen vergessen. Es gab nur noch Lauri und ihn.


Es fiel ihm wirklich schwer, die Lichtung hinter sich zu lassen. Schweigend ritten sie nebeneinander her und hingen jeder den eigenen Gedanken nach. Lauri wusste nicht, was sie im Lager erwarten würde. Er wusste nicht, wie es mit Finn und ihm weitergehen sollte und er wusste auch nicht, wie er seinen ursprünglichen Plan umsetzen sollte.

Insgeheim hoffte er auf ein Wunder. Aber was sollte ihm schon helfen, aus dieser ausweglosen Lage herauszukommen?

Als sie das Lager erreichten, herrschte dort hektische Betriebsamkeit wie immer. Eine Gruppe von Männern war gerade in Aufbruchsstimmung. Genzo schien die Truppe anzuführen. Luca stand ebenfalls auf dem Platz und beobachtete, wie die Männer ihre Waffen anlegten.

Als er die beiden Neuankömmlinge erkannte, rief er Genzo etwas zu.

„Also ist die Hütte jetzt fertig?!“

„Eine nette Begrüßung für den eigenen Sohn, den er seit 2 Monaten nicht gesehen hat …“, dachte Lauri im Stillen und überließ Finn das Reden.

„Ja Vater. Entschuldige bitte, dass es so lange gedauert hat … ich …“

„Allerdings … wie auch immer!“, unterbrach Luca seinen Sohn. „Gut, dass ihr gerade jetzt kommt. Genzo kann noch Verstärkung gebrauchen!“

Lauri konnte in Finns Gesicht ablesen, wie wenig er sich wünschte, auf dem nächsten Raubzug dabei zu sein. Er hatte sich gerade so gut erholt.

„Also …“ plötzlich wandte Luca sich an Lauri. „Du kannst gleich auf dem Pferd sitzen bleiben. Ihr reitet sofort los!“ Dann drehte er sich zu Finn um: „Und du kommst mit rein! Dein Onkel hat mir geschrieben, dass du dich gut in Buchhaltung auskennst. Ich habe da einige Rechnungen, die überprüft werden müssen!“ Damit ließ er die beiden jungen Männer stehen und stapfte nach einem kurzen Kopfnicken in Genzos Richtung zurück ins Haupthaus.

Lauri war mindestens genauso überrascht wie Finn, aber beide waren wenig begeistert.

Natürlich gab es keine Möglichkeit, sich so voneinander zu verabschieden, wie Lauri sich das gewünscht hätte, und Genzo brüllte bereits zu ihm rüber.

„Was ist los?! Jetzt komm schon!“

„Ja …“, antwortete er schwach und konnte Finn nur einen kurzen bedauernden Blick zuwerfen, bevor er das Pferd wendete und hinter Genzo und den anderen Männern her ritt.


Die Zeit ohne Lauri war furchtbar.

Nicht nur, dass sich jede Faser seines Körpers nach Lauri sehnte, er fühlte sich auch so unglaublich einsam im Lager.

Luca befasste sich nicht besonders lange mit seinem Sohn, sondern ließ ihn nach einer kurzen Einweisung mit einem Haufen Papiere in seinem Arbeitszimmer allein zurück.

Gelangweilt überprüfte Finn die Rechnungen und hoffte, dass Lauri bald wieder zurück sein würde. Auch wenn er noch nicht wusste, wie die beiden ihre Beziehung hier ausleben könnten, ohne aufzufallen.

Fast hätte er nicht bemerkt, dass sich die Tür leise geöffnet hatte. Doch das Knarren der Holzdielen ließ ihn herumfahren.

Colin stand vor ihm. Finn bekam bei seinem Anblick eine Gänsehaut. Er konnte nicht sagen warum, aber Colins Blick war einfach nur eiskalt.

„Da bist du ja wieder …“

Finn stand langsam von seinem Hocker auf. Wenigstens wollte er Colin in Augenhöhe gegenüberstehen.

„Aber diesmal bist du allein …“

Colins Stimme jagte ihm jetzt regelrechte Schauer über den Rücken. Lauri hatte wahrscheinlich wirklich recht. Wenn Colin könnte, würde er Finn aus dem Weg schaffen.

„Was willst du Colin?“

„Was denkst du denn?“

„Lass mich in Ruhe. Ich hab hier zu tun!“

Colin war immer näher gekommen und instinktiv war Finn vor seinem Cousin zurückgewichen, auch wenn er sich eigentlich vorgenommen hatte, keine Angst zu zeigen.

„Ohne diesen Bastard als Beschützer siehste ziemlich alt aus!“

Ohne Vorwarnung schnellte Colins Hand nach vorne und schloss sich schmerzhaft um Finns Hals. Die andere Hand hatte er drohend zur Faust geballt.

„Hast du keine Angst, dass mein Vater davon erfährt?!“, presste Finn zwischen den Lippen hervor. Colin lachte humorlos auf.

„Luca? Wahrscheinlich wäre er noch stolz auf mich! Ist ja wohl offensichtlich, dass du ihm nichts bedeutest. Glaubst du etwa, er hätte dir eine Träne nachgeweint, wenn dir auf der Lichtung ein kleiner … Unfall … passiert wäre?!“

Die Worte taten weh, aber Finn bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen.

„Und jetzt? Willst du mich umbringen?“, fragte Finn ungerührt.

„Liebend gern … wenn du mich so fragst!“

Schwungvoll rammte er Finn sein Knie in die Seite und Finn sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht stöhnend zusammen. Doch Colin ließ ihn nicht los und zwang ihn so stehen zu bleiben. Sein Gesicht kam nah an Finns Ohr, als er flüsterte: „Du kannst aber auch einfach abhauen. Sieh ein, dass du hier nicht hingehörst! Dann brauch ich mir nicht die Hände schmutzig machen. Und deinen komischen Freund kannste auch gleich mitnehmen!“

Als Colin Lauri erwähnt hatte, musste Finn sich unwillkürlich anspannen. Er hatte versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber Colin schien es bemerkt zu haben.

„Was läuft da zwischen euch?“ Colins Faust bohrte sich schmerzhaft in die ohnehin schon geprellte linke Seite von Finn.

„Ich weiß nicht, was du meinst …“, brachte Finn hervor und blinzelte die Tränen weg, die vor Wut und Schmerz in seine Augen geschossen waren. Nur nichts durchblicken lassen.

„Denk nochmal scharf nach! Was war da auf der Lichtung, mh?!“

„Ich glaube du träumst. Lauri hat mir bei der Hütte geholfen. Das wars …“

Colin lachte gehässig.

„Und das soll ich dir glauben?! Was denkst du würde Luca davon halten, wenn er erfährt, dass sein Sohn ein kleiner Schwanzlutscher ist?“

„Wie gesagt, ich weiß nicht, wovon du redest!“ Finn wollte Colin von sich wegschubsten, aber Colin hielt mit seinem ganzen Gewicht dagegen und schlug erneut auf Finn ein.

„Pass bloß auf Finn! Sonst rutscht mir vor deinem Vater vielleicht mal eine passende Bemerkung raus und dann wird Luca dich ohnehin hier nicht mehr sehen wollen. Also verpiss dich lieber freiwillig!“ Nach einem letzten Faustschlag, der Finn den Atem raubte, ließ Colin endlich von seinem Cousin ab und sah gehässig auf Finn herunter.

„Also überlegs dir! Das war noch ein gutgemeintes Angebot von mir!“

Damit ließ er Finn am Boden liegen und verschwand wieder nach draußen.

Finn war völlig fertig mit den Nerven. Seine linke Seite brannte bei jeder Bewegung. Sogar das Atmen schmerzte. Schlimmer war jedoch die Angst, die sich langsam einschlich. Also hatte Colin einen Verdacht?! Hatte er doch etwas gesehen, als er damals plötzlich auf der Lichtung aufgetaucht war. Sie mussten wirklich weg von hier. Alle beide. Hoffentlich konnte er Lauri bald dazu überreden …


Sie waren fast drei Tage unterwegs gewesen und Lauri spürte immer mehr, wie er sich nach Finns Nähe sehnte. Er hatte das Gefühl nur körperlich anwesend zu sein, während Genzo wieder bei irgendwelchen Menschen Schutzgeld eintrieb. Seine Gedanken waren bei Finn und als sie das Lager endlich erreicht hatten, konnte er die Anspannung kaum noch aushalten.

Suchend wanderte sein Blick über den Platz und er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, als er Finn durch das Fenster des Haupthauses ausmachen konnte.

Finn hatte ihn auch gesehen, aber natürlich mussten beide sich jegliche Gefühlsregung verkneifen, um sich nicht zu verraten. Nur ein leichtes, schüchternes Lächeln umspielte Finns Lippen.

Lauri nahm Genzo und den anderen beiden Männern bereitwillig die Pferde ab und führte sie hinter das Haus, um sie dort anzubinden.

Eigentlich hatte er gehört, wie Finn näher gekommen war. Lauri musste grinsen, weil Finn es nach wie vor nicht schaffte, sich lautlos zu bewegen. Trotzdem blieb er ruhig stehen und band die Pferde an, bis er Finns Atem im Nacken spürte.

„Du hast mir gefehlt!“, raunte Finn leise und Lauri lief dabei ein Schauer über den Rücken.

Wortlos drehte er sich um und zog Finn schnell in den angrenzenden Schuppen.

Als die Tür zufiel, gab es für beide kein Halten mehr.

Leidenschaftlich presste Lauri sich gegen Finn, der die Tür im Rücken hatte und seine Hände seinerseits in Lauris Locken vergrub, um Lauris Gesicht noch näher zu sich ziehen zu können. Drei Tage waren einfach eine viel zu lange Zeit …

Lauris Hände wanderten schnell unter Finns Hemd. Seine warme Haut unter den Fingerspitzen zu spüren … Wie hatte er das vermisst.

Fordernd packte er mit beiden Händen um Finns schmale Taille, um ihn noch näher an sich heran zu ziehen.

„Ahhh …“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht sog Finn scharf die Luft ein. Sofort ließ Lauri seinen Freund erschrocken los.

„Was ist?“

Finn lächelte gequält und strich Lauri sanft durch die Haare.

„Da ist nichts! Vergiss es einfach!“

Lauri ahnte jedoch bereits zu viel und trat einen Schritt zurück, um Finns Hemd anzuheben. Eine handtellergroße Prellung schillerte in allen Farben und zog sich über Finns gesamte linke Seite. Die altbekannte Wut stieg in Lauri auf und er musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden.

„Was ist das?“

„Ich sagte doch: Vergiss es!“

„Colin?!“

Finn wand sich unter Lauris stechendem Blick. Am liebsten wäre Lauri nach draußen gestürmt, hätte sich Colin geschnappt und ihn windelweich geprügelt.

Finns Hände legten sich um Lauris Gesicht, sodass Lauri sich wieder etwas beruhigte. Er blickte in die intelligenten grünen Augen und schlagartig wurde die Wut von einer tiefen Traurigkeit verdrängt.

„Was denkst du?“, fragte Finn leise, während seine Lippen sanft über Lauris Hals strichen.

„Willst du das wirklich wissen?“

Gedanklich hatte er Colin bereits mit auf die Liste gesetzt, auf der schon Genzo und Luca standen. Gleichzeitig spürte er, dass Finn versuchte, die Stimmung wieder zu verbessern.

Seine Hände strichen zärtlich über Lauris Brust oder durch seine Locken, aber Lauri war nun mehr als alles andere in Stimmung für solche Zärtlichkeiten.

Er ließ sich zwar von Finn die zwei Schritte gegen die Rückwand des Schuppens schieben, blieb aber ansonsten passiv stehen und reagierte nicht mehr auf Finns Berührungen.

Warum ließ Finn sich auch alles von seinem Cousin gefallen?

Finn schien nach kurzer Zeit bemerkt zu haben, dass seine Bemühungen zu nichts führten. Seufzend ließ er die Hände sinken und sah Lauri ernst an.

„Lass uns unsere gemeinsame Zeit nicht mit Gedanken an diesen Idioten verschwenden!“

„Wie soll ich nicht daran denken, wenn ich jedes Mal Angst haben muss, dir wehzutun, wenn ich dich berühre?!“

Finn sah mit einem Mal sehr betroffen aus. Langsam kam er wieder näher und nahm Lauris Gesicht erneut in beide Hände.

„Du wirst mir niemals wehtun!“

Nur ganz sanft berührten seine Lippen die von Lauri und Lauri spürte einen furchtbaren Kloß im Hals, der ihm beinahe die Tränen in die Augen trieb.

„Ich hab dir schon so oft wehgetan …“, dachte er unglücklich.


„Aber es gibt da noch was, was ich dir sagen muss!“, murmelte Finn und sah betreten zu Boden. Er musste Lauri warnen. Ihm erzählen, dass Colin vielleicht zu viel wusste …

Lauri war sofort hellhörig und sah Finn aufmerksam an.

„Colin … ich glaube er hat damals auf der Lichtung doch zu viel gesehen!“

„Hat er was gesagt?“

„Er hat so Andeutungen gemacht und er würde es auch meinem Vater erzählen, wenn …“

„Wenn, was?!“ Finn konnte deutlich spüren, dass Lauris Wut wieder wuchs.

„Er will, dass ich von hier verschwinde. Eigentlich will er sogar, dass wir beide von hier verschwinden!“

„Das könnte ihm so passen!“, stieß Lauri wütend hervor.

„Nicht nur ihm …“, entfuhr es Finn.

Einen Moment schwiegen sie sich an.

„Er hat ja auch recht irgendwie … Also ich meine: Ich WILL nicht hier sein! Und für dich wäre es auch sicherer, nicht hier zu bleiben!“

Lauri seufzte genervt.

„Müssen wir darüber schon wieder diskutieren!?“

Finn gab es auf.

„Nein …“

Wie könnte er Lauri nur von seinem wahnwitzigen Plan abbringen?

Es war schwierig die kommenden Tage irgendwie zu überstehen. Viel zu selten konnten sie sich unter vier Augen sehen und selbst dann konnte Finn sich nicht wirklich entspannen. Immer schwang die Angst mit, dass irgendjemand etwas mitbekam.

Außerdem strich Colin ständig mit drohenden Blicken um Finn herum, was ihm immer stärkere Magenschmerzen bereitete. Und nach wie vor ließ sich Lauri einfach nicht umstimmen.

„Ich vermisse dich!“

„Aber ich bin doch hier!“

Finn seufzte. „Ja, aber gleichzeitig auch nicht … Es fehlt mir so mit dir zusammen zu sein, ohne ständig an Colin oder meinen Vater denken zu müssen.“

Er lag eng an Lauri gekuschelt und sog wie ein Süchtiger seinen Duft ein, als könnte er einen Vorrat anlegen, der ihn über die nächste Durststrecke bringen könnte.

Lauris Hand strich sanft über Finns Rücken und jagte ihm immer wieder leichte Schauer über die Haut.

„Ich glaube ich muss langsam gehen!“, flüsterte Lauri und küsste Finn auf die Schläfe, bevor er sich leise aufrappelte.

Am liebsten hätte Finn gebettelt, dass Lauri die Nacht bei ihm bleiben solle, aber er wusste, dass das Risiko viel zu groß war. Mit großen Augen beobachtete er seinen Freund, der sich sein Hemd überwarf und vorsichtig aus dem kleinen Fenster spähte.

Lauri blickte ihn zärtlich an und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

„Ach, schau mich nicht so an … Ich würde auch am liebsten hier bleiben!“

„Wie soll das nur weitergehen mit uns?“

Finn konnte nicht verhindern, dass die Verbitterung in seiner Stimme mitschwang. Lauris Lächeln machte einem bedrückten Gesichtsausdruck Platz. Mit wenigen Schritten saß er wieder neben Finn und blickte ihm tief in die Augen.

„Ich … wir … ich finde einen Weg!“

Finn wollte ihm nur zu gern glauben. Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als Lauri nach einem flüchtigen Abschiedskuss nachzusehen, der sich behände und lautlos aus dem Fenster schwang.

Am nächsten Morgen fühlte er sich wie gerädert. Er hatte wenig geschlafen und sich mal wieder die halbe Nacht den Kopf zerbrochen.

Luca hatte ihm wieder einiges an Schreibarbeit aufgebrummt und Colin hatte ihn am frühen Morgen bereits unsanft angerempelt, sich aber nicht mehr getraut, da Luca im Raum gewesen war. Es war einfach verworren und Finn sah keinen Ausweg. „Es wird alles in einer Katastrophe enden!“, fuhr es ihm immer mal wieder durch den Kopf, was seine Stimmung nicht besonders verbesserte.

Nach zahlreichen Rechnungen, die Finn für seinen Vater ein wenig „verschönern“ sollte, wurde er plötzlich von lauten Schreien aus seiner Konzentration gerissen.

Erschrocken sah er auf, als mit einem lauten Poltern die Tür aufgestoßen wurde und Luca mit einigen Männern eintrat.

Mit einer raschen Handbewegung bedeutete Luca seinem Sohn ihm den Platz hinter dem großen, schweren Schreibtisch freizumachen und Finn sprang sofort auf und versuchte einen raschen Überblick über die Situation zu gewinnen.

Genzo, Colin, einige der anderen Männer und sogar Lauri waren in den Raum getreten und als Genzo einen Schritt zur Seite trat, fiel Finns Blick sofort auf die zusammengekauerte Gestalt in der Mitte des allgemeinen Interesses.

Finns Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als er das geschwollene, zerschlagene Gesicht des jungen Mannes betrachtete. Das linke Auge war völlig zugeschwollen und aus einer großen Platzwunde an seiner Stirn war Blut über seine rechte Gesichtshälfte gelaufen. Die Lippe hatten sie ihm ebenfalls blutig geschlagen und Finn war sich sicher, dass der junge Mann eine gebrochene Nase hatte. Er musste unglaubliche Schmerzen haben, dennoch drang nur ein leises Wimmern zu ihm herüber.

Finn versuchte in den Gesichtern der Anderen nach Antworten zu suchen. Was hatte das hier zu bedeuten? Aber auch Lauri schüttelte nur kaum merklich mit aufeinander gepressten Lippen den Kopf, als er sich in eine Ecke des Raumes verzogen hatte.

„Also … was hast du mir zu sagen?“

Lucas Stimme klang so gleichgültig, dass Finn anfing zu zittern.

Das Bündel in der Mitte des Raumes richtete seinen ängstlichen Blick auf den Anführer der Bande und seine Lippen bebten, als würde er flüstern.

„Nun antworte schon!“, raunzte Genzo und verpasste dem misshandelten Mann einen schmerzhaften Tritt in die Seite, der selbst Finn zusammenzucken ließ.

„Ich … ich … Sir … ich wurde geschickt … um euch … ein Angebot zu unterbreiten!“

Luca lehnte sich abwartend in seinem Lehnstuhl zurück und lachte humorlos auf.

„Was könnt ihr mir schon bieten?“

„ Sir … ich … wir, wir möchten nur … in Frieden leben … können …!“

„Glaubst du vielleicht, das würdet ihr erreichen, wenn ihr unsere Außenposten angreift und meine Lager niederbrennt?“

Lucas Stimme war eisig geworden, als er sich bedrohlich über den Schreibtisch lehnte.

Finn wusste immer noch nicht so recht, worum es eigentlich ging, aber so oder so fand er einfach, dass man einen Menschen so nicht behandeln durfte.

„Ich … nein … Sir …“ Der gebrochene Mann brachte nur noch ein Stammeln heraus.

„Ich habe keine Lust, mir das noch länger anzuhören! Das Angebot ist abgelehnt!“

Luca klang nicht mal gereizt, nur gelangweilt, was Finn eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Wie konnte sein Vater nur so völlig emotionslos sein?

„Finn!“

„Mh?!“, erschrocken blickte Finn auf.

„Erledige das!“

Ihm stockte der Atem. Jeder wusste, was Luca damit meinte. Erledige das, bedeutete, dass die Person getötet werden sollte. Aus dem Weg geräumt, wie ein lästiges Möbelstück.

Finn war völlig erstarrt. Luca hatte sich bereits desinteressiert abgewendet.

Das konnte sein Vater doch nicht wirklich von ihm verlangen?!

„Was?“

Fassungslos wanderte Finns Blick zwischen dem ohnehin schon misshandelten, verletzten Mann und seinem Vater hin und her. Überrascht wandte Luca sich seinem Sohn zu.

„Du hast mich schon verstanden!“

Der drohende Unterton in Lucas Stimme war nicht zu überhören. Finn konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass auch Lauri plötzlich angespannt wirkte. Während Colin sein gewohnt gehässiges Grinsen aufgesetzt hatte und Finn genauso lauernd beobachtete, wie einige der anderen Männer.

Er schluckte und warf Lauri nur einen ganz kurzen Blick zu. Wie sehr hätte er sich gewünscht Lauri jetzt nah bei sich zu wissen, nur um dessen Rückhalt auch physisch zu spüren.

„Nein!“

Fast war er erschrocken darüber, wie fest seine Stimme geklungen hatte, denn innerlich zitterte er wie Espenlaub. Mit einem Mal schien jedes Geräusch in der Hütte verstummt. Sogar das Wimmern des Opfers war abgebrochen.

Luca drehte sich gefährlich langsam zu Finn um. Seine kalten grauen Augen bohrten sich in Finns und jetzt war Lucas Zorn ganz deutlich zu spüren.

Finn nahm allen Mut zusammen, den er aufbringen konnte.

„Ich werde das nicht tun! Ich kann das nicht tun!“

Bei dem lauten klatschenden Geräusch zuckten fast alle Anwesenden im Raum zusammen. Finns linke Gesichtshälfte brannte, nicht zuletzt dank der zahlreichen Ringe an Lucas Hand, die Finns Haut blutig aufgerissen hatte.

„Geh mir aus den Augen!“, zischte Luca und Finn kam der Aufforderung nur zu gern nach. Auf dem Weg nach draußen hörte Finn noch, wie Luca Colin mit der Aufgabe betraute und nur der frische Lufthauch, der Finn auf dem Platz entgegen schlug verhinderte, dass er sich übergeben musste.

Mit letzter Kraft schleppte er sich zur Rückseite der Hütte und fiel dort erschöpft auf die Knie. Tropfen färbten den Lehmboden dunkel und erst jetzt bemerkte Finn, dass ihm Tränen über die Wange liefen.

„Sch… !“

Erleichtert spürte er Lauris Hände an seinen Schultern.

„Finn!“

Lauri sank vor Finn auf die Knie, nahm dessen Gesicht sanft in beide Hände und zwang Finn so zu ihm aufzusehen. Bei der Berührung und dem Blick in Lauris mitfühlende Augen wurde Finn sofort ruhiger. Als er seufzend kurz die Augen schloss, drangen die Angstschreie des Opfers von der anderen Seite der Hütte zu ihnen herüber und die Wucht der Gefühle brach sofort wieder über Finn herein.


Finn zitterte mit einem Mal am ganzen Körper und Lauri machte sich nicht nur Sorgen um seinen Freund, sondern auch schreckliche Vorwürfe.

„Finn ich …“

Hilflos zog er den schmalen, zitternden Körper an sich, trotz der Gefahr gesehen zu werden.

„Ich kann das einfach nicht Lauri! Ich kann das nicht! ...“, schluchzte Finn plötzlich.

„Ich weiß!“, flüsterte Lauri und presste seine Lippen sanft auf Finns Stirn. Es tat so weh, ihn leiden zu sehn.

„Ich halte das nicht mehr länger hier aus!“

„Ich weiß! Es tut mir leid! Finn … Es tut mir leid!“

Vorsichtig schob Lauri seinen Freund ein Stück von sich weg und versuchte sich ein schiefes Lächeln abzuringen.

„Pass auf … wir gehen weg, ok?! So wie du es dir gewünscht hast! Du hast recht! Du hattest immer recht … Es war dumm von mir und das tut mir leid … Bitte wein nicht mehr!“

Mit dem Daumen wischte er die Tränenspuren auf Finns Wangen weg und bemühte sich aufmunternd zu wirken, auch wenn er sich schrecklich mies fühlte. Er wusste schon so lang, dass es Finn hier schlecht ging und dennoch hatte er nur an sich gedacht.

Finn nickte kaum merklich und schlang seine Arme um Lauri.

„Alles wird gut! Ganz bestimmt!“, flüsterte Lauri heiser, als er spürte, wie Finns Körper sich an ihn presste und er wünschte sich, dass ein Fünkchen Wahrheit in seinem letzten Satz steckte. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass das Risiko zu groß sei, krallte er seine Hände in Finns Haar und zog dessen Gesicht zu sich. Er küsste die letzten Tränen von Finns Wangen, bis er sanft dessen Lippen streifte, die sich sofort leicht öffneten.

„Das ist ja widerlich!“

Erschrocken war Finn sofort zurückgewichen.

„Colin!“

Zu dem angewiderten Ausdruck auf Colins Gesicht gesellte sich schnell das bekannte hämische Grinsen.

„Und ihr seid so was von tot!“

Finn und Lauri waren langsam aufgestanden und unwillkürlich hatte Lauri einen beschützenden Schritt vor Finn gemacht.

„Colin du verstehst das nicht …“, setzte Finn an, doch Lauri unterbrach ihn: „Verpiss dich einfach!“

Angeekelt beobachtete Lauri, wie Colin den blutverschmierten Dolch, mit dem er wohl grade Lucas „Problem“ beseitigt hatte, ungerührt an seinem Umhang abwischte.

Belustigt betrachtete Colin die beiden jungen Männer.

„Wolltest du das deinem Vater selbst sagen?“

Lauri hatten selten so viel Hass verspürt und dabei hatte er mit diesem Gefühl leider schon verdammt viel Erfahrung gesammelt.

„Was wollte er mir sagen?“

Als Luca um die Ecke trat, schien es Lauri fast so, als wären Finn beinahe die Beine weggeknickt. Auch ohne seinen Freund anzusehen, wusste Lauri, dass Finn kreidebleich war.

Allerdings hatte auch Lauri nicht damit gerechnet, dass Luca in der Nähe sein würde.

Ungeduldig verschränkte Luca die Arme vor der Brust und warf den jungen Männern abwechselnd drohende Blicke zu. Finn brachte jedoch keinen Ton raus und Lauri hatte ebenfalls nicht vor, etwas zu sagen.

„Was geht denn hier vor, verdammt?! Rede endlich … Colin!“, fuhr Luca seinen Neffen gereizt an.

Colins dreckiges Grinsen wurde immer breiter und ohne Lauri und Finn aus den Augen zu lassen, erwiderte er: „Ich dachte dein Sohn möchte dir vielleicht selbst sagen, dass er sich von diesem Bastard ficken lässt!“

„Was redest du da?“, bedrohlich baute Luca sich vor Colin auf. Doch dieser ließ sich nicht beeindrucken und nickte nur in Richtung der beiden jungen Männer.

„Glaubst du mir nicht? Dann frag sie doch selbst!“

Er grinste erneut gehässig. „Oder wollt ihr etwa leugnen?“

Lucas drohender Blick richtete sich nun erneut auf Finn und Lauri. Lauri schwieg weiterhin beharrlich. Was sollte er auch sagen?! Doch Finn rührte sich langsam wieder.

Zaghaft trat er neben Lauri.

„Du verstehst das nicht!“

„Willst du damit sagen, das ist wahr?“

Die Fassungslosigkeit in Lucas Stimme wurde fast gänzlich vom Zorn erstickt und Lauri stellte überrascht fest, dass sich dieser Zorn nun gänzlich gegen ihn zu richten schien.

„Wenn du meinen Sohn angerührt hast, bring ich dich um!“

Luca machte mehrere bedrohliche Schritte auf Lauri zu, bevor der junge Mann überrascht feststellte, dass Finn sich diesmal schützend vor ihn stellte.

„Vater, warte!“

Überraschenderweise blieb Luca sogar wirklich perplex stehen.

„Ich … Lauri … Er ist mein Freund … Ich liebe ihn und wenn du ihn umbringen willst, dann musst du wohl zuerst deinen Sohn töten!“

Lauri wäre wohl gerührt gewesen, wenn es in dieser Situation nicht so unpassend gewesen wäre, aber um Finn wenigstens mental zu unterstützen, legte er ihm eine Hand auf die Schulter und drückte diese leicht.

Diese Liebeserklärung hatte Luca scheinbar wirklich aus dem Konzept gebracht. Einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Luca presste die Lippen angewidert aufeinander und schüttelte leicht den Kopf.

„Ich habe keinen Sohn!“

Lauri spürte, wie diese Worte Finn einen tiefen Stich versetzten und der altbekannte Hass auf Luca flammte erneut auf.

„Nur eine Enttäuschung!“

Luca wand sich ab und Lauri konnte sich nicht länger zusammenreißen. Was gab es schon noch zu verlieren?

„Ihr seid als Vater die wahre Enttäuschung!“

Blitzschnell drehte Luca sich erneut zu Lauri um. Sein Gesicht war rot angelaufen und die Ader an seiner Stirn trat deutlich hervor. Er sah einfach nur hässlich aus mit seinem vor Wut und Abscheu verzerrtem Gesicht und einmal mehr fragte Lauri sich, wie etwas so Abartiges, so etwas Schönes wie Finn hervorbringen konnte.

„Dein Vater …“, setzte Luca an, doch Lauri unterbrach ihn.

„MEIN Vater war IMMER stolz auf mich. Und er wäre es auch jetzt, wenn ihr ihn nicht umgebracht hättet!“

„Lauri nicht!“, raunte Finn an seiner Seite und umfasste beruhigend Lauris Arm. Ein freudloses Lachen drang aus Lucas Kehle, als er zu seiner gewohnten Überheblichkeit zurückgefunden hatte.

„Hah … irgendeiner von diesen dummen Bauerntölpeln, was?“

Lauri spürte Finns warnenden Händedruck, aber die Wut war einfach zu groß.

„Nein … Er war mit Abstand der bessere Anführer von euch beiden!“

Es dauerte einen Moment, bis Luca die Bedeutung der Worte begriffen hatte. Mit abschätzendem Blick betrachtete er Lauri, der die Hände zu Fäusten geballt hatte.

Nur Finns sanfter Händedruck hielt ihn noch zurück.

„Genzo!“, grollte Luca und der Handlanger trat sofort an Lucas Seite.

„Was sagtest du habt ihr damals mit Leanders Balg gemacht?!“

Genzo kratzte sich dümmlich am Kopf, als habe er die Situation noch nicht erfasst.

„Naja, der Junge war ja noch klein, verletzt und vor allem allein! Wir haben ihn im Wald verloren. Aber wir dachten, die Wölfe würden das erledigen …“

„Scheinbar nicht …“, zischte Luca und sogar Genzo zuckte dabei zusammen.

„So … du hast das also doch überlebt …“, setzte Luca an, während er mit zusammen gekniffenen Augen um Lauri herumschlich.

„Und dann wagst du es hier aufzutauchen?“

Er spie die Worte förmlich in Lauris Gesicht, doch dieser schwieg.

Abrupt blieb Luca plötzlich stehen.

„Ach … ich verstehe … du dachtest wohl, du könntest mich damit treffen, wenn du dich an meinem Sohn vergreifst, was?!“

„Nein!“, erwiderte Lauri trocken.

„Ich bin nur gekommen, um dich zu töten!“

Luca gab sich unbeeindruckt.

„Da muss ich dich leider enttäuschen. Du bist derjenige, der den morgigen Tag nicht mehr erleben wird!“

„Aha … und willst du das wenigstens selbst erledigen? Oder schickst du wieder deine Handlanger vor?“

Lucas Lippen umspielte ein eiskaltes Lächeln, als er langsam seinen Dolch zog.

„Vater! Bitte!“ Finn war flehend zwischen die beiden Gegner gesprungen. Dennoch erkannte Lauri, wie Lucas Gehirn bereits erneut arbeitete.


Wie erstarrt stand Finn zwischen Lauri und seinem Vater. Alles was er so sehr gefürchtet hatte war eingetroffen. Warum waren sie nur so unvorsichtig gewesen? Und wie zum Teufel konnte er noch verhindern, dass sein Vater den Menschen töten würde, der Finn doch alles bedeutete? Fast wäre ihm das gefährliche Glitzern in Lucas Augen entgangen, aber dass Luca ihn plötzlich so seltsam musterte, machte ihn misstrauisch. Er spannte abwartend jeden Muskel seines Körpers an, bereit seinen Freund zu schützen, falls es nötig sein sollte.

„Wenn du mich weiterhin Vater nennen willst … sollst du noch eine Chance haben!“

Finn zuckte erschrocken zusammen, als Luca den Dolch auf ihn richtete. Mit einem fiesen Grinsen drehte Luca den Dolch langsam um und hielt seinem Sohn den Griff der Waffe hin.

„Töte ihn!“

Die Sekunden verstrichen quälend langsam, während Finn völlig fassungslos auf die Waffe starrte. Er musste sich verhört haben. Das konnte sein Vater doch nicht ernsthaft von ihm verlangen?! Konnte er?

„Na mach schon! Töte ihn!“, zischte Luca und drückte Finn den Dolch in die zitternde Hand.

Langsam drehte Finn sich zu Lauri um. Zwei von Genzos Männern waren von hinten an den dunkelhaarigen jungen Mann herangetreten und packten Lauri, der sich nicht mal wehrte.

Finn sah in Lauris eisblaue Augen und wünschte sich dort irgendeine Antwort zu finden. Er hoffte Lauri würde ihn auch ohne Worte verstehen. Fragend blickte Finn seinen Freund an.

„Du weißt, dass ich das nie tun würde, nicht wahr?“, dachte er. Lauri blickte scheinbar ausdruckslos zurück, doch Finn hoffte trotzdem, dass Lauri ihn verstand.

Lauri hob leicht das Kinn an, so als wollte er Finn seine schutzlose Kehle präsentieren. Hatte er Vertrauen zu Finn? Oder hatte er schon aufgegeben?

Finns Hände zitterten noch stärker, als sich ein erschreckender Gedanke in seinem Kopf formierte.

Dieser Gedanke war so furchtbar und verlockend zugleich. Er schloss die Augen für einen kurzen Moment und atmete tief durch, während er sich bemühte, sich an Lauris Kampflektionen zu erinnern … „Und wenn du jemanden töten musst …“

„Na los!“, grollte Luca und es war deutlich zu spüren, dass er ungeduldig wurde.

„Beweise wenigstens einmal, dass du dieser Familie würdig bist!“

„Es tut mir leid …!“, sagte Finn. Er öffnete die Augen und blickte noch einmal in Lauris wunderbare Augen.

Dann wirbelte er blitzschnell herum und stach zu. „… Vater!“

Ungläubig starrte Luca mit weit aufgerissenen Augen auf das Messer in seiner Brust. Als er wieder zu Finn aufblickte, sackte er bereits in sich zusammen.

„Nur eine Enttäuschung …“, murmelte er noch und fiel dann der Länge nach zu Boden. Langsam breitete sich eine dunkelrote Blutlache um den leblosen Körper aus und mit einem Mal erwachten scheinbar alle aus ihrer Erstarrung.

Zumindest alle außer Finn. Wie durch Watte nahm er die Bewegungen und die Schreie um ihn herum wahr. Spielte es noch eine Rolle? Er hatte gerade seinen eigenen Vater getötet. Und was fühlte er jetzt? Nichts … Nur Leere …


Lauri hatte sich von den beiden überraschten Männern losgerissen und den rechten sofort mit einem gezielten Faustschlag zu Boden gestreckt. Dem anderen zog Lauri rasch den Dolch aus der ledernen Scheide und erwischte ihn mit der Klinge in der Kniekehle, sodass dieser mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammensackte.

Innerhalb kürzester Zeit erfasste Lauri die Anzahl der Männer auf dem Platz. Colin, der Feigling, hatte sich bereits aus dem Staub gemacht. Aber Genzo hatte ebenfalls sein Messer gezogen und bewegte sich nach der anfänglichen Überraschung nun gefährlich schnell auf Finn zu, der noch immer bewegungslos vor der Leiche seines Vaters stand.

„FINN!“, brüllte Lauri, doch schon im nächsten Moment erkannte er, dass Colin mit fünf weiteren Männern um die Ecke kam.

„Scheiße!“, entfuhr es ihm und da Finn sich immer noch nicht rührte, machte er einige Schritte auf seinen erstarrten Freund zu, warf den Dolch auf Genzo und traf diesen zumindest so schmerzhaft an der Schulter, dass der Handlanger ins Straucheln geriet.

Trotzdem erreichte der feiste Mann Finn noch vor Lauri und bleckte seine verfaulten Zähne, als er den jungen Mann an der Schulter packte. Lauri schlug Genzo jedoch hart seine Faust ins Gesicht und zerrte Finn von dem Handlanger weg.

„Finn! Wir müssen weg von hier“, raunte Lauri seinem Freund eindringlich ins Ohr und rannte mit Finn an der Hand die wenigen Schritte zu den Pferden.

Rasch schwang er sich auf Finns Pferd und zog seinen Freund vor sich auf die Stute, ohne Colin und seine Männer aus den Augen zu verlieren, die sich verblüfft umsahen und glücklicherweise nur zögerlich auf die beiden jungen Männer zubewegten.

Nach einem kurzen hasserfüllten Blick auf Colin und Genzo, der sich wieder aufrappelte, wendete Lauri die Stute und preschte in entgegengesetzter Richtung in den Wald.

Nur weg von hier! Vielleicht hatten sie noch eine Chance. Die Männer schienen zumindest verunsichert und das könnte ihnen den nötigen Vorsprung verschaffen.

Finn gab noch immer keinen Ton von sich, aber die Wärme des bekannten Körpers ließ Lauri hoffen, dass doch noch alles gut werden würde.

Es war schwer zu sagen wie lange sie durch das Dickicht ritten. Lauri hatte jegliches Zeitgefühl verloren und Finn hatte schon lange keinen Ton mehr von sich gegeben. Lauri ließ die Zügel locker und die verschwitzte Stute langsam austraben. Er drehte sich im Sattel um und lauschte in den Wald hinein. Nichts …

„Ich glaube sie folgen uns nicht!“

Seine Stimme klang belegt, aber er war erleichtert. Finn lehnte schwer an seiner Brust und atmete tief.

„Alles ok?“, fragte Lauri vorsichtig und legte seinen Kopf auf Finns Schulter ab.

„Ich …“

Lauri sah, dass Finn zitternd seine rechte Hand hob, sodass beide Männer sie sehen konnten.

Sofort krampfte sich Lauris Magen schmerzhaft zusammen. Blut … so viel Blut!

„FINN! Du bist verletzt!“

Er schwang sich aus dem Sattel und fing Finn auf, der sich kaum noch halten konnte.

„Nein … bitte nicht!“, schoss es immer wieder durch Lauris Kopf, als er Finn half, sich gegen eine Baumwurzel zu lehnen. Finn presste bereits wieder beide Hände auf die blutende Wunde an seinem Bauch.

„Lass mich sehen!“

Vorsichtig zog Lauri Finns Hände weg und strich das Leinenhemd zur Seite. Die Wunde war tief und Finn hatte schon viel Blut verloren. In Lauris Kopf wirbelten tausend Gedanken durcheinander und er bemühte sich krampfhaft Ruhe zu bewahren und Ordnung in sein Gedankenchaos zu bringen.

„Ok, ok … das kriegen wir schon hin …“, stammelte er. „Drück weiter feste drauf, ja? Ich … ich muss was finden, um die Blutung zu stillen. Bin gleich wieder da!“

„Nein!“

Überrascht hielt Lauri inne.

„Nein! Bitte geh nicht weg! Lass mich nicht allein!“

Lauri war hin und her gerissen, doch Finns flehender Blick zog ihn zurück. Er kniete sich vor seinen Freund.

„Du darfst MICH nicht allein lassen!“, sagte er eindringlich und Finn nickte zaghaft.

„Zumindest sollten wir die Wunde verbinden!“, erklärte Lauri dann und riss rasch Streifen von seinem Hemd ab. Fachmännisch verband er die immer noch blutende Stichwunde und zwang Finn einige Schlucke Wein aus dem Schlauch der Satteltasche zu trinken. Die Arbeit machte ihn etwas ruhiger und half ihm den Kopf freizubekommen, aber sobald alles erledigt war und er sich hinter Finn gesetzt hatte, um ihn stützend im Arm zu halten, brachen die Gefühle erneut über ihm zusammen.

„Das ist alles meine Schuld!“, fuhr es ihm immer wieder durch den Kopf und die Angst, Finn könnte die Nacht nicht überleben, ließ ihm Tränen in die Augen schießen.

Um Finn nicht unnötig zu beunruhigen, verhielt er sich jedoch ruhig und wischte sich gelegentlich verstohlen die Tränen von den Wangen.

Finn lehnte schwer gegen Lauris Brust. Seinen Kopf hatte er auf der Schulter seines Freundes abgelegt, die Augen geschlossen. Ab und zu zitterte er oder zuckte vor Schmerz zusammen. Lauri umfasste ihn dann jedes Mal noch etwas fester und bemühte sich trotz allem ruhig zu bleiben. Aber es zerriss ihm das Herz, seinen Freund so leiden zu sehen.

„Lauri?!“

„Mh!?“

Finn seufzte schwer.

„Ich habe meinen Vater umgebracht!“

„Ja, ich weiß …“

Einen Moment schwiegen beide.

„Weißt du was das Schlimmste dabei war?“

Lauri schwieg abwartend.

„Es hat nicht wehgetan! Es tat mir nicht leid. ER tat mir nicht leid! Es war als wäre er schon seit langer Zeit tot!“

„Vielleicht war er das?!“, erwiderte Lauri und küsste Finn auf das blonde Haar.

„Aber bin ich jetzt nicht ein schlechter Mensch? Ich töte meinen eigenen Vater und es tut mir nicht mal leid!“

Lauri umarmte Finn noch einmal fester.

„Du bist der beste Mensch, den ich kenne!“

Finn atmete schwer und presste vor Schmerz eine Hand auf die Wunde.

„Lauri?“

„Mh?!“

„Versprich mir etwas! Bitte geh weg von hier! Geh nicht zurück ok?“

„Wovon redest du? Ich gehe nirgendwohin ohne dich!“

Lauri vergrub sein Gesicht in Finns Haar und musste ein Schluchzen unterdrücken, da er sehr wohl ahnte, wovon Finn sprach.

„Ich meine, such nicht nach Genzo oder Colin! Mach keine Dummheiten, wenn ich …“

„Hör auf so was zu sagen! Du wirst nicht sterben, hörst du? Du wirst schön bei mir bleiben, verstanden!“, brachte Lauri wütend hervor. Aber Finn nickte nur schwach und wenig überzeugend.

Lauri fühlte sich so furchtbar erschöpft und hilflos. Was sollte er nur tun? Panisch lauschte er auf Finns Atem und heimlich hatte er seine Hand so um Finns Handgelenk geschlossen, dass er unbemerkt den Pulsschlag seines Freundes kontrollieren konnte.

Die Blutung war langsam abgeklungen, aber Finn hatte so viel Blut verloren, dass seine Haut kreidebleich und eiskalt war. „Halte durch …“, flehte Lauri innerlich immer wieder.

Die Zeit verstrich nur langsam, aber endlich stahlen sich die ersten rötlichen Sonnenstrahlen durch das Blätterdach.

Lauri seufzte leise und wischte sich erneut verstohlen Tränen von den Wangen.

„Es tut mir so leid … Finn das ist alles meine Schuld! Wenn ich nicht gewesen wäre, dann wär das alles nicht passiert!“

Finn regte sich.

„Red nicht so einen Unsinn! Du bist das Beste was mir je passiert ist!“

„Ich wusste nie, was mir gefehlt hat, bis ich dich kennengelernt habe …“, flüsterte Lauri.

„Finn … ich, ich liebe dich!“ Das hätte er schon viel früher sagen sollen.

Finn öffnete die Augen und seine Mundwinkel zuckten leicht, als er sich vorsichtig zu Lauri rumdrehte.

„Ich liebe dich auch!“ Sanft drückte er seine Lippen auf Lauris Mund. Doch schon im nächsten Moment zuckte er wieder vor Schmerz zusammen und presste seine Hand auf die Wunde.

„Ich bin so müde …“, murmelte er und lehnte sich wieder zitternd an Lauri, der daraufhin seinen Umhang enger um die beiden aneinandergepressten Körper wickelte.

„Ich weiß, aber du darfst jetzt nicht einschlafen!“, mahnte Lauri und bemühte sich seine Stimme nicht ängstlich zittern zu lassen.

„Hörst du Finn?“

„Mh …“

Finn hatte die Augen geschlossen und die Angst um den jungen Mann ließ Lauris Herz schneller schlagen. Was wenn er nicht mehr aufwachen würde?

Lauri umfasste Finn fester und wiegte sich mit ihm, wie mit einem kleinen Kind, hin und her. Seine Wange drückte er in Finns Haar und flüsterte „Nicht einschlafen Finn, hörst du? Nicht einschlafen!“ Er konnte sich nicht mehr gegen die Tränen wehren, die nun unaufhörlich über seine Wangen liefen.

„Bitte geh nicht! Bitte verlass mich nicht!“, flehte er innerlich und bemerkte gar nicht, dass er plötzlich auch begonnen hatte die Worte laut auszusprechen.

„Finn …“

Aber Finn reagierte nicht mehr …

„Finn! FINN! …“


Sehen
Der schwache Lichtschein des Sonnenaufgangs
Die Schatten des schützenden Blätterdaches
Seine blauen Augen …

Fühlen
Der dumpfe Schmerz im Bauch
Die Kälte auf der Haut
Seine zärtlichen Hände …

Riechen
Der süßliche Geruch von Blut
Der vertraute Geruch von Erde
Sein Duft …

Schmecken
Der salzige Geschmack von Tränen
Der süße Geschmack des letzten Schluckes Wein
Seine weichen Lippen …

Hören
Das leise Wispern des Windes in den Blättern
Seine sanfte Stimme

Und dann … Stille …

Danksagung:

Danke sagen möchte ich an erster Stelle einer Freundin, die vor etlichen Jahren die ersten Ideen zur Story zusammen mit mir gesponnen hat, auch wenn es dann doch nie dazu gekommen ist, die Geschichte gemeinsam zu schreiben. Und ein weiteres Dankeschön geht an Mark und Torsten. Mark, der sich als Erster getraut hat, mal rein zu lesen und mich bestärkt hat, die Geschichte bei Nickstories zu veröffentlichen und Torsten, der bestimmt jede Menge mit meinen elendigen Zeichensetzungsfehlern zu kämpfen hatte und sich die Zeit genommen hat, alles zu korrigieren! Danke! :-)

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