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Mein bester Feind

Teil 2

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Obwohl meine Gefühle an diesem Abend noch Achterbahn gefahren waren, fühlte ich mich gut. Ich war mir zwar schon darüber bewusst, dass meine Sympathie für Nils mein Leben verkomplizieren würde. Aber ich war mir zu sicher, dass es der Mensch, der hinter dieser ekelhaften Maskerade aus Hass, Rassismus und Menschenverachtung steckte, wert war, um ihn zu kämpfen. Und so schmiedete ich abends, als ich schon im Bett lag, halbgare Pläne, wie ich es schaffen konnte, meinen süßen Darth Vader von der hellen Seite der Macht zu überzeugen. Ich schlief mit dem Gedanken ein, gemeinsam mit Nils in den Herbstferien barfuß am Strand von Nerja entlang zu gehen. Als Ziel war das zwar viel zu hoch gesteckt, aber hey... Träumen darf man ja...

Geweckt wurde ich durch ein leises, aber unangenehmes Brummen. Es war dunkle Nacht und im ersten Moment nach dem Aufwachen dachte ich, ich hätte dieses Geräusch nur geträumt. Aber dann kam es schon wieder. Ein zweisekündiges Brummen, wie eine sterbende Hornisse in meinem Nachttischschränkchen. Erst als ich einigermaßen bei mir war, konnte ich das Geräusch zuordnen. Ich hatte mein Smartphone, das auf Vibration eingestellt war, auf dem Nachttisch liegen, und jetzt, wo es vibriert hatte, hatte es das ganze Schränkchen in Schwingung versetzt. Im Dunkeln tastete meine Hand nach dem Telefon und fand es auch.

Als ich das Display zum Leuchten brachte, staunte ich nicht schlecht. Zwei Nachrichten von Nils.

1:24 Uhr: 'Hallo Miguel. Bist du wach?'

1:26 Uhr: 'Miguel?'

„Oh Gott, was will der denn jetzt?“, murmelte ich und schrieb: 'Ja. Jetzt bin ich wach.'

Nils antwortete prompt: 'Super. Können wir uns nochmal treffen?'

'Klar. Morgen nach der Schule bin ich schon mit Sophie verabredet. Am Freitag vielleicht?'

'Ich meine jetzt sofort', schrieb Nils zurück.

'Dir ist bewusst, dass es 1:29 Uhr ist?', tippte ich ein.

'Ja.'

'Dann bin ich ja beruhigt.'

'In zehn Minuten am Brunnen vor dem Hotel Hermann?'

'Okay', tippte ich, untermalt von einem Seufzer in mein Smartphone.

Widerwillig, aber auch neugierig, verließ ich mein Bett und schlüpfte in die Sachen, die ich tagsüber getragen hatte. Erst wollte ich hinaus auf den Flur gehen, doch das war keine gute Idee. Die Wohnungstür zum Treppenhaus ließ sich nämlich von außen nicht leise schließen. Papa hatte zwar gesagt, dass man den Schnapper noch ölen müsse, aber bis jetzt hatte er es noch nicht getan. Deshalb tat es bis jetzt jedes Mal einen Rumms, wenn man die Tür von außen zuzog.

Darum war das jetzt die perfekte Gelegenheit, meinen Fluchtweg zu testen. Was meine Eltern, als wir die Wohnung zum ersten Mal besichtigt hatten, als möglichen letzten Rettungsweg bei einem Feuer betrachtet hatten, war mir damals schon als 'Hinterausgang' aufgefallen, falls ich nachts mal ungehört ausbüxen wollte. Aus dem Fenster im zweiten Stock den knapp zwei Meter breiten Weg zwischen Haus und Garage überspringen, die anderthalb Meter tiefer als das Fenster angrenzte, und vom Garagendach runter auf die Einfahrt. Das hatte dann auch etwas abenteuerliches, als ich zum ersten Mal mit gebeugtem Rücken außen auf der Fensterbank stand und zum Sprung ansetzte. Die knapp fünf Meter Tiefe bis hinunter zum Weg, wirkten in der Nacht wie eine gähnende Leere, aber der Übersprung gelang mir und ich landete mit einem Telemark am Rand des Betondachs der Garage. Dann krabbelte ich auf allen Vieren über die freie Fläche, hangelte mich geschmeidig wie eine Katze (behaupte ich einmal) vor dem Garagentor hinunter und schon war ich in Freiheit.

Als ich durch die dunkle Nacht ging, die nur von einem Halbmond erleuchtet wurde - denn um diese Zeit war auch die Straßenbeleuchtung abgeschaltet – übermannte mich ein gewisses Nervenflattern. Mein Adrenalinspiegel sank nun langsam und die kühle Frühherbstluft machte mich wach. Die Aktion kam mir nun sehr seltsam vor und mir wurde bewusst, dass es sich höchstwahrscheinlich um eine Falle handelte. Vielleicht hatte Nils' Vater – oder noch besser sein fieser Bruder - Wind davon bekommen, dass sich zwischen uns eine Freundschaft anbahnte. Und jetzt hatte er ihm das Smartphone abgeknöpft, um mir auf diese Weise in den leergefegten Straßen von Münsingen eine Abreibung zu verpassen. Und wenn sich dann durch meine Schreie die Fenster der Anwohner öffneten, wäre schon längst alles vorbei. Ja. Genauso würde es laufen.

Trotzdem kehrte ich nicht um. Ich hörte schon das Plätschern des Brunnens und als ich um die Ecke kam, sah ich eine schattenhafte schlaksige Gestalt, die mit angezogenen Beinen und um die Knie geschlungenen Armen auf der Mauer des Brunnens saß. Die Gestalt konnte ich aufgrund der Körperhaltung, der Figur und der Frisur sofort als Nils ausmachen.

Ich kniff Nils in den Schuh, als ich angekommen war

„Na? Was gibt’s denn so Wichtiges?“, flüsterte ich, denn um uns herum waren auf allen Seiten Wohnhäuser mit heruntergelassenen Rollläden.

„Lass uns wo anders hingehen, wo wir besser reden können“, flüsterte Nils zurück und stand auf.

„Na gut. Aber lass es nicht zu lange dauern“, seufzte ich, während wir uns schon auf den Weg machten und als zwei Schatten durch die leergefegten Straßen von Münsingen gingen.

„Tut mir leid. Aber ich musste dich jetzt einfach sehen.“

„Na wenn ich dir soooo wichtig bin“, foppte ich Nils und im nächsten Augenblick bekam ich einen feixenden Klaps in den Nacken, der aus dem Nichts kam.

Gemeinsam lachten wir leise, während wir durch die Nacht gingen. Nur zwei Ecken weiter kamen wir an einen kleinen Park mit Spielplatz, an dessen Rand wir uns auf eine Holzbank setzten. Hier waren wir nicht mehr direkt an den Häusern und konnten deshalb ein bisschen lauter reden.

„Also?“, fragte ich zwar immer noch leise, aber nicht mehr geflüstert.

„Zuerst möchte ich mich bei dir entschuldigen. Ich hab mich dir gegenüber ungerecht verhalten. Das habe ich jetzt eingesehen.“

„Ich würde jetzt gerne 'vergeben und vergessen' sagen“, seufzte ich. „Aber so einfach ist es doch nicht. Der ganze Hass steckt doch viel zu tief in dir drin, Nils. Ich mag dich. Aber ich möchte nicht mit einem menschenverachtenden Nazi befreundet sein.“

„Menschenverachtend...“, murmelte Nils gekränkt vor sich hin.

„Stimmt doch. Du wolltest mich fertig machen, nur weil ich eine dunklere Haut habe oder schwarze Haare. Dabei wusstest du gar nichts über mich. Und ich könnte wetten, dass du beim Nächsten, der nicht in dein Arier-Schema passt, weil er vielleicht dunkler ist oder Jude oder schwul, wieder dasselbe machen würdest. Ist es nicht so?“

„Miguel...“

„Mich würde interessieren, ob du das Zeug, das du da ständig von dir gibst, eigentlich selber glaubst.“

„Ich weiß im Moment nicht mehr, was ich glauben soll. Echt nicht!“, fauchte Nils schärfer, als er es wohl selbst beabsichtigt hatte. Dann atmete er durch und sprach ruhiger weiter. „Glaubst du, dass mich die Sachen, die wir in Geschichte lernen, kalt lassen? Ich hab mir da auch meine Gedanken gemacht, als wir das Dritte Reich und den Holocaust durchgenommen haben und hab auch gedacht, dass das schlimm war.“

„Und?“

„Ich habe mit Mama und Papa darüber geredet. Aber die sind der Meinung, dass das alles nur Lügengeschichten sind, um Deutschland klein zu halten.“

„Glaubst du das?“

„Eigentlich nicht. Aber wieso sollten meine Eltern mich anlügen?“

„Weil sie – oder weil ihr - genau zu diesen Leuten gehört, die sich diese Zeiten wieder zurückwünschen. Und da ist es die einfachste Taktik, zu verharmlosen und den anderen die Schuld zuzuschieben.“

Nils schwieg. Vielleicht war er zu dieser Schlussfolgerung auch schon gekommen.

„Okay“, seufzte ich. „Für nachts um Zwei war die Moralpredigt jetzt lange genug. Also nochmal: Wieso sind wir eigentlich hier?“

„Du hast gesagt, ich könnte wegen der anderen Sache mit dir reden. Ich muss mit jemandem darüber reden, sonst gehe ich kaputt. Aber ich habe Angst, dass ich es mich nicht mehr traue, wenn ich es auf morgen verschiebe.“

„Welche andere Sache?“, stellte ich mich blöde, weil es mir immer noch Spaß machte, Nils zu foppen. Und ich schaffte es auch, ihn ins Stottern zu bringen.

„Na... äh... das von gestern. Oder besser gesagt vorgestern. Wo sich unsere Lippen berührt haben. Da wo du denkst, ich wäre nur abgerutscht.“

Es kostete mich viel Mühe, mein Lachen zu unterdrücken und ich hoffte, dass es in dem schwachen Mondlicht dunkel genug war, dass Nils nicht erkannte, wie meine Lippen bebten: „Mann Nils, jetzt mach es uns beiden nicht so schwer und rede Klartext. Es wird dir gut tun.“

Ich hörte Nils durchpusten, dann nuschelte er die drei Worte zusammengepresst wie ein einziges Wort: „Ich bin schwul.“

Ich legte ihm einen Arm um den Nacken: „Na also. War das jetzt so schwer?“

„Und dich stört das echt nicht?“, fragte Nils verwundert.

„Quatsch, ist doch okay. Und außerdem bin ich es auch. Hab ich dir doch heute Mittag schon angedeutet.“ Ich sagte das zwar ziemlich locker, aber in Wirklichkeit schlugen meine Emotionen Saltos. Für mich war das eben auch das erste Mal in meinem Leben gewesen, dass ich jemandem verriet, dass ich schwul war, und ich empfand es als ergreifenden – befreienden – Moment.

„Ich war mir nicht ganz sicher, ob du mir da nicht nur etwas Nettes sagen wolltest“, gab Nils zu. „Wissen es deine Eltern eigentlich?“

„Nein.“

„Hast auch Angst davor. Oder?“

„Nee, es ist eher Bequemlichkeit. Bis jetzt hatte ich noch keinen Grund, es ihnen zu sagen.“ - Ein Schweigen setzte zwischen uns ein, in dem ich mir selbst eingestand, dass das nur die halbe Wahrheit war. - „Mein Vater sieht in mir einen angehenden Frauenheld, weil er selber mal einer war – oder weil er denkt, er war mal einer.“ - Ich lachte kurz auf. - „Sogar wenn wir abends fernsehen und da kommt in der Werbung eine schöne Frau, nervt er mit seinen Sprüchen und ich muss dann bestätigen.“ Nils lachte kurz mit mir, dann wurde ich wieder ernster: „Das klingt jetzt alles lustig, aber es verunsichert mich auch. Ich schätze, wenn diese Sprüche nicht wären, hätte ich mich vielleicht schon bei meinen Eltern geoutet.“ - Pause. - „Wie deine Eltern dazu stehen, muss ich wohl nicht fragen.“

„Papa ist der Meinung, man müsse Schwule totschlagen. Und das ist noch eine der netteren Varianten. Ich habe blanke Angst davor, dass meine Eltern und mein Bruder herausbekommen könnten, dass ich auf Jungs stehe. Da wäre die Erkenntnis, dass ich mit einem Spanier befreundet bin, Kindergarten dagegen.“

Ich hatte meinen Arm noch um Nils gelegt und drückte ihn jetzt ein bisschen fester an mich: „Na dann... Willkommen im Club.“

„In welchem Club?“, fragte Nils verwirrt.

„Im Club der Leute, die von deinen Eltern gehasst werden.“

Jetzt lachte Nils tatsächlich wieder glaubwürdig: „Muss ein ganz schön großer Club sein.“

„Ja“, lachte ich mit.

„Jetzt können wir gut darüber Scherze machen, Miguel. Aber hast du eine Ahnung, wie schlimm das für mich ist? Du bekommst ständig gesagt, wie abartig und widerlich Schwule sind und, dass die keine Berechtigung haben, zu leben. Und dabei weißt du selber, dass du auch so abartig bist. Und wie sehr du es auch willst – du kannst gar nichts dagegen tun. Manchmal denke ich, es wäre wirklich besser, wenn ich nicht mehr leben würde. Mich würde doch sowieso niemand vermissen.“

„Ich würde dich bald noch vermissen, wenn es so weiter geht“, scherzte ich hilflos mit Tränen in den Augen.

„Wie nett.“

„Mensch Nils. Du musst jetzt den Ausstieg schaffen. Ich glaube, du könntest glücklich werden, wenn du die Scheiße hinter dir lässt. Wir könnten vielleicht sogar zusammen glücklich werden.“

„Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Da stecke ich zu tief drin.“

Nun geschah es. Ich konnte einfach nicht anders. Bei dem Kuss, der nun folgte, war ich mir zumindest voll darüber bewusst, dass dieses Mal die Initiative von mir ausging. Und dieses Mal zog auch niemand seinen Kopf zurück. Im Schattenlicht des Halbmondes trafen sich unsere Lippen, kosteten sich aus und nach einer Weile trafen auch unsere Zungen aufeinander und spielten sehr zärtlich miteinander. Es war für uns beide der erste 'richtige' Kuss in unserem Leben. Und er hätte nicht schöner sein können.

„Ich glaube, du schaffst es doch“, sagte ich danach, als Nils noch perplex dasaß und versuchte das, was er gerade erlebt hatte, zu verarbeiten.

Ich stand demonstrativ auf: „So, jetzt haben wir aber genug geredet. Für mich wird es jetzt Zeit fürs Bett.“

Nils stand auch auf: „Okay. Können wir morgen Mittag vielleicht nicht doch noch ein bisschen Zeit miteinander verbringen?“

„Ich möchte Sophie nicht gerne absagen. Aber komm doch einfach mit. Dann könnt ihr mir gemeinsam Münsingen zeigen.“

„Ich glaube nicht, dass Sophie sich das so vorstellt“, lachte Nils.

„Das hält sie schon aus“, scherzte ich zurück. „Außerdem bin ich mir sicher, dass sie dich auch noch mag. Ich glaube, wir Drei wären eine gute Clique.“

„Wenn du meinst.“

Zum Abschied drückte ich Nils noch einmal fest an mich: „Und vergiss nicht, du kannst dich jeder Zeit bei mir melden. Ich mach mir nämlich Sorgen um dich.“

Ich hatte zwar Bammel, dass das jetzt etwas schnulzig geklungen hatte, aber Nils nickte mir nur dankbar zu, bevor wir in verschiedene Richtungen auseinander gingen.

Nun wartete aber noch eine große Herausforderung auf mich, als ich vor dem Haus stand. Die Frage, ob ich leise genug durchs Treppenhaus gehen konnte, die Wohnungstür aufschließen und lautlos durch den Flur gehen konnte, musste ich mir nämlich gar nicht stellen. Denn ich hatte in der Hektik vergessen, meinen Schlüssel mitzunehmen. Also gab es nur die Möglichkeiten zu klingeln und vor meinen Eltern zu Kreuze zu kriechen oder auf demselben Weg zurückzukehren, wie ich getürmt war. Ich entschied mich für die zweite Variante und musste feststellen, dass es hinauf viel schwerer war, als hinunter.

Mit einem Sprung konnte ich die Dachkante der vielleicht 2,50 Meter hohen Garage ergreifen und mich hochziehen, danach krabbelte ich wieder über das Dach und dann wurde es ernst. Es war der Sprung meines Lebens über den zwei Meter breiten Weg zwischen Garage und Haus und er gelang mir. Meine Hände bekamen den Rahmen des offenen Fensters zu fassen, meine Füße stemmte ich gegen die Fassade und im nächsten Moment rollte ich mich über den Fensterrahmen in mein Zimmer hinein. Ich legte mich auf den Rücken auf mein Bett, schlug mir die Hände vors Gesicht und musste erst mal lachen... Was war das nur für eine Nacht gewesen? Ich wurde mir darüber bewusst, dass eine Freundschaft mit Nils zu einem echten Vollzeit-Abenteuer werden könnte. Als ob er mitbekommen hätte, dass ich an ihn dachte, vibrierte wieder mein Smartphone.

'Gute Nacht, Miguel.'

'Gute Nacht, Nils', schrieb ich zurück.

Und dann geschah in dieser Nacht tatsächlich nichts mehr...

 

Als ich morgens mit meinen Eltern am Frühstückstisch saß, hatte ich ein mieses Gefühl. So richtig konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine nächtliche Kletteraktion unbemerkt geblieben war. Aber Mama und Papa wunderten sich nur, dass ich es vor lauter Müdigkeit kaum schaffte, die Augen offen zu halten.

„Ich hab heute Nacht eben schlecht geschlafen.“

„Wahrscheinlich ist das normal. Wenn dein Zimmer erst einmal richtig eingerichtet ist, so wie du es dir vorstellst, schläfst du hoffentlich auch besser“, versuchte mich meine Mutter zu beruhigen.

Papa grinste: „Der Junge ist doch nervös wegen seinem Date mit Sophie heute Nachmittag. Stimmt's?“

Ich nickte ihm mit einem vielsagenden Lächeln zu, so als ob wir jetzt ein gemeinsames Geheimnis hätten.

 

„Eins nach dem anderen“, zwinkerte ich und nun grinsten Papa und ich gemeinsam Mama an. Ich glaube, er fühlte sich in die Zeiten zurückversetzt, als er in meinem Alter war und das Flirten für sich entdeckt hatte.

Als ich auf dem Weg zur Schule war, fragte ich mich, wie es heute mit Nils und mir weitergehen würde. Die ganze Situation war für mich unberechenbar, aber die Spannung, mit der ich in den Tag ging, fühlte sich positiv an. Ich ging gerade von der Hauff-Straße in die Goethestraße, und die Schule war schon in Sichtweite, da wurde ich von Nils abgefangen.

„Hey Miguel. Hast du gut geschlafen?“, fragte er mich. Ich musterte Nils für den Bruchteil einer Sekunde und der Anblick war ein positiver. Auch an diesem Morgen war Nils wieder politisch neutral angezogen und sein Seitenscheitel auf dem Undercut war nicht so hart frisiert, wie normalerweise, sondern ein bisschen unordentlich zerzaust. Ich hielt es zwar auch für möglich, dass er wegen der kurzen Nacht keine Zeit oder Lust gehabt hatte, sich aufwendig zu frisieren, aber ich legte das mal zu Nils' Gunsten so aus, dass es beabsichtigt war.

„Morgen Nils“, grüßte ich ihn zurück. „Geht so. Irgendjemand hat mich heute Nacht aus dem Bett geklingelt“, scherzte ich.

Nils lachte mit: „Ja ja, hier laufen schon Idioten rum.“ Dann ernster: „Du, Miguel... Ich hätte da noch eine Bitte an dich.“

„Ja?“

Nils biss sich verlegen auf die Unterlippe: „Ist es okay, wenn wir es nicht so an die große Glocke hängen, dass wir befreundet sind? Wenn sich das herumspricht und meine Eltern davon Wind bekommen, bekomme ich einen Mords Ärger.“

„Ja. Okay“, meinte ich etwas unzufrieden. „Sag mal Nils... Schlägt dein Vater dich auch?“

„Schon. Ist aber nicht so wild. Mal 'ne Backpfeife, wenn ich nicht spure. Ist aber halt auch Scheiße, wenn dir dann zwei oder drei Tage der Unterkiefer weh tut.“ - Nils lachte unbedarft, als ob das nichts besonderes wäre. Ich versuchte irgendwie mitzulachen, aber wirklich gelingen wollte mir das nicht.

Schon in der zweiten Stunde hatten Nils und ich unseren großen Auftritt. Wir trugen das gemeinsame Referat Herrn Thoma und der Klasse vor. Eigentlich hatte niemand erwartet, dass wir überhaupt etwas zustande bringen würden. Gerade deshalb sorgten wir für eine große Überraschung, weil unser Vortrag echt gelungen war. Während Nils und ich die restliche Zeit so taten, als würden wir uns ignorieren, verbrachte ich die große Pause mal wieder mit Sophie.

„Ähm Sophie... Ist es okay, wenn heute Mittag zu deiner Stadtführung noch jemand mitkommt?“

Der Blick, den mir Sophie zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, dass das für sie nicht okay war: „Hmh. Und wer?“

„Ich glaube, den kennst du noch nicht.“ - Ich wollte ihr jetzt nicht zu viel auf einmal zumuten.

„Oh Mann, Miguel. Mit dir hat man's auch nicht leicht. Dir ist aber schon klar, dass mein Angebot anders gemeint war. Oder?“

„Jaaa“, druckste ich herum. „Aber weißt du... Ich hab jetzt hier endlich auch mal einen Freund gefunden, der hat diese Woche nur noch heute Zeit. Und ich hab euch halt beide so ins Herz geschlossen, dass ich niemandem eine Absage geben möchte.“

Wow... Ich war über mich selbst überrascht, wie charmant ich sein konnte. Und auch Sophies Gesichtszüge erweichten: „Na gut. Du kannst aber nur hoffen, dass mir dein Freund am Ende nicht besser gefällt, als du.“

„Da bin ich zuversichtlich“, lachte ich.

Na gut. Das war also eingetütet. Nils und ich brachten noch die letzten drei Stunden hinter uns und taten so, als würden wir uns nicht mögen, dann läutete endlich zum letzten Mal die Glocke. Unsere Show entsprechend würdigten wir uns keines Blickes, als wir die Bücher in die Rucksäcke packten und Nils vor mir das Klassenzimmer verließ.

Ich ging direkt zu Sophie: „Na... Jetzt bin ich mal gespannt.“

„Und ich bin gespannt auf deinen ominösen Freund“, antwortete sie zwar fröhlich, aber doch irgendwie zerknirscht.

Gemeinsam verließen wir das Klassenzimmer und den Schulhof. Wir hatten gerade die Bushaltestellen hinter uns gelassen, da stieß Nils wie zufällig von der Seite her zu uns dazu. Er stupste Sophie freundschaftlich und mit breitem Honigkuchenpferd-Grinsen auf den Lippen mit dem Ellenbogen an: „Na, ihr Zwei?“

„Was willst du denn hier?“, raunzte ihn Sophie direkt an.

„Ähm Sophie... Darf ich vorstellen? Das ist der ominöse Freund“, druckste ich.

„Willst du mich verarschen?!“

„Nein. Das ist eine längere Geschichte. Du hattest gestern recht mit dem, was du über Nils gesagt hast. Er ist nicht so, wie es scheint. Und wir sind wirklich dabei, eine Freundschaft aufzubauen.“

„Ohje. Du bist echt der seltsamste Mensch, der mir bis jetzt begegnet ist, Miguel. Jetzt bist du sogar noch ein Nazi-Bändiger. Na gut. Dann lasst mal eure Geschichte hören.“

Was folgte, war mein erster wirklich unbeschwerter Nachmittag seit unseres Umzugs nach Münsingen. Wir erzählten Sophie, dass wir durch die Strafarbeit Sympathien für einander gefunden hatten.

„Lasst das aber nicht den Thoma erfahren“, konterte Sophie. „Sonst denkt er noch, er wäre ein guter Pädagoge.“

„Nee, den Gefallen tun wir ihm nicht“, lachte Nils zurück.

An diesem Nachmittag hatte Nils gar nichts mehr mit dem zynischen Stänkerer zu tun, als den ich ihn nicht mal zwei Wochen zuvor kennengelernt hatte. Auch Sophie, die Nils immer irgendwie gemocht hatte, ließ sich von der tollen Stimmung anstecken. Ich schätze, während wir die Winkel Münsingens abklapperten und Nils uns beiden versprach, dass er sich Mühe geben würde, dem rechten Sumpf zu entkommen, war sie ganz froh, dass ich ihn ihr aufgezwungen hatte.

Der Dönerladen wäre vielleicht noch zu viel von Nils verlangt gewesen, aber immerhin widersprach er nicht, als Sophie und ich beschlossen, dem italienischen Eiscafé im Ortszentrum einen Besuch abzustatten.

Wir belegten zu Dritt einen Tisch und Sophie entschuldigte sich sofort: „Ich muss mal ganz dringend für kleine Mädchen. Könnt ihr für mich schon mitbestellen?“

„Ja. Was willst du denn?“

„Wie wär's, wenn wir zwei zusammen einen Amore-Eisbecher nehmen?“, funkelte sie mich frech an.

„Ähm... Okay... Klingt lecker...“

Dann war sie weg.

„Das nenne ich mal ein eindeutiges Zeichen“, lästerte Nils.

Ich verzog mein Gesicht: „Jaaaa. Mann Nils. Jetzt komme ich gar nicht mehr drum herum, ihr das Herz zu brechen. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Sie ist doch so lieb.“

Nils wollte mir gerade antworten, da kam aber schon der Kellner und nahm unsere Bestellung auf. Und kurz darauf kam Sophie zurück. Die Gespräche waren dann eher belanglos, wenn auch sehr angenehm. Meine Annahme, die ich Nils in der Nacht geäußert hatte, schien sich tatsächlich zu bestätigen. Wir Drei funktionierten als Clique fantastisch. Ich kam mir vor, als wären wir schon ewig befreundet, als Sophie und ich fast Nase an Nase an unserem Amore-Eisbecher löffelten, mir Sophie dabei immer wieder humorvolle Verführerblicke zuwarf und Nils, der einen Eiskaffee trank, uns eine Kirsche nach der anderen stibitzte.

„Aber eines sage ich dir“, raunte Sophie mir mit übertriebenem Schmollmund zu. „Beim nächsten Mal möchte ich dich für mich alleine haben. Hast du am Montag schon was vor?“

In meinem Kopf ratterten die Zahnräder schon auf der Suche nach einer Ausrede, da kam mir Nils zuvor: „Miguel ist schwul.“

Sophie und ich schauten Nils mit großen Augen an.

„Alter, Nils. Du...“, knurrte ich schon, aber Nils war noch nicht fertig.

„Und ich bin es auch.“

Ich schlug mir verzweifelt die Hände vors Gesicht: „Bist du denn jetzt total verrückt geworden?“

„Wenn man jemandem hier in Münsingen vertrauen kann, dann Sophie.“

„Mensch, Miguel! Wenn du nicht auf mich stehst, kannst du es mir auch direkt sagen, statt dass ihr hier so eine blöde Show abzieht!“, fauchte Sophie mich an.

„Er sagt aber die Wahrheit“, brummelte ich überfordert mit auf den Handballen abgestützter Stirn.

Sophie schaute uns abwechselnd ungläubig an: „Du...? Er...?“

„Hmh.“

„Und ihr seid zusammen?“

„Nein“, sagten ich und „Ja“ Nils gleichzeitig, was Sophie endlich wieder zum lachen brachte.

„Ihr wisst es also noch nicht“, schlussfolgerte sie amüsiert.

„Kann man so sagen. Aber Sophie, das musst du echt für dich behalten. Wir bekommen beide riesige Probleme, wenn das rauskommt. Ich weiß gar nicht, was in den Depp gefahren ist, dass er dir das gesagt hat.“

„Vielleicht kennt mich der Depp ja gut genug, um zu wissen, dass ich Geheimnisse für mich behalten kann“, motzte Sophie eingeschnappt und Nils nickte mir bestätigend zu.

„Na gut“, gab ich nach und musste mir eingestehen, dass ich es im Endeffekt war, der in Nils den Mut zum Coming Out geweckt hatte. „Und was meinst du dazu?“

„Ein bisschen ernüchternd ist es ja schon zu erfahren, dass die zwei einzigen hübschen Jungs in der Klasse schwul sind. Aber ich glaube, ihr Zwei passt perfekt zusammen.“ - Sophie grinste breit. - „Ich finde euch sowas von goldig.“

„Na danke auch.“

Zumindest hatte Nils ein gutes Gespür bewiesen. Das Outing bei Sophie schien ein guter Schritt gewesen zu sein. Wir verbrachten noch eine schöne Zeit gemeinsam, ohne dass mich im Hinterkopf die Sorge plagte, dass ich Sophie in absehbarer Zeit verletzen müsste. Und ich war auch zuversichtlich, dass sie das Geheimnis wirklich für sich behalten konnte.

Als ich Abends nach Hause kam, war ich fantastisch gelaunt und das bemerkten natürlich auch meine Eltern.

„Dir geht es ja gut“, grinste mein Vater.

„Vielleicht bin ich ja ein kleines bisschen verliebt“, strahlte ich zurück.

„Und wann lernen wir sie kennen?“

„Alles zu seiner Zeit.“

Ich verzog mich relativ schnell in mein Zimmer, um das Gefühl, endlich in Münsingen - und irgendwie auch im Leben - angekommen zu sein, genießen zu können. Dass dieses gute Gefühl keine 24 Stunden anhalten würde, konnte ich natürlich nicht ahnen.

 

Als ich am folgenden Tag, am Freitag, zur Schule ging, hoffte ich schon ein bisschen darauf, dass Nils mich genauso wie am Vortag wieder auf dem Schulweg abfangen würde. Gerade, weil wir in der Schule weiterhin unsere Feindschaft spielen mussten, genoss ich die Zeiten, in denen wir frei miteinander reden konnten, besonders. Ich war mir selbst nicht sicher, was ich für Nils empfand. Sympathie auf jeden Fall. Freundschaft? Bestimmt. Und vielleicht war ich auch ein kleines bisschen in ihn verliebt. Ich wusste nicht mal, ob zwischen Freundschaft und Liebe so ein großer Unterschied bestand.

Leider wurde mein Wunsch an diesem Freitag nicht erfüllt und ich ging alleine zur Schule. Als ich das Klassenzimmer betrat, grüßte ich erst einmal Sophie, dann ging ich zu meinem Platz hinten rechts. Der Platz neben mir – Nils' Platz – war noch frei, obwohl es nur noch drei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn waren. Mein Gefühl war zwar nicht so toll, aber ich dachte mir nicht allzu viel darüber.

Spätestens, als pünktlich um 7:50 Uhr Herr Bosch die Klassenzimmertür hinter sich schloss, um mit dem Englisch-Unterricht zu beginnen, wurde ich unruhig. In den zwei Wochen, in denen ich bis jetzt hier war, war Nils nämlich noch nie zu spät gekommen.

„Good Morning, Ladies and Gentlemen“, begrüßte uns unser Lehrer wie jedes Mal fast schon lächerlich euphorisch und bekam nicht mehr als ein lustlos durcheinander gebrummtes „Good Morning, Mister Bosch“, als Antwort.

„Please take out your homework.“ (Es war üblich, dass wir im Englisch-Unterricht tatsächlich fast nur auf englisch kommunizierten).

Ich überlegte noch, ob ich etwas wegen Nils sagen sollte, aber da kam mir Sophie zuvor: „Nils fehlt noch.“

„Schon okay“, antwortete Herr Bosch ausnahmsweise auf Deutsch, aber mit gekünsteltem englischen Akzent. „Seine Mutter hat schon im Sekretariat angerufen und ihn krank gemeldet. Nun, Sophie? Möchtest du uns gleich deine Hausaufgaben vorlesen?“

Sophie und ich tauschten über die Reihen unserer Klasse hinweg einen erschrockenen Blick aus, ehe sie ihre Ergebnisse vortrug. Ich konnte mich nun gar nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Nils hatte gestern nicht den Eindruck gemacht, als würde er eine Erkältung oder eine Grippe ausbrüten. In der nächsten kleinen Pause, wo unsere Klasse vom Klassenzimmer in den Chemiesaal wechselte, trotteten Sophie und ich den anderen ein Stück hinterher.

„Kommt dir das mit Nils auch spanisch vor?“, fragte sie mich und verzog im nächsten Augenblick verlegen ihr Gesicht, weil sie ihren Fettnapf bemerkt hatte.

Aber ich war viel zu durcheinander, um auf 'spanisch' oder 'nicht spanisch' einzugehen: „Ich glaube zumindest nicht, dass er sich einen Schnupfen eingefangen hat. Vielleicht haben seine Eltern rausbekommen, dass er gestern mit mir unterwegs war. Sein Vater schlägt ihn nämlich regelmäßig und vielleicht hat er es dieses Mal übertrieben.“

„Und wenn sie irgendwie herausbekommen haben, dass er schwul ist?“, fragte Sophie voller Sorgen.

Ich fasste mir an die Stirn, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, Kopfschmerzen zu bekommen: „Oh Gott. Ich will gar nicht daran denken.“ - Durchatmen. - „Vielleicht hat sich auch Nils selbst etwas angetan. Er hat mir gegenüber schon angedeutet, dass er solche Gedanken hat.“

Mir war zum Heulen zumute und Sophies Umarmung tat mir gut: „Das glaube ich nicht, Miguel.“ - Die Glocke läutete schon wieder für die zweite Stunde und unser Chemielehrer kam schon fast unverschämt pünktlich mit dem Saalschlüssel in der Hand den Flur entlang. „Weißt du was? In der großen Pause versuchen wir, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Vielleicht erfahren wir dann ja mehr.“

Sie hatte recht. Am Liebsten hätte ich zwar sofort mit Nils Kontakt aufgenommen, aber das hielt ich für keine gute Idee. Es war davon auszugehen, dass mindestens seine Mutter in seiner Nähe war, da wäre ein Anruf unmöglich gewesen. Deshalb reizte es mich zwar, Nils jetzt gleich eine Nachricht zu schicken, aber es war tatsächlich geschickter, noch die zwei Stunden zu warten. Wenn Nils tatsächlich antworten würde, würde ich es mir nicht verkneifen können, mein Smartphone während dem Unterricht zu zücken. Und wenn ich es dann vom Lehrer abgenommen bekäme und es, wie es hier in der Schule üblich war, erst nach Schulschluss wieder abholen konnte, wäre mir am wenigsten geholfen. Da saß ich lieber noch zwei Schulstunden auf heißen Kohlen.

In der großen Pause zogen Sophie und ich uns in eine abgelegene Ecke auf dem Schulhof zurück und ich holte direkt mein Smartphone aus der Tasche und öffnete Whatsapp.

10:18 Uhr: 'Hallo Nils. Ist alles in Ordnung bei dir?', tippte ich ein.

Es dauerte ewig lange. Sophie und ich tauschten Blicke aus, die Mut machen sollten, die es aber nicht schafften, tappten auf der Stelle und schafften es nicht, ein einziges Wort miteinander zu reden. Plötzlich piepte das Smartphone in meiner Hand. Wir beide stießen einen gemeinsamen erleichterten Seufzer aus, aber der blieb uns im nächsten Moment schon im Halse stecken.

10:24 Uhr: 'Verpis dich aus meinem Leben du scheis Batschake'

„Oh Gott“, stöhnte Sophie.

„Das ist nicht Nils“, antwortete ich. Erstens waren die Rechtschreibfehler untypisch für ihn, zweitens hatte er mir in der vergangenen Woche so viele Beleidigungen an den Kopf geworfen, dass ich mir sicher sein konnte, dass das seltsame Wörtchen 'Batschake' nicht aus seinem Wortschatz stammte und drittens – und das war am wichtigsten - war es absolut unglaubwürdig, dass Nils so reagieren würde.

Sophie hatte auch schon ihr I-Phone in der Hand, um Nils direkt anzurufen. Sie hielt sich das Smartphone ans Ohr, aber lange tat sie das nicht: „Ich wurde einfach weggedrückt.“

„Scheiße. Ich befürchte, da ist etwas Schlimmes passiert.“

„Wir gehen nach der Schule zu ihm“, beschloss Sophie mit fester Stimme für uns beide und ich war ihr dafür dankbar.

Gesagt – getan. Ich schickte meiner Mutter noch eine Nachricht, dass es später werden würde und nach Schulende schlugen Sophie und ich direkt den Weg zu Nils' Elternhaus ein, von dem ich mir geschworen hatte, es nie wieder zu betreten.

„Wie sollen wir am besten vorgehen?“, fragte ich, als wir auf einer Fußgänger-Ampel die Karlstraße kreuzten.

„Es wäre vielleicht besser, wenn du dich eher im Hintergrund hältst“, schlug Sophie vor. „Ich werde behaupten, dass ich Nils die Hausaufgaben bringen soll und vielleicht schaffe ich es, unter vier Augen mit ihm zu reden.“

„Ich soll mich da einfach raushalten?!“, fragte ich empört. Sophies Idee war zwar vernünftig, aber trotzdem fühlte es sich mies an, zum nichts tun verdonnert zu werden.

„Das ist die beste Möglichkeit. Wenn du dabei bist, knallen uns doch seine Eltern direkt wieder die Tür vor der Nase zu.“

Ich nickte betreten. Ich war noch nie in meinem Leben so unglücklich über mein südländisches Äußeres gewesen, wie in diesem Moment.

„Pass auf, Miguel. Ich hab eine Idee.“ - Sophie zückte ihr Smartphone, machte ein paar Eingaben und im nächsten Moment, als sie es wieder wegsteckte, klingelte mein Galaxy.

„Geh ran“, forderte mich Sophie auf, während ich sie mit gerunzelter Stirn anguckte, weil ich auf dem Display sah, dass sie es war, die mich anrief.

„Okayyyy...“

„Hallo...“, sagte ich in mein Smartphone und kam mir dabei wie ein Idiot vor. Sophie brachte das auch zum Lachen.

„Hehehe... Hallo Miguel. Wie funktioniert das?“

Im nächsten Augenblick zog sich ein Grinsen quer über mein Gesicht. Denn ich hörte Sophies Stimme auch ganz passabel über mein Handy, obwohl ihres schon wieder in der Hosentasche steckte.

„Gar nicht schlecht“, antwortete ich anerkennend und es klang etwas seltsam, mich selbst mit einer winzigen Zeitverzögerung etwas blechern aus dem Äther zu hören.

Als wir uns der berüchtigten Doppelhaushälfte näherten, wurde es ernst. Sophie wählte wieder meine Nummer, schaltete das Mikrofon ein und steckte ihr Smartphone zurück in die Tasche. Dann blieb ich zurück, während Sophie auf das Haus zuging. Sie war vielleicht zwanzig Meter entfernt. Sophie drehte sich noch einmal um, ich hielt mir mein Handy ans Ohr und hörte darüber Sophies Stimme etwas abgehackt, aber trotzdem verständlich: „Hörst du mich?“

Ich zeigte mit dem Daumen nach oben und Sophie drehte sich wieder um. Nun ging ich hinter einem Lieferwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite von Nils' Haus in Deckung. Von dort hatte ich zwar keinen direkten Blickkontakt zur Haustür, aber dafür hatte ich das Fenster von Nils' Zimmer im Erdgeschoss im Blick, wo aber leider die Vorhänge zugezogen waren.

Aus dem Smartphone an meinem Ohr hörte ich ein stetiges Knatschen, was vom Stoff von Sophies Jeans herrührte, der beim Gehen an ihrem Handy rieb. Dann hörte dieses Knatschen auf und ich hörte Sophie murmeln: „Es geht gleich los.“

Die Ruhe, die nur von Störgeräuschen getrübt wurde, zog sich hin und ich hatte Sorge, dass der Kontakt zu Sophie abgerissen war. Aber dann hörte ich eine barsche Stimme, die ich trotz der schlechten Übertragungsqualität als die Stimme von Nils' Mutter ausmachen konnte.

„Du?!“

Sophie: „Guten Tag, Frau Lange. Ist Nils zu sprechen? Ich soll ihm die Hausaufgaben bringen.“

„Nils ist nicht zu sprechen. Kannste mir geben“, antwortete Nils' Mutter in einem Tonfall, in dem sie auch 'Verpiss dich von meinem Grundstück' hätte sagen können.

Ich musste mich jetzt wegen der schlechten Übertragung sehr konzentrieren, damit ich das Gespräch weiter verfolgen konnte, aber es ging.

„Ist er beim Arzt?“, fragte Sophie mit einer Scheinheiligkeit, die mich zum grinsen brachte.

„Was geht dich das an, du Göre?“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau Lange. Ich frage mich eben, wie es ihm geht. Hat er sich erkältet?“

„Nein. Nils ist ausgerutscht und hat sich weh getan.“

„Oh. Das klingt ja gar nicht gut.“

„Da ist er doch selber schuld, mit seinem Batschaken-Freund. Wie sagt man so schön? Kleine Strafen schickt der Herr sofort. Das wird er noch lernen.“

„Ähm, Frau Lange...“

„Und jetzt gib mir die Aufgaben und scher dich.“

„Okay. Richten Sie ihm bitte gute Besserung aus.“

„Ja ja. Hau ab!!!“

Den letzten Teil des Gesprächs hatte ich nur so halb mitbekommen. Während sich Sophie nämlich mit dieser schrecklichen Frau herumschlug, wurde in Nils' Zimmer der Vorhang zurückgezogen. Nils, der das Gespräch in seinem Zimmer bestimmt mithören konnte und sich wohl dachte, dass Sophie nicht alleine gekommen war, tauchte am geschlossenen Fenster auf und suchte mit seinen Blicken die Gegend ab. Nun gab ich meine Deckung, ohne das Smartphone vom Ohr zu nehmen, ein Stück weit auf. Ich positionierte mich so, dass ich zwar für Nils' Mutter am Eingang nicht zu sehen war, aber von Nils' Zimmerfenster aus schon.

Drei, vier Sekunden lang schwenkte Nils' Kopf zwar noch suchend hin und her, aber dann trafen sich unsere Blicke. Nils warf mir ein herzzerreißendes trauriges Lächeln zu und mit einem schwankenden Daumen deutete er mir sein Befinden an, was ich als 'okay, aber nicht gut' deutete. Während ich über mein Samsung das letzte 'Hau ab' von Nils' Mutter hörte und dann die Tür zufiel, warf ich Nils eine Kusshand zu und brachte ihn damit doch noch richtig zum Grinsen. Nils erwiderte die Geste, zog den Vorhang zu und verschwand damit aus meinem Blickfeld.

„So eine fiese Schlampe“, tobte Sophie, als wir hinter der nächsten Ecke wieder zusammen kamen. „Hast du...“

„Ich hab Nils gesehen“, fiel ich ihr ins Wort und Sophie war auf der Stelle still und sah mich gespannt an. „Er sieht okay aus, aber gut scheint es ihm nicht zu gehen.“

„Hast du verstanden, was seine Alte gesagt hat? 'Kleine Strafen schickt der Herr sofort. Das wird er noch lernen'? Die haben ihn doch garantiert verhauen. Irgendwie müssen die mitbekommen haben, dass ihr zusammen unterwegs wart.“

„Wir waren gestern auch ziemlich unvorsichtig.“ Ich war jetzt fix und fertig. „Mann Sophie. Daran bin nur ich schuld.“

Sophie packte mich resolut mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte mich: „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst, Miguel! Daran sind die da drinnen Schuld!“ Sie wies mit der Hand in Richtung des Hauses, das von unserem Standpunkt aus nicht zu sehen war. „Du bist das Beste, was Nils passieren konnte.“

Ich lächelte Sophie müde an: „Na gut. Wenn du meinst. Und was machen wir jetzt?“

Sophie schaute nun etwas verlegen: „Für die nächsten zwei Tage bin ich aus dem Spiel. Wir fahren später noch zu meinen Großeltern nach Frankenthal und bleiben dort übers Wochenende.“

„Na, danke auch“, antwortete ich frustriert.

„Vielleicht schaffe ich es auch, zuhause zu bleiben.“ - Sophies Tonfall klang eher nach einem Lippenbekenntnis, das vom schlechten Gewissen herrührte.

„Lass mal gut sein“, erwiderte ich. Mir war nämlich gerade noch eine Idee gekommen.

Nach unserer nur halbwegs gelungenen Ermittlungs-Aktion trennten sich die Wege von Sophie und mir. Ich versprach Sophie, sie übers Wochenende auf dem Laufenden zu halten, falls es etwas neues geben würde, aber von meinem geheimen Plan, der eher eine verzweifelte Hoffnung war, erzählte ich ihr nichts. So saß ich gegen 14:30 Uhr gemeinsam mit meinen Eltern am Mittagstisch und aß ganz klassisch für unsere neue Heimat Spätzle mit Linsen und Würstchen. Ich aß zwar alleine, weil meine Eltern so lange nicht warten wollten, aber trotzdem leisteten sie mir Gesellschaft, einfach um zu quatschen.

Mama lächelte mich an, wie ich vor mich hin brütete und mir abwesend das essen in den Mund schob.

„Was ist dir denn heute für eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte sie, weil es mir unmöglich war, meine schlechte Laune und meine Sorgen zu verbergen.

„Ist alles okay“, brummelte ich.

„Na klar“, entgegnete Papa ironisch. „Los, Muchacho. Raus mit der Sprache. Was ist los?“

Jetzt musste ich doch meinen Vater angrinsen. Muchacho hatte er mich, als ich noch kleiner war, immer genannt, wenn wir alberten, obwohl wir in der Familie eigentlich nie spanisch redeten. Und er schaffte es auch heute noch meistens, mich damit zum Lachen zu bringen.

Einen Moment lang war ich bereit gewesen, ihm alles zu erzählen. Was in den letzten beiden Wochen zwischen mir und Nils geschehen war, die Sorgen, die mich bedrückten und nebenbei auch noch, dass ich schwul war. Aber bevor ich den Mund aufmachte, hatte ich mich schon wieder in mein Schneckenhaus zurück verkrochen.

„Es ist wegen Sophie. Ich hatte mich so darauf gefreut, morgen den Tag mit ihr zu verbringen. Und jetzt hat sie mir so ganz nebenbei einen Korb verpasst, weil sie übers Wochenende zu den Großeltern fährt.“

Die tröstenden Worte, die darauf folgten, gingen bei mir in einem Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Ich verzog mich nach dem Essen schnell in mein Zimmer, brütete vor mich hin, versuchte mich abzulenken und dachte an Nils.

Die Stunden vergingen, in denen das tatenlose Warten zwar unerträglich wurde, in denen aber auch die Spannung, die in mir steckte, verhinderte, dass ich es schaffte mich abzulenken. Um kurz vor Mitternacht hatte ich mich zwar ins Bett gelegt, um mich ein bisschen auszuruhen, aber es wäre gar nicht nötig gewesen, mir den Handy-Wecker zu stellen. Um schlafen zu können, war ich nämlich zu aufgeregt. Um kurz vor halb Zwei in der Nacht stand ich auf und schlüpfte in meine Kleidung. Meine Idee, die mir gekommen war, war nämlich, dass es möglich sein könnte, dass Nils in der Nacht wieder türmen würde, um sich mit mir zu treffen. Weil ich davon ausging, dass seine Eltern ihm das Handy abgenommen hatten, hatte ich mich schon am Nachmittag dazu entschlossen, es einfach auf gut Glück zu probieren und zu 'unserer Zeit', gegen 1:30 Uhr zum Brunnen vor dem Hotel Hermann zu gehen.

Der Sprung aus dem Fenster fiel mir in dieser Nacht viel leichter als in der Nacht zuvor und ich landete auch wieder sicher auf der Garage. Keine Minute später war ich auf dem Bürgersteig vor unserem Haus. Ich ging schnurstracks Richtung 'Innenstadt' (falls man das in einer Kleinstadt wie Münsingen so nennen konnte), aber als ich mich meinem Ziel näherte, trat Ernüchterung ein. Mit der verträumten Einsamkeit, die der Ort in der vergangenen Nacht ausgestrahlt hatte, war es nun nämlich nicht mehr weit her. In der Gaststätte des Hotels war selbst um diese Zeit noch Betrieb und nicht weit entfernt war auch noch eine Kneipe geöffnet. Selbst die Straßenbeleuchtung war freitags nachts um diese Zeit noch an und keine zehn Meter vom Brunnen entfernt stand ein Rauchergrüppchen aus angetrunkenen Leuten, die wohl zur Kneipe gehörten. Von Nils war jedoch nichts zu sehen.

Wie Falschgeld schlich ich auf dem Brunnenplatz umher. Als die Raucher auf mich aufmerksam wurden und einige mit den Blicken meinem unruhigen Umhergehen folgten, hielt ich es für besser, zu verschwinden. Ich ging um die Ecke zu dem Spielplatz, an dem wir letzte Nacht geredet hatten. Da war es zwar bedeutend ruhiger, aber auch dort war Nils nicht. Also machte ich nochmal einen Rundgang. Wieder zum Brunnenplatz, einmal um den Brunnen herum, dann noch einmal zum Spielplatz und als ich Nils immer noch nicht begegnet war, setzte ich mich frustriert auf die Bank, auf der wir uns ziemlich genau 24 Stunden zuvor geküsst hatten. Ich wartete dort noch einmal zehn Minuten, aber der Erfolg war mir missgönnt. 'War vielleicht doch eine blöde Idee', dachte ich mir, aber einen Versuch war es immerhin wert gewesen. Einen Moment lang dachte ich daran, wieder nach Hause zu gehen. Aber wenn ich jetzt schon mal unterwegs war...

Ich ging nicht heim, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung. Dorthin, wo Nils wohnte. Und als ich vor dem Haus ankam, stellte ich fest, dass ich Glück hatte. Ich sah, dass an allen Fenstern des Hauses die Rollläden unten waren. Nur an dem einen, rechts unten an der Straßenseite nicht. Das war Nils' Zimmer. Es schien fast so, als ob er auf mich und meine geplante Aktion gewartet hätte und diesen Umstand wollte ich auch ausnutzen. Am Bordsteinrand sammelte ich ein paar Bröckchen abgekrümelten Straßenbelags, dann ging ich an den Rand des Vorgartens, der nur von einer kniehohen Mauer vom Gehweg getrennt war, etwa drei oder vier Meter von der Hauswand entfernt. Ich warf aus der Dunkelheit – die Straßenbeleuchtung war hier nicht mehr an – eines meiner Steinchen gegen die Fensterscheibe, das ein dezentes kratzendes Geräusch verursachte. Ich wartete eine Minute, in der nichts geschah, dann warf ich mein zweites Steinchen.

Wieder wartete ich. Als ich mir schon das dritte Steinchen aus der linken Handkuhle holte und zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, tat sich endlich etwas. Ich konnte sehen, wie im Inneren der Vorhang ein Stück zurückgezogen wurde und im nächsten Moment war eine Gestalt hinter dem Fenster zu sehen. Das schwache Mondlicht, das es durch die Fensterscheibe schaffte, offenbarte zwar nur einen dunkelgrauen menschlichen Umriss vor einem schwarzen Hintergrund, aber die Kopfform identifizierte den Umriss als Nils. Weil ich mir nicht sicher war, ob Nils mich in der Dunkelheit überhaupt sehen konnte, nahm ich mir mein Smartphone raus, brachte das Display zum leuchten und winkte Nils damit zu. Kurz darauf verschwand die Gestalt wieder aus meinem Sichtfeld.

Ich wartete nun gespannt, was als Nächstes geschehen würde. Es dauerte auch nur eine knappe Minute. Dann wurde das Fenster zu Nils' Zimmer vorsichtig und lautlos geöffnet und Nils stieg über die Fensterbank hinaus in den Garten. Obwohl er nur etwa einen Meter Höhe zu überwinden hatte, sackte Nils nach der einfachen Kletterei im Vorgarten in die Hocke zusammen und richtete sich kurz darauf auffallend schwerfällig wieder auf. Ebenso lautlos, wie er aus dem Fenster gestiegen war, kam Nils auf mich zu. Als er mich erreicht hatte, legte er mir schweigend einen Arm auf den Rücken und schob mich die Straße entlang, bis wir außer Sicht- und Hörweite seines Elternhauses waren.

„Schön, dass du gekommen bist“, flüsterte er gerührt.

Ich lachte unsicher: „Ich war eben noch am Brunnen und am Spielplatz und habe gehofft, dass du da um halb Zwei wieder aufkreuzt.“

„Ich hab mir sogar überlegt, ob ich das tun sollte“, entgegnete Nils. „Aber meine Eltern haben mein Handy beschlagnahmt, so dass ich mich nicht melden konnte. Für die Ungewissheit, ob du dann auch wirklich kommst, war mir das Risiko zu groß, erwischt zu werden. Wenn meine Eltern mitbekommen, dass ich abgehauen bin, gibt’s wieder üble Dresche.“

„Oh Gott“, flüsterte ich. „Was ist dir eigentlich passiert? Du gehst ziemlich unrund.“

„Papa hat irgendwie herausgefunden, dass ich gestern noch mit dir und Sophie unterwegs war. Und dass wir beim Italiener waren. Da darf ich eigentlich nicht hingehen. Der ist da übelst durchgedreht und hat mich so gestoßen, dass ich mit dem Brustkorb auf die Wohnzimmertisch-Kante gestürzt bin. Jetzt hab ich eine Rippenprellung und die tut saumäßig weh.“

„Krass.“

„Das kannst du laut sagen. Heute morgen war ich mit Mama beim Arzt in Reutlingen, weil ich dachte, ich hätte mir eine Rippe gebrochen. Anscheinend ist das zwar nicht der Fall, aber die Schmerzen sind auch so schlimm genug.“

„Und ist der Arzt nicht skeptisch geworden?“

Nils stieß ein humorloses Lachen aus: „Ach was. Der gehört doch auch zu Papas Kameraden. Zu dem bringen sie mich jedes Mal, wenn Papa es mit den Prügeln übertrieben hat. Dann bekomme ich immer einen Krankenschein für ein, zwei Wochen, weil ich 'hingefallen' bin und eine Packung Ibuprofen dazu und dann geht das Leben weiter.“

„Ach Nils. Das tut mir jetzt echt leid, dass ich dir das eingebrockt habe“, sagte ich verzweifelt. Ich fühlte mich in diesem Moment ohnmächtig, wie noch nie in meinem Leben. Da war Nils von seinem eigenen Vater fast schon krankenhausreif geschlagen worden und das nur, weil er mit mir Zeit verbracht hatte. Ich kämpfte nicht wirklich erfolgreich gegen den Drang an, mich selbst schäbig zu fühlen.

„Schon okay. Für dich werde ich dieses Risiko immer wieder eingehen. So ein paar Prügel kann ich schon wegstecken.“

Ich wollte Nils herzend in den Arm nehmen, aber er stieß dabei einen unterdrückten Schmerzensschrei aus.

„Entschuldigung.“

„Okay. Ist schon wieder vorbei.“

Trotz unserer Anspannung und der Traurigkeit unserer Lage saßen wir nun nebeneinander auf dem Bordstein und kicherten gemeinsam über diese misslungene Umarmung.

„Dann schau aber, dass du dich übers Wochenende gut erholst, damit du am Montag wieder zur Schule kommen kannst. Ich vermisse dich nämlich.“

„Erholen? Du bist gut. Morgen muss ich mit Papa und meinem Bruder zusammen zu einer Kundgebung nach Göppingen fahren. Für so 'nen Scheiß bin ich dann auf einmal wieder gesund genug.“

Ich horchte auf: „Was ist das für eine Kundgebung.“

„Da möchte ich lieber nicht drüber reden“, druckste Nils.

„Hmh“, brummte ich nachdenklich und Nils schien mich zu durchschauen.

„Komm bloß nicht auf die Idee, mir da hinterher zu fahren. Das wird nämlich eine üble Sache. Ich möchte nicht, dass du mich so siehst.“

„Ich hab doch gar nicht gesagt, dass ich dir hinterherfahren will“, beschwerte ich mich.

„Aber du hast es gedacht.“

Ich lachte ertappt: „Schon gut. Ich bleibe daheim.“

Nils kniff mir zärtlich in den Nacken: „So gefällst du mir. Kann sein, dass ich da morgen auch mein Handy wiederbekomme. Dann melde ich mich.“

„Klingt gut. Und wenn ich in der Zwischenzeit etwas für dich tun kann, musst du es nur sagen.“

„Da gibt es tatsächlich etwas.“

„Ja?“

„Ich glaube, wenn du mich nochmal so küsst wie gestern, hilft das gegen die Schmerzen.“

„Eigentlich wollte ich dich ja erst wieder küssen, wenn du bei den Rechten ausgestiegen bist. Aber wenn es dir als Schmerztherapie hilft...“, witzelte ich und drückte mich sehr vorsichtig an Nils, um ihm nicht weh zu tun.

Ich hatte das Gefühl, niemals von den süßen Küssen mit Nils genug bekommen zu können, als wir es wieder taten. Seine sanften Lippen und seine verspielte Zunge waren betörender als alles, was ich mir vorstellen konnte. Ich kostete den Kuss in dieser Nacht sogar noch mehr aus, als in der Nacht zuvor, weil ich dieses Mal nicht so nervös war. Bis auf unser leises Schmatzen und einen betrunkenen Gröler in weiter Ferne war alles still und ich konnte mich mit all meinen Sinnen auf Nils konzentrieren. Ganz sanft schob ich nun auch meine Hand unter seinen Pullover und ertastete Nils' Haut über dem festen Rumpf, während Nils seine Hand auf meinen Hinterkopf legte und mir durch die Haare wuschelte.

Irgendwann, nach einem undefinierbaren Zeitraum, beendeten wir unseren Kuss.

„Ist es jetzt besser?“, fragte ich, nachdem ich wieder Worte gefunden hatte.

„Zumindest hab ich jetzt meine Schmerzen vergessen“, flüsterte Nils, der sich anhörte, als hätte ihn unser Zungenkuss genauso beeindruckt wie mich.

Um das Risiko, doch noch gemeinsam erwischt zu werden, möglichst gering zu halten, gingen wir schon ab dieser Stelle, an der wir uns geküsst hatten, getrennte Wege, auch wenn dies für mich einen Umweg bedeutete. Ich musste einfach darauf hoffen, dass Nils' Eltern seine Flucht nicht bemerkt hatten, denn ich wollte mir nicht mal ausmalen, was sonst auf ihn zukommen würde. Sobald Nils in der Dunkelheit verschwunden war, zog ich mein Smartphone und öffnete den Web-Browser. Ich dachte nämlich gar nicht daran, Nils nicht nach Göppingen zu folgen. Deshalb suchte ich auf meinem Heimweg nach Regionalnachrichten, in denen es um rechte Kundgebungen in Göppingen an diesem 12. Oktober 2013 ging. Und ich wurde schnell fündig.

Ein geplanter Aufmarsch einer Neonazi-Gruppierung namens 'Autonome Nationalisten' schien sogar über die Region hinaus für großen Wirbel zu sorgen. Auf manchen Seiten, die ich finden konnte, wurde zur Teilnahme an Gegendemonstrationen aufgerufen und ich fand auch Nachrichtenseiten, auf denen über Befürchtungen von schweren Ausschreitungen berichtet wurde.

Bis ich schon fast routiniert über die Garage wieder in mein Zimmer geklettert war, hatte ich mir genug Informationen geholt, um mein Vorhaben, nach Göppingen zu fahren, infrage zu stellen. Denn alle Zeichen deuteten darauf hin, dass das an diesem Samstag ein heißes Pflaster werden würde. Und trotzdem öffnete ich, nachdem ich wieder in meinem Zimmer war, die Bahn-App und suchte mir eine Verbindung.

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