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Zuckersüß und zum Dahinschmelzen

Karins Paradies

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Es ist spät, als ich endlich ankomme. Das Gebäude ist unscheinbar und zwischen zwei mächtigen Einkaufsläden gelegen, die jeweils wohl die selbe Art an Sportbekleidung anbieten. Mitten in der Stadt habe ich noch nie gearbeitet. Bisher immer nur außerhalb und in gehobenerer Gastronomie. Als Sohn von hochrangigen und ehrgeizigen Köchen habe ich schon früh angefangen, mich in eben dem Bereich zu etablieren. Zuletzt arbeitete ich als Chef de Partie in einem Restaurant, das sich auf französische Kulinarik spezialisiert hatte. Ich weiß nicht, ob ich Essen wirklich liebe, aber die Häufigkeit meiner Präsentation vor den Gästen durch meinen damaligen Chef und dessen überzeugende Rede, welche mir eben genau diese Liebe zum Essen zusprach, sollte das wohl zur Genüge darstellen. In meinem Leben war gutes Essen immer wichtig. Ich wurde schließlich genau damit aufgezogen. Jeder, der schon einmal in der Gastronomie gearbeitet hat, wird wissen, dass auch der herrschende Ton zumeist ein anderer ist als der in anderen Bereichen. Meine Eltern hielten beide nicht viel davon, ihre leicht cholerischen Ausbrüche nur auf der Arbeit zum Besten zu geben. Nein, sie bevorzugten es, den sowieso schon durch Pubertät und das Dasein als Einzelkind verwirrten und unsicheren Sohn mit diversen Schimpftiraden nur noch mehr zu verunsichern. Tatsächlich hat es mich ganze 26 Jahre gekostet, damit ich mich endlich dazu entschließe, die Heimatstadt, meine Eltern und mein altes Leben hinter mir zu lassen. Ausschlaggebender Grund dafür war, dass ich den erfahrenen und äußerst kompetenten Kellner Vadim vor versammelter Mannschaft runtermachte, sodass dieser doch wirklich am Boden zerstört und sprachlos den Laden verließ. Ich wurde wie meine Eltern, und das wollte ich garantiert nicht. Es liegt mir nicht, andere zu verletzen, und schon gar nicht, wenn es sich um so Kleinigkeiten wie die Arbeit dreht. Mein Vater betitelte mich stets als „Weichei“ oder „Schlappschwanz“, weil ich auch schon bei der Ausbildung die ersten Probleme hatte, mich mit dem Ausnehmen verschiedener Tierarten auseinanderzusetzen. Er lachte mich aus, da ich ein großer Kerl wie er bin und das Herz eines vierjährigen Mädchens habe. Tatsächlich ist es mein Äußeres, das mein Ich völlig falsch darstellt. Um den typischen, körperlichen Verschleißerscheinungen vorzubeugen, die der Beruf nun mal mit sich bringt, habe ich angefangen, in der wenigen Freizeit zu trainieren. Es bot sich auch an, mit Krafttraining dem Stress entgegenzuwirken. Somit schaffte ich es eigentlich ziemlich lange, ein relativ ausgeglichenes Leben zu führen. Na ja, bis vor zwei Monaten zumindest. So oder so wurde ich oft von meinem damaligen Chef in den Gastraum gebeten. Besonders zu besonderen Gästen mit viel Geld, Einfluss und jungen Töchtern. Ich weiß, dass ich ganz gut aussehe, aber damit umzugehen habe ich nie gelernt. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich nicht wie der Typ, den ich morgens im Spiegel sehe. Das Ganze fing etwa mit 13 an, als ich zum ersten Mal dieses Ungleichgewicht bemerkte. Im Spiegel sehe ich diesen hochgewachsenen Typen mit den dunklen Haaren und den eisblauen Augen, aber fühlen tue ich mich eher wie etwas, das man nicht zwangsläufig als menschlich bezeichnen würde. Schwer zu beschreiben. Es ist, als würde mein Körper nicht zu mir gehören, und das hat sich so stark ausgeprägt, dass ich den Fokus nur noch auf die Arbeit legte und alles andere völlig vergaß und verpasste. Ich bin 26 Jahre alt und habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, verknallt zu sein. Sicher lief da das eine oder andere Mal etwas mit einer Gastkellnerin, aber auch da hätte ich jedes Mal dankend drauf verzichten können. Ich kam also an einem echten Tiefpunkt an, an welchem ich mich ernsthaft fragen musste, ob dieses Leben und vor allem die Person, als die ich es erlebe, wirklich so richtig ist. Mein Entschluss zu gehen war bis jetzt eine echte Herausforderung. Angefangen mit der Wohnungssuche, die sich noch immer als der blanke Horror erweist. Bis jetzt hause ich in einem ziemlich billigen Motel und sehe mir seit Tagen Wohnungen an. Ein bisschen habe ich angespart, aber ich würde hier nicht mal ein Viertel meines bisherigen Einkommens verdienen. Hier, in diesem winzigen Restaurant mitten im Hipsterviertel.

„Juhuuuuu!“, brüllt es plötzlich aus dem kleinen Fenster. Es ist Karin, die Chefin dieses Hauses. Karin ist vermutlich etwas kurz geraten, aber dennoch ein echter Hingucker mit ihren langen, blonden Haaren und der schlanken Figur. Wir haben uns auf Anhieb verstanden, was nicht nur daran liegt, dass wir exakt das selbe Alter haben. Ja, wir sind beide am 4. Januar 1993 geboren worden.

Sie winkt mir voller Euphorie zu.

„Komm rein, Süßer! Du holst dir noch den Tod da draußen!“

Ich folge ihrer Anweisung. Das Restaurant hatte ich mir auch schon zuvor angesehen. Es erinnert eher an einen kleinen Imbiss, den man mit viel Liebe umgestaltet hatte. Ja, ein winziger Traum in bunten Farben und steinaltem Mobiliar, das sorgfältig und in wirklich allen erdenklichen Farbvariationen bestrichen wurde. Hier ist es hell und Karins Vorliebe für Bücher kommt hier besonders deutlich zum Vorschein. An den Wänden hängen alte Obstkisten, die man zu Bücherregalen umfunktioniert hat. Ganz besonders hatte mir aber die Karte zugesagt. Karin isst kein Fleisch, worauf ich mehr oder weniger spezialisiert worden war, es aber selbst nicht wirklich essen wollte. Für mich ist die Variation in der pflanzlichen Welt einfach aufregender und ich glaube, dass der doch sehr intensive Geschmack von Fleisch die Vielfalt der anderen Zutaten gerne übertrumpft. Da geht viel verloren, wobei viele meiner damaligen Kollegen eben genau dieses Ziel hatten. Sie wollten stets das perfekte Steak haben, sodass alles andere wirklich nur Beilage war. Mein Geschmack hat sich da schon immer ein bisschen abgesondert, auch wenn ich es nie öffentlich zugegeben hätte. Nein, die Kollegen wussten nicht, dass ich weitestgehend auf Fleisch verzichte. Wäre auch eine Schande für den Vater und dessen bekanntes Steakhouse. Umso mehr klammere ich mich an die Hoffnung, hier etwas mehr an Kreativität ausleben zu können. Karin war begeistert von meinen Ideen.

Als ich den Gastraum betrete, blicke ich in zwei fremde Gesichter. Zum einen ist es ein Kerl auf Augenhöhe mit dunkelblonden Haaren, mittleren Alters, und ein weiterer, mit verdammt viel Ähnlichkeit zu Karin. Man könnte fast meinen, dass die beiden Zwillinge wären. Karin kommt aus der Küche gehüpft und fällt mir um den Hals, wobei ich mich ein wenig bücken muss. Ihre Begrüßung war schon zu Anfang so ungewohnt herzlich.

„Hallo Feli! Oh ich freue mich so, dass du da bist!“, kreischt sie mir mehr oder weniger ins Ohr.

„Ich freue mich auch“, antworte ich knapp.

„Darf ich dir meine bessere Hälfte vorstellen? Das ist Alex.“ Sie deutet auf den größeren Kerl, der aufsteht und mir mit einem ähnlich freundlichen Lächeln wie Karin die Hand reicht.

„Freut mich, den berüchtigten, französischen Koch endlich kennenzulernen.“

„Freut mich auch“, antworte ich weiter knapp. Hatte ich erwähnt, dass ich mich ein bisschen schwertue, Emotionen zu zeigen? Natürlich nicht, wenn ich völlig außer mir bin, aber bis dahin verhalte ich mich zumeist etwas zu kühl.

„Und das ist Fin, mein süßer Bruder und der leidenschaftliche Patissier im Hause.“

Natürlich ist er ihr Bruder. Er steht auf und sieht wirklich ein bisschen aus wie Karin, als er sich mit einem prüfenden Blick vor mir aufbaut. Er wirkt nicht besonders beeindruckt und fast schon gelangweilt. Eine Eigenschaft, die ihn gravierend von seiner Schwester unterscheidet.

„Fin.“ Er reicht mir die Hand.

„Feli“, begegne ich im exakt selben Ton.

„Oh je, jetzt gibt es zwei von denen“, höre ich Alex zu Karin sagen, die nur kichert.

„Ja, das war ja auch meine Absicht. Die beiden werden garantiert gut miteinander auskommen“, antwortet sie.

„Dein Vorgänger hat mir zu viel quasselt“, erläutert Fin mit drohendem Blick.

„Ich rede nicht viel.“

„Gut.“

Damit wäre der Dialog auch beendet. Fin scheint sich in der Rolle als der Kühle und Schweigsame ganz wohl zu fühlen, während ich das gerne bei mir ändern wollen würde. Bisher habe ich mich allerdings zu sehr auf der stillen Art ausgeruht.

Wir setzen uns an einen der Tische. Es arbeiten hier wirklich nur Fin, Karin und ich. Kein Wunder bei den drei Stühlen unmittelbar an der Theke und den drei Vierertischen an der Wand. Derzeit ist es zu kalt, um die drei weiteren Tischchen draußen aufzustellen, aber auch mit diesen ist der Laden sehr überschaubar. Wie sie mir erzählen, konnten sie sich bisher nur schwer über Wasser halten, da der Koch einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Karin kämpfte sich in der Zeit in der Küche und im Gastraum durch. Im Internet habe ich die fast ausschließlich guten Rezensionen dieses Restaurants mit dem Namen „Karins Paradies“ durchgelesen. Es gab nur zwei Personen, die sich über die lange Wartezeit beschwerten. Kein Wunder, wenn Karin an zwei Orten gleichzeitig sein musste.

Kurze Zeit später stellt Alex eine Flasche Wodka auf den Tisch. Eine kleine Tradition, wie er sagt. Als gebürtiger Russe lässt er mich noch ein paar Phrasen auf Russisch nachplaudern, bis wir uns das scharfe Zeug hinter die Binde kippen. Es ist wirklich nett mit den dreien. Selbst Fin taut nach dem fünften Glas etwas auf und berichtet von seinen Ideen. Ideen, die mich sehr interessieren. Auch Alex erzählt, dass er als Anwalt arbeitet und manchmal den sehr bescheidenen Lebensstil seiner Freundin nicht verstehen kann. Er könne nicht auf den dicken Schlitten vor der Tür verzichten und auch nicht auf die teuren Anzüge, die ihm wohl sehr am Herzen liegen, auch wenn er jetzt keinen trägt. Er ist es wohl auch, der hier finanziell die Strippen zieht. Karin zufolge könnte sie sich meine Wenigkeit gar nicht leisten, ohne die Hilfe ihres Freundes. Entsprechend werde ich nun auch mit Fragen gelöchert.

„Wieso hast du dich eigentlich hier beworben?“, will Alex wissen.

„Ich wollte etwas ganz anderes machen.“

„Ah! Raus aus der Komfortzone. Das ist löblich. Ich habe mich ein bisschen über dich informiert. Dein damaliger Arbeitgeber hatte wohl viel Spaß, dich zu präsentieren. Dabei wirkst du nicht wie jemand, der gerne im Rampenlicht steht, oder irre ich mich da? Du bist eher so Typ … Fin.“

„Ja, das stimmt.“ Mein Blick wandert zu Fin, der mir zufrieden zunickt. Irgendwie ist er mir sympathisch. Er wirkt so einfach und gemütlich, wie er sich auf seinem Stuhl zurücklehnt. Karin und er sehen beide etwas jünger aus, als sie tatsächlich sind. Bei ihm wirkt es fast schon putzig, weil er wohl auch gerne mal nascht und sein Gesicht etwas rundlicher ist als das von Karin.

„Wie ist eigentlich dein voller Name? Felix?“, werde ich jetzt von Fin gefragt.

„Nein, nicht ganz. Ich heiße Felician.“

Plötzlich fängt Karin an, in die Hände zu klatschen.

„Ja, aber nicht nur! Sag deinen ganzen Namen! Ich hab’ mich echt darüber amüsiert!“, prustet sie los. Was auch immer an meinem Namen so witzig ein soll. Er ist ziemlich lang, aber mehr auch nicht.

„Los!“, feuert mich jetzt auch Alex an.

„Okay. Ich heiße Felician Noé Titouan Garcia-Girard.“

Fin mustert mich ungläubig, während Karin und Alex in lautes Gelächter ausbrechen.

„Nie im Leben“, meint der etwas pummelige Typ neben mir und schenkt ein weiteres Mal nach. Dieses Mal nur uns beiden, da die anderen wohl noch damit beschäftigt sind, sich über meinen Namen lustig zu machen.

„Bist du also echt Franzose?“ Wie Fin das fragt. Fast, als wäre es etwas Schlechtes.

„Ich bin Deutscher, aber meine Eltern stammen aus Ontario, Kanada.“

„Kanada?! Das wird ja immer bunter!“ höre ich Karin inzwischen ihres Gelächters sagen.

Fin und ich widmen uns dem Wodka und am Ende des Abends bin ich zweier Dinge gewiss. Zum einen des Katers am nächsten Morgen und zum anderen, dass ich hier wohl gar nicht so schlecht dran sein werde.

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