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Vorwort

Can't you see what I'm trying to say?
Don't you see that you're in pain?
You're in pain
Can't you see what I'm trying to say?

The Moffatts, »Antifreeze and Aeroplanes«
© 2000 EMI Blackwood Music

Mal wieder eine Story, die ein Stück Autobiographie enthält ... aber mal ehrlich, tun das nicht alles Storys irgendwo? Dinge, die einem passiert sind, die man mal irgendwo aufgeschnappt hat, Träume, Wünsche ... all das fließt in unsere Storys ein. Wenn diese Story fertig ist - ich schreibe ein Vorwort in der Regel bevor ich mit der eigentlichen Story beginne - wird sie mal wieder eine Mischung aus realen Ereignissen und einem Traum werden, wie das auch schon bei Sometimes dreams come true der Fall war. Ich weiß noch nicht, ob auch diese Geschichte dann irgendwann noch mal neu aufgelegt werden wird, das wird die Zeit zeigen.

Diese Story wird mal wieder ein Stück Kitsch werden, das gebe ich ohne Umschweife zu. Ein bisschen leichte Lektüre, nachdem ich mich gerade mal wieder privat und beruflich in einer schwierigen Phase befinde. Schließlich muss man sich irgendwie mal ablenken ... und mit »Little Lies« hänge ich auch gerade ein wenig fest. Es ist Donnerstagabend, ich weiß noch nicht genau, wie diese Story enden wird, aber sie soll zum 2002er Weihnachtsupdate mit dabei sein. Das sind immerhin noch vier Tage, die Hälfte ist fertig, und die letzte halbe Stunde ging für die Suche nach dem Titel drauf.

Freunde kommen und gehen, und es gibt einen Typ Mensch, ohne den man sich zeitweise das Leben nicht vorstellen kann. »Jonas« war genauso ein Typ, und ein Teil von mir hofft, dass er das immer noch ist. Aber die gut 24 Jahre meines Lebens haben mir gezeigt, dass man auch weiterleben kann, wenn Freundschaften in die Brüche gehen oder einfach im Sande verlaufen (was schreib' ich eigentlich grad für einen Blödsinn? So wird das nichts mit dem Update ...). Der langen Rede kurzer Unsinn: »Jonas« gehört zu den wenigen Menschen, denen ich trotz einer herben Enttäuschung eine zweite Chance einräumen würde. Ansonsten, wie immer viel Spaß

wünscht
Rick

 

August 1996, neue Schule, neue Klassenkameraden, neues Umfeld. Ein weiteres Mal hieß das für mich, dass ich mich an eine neue Umgebung gewöhnen musste, neue Leute kennenlernen, versuchen neue Freundschaften zu schließen und ganz nebenbei auch noch einen Schulabschluss auf die Beine stellen. Ein Jahr sollte die Handelsschule dauern, und eigentlich war sie für mich nur eine Notlösung, weil ich keinen Ausbildungsplatz gefunden hatte. Naja, es war nicht der erste Schulwechsel in meinem Leben, auch wenn ich die berechtigte Hoffnung hatte, dass es der letzte werden würde. Zumindest was die Schule im klassischen Sinne anging. Ich war mit Sicherheit nicht dumm - den Spruch hatte ich so oft gehört, dass ich ihn mittlerweile selbst glaubte -, aber ich war einfach faul (das muss ich im Nachhinein ehrlich zugeben ...)

Zwei Leute aus meiner neuen Klasse kannte ich schon aus meiner alten Schule ... das erleichterte mir den Einstieg ein wenig. Und auch der Rest der Klasse schien überwiegend aus netten Leuten zu bestehen. Bis auf ganz wenige Ausnahmen war niemand dabei, den ich als Kumpel fürs Leben ins Auge fassen konnte, aber vielleicht ein oder zwei Freundschaften für das laufende Schuljahr? Wäre ja immerhin nicht das Schlechteste. Naja, durch die Schule kam ich dazu, mir endlich einen richtigen Computer zuzulegen (was ich bis dahin genutzt hatte, war in der Regel noch mit einem Z80-Prozessor ausgestattet und trug ein Markenzeichen in Form eines C= auf dem Gehäuse), und dadurch kam ich ein wenig mit Sven in Kontakt. Sven war unser Computerfreak, ziemlich fit auf dem Sektor - jedenfalls in meinen Augen, damals war ich noch blutiger Anfänger - und wir verstanden uns anfangs recht gut.

Das war noch die Zeit, in der Sven selten allein anzutreffen war. Wo er war, traf man meist auch Jonas. Und Jonas ... nun, er war der ruhigere von den Beiden, wenn er etwas sagte, überlegte er sich das vorher meist recht gut - aber das er überhaupt etwas zu einem Gespräch beitrug kam schon selten genug vor. Obwohl ich mit Sven mehr zu tun hatte, faszinierte mich Jonas von Anfang an. Ich mochte ihn einfach, seine ruhige Art, sein süßes Lächeln ... all diese Dinge wurden mir natürlich erst viel später im Nachhinein klar, vor allem der optische Faktor. Jonas war mit Sicherheit kein Adonis, aber er war auf jeden Fall süß. Heute würde ich sagen, genau mein Typ.

Sven und Jonas waren in derselben Straße ihres Heimatortes aufgewachsen, zusammen im Kindergarten und in der Schule gewesen - bei einem Altersunterschied von nur knapp acht Monaten und dazu noch in einer ländlichen Gegend war das eigentlich ziemlich typisch. Nur kam Jonas langsam an den Punkt, dass er hin und wieder auch gern etwas von seinem eigenen Leben haben wollte, ohne das Sven immer wie sein Schatten in der Nähe war. Zu diesem Zeitpunkt sagte er mir das nicht, aber es war ihm dennoch deutlich anzumerken. Ein Blick sagte manchmal eben mehr als tausend Worte.

Um ehrlich zu sein - ich nutzte die Gelegenheit und versuchte, mich ein bisschen dazwischen zu drängen. Jonas war das offensichtlich ganz recht, und Sven versuchte am Anfang, das Ganze zu ignorieren - bis er schließlich merkte, dass er gegen uns beide nicht ankam. Zu diesem Zeitpunkt zog er sich für eine Weile zurück. Soweit man es in dieser Situation sagen konnte, blieben wir im Großen und Ganzen fair - zumindest ging nichts über die üblichen Späße hinaus, die wohl jeder mal einstecken musste. Ich hatte in den Jahren davor oft genug als Zielscheibe gedient, und ich genoss die innerliche Befriedigung, diesen Frust endlich mal ein bisschen an anderen auslassen zu können. Und Jonas war einfach nicht der Typ, der sich in der Öffentlichkeit negativ über jemanden ausließ. Klar, wenn man sich zu zweit unterhielt war das immer etwas anderes, aber auch hier blieb er fair, das muss ich ihm hoch anrechnen.

Wie gesagt, zu dieser Zeit fehlte mir eine Menge von dem Wissen, dass ich später haben sollte. Und trotzdem war Jonas der erste Junge, bei dem ich darüber nachdachte, ob diese freundschaftliche Zuneigung vielleicht doch tiefer ging, ob mehr dahinter steckte als nur rein freundschaftliche Gefühle. Ich erwähnte diesen Gedanken im Laufe des Schuljahres sowohl meiner Mutter als auch einem Klassenkameraden gegenüber, und die Reaktionen ... meine Mutter war der Meinung, ich sei bestimmt nicht schwul, und von besagtem Klassenkameraden (der sowohl Sven als auch Jonas schon viel länger kannte als mich) kam nur mit einem sensationsgeilen Blick die Frage: »Bist du sicher?« - und zwar in einem Ton, dass ich das Ganze ganz schnell als Scherz abtat, weil ich nicht besonders scharf darauf war, dass sich das Gerücht in der ganzen Schule verbreitete.

Und dennoch stand ich mit meiner Vermutung nicht allein da: Irgendwann hatten Jonas und ich in der Pause einen kleinen Rundgang um die Schule gemacht und uns etwas unterhalten. Als wir wieder zum Eingang kamen, standen dort einige Leute aus unserer Klasse, und einer fragte ganz beiläufig: »Sagt mal, seid ihr zwei eigentlich schwul?« Wenn ich das jetzt so überdenke, noch nicht mal mit einem gehässigen Unterton, sondern einfach nur interessiert - so nach dem Motto: eigentlich wissen es eh' schon alle, wir wollen's nur noch mal von Euch hören. Natürlich stritten Jonas und ich das Ganze ab. Jonas aus ehrlicher Überzeugung (vermute ich jedenfalls) und ich ... nun, zu der Zeit war ich eigentlich auch davon überzeugt, dass ich heterosexuell war.

Gegen Ende des Schuljahres geriet diese Überzeugung jedoch ziemlich ins Wanken, und zwar am ersten Abend unserer Klassenfahrt. Eigentlich hatte mich Jonas in den Osterferien mal ein paar Tage zuhause besuchen wollen, aber ihm war etwas dazwischengekommen und so hatten wir das Ganze kurzfristig auf die Sommerferien verschoben. An diesem Abend jedenfalls - ich muss dazusagen, dass wir beide schon ein paar Bier getrunken hatten - rutschte er noch etwas dichter an mich heran, als er ohnehin schon saß. Ich konnte die Wärme seines Körpers spüren, schon bevor er mir den Arm um die Schulter legte. Langsam wurden meine Kniee weich, und ich war wirklich froh, dass ich eine Sitzgelegenheit hatte. Schließlich flüsterte er mir ins Ohr: »Hey, Rick ... das mit den Osterferien tut mir wirklich leid. Aber im Sommer holen wir das nach, das versprech' ich dir ganz fest.«

Ich weiß nicht mehr so ganz genau, was anschließend geschah, aber ich rückte ein wenig von ihm ab, befreite mich aus seiner Umarmung, und winkte das Ganze ab mit einem Spruch in der Art von »Jaja, schon okay ... ich freu' mich ja auch drauf. Hauptsache du kannst dich, wenn du wieder nüchtern bist, noch dran erinnern.« Zwei Dinge machten mir Angst: zum einen natürlich die Reaktion unserer Klassenkameraden - zum Glück war es dunkel und keiner hatte etwas davon mitbekommen, was ich in dem Moment natürlich nicht wusste -, und zum anderen meine eigenen Gefühle. Ich spürte deutlich, dass mir diese Umarmung gefiel, und insgeheim hätte ich etwas darum gegeben, wenn wir den ganzen Abend so hätten sitzen können, aber ich hatte das Gefühl, dass das nicht in Ordnung war.

Jonas konnte sich am nächsten Tag noch daran erinnern, auch wenn er sonst zu nichts zu gebrauchen war - im Gegensatz zu mir überstand er die Achterbahnfahrt nicht ganz so gut und bewegte sich in der nächsten Stunde so wenig wie möglich und trug eine dezent grüne Gesichtsfarbe zur Schau. Aber das Versprechen galt, und das war für mich das Wichtigste überhaupt. Ich wollte ihn wiedersehen, und ich wollte auch vermeiden, dass der Kontakt nach der Schulzeit abriss, wie das meistens passierte, ob man wollte oder nicht.

Die nächste seltsame Situation war unsere Vor-Abschlussfeier. Einige Tage vor dem eigentlichen Schulabschluss trafen wir uns in der Nähe des Ortes, in dem unsere Schule war, auf einen gemütlichen Abend. Wir hatten ein Lagerfeuer, Bier in Massen (ich habe nie in meinem Leben soviel Alkohol getrunken wie im Laufe dieses Schuljahres und zusammen mit dieser Klasse), ich hatte meine Gitarre dabei, und wir alle freuten uns auf einen gemütlichen und unterhaltsamen Abend. Und den hatten wir ... Sven war nicht mit dabei, wie auch unsere beiden anderen »Klassenaußenseiter«. Ansonsten war die Runde komplett, selbst die Ehemaligen (die im Laufe des Schuljahres aus den verschiedensten Gründen die Klasse verlassen hatten) waren mit dabei.

Irgendwann im Laufe dieses Abends zogen Jonas und ich uns von den anderen zurück. Einige Meter von unserer Lagerstätte entfernt war ein kleiner Baggersee, an dessen Ufer wir uns hinsetzen. Eigentlich war die Situation kitschig und romantisch zugleich ... es war eine sternenklare Nacht, wir waren allein (zumindest außer Hör- und Sichtweite der anderen), und wir redeten bestimmt drei Stunden miteinander, ohne über die Zeit oder irgendetwas nachzudenken. Wir unterhielten uns über alle möglichen Dinge - unsere Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft und das was wir daraus machen wollten. Jonas war durch seine Familie ein Stück weit an die Gegend gebunden, aber für mich stand damals schon fest, dass ich weg wollte.

Ich denke, für uns beide war es nicht unbedingt leicht. Wir kramten zum Teil sehr tief in unseren Erinnerungen und vertrauten einander Dinge an, die sonst keiner wusste. Wieder spürte ich diese Zuneigung in mir aufflackern, und wieder war ich drauf und dran, Jonas einfach meinen Arm um die Schultern zu legen und ihm zu sagen, dass er für mich mehr war als nur ein Freund. Und andererseits hatte ich Angst vor seiner Reaktion. Zu dieser Zeit hätte ich ihn ohne Frage als meinen besten Freund bezeichnet - es gab keinen Menschen, dem ich so weit vertraute - aber eine innere Stimme warnte mich davor, zu weit zu gehen, schon allein, weil wir eben doch nicht wirklich allein waren.

Schließlich war es soweit - die Sommerferien waren angebrochen, und Jonas und ich hatten es endlich geschafft eine Woche zu finden, in der wir beide noch nichts vorhatten. Ich holte ihn am Bahnhof der nächsten Großstadt ab, und gemeinsam fuhren wir zu meinen Großeltern, bei denen wir die ersten Tage verbringen wollten, bevor wir zu meiner Mutter fuhren. Es waren auf jeden Fall ein paar schöne Tage, und auch hier gab es eigentlich nur ein aus meiner Sicht merkwürdiges Ereignis: Eines Abends zog Jonas sich um, und auch wenn ich ihn nur von hinten im Adamskostüm sah, verspürte ich wieder diesen Wunsch, ihn einfach mal in den Arm zu nehmen.

In meinem ganzen Leben gibt es nur zwei Menschen, die mich so sehr beschäftigt haben: der eine war ein guter Freund von mir, mit dem ich mal in einer Situation war, über die ich später lange nachgedacht habe. Der andere war Jonas ... und auch über diesen Abend habe ich mir später noch lange den Kopf zerbrochen, ohne je zu einem Ergebnis zu kommen. Das Thema kam später nie wieder auf den Tisch, und ich denke im Nachhinein, dass das auch besser war.

Nach dieser einen Woche hielten wir - zu meiner Freude - den Kontakt und verloren uns nicht aus den Augen. Wir telefonierten hin und wieder, trafen uns auch einige Male, doch dann kam mir der Umzug dazwischen. Für mich hieß das: weg aus unserer Kleinstadt und ab ins richtige Leben. Einerseits freute ich mich darauf, aber andererseits war mir schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass das meine Freundschaft mit Jonas auf eine harte Probe stellen würde. Ich hatte jedoch genug Vertrauen in diese Freundschaft ...

In den folgenden Monaten telefonierten wir auch hin und wieder mal, aber im Großen und Ganzen hatte ich mit der Ausbildung und vielen anderen Dingen einfach zu viel um die Ohren. Wir schrieben den März 1998, als es schließlich den großen Knall gab: Von einer Sekunde auf die andere, wie aus heiterem Himmel, spürte ich zum ersten Mal ganz deutlich, dass ich verliebt war. Das Objekt der Begierde hieß Danny, war in meinem Alter und konnte eine gewisse Ähnlichkeit mit Jonas nicht verleugnen. In dem Moment, wo ich ihn sah und seine Stimme hörte, war mir klar, dass ich mich in ihn verliebt hatte ... und einige Stunden später, als ich wieder zuhause war, dachte ich plötzlich: »Hey, du hast dich gerade in einen Jungen verliebt - du bist schwul. Echt? Okay, dann ist das wohl so ...«

Nachdem ich diesen Schritt erst mal hinter mir hatte, konnte ich ziemlich schnell akzeptieren, dass ich schwul war - ich hatte nicht die geringsten Probleme damit. Das einzige Problem war Danny - der war hetero und wohnte mit seiner Freundin zusammen. So lernte ich ganz schnell, was es hieß, unglücklich verliebt zu sein, und ebenso schnell wurde mir die wahre Bedeutung des Wortes Eifersucht klar. Noch nie zuvor in meinem Leben war dieses Gefühl so stark gewesen ... just an diesem Abend telefonierte ich zufällig mit meiner Mutter, und irgendwie kamen wir auf das Thema »Liebeskummer« zu sprechen. Natürlich erzählte ich meiner Mutter nicht, was zu dieser Zeit bei mir ablief, und dennoch streute sie unfreiwillig Salz in die Wunde, in dem sie mir irgendwann sagte: »Naja, diese Erfahrung hast du zum Glück noch nicht gemacht.«

Nun bin ich im Laufe der Jahre mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass es im Leben keine Zufälle gibt. Einige Zeit, bevor ich mich in Danny verknallt hatte, war ich zum ersten Mal mit dem Internet in Berührung gekommen. Überhaupt hatte ich mich in der Zwischenzeit vom blutigen Anfänger in Sachen Computer schnell zu einem gut ausgebildeten Amateur entwickelt. Durch diese Kontakte im Internet lernte ich Marco kennen, der zufälligerweise in derselben Stadt wohnte wie meine Mutter (die nicht mit der Stadt identisch war, in der ich die letzten Jahre meines Lebens verbracht hatte, aber das ist eine andere Geschichte) und wir freundeten uns recht schnell an.

Kurz bevor ich Danny kennenlernte, bekam ich von Marco einen recht seltsamen Brief, in dem er mich um seine Hilfe in Sachen Internet bat - ich sei doch recht fit in Sachen HTML und könne ihm da vielleicht ein paar Tipps geben? Ich hätte ihn gar nicht weiter nach den Gründen gefragt, aber er erzählte von sich aus ein bisschen: Er wollte sich ein bisschen vorstellen, etwas über seine (übrigens ausschließlich männlichen) Lieblingsschauspieler schreiben, und dann noch eine Seite unter dem Motto »Proud to be different« gestalten. Auch darüber hätte ich mir noch keine weiteren Gedanken gemacht, wenn Marco sich nicht genötigt gesehen hätte, auch zu diesem Punkt noch etwas anzumerken: »Wenn du wissen willst, was sich dahinter verbirgt, teile ich dir das gern per Brief oder persönlich mit, aber nicht per Mail oder per Telefon. Aber ich muss dich warnen: Es ist vielleicht etwas schockierend und nicht ganz jugendfrei.«

Das war der Punkt, an dem ich anfing, darüber nachzudenken, was er meinte. Alkoholprobleme? Drogen? Das war normalerweise nichts, worauf man stolz sein konnte. Schwul? Konnte sein, aber warum dann so ein Theater? Etwas anderes vielleicht? Mir gingen viele Möglichkeiten durch den Kopf, aber dass er schwul war, erschien mir am wahrscheinlichsten - und dabei war er doch gar nicht der Typ dafür? In einem weiteren Telefonat mit meiner Mutter, die Marco auch schon kennengelernt hatte, erwähnte ich das ganze mal beiläufig und für sie war gleich klar: Er ist schwul.

Nun hatte ich ja zwischendurch Danny kennengelernt, und schließlich hatte Marco uns (eigentlich mir ...) den »Verdacht« auch bestätigt. Die erste Frage von meiner Mutter dazu war: »Hat er dich jemals angebaggert?« Irgendwie gab mir die Frage einen Stich - sie kannte ihn, und es störte mich, dass sie von einem meiner Freunde so etwas vermuten könnte. Zurück zur eigentlichen Erzählung, dieses Wissen, dass ich nicht der einzige Schwule war, half mir schon mal ein Stück weiter. Es gab noch andere Schwule auf der Welt, und einen davon kannte ich sogar. Und derjenige war auch noch überraschend »normal« ...

Da ich mir im Bezug auf Danny sowieso keine Hoffnungen machen brauchte, brach ich - beruflich bedingt, mir stand der bis dato letzte Jobwechsel bevor - meine Zelte in dieser Stadt ab und zog in die Nächste. Jonas wusste bis dahin von all dem noch nichts ... zwar vertraute ich ihm immer noch, aber ich hatte Angst davor, wie er vielleicht reagieren würde. Bis ich mich endlich dazu durchringen konnte, ihm davon zu erzählen, verging noch eine ganze Zeit, in dem viel passieren sollte, von meinen ersten sexuellen Erfahrungen bis hin zu vielen weiteren Dingen, die aber auch nicht hierhergehören.

Eines Abends Ende September rief ich mal wieder bei Jonas an. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich ihn jetzt endlich einweihen würde, nachdem selbst meine Mutter und meine Großeltern schon Bescheid wussten, die ich eigentlich recht weit hinten auf die Liste gesetzt hatte. Auf meine Mutter war ich vorher immer noch sauer gewesen wegen der Vermutung, dass Marco mich angebaggert haben könnte, und bei meinen Großeltern stand ich zunächst auf dem Standpunkt, dass sie nicht alles wissen mussten. Da hatten meine Freunde das Vorrecht ... so eben auch Jonas, der nun aber doch der Vorletzte war.

Ich lenkte das Gespräch unauffällig in Richtung Liebe und Privatleben. Jonas hatte bis dahin erst eine Freundin gehabt - immerhin waren wir beide schon 21 - und das hatte nicht lange gehalten. Schließlich kam natürlich auch die Frage: »Und wie sieht's bei dir aus?« »Hm ... auch nicht so toll.« »Wie, auch schon länger nichts mehr gehabt?« »Naja, Stress mit meinem letzten Freund.« Schweigen. Dann: »Du ... du bist schwul?« »Ja, bin ich.« Ab diesem Moment zog sich das Gespräch in die Länge wie ein alter Kaugummi. Wir versuchten noch, irgendwie miteinander zu reden (oder besser: Ich versuchte mit ihm zu reden), aber es ging nicht. »Sorry, aber ich kann damit nicht umgehen, Rick.« »Und wieso nicht?« »Naja, man braucht sich diese Typen doch nur mal anzusehen - ich seh' die hier hin und wieder vor der Disco ... nee.« In dieser Art ging es eine ganze Weile weiter, bis ich schließlich sagte: »Okay, Jonas ... vielleicht überlegst du dir mal, was dir wichtiger ist. Deine Vorurteile oder unsere Freundschaft. Ich melde mich demnächst mal wieder. Und falls du noch was wissen willst - du hast meine Nummer.«

Damit war das Telefonat beendet, und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben einen Schuss vor den Bug bekommen, was mein Schwulsein anging. Bis dahin hatten es alle anstandslos akzeptiert - selbst Danny, dem ich auch gesagt hatte, dass ich eine Zeitlang tierisch in ihn verknallt gewesen war - und jetzt das. Für mich brach eine Welt zusammen: Jonas, mein vermeintlich bester Freund und im Endeffekt meine wahre erste Liebe, konnte mich nicht so akzeptieren wie ich war.

Wie versprochen meldete ich mich einige Wochen später noch einmal bei ihm, und meine Hoffnung, dass er sich das Ganze vielleicht doch noch einmal überlegt hatte, verlief im Sande. Er konnte und wollte nicht akzeptieren, dass ich schwul war, und dass er mir nicht direkt die Freundschaft aufkündigte, hing wohl am ehesten damit zusammen, dass ihm das Ganze auch schwerer fiel als er zugeben wollte. Ich dachte in den folgenden Wochen viel über ihn nach und versuchte, alle Faktoren zusammenzuführen: Jonas war in einer erzkatholischen Gegend aufgewachsen, seine Eltern waren sehr gläubig, und auch wenn er das nicht war, existierte für ihn wahrscheinlich der sehr reale Gedanke, dass Homosexualität eine Sünde war.

Das war auch die Zeit, in der ich mir Gedanken darüber machte, wer von meinen früheren Klassenkameraden noch schwul sein konnte - immerhin gingen Schätzungen ja von fünf bis zehn Prozent der Menschheit aus. Demnach wäre ich zwar für jede einzelne Klasse der Quotenschwule gewesen, aber alle Klassen zusammengenommen ... da musste doch noch jemand dabei sein. Und wenn ich nach meinen bisherigen Erfahrungen ging, kehrten meine Gedanken immer wieder zu Jonas zurück. Bei keinem anderen aus meiner Klasse war ich mir so sicher wie bei ihm.

Seltsamerweise war in dieser Zeit Sven derjenige, der zu mir hielt. Wir hatten den Kontakt nie ganz verloren und uns nach dem Ende der Schulzeit sogar recht gut angefreundet, er hatte mich auch einige Male besucht und wir telefonierten öfter miteinander. Trotzdem er in derselben Umgebung und unter denselben Umständen wir Jonas aufgewachsen war, hatte er keine Probleme damit, einen Schwulen in seinem Bekanntenkreis zu haben. Er konnte Jonas' Haltung auch nicht verstehen ... von meinen weiteren Gedanken erzählte ich ihm erst gar nichts. Auch unser Kontakt wurde im Laufe der Zeit weniger ... aber nicht weil Sven mit mir ein Problem hatte, sondern weil wir einfach zu weit auseinanderwohnten und uns zu selten sahen. Der Kontakt ließ nach, aber er riss nicht ab.


Mittlerweile war es Sommer 2000. Im Jahr davor hatte ich eine wunderschöne Zeit mit Jake in Schottland verbracht, aber uns beiden war ziemlich schnell klar geworden, dass eine Beziehung über diese Entfernung überhaupt keinen Sinn hatte. So hatten wir uns schweren Herzens damit abgefunden, dass wir bestenfalls gute Freunde bleiben konnten, aber mehr einfach nicht möglich war. Wir hatten nichts davon, wenn wir uns nur drei- oder vier Mal in einem Jahr sehen konnte, dabei würde einfach zu viel auf der Strecke bleiben. Und Jake war genauso an Großbritannien gebunden wie ich an Deutschland ...

Eines Abends klingelte das Telefon. Ich war gerade aus dem Büro nach Hause gekommen, hatte mich vor meinen Rechner gesetzt und ein paar E-Mails beantwortet, und am anderen Ende war Sven - es war mal wieder ein halbes Jahr vorbei, dachte ich im Stillen. Wir plauderten eine Weile, bis er schließlich fragte: »Sag' mal, bist Du am nächsten Wochenende eigentlich zuhause?« »Ja, wieso?« »Naja, wenn du nichts dagegen hast, würde ich einfach mal bei dir vorbeikommen. Ich wollte sowieso meine Tante besuchen.« »Klar, von mir aus gern.« Wir einigten uns auf Freitagabend und die Möglichkeit zur Übernachtung bei mir ... was für mich hieß, dass ich mal wieder einkaufen gehen musste, denn in der Regel verzichtete ich aufs Frühstück, aß mittags eine Kleinigkeit im Büro und abends irgendetwas aus der Dose oder aus der Tüte, womit man nicht viel Arbeit hatte.

Pünktlich am Freitagabend um kurz nach sieben klingelte es bei mir an der Tür. Ich betätigte den Summer und ließ die Wohnungstür offen stehen, ich wusste ja, dass es eigentlich nur Sven sein konnte. Doch im Hausflur hörte ich bereits zwei Stimmen ... naja, vielleicht hatte er irgendeinen meiner Nachbarn getroffen. Sven klopfte an die Tür: »Jemand zuhause?« »Jo, komm' rein.« Ich warf mir lässig das Handtuch über die Schulter, kam aus meiner Kochnische heraus ins Wohnzimmer - und mir gefror das Lächeln im Gesicht. Sven war nicht allein, neben ihm stand ... Jonas. Und der war mindestens genauso überrascht wie ich.

Sven grinste. »Tja, Jungs - eine kleine Überraschung meinerseits.« »Spinnst du???«, fragte ich ihn. »Nö. Aber ihr zwei setzt euch jetzt mal zusammen und redet 'ne Runde miteinander. Ich werde jetzt zu meiner Tante fahren und melde mich gegen elf nochmal. Entweder habt ihr euch bis dahin vertragen oder ihr habt euch die Köpfe eingeschlagen, das ist mir ziemlich egal. Falls Letzteres und ihr beide noch am Leben seid, kann Jonas wie geplant mit bei meiner Tante übernachten. Und alles Weitere sehen wir später.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ uns stehen wie zwei begossene Pudel. In der Tür drehte er sich noch einmal um: »Jungs, vergesst nicht - ihr wart mal die besten Freunde.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und Jonas und ich standen uns gegenüber wie zwei begossene Pudel.

Langsam zog ich das Handtuch von der Schulter und legte es aufs Bett. Keiner von uns sagte ein Wort, wir starrten uns nur an. Ich wusste nicht, wie es jetzt weitergehen würde ... Jonas wirkte auf mich irgendwie sprungbereit. Schließlich unterbrach ich das Schweigen. »Du kannst dich hinsetzen, oder, wenn es dir lieber ist, kannst du auch gehen. Ich halte dich hier nicht fest, aber vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen, mal miteinander zu reden.« Jonas nickte langsam und setzte sich dann in den Sessel, der ihm am nächsten Stand. »Darf ich hier rauchen?« »Klar.« Das war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich seine Stimme hörte, und spätestens jetzt wallten wieder die alten Gefühle in mir auf. »Ich hol' uns nur schnell was zu trinken.«

Ich ging zurück in die kleine Küche und lehnte mich an die Wand. Jonas ... ich hatte gerade mit dem Thema abgeschlossen, und jetzt stand er wieder vor mir. Ich hatte Tränen in den Augen, weil ich verzweifelt war und auch ein bisschen wütend auf Sven, weil er sich eingemischt hatte. Und ich hatte Angst ... panische Angst davor, wie dieses Gespräch verlaufen würde. Ich zögerte noch einen Moment, dann wischte ich mir die Augen ab und nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. Ich setzte mich Jonas gegenüber und goss jedem von uns ein Glas voll ein. »Seltsam dich hier zu sehen«, sagte ich dann. Er nickte, beförderte etwas Asche von seiner Zigarette in den Aschenbecher und sagte dann leise: »Ich hab's mir nicht ausgesucht.«

»Daß du nicht freiwillig hier bist, konnte ich mir schon selbst denken. Was würdest du auch bei einem Perversen zu suchen haben.« Angriff war die beste Verteidigung und ein hervorragender Selbstschutz. Den konnte ich momentan sehr gut gebrauchen, sonst hätte ich wahrscheinlich wirklich gleich losgeheult und Jonas hätte noch eines seiner Vorurteile bestätigt gesehen. Doch bei dem Wort »Perverser« zuckte er fast unmerklich zusammen. Schweigend trank er einen Schluck Cola und sah sich dann um. »Schöne Wohnung«, bemerkte er. »Na ja, man kann hier ganz nett wohnen.«

Wieder schwiegen wir beide eine Weile. Es war ein peinliches Schweigen, und dennoch wirkte der ganze Raum irgendwie stickig (was mit Sicherheit nicht an mangelnder Lüftung lag). Schließlich stand ich auf und kramte ein Fotoalbum aus dem Schreibtisch hervor. Ich blätterte durch einige Seiten, bis ich gefunden hatte, was ich suchte, dann gab ich Jonas das Album. »Hier ... ich glaub' die Fotos hast du noch nicht gesehen.« Jonas nahm das Album und schaute sich die Fotos an. Es waren Bilder von unserem Abschlusszelten mit der Klasse. Auch wenn er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, fiel mir doch auf, dass in Jonas einige Gefühle aufwallten.

»War 'ne schöne Zeit damals«, sagte er leise. Ich nickte. »Stimmt, ich denke gern an den Abend zurück.« »Wir konnten damals noch richtig gut miteinander reden.« Auch dieser Satz war leise gesprochen, fast mehr zu sich selbst. Mir lag ein Satz in Richtung »Das ist ja wohl kaum meine Schuld, dass es nicht mehr geht.« auf der Zunge, aber ich schluckte ihn 'runter. Bisher waren wir zumindest nicht aufeinander losgegangen und Jonas war nicht ausfallend geworden. Ich befürchtete aber, dass das nicht mehr lange dauern würde. »Ich kann mich sogar noch erinnern, dass du für 'ne halbe Stunde oder so der Star des Abends warst«, sagte er. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen - Erinnerungen, an die man gern zurückdachte. Es ging mir nicht viel anders. Ich verspürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.

Ich hatte Jonas lange nicht mehr gesehen, und so wie er jetzt vor mir saß konnte ich ihn zum ersten Mal in Ruhe und bewusst anschauen. Der Sprung zwischen 17 und 22 war deutlich zu sehen, er war älter geworden. Ein paar Kilo weniger auf den Rippen als noch vor fünf Jahren, etwas härtere Gesichtszüge, ein leichter Bartschatten war zu sehen. Doch das, was für mich damals den Reiz an ihm ausgemacht hatte, war immer noch vorhanden ... seine Ausstrahlung, die ich deutlich spüren konnte, und seine weiche Stimme mit einem ganz leichten norddeutschen Akzent. Ich beschloss, doch den Vorstoß zu wagen. Aber schön vorsichtig.

»Weißt du, es gibt zwei Momente mit dir, an die ich besonders gern zurückdenke.« Er sah von den Fotos auf und mir zum ersten Mal direkt in die Augen. »So? Und welche waren das?« »Einmal auf der Klassenfahrt, am ersten Abend ... wir waren beide schon leicht angetrunken und irgendwann hast du mir deinen Arm um die Schulter gelegt.« Die Aufmerksamkeit wich der Überraschung. »Echt???« Ich nickte. »Ja. Du hattest mehr getrunken als ich und ich denke, du warst ziemlich enthemmt. Erinnerst du dich noch, dass wir uns über Ostern schon mal treffen wollten? Da war dir was dazwischen gekommen.« Jonas nickte. »Ja, das haben wir dann im Sommer nachgeholt - Knoblauchdressing inklusive«, fügte er lächelnd hinzu. An einem Nachmittag waren wir in Holland gewesen und hatten uns dort Kartoffelchips inklusive Dressing zum Selbermachen besorgt. Das Zeug wurde einfach mit Joghurt verrührt und schmeckte gar nicht mal so schlecht.

»Genau, und meine Oma hat sich am nächsten Morgen erst mal über den Gestank in der Küche beschwert. Jedenfalls, auf der Klassenfahrt hast du mir irgendwann vor allen Leuten deinen Arm um die Schulter gelegt und mir hoch und heilig versprochen, dass wir das Treffen im Sommer nachholen würden.« »Hm ... kann ich mich nicht mehr dran erinnern.« Jetzt gab er sich wieder betont unbeteiligt, aber als ich gesagt hatte »vor allen Leuten« war er kaum merklich zusammengezuckt. »Keine Sorge, die anderen waren viel zu voll. Sven hat an dem Abend 'ne Zigarette im Mund gehabt, das war eher etwas, dass die Aufmerksamkeit der anderen erregt hat.«

Offensichtlich beruhigte ihn diese Aussage. »Ich hab' dir ehrlich den Arm um die Schultern gelegt?« »Ja, für ein paar Sekunden ... bis ich von dir weggerückt bin. Ich wollte schließlich nicht, dass uns jemand für schwul hält.« Das war wirklich so gewesen, aber jetzt, mit dem Wissen von heute, kam der Satz völlig anders 'rüber, als er gemeint war. Jonas sah mich an, mit einem Blick, der irgendwie ... verbittert wirkte? Traurig? Gequält? Ich hatte nicht nur seine guten Seiten vergessen, sondern auch, dass es manchmal verdammt schwer war, hinter seine Kulissen zu schauen. Als Pokerspiele wäre er perfekt gewesen - jeder Versuch, hinter eine gewisse Linie vorzudringen, scheiterte kläglich.

Ich überging diesen Blick und fuhr fort. »Der zweite Moment, der mir in Erinnerung geblieben ist, war eben dieser Abend.« Ich deutete auf die Fotos. »Wir haben am Baggersee gesessen, nur wir beide, und stundenlang gequatscht. Und ich war kurz davor dir zu sagen, was ich für dich empfand.« Der letzte Satz rutschte mir eher heraus, als dass ich ihn wirklich bewusst gesagt hatte, aber nun war es zu spät. Ich spürte plötzlich kalten Schweiß auf der Stirn, meine Hände wurden feucht, ich wurde nervös. Und Jonas' Reaktion darauf? »Der Abend war wirklich schön. Schade, dass wir das später nicht wieder gemacht haben.« Die Abende bei meinen Großeltern waren nicht dasselbe gewesen, da hatte er Recht, falls er das meinte ... aber dass er meinen kleinen Ausrutscher überhört hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.

Er zündete sich noch eine Zigarette an und fragte dann völlig unvermittelt: »Was hast du denn damals für mich empfunden?« Ich winkte ab. »Das willst du nicht wirklich wissen.« »Doch, das will ich.« Ich atmete tief durch. »Jonas, sorry ... aber erstens kannst du es dir denken, nehme ich an, und zweitens weiß ich, was du mittlerweile von mir hältst. Es gibt da nämlich noch einen Moment mit dir, an den ich mich sehr gut erinnern kann, und das ist unser letztes Telefonat.« Keine Reaktion. Kein Kommentar, nicht eine Regung. Diese kleinen Gesten, die er vorher gezeigt hatte ... nun, das konnte wohl nur daran gelegen haben, dass er unvorbereitet war. Jetzt wusste er in welcher Richtung das Gespräch lief. Und dass ich nicht wusste wie er reagieren würde machte mir einfach Angst.

»Vielleicht sagst du es mir trotzdem. Ich möchte es einfach von dir hören.« Leise, völlig emotionslos bat er mich darum. Ich hätte in diesem Moment aufspringen und ihm rechts und links eine 'runterhauen können. Diese unsensible Art passte nicht zu ihm, so war er früher nie gewesen. »Verdammt noch mal, Jonas ... ich habe dich geliebt. Ich wusste es damals noch nicht, aber für dich wäre ich gestorben, wenn du mich drum gebeten hättest. Du hättest von mir alles haben können. Wirklich alles.« Er schluckte. »Warum ausgerechnet ich?«, fragte er dann leise. Ich schnaubte. Zum Teil wollte ich verhindern, dass ich losbrüllte, zum Teil wollte ich auch verhindern, dass ich einfach losheulte. »Weil du einfach so bist wie du bist. Ich wüsste nicht wo ich anfangen sollte. Damals warst du für mich perfekt, ein Halbgott.«

»Und heute?«, hakte er nach. Ich zuckte mit den Schultern. »Heute stehen ein paar Kleinigkeiten zwischen uns. Zum Beispiel, dass dir deine Vorurteile wichtiger sind als es unsere Freundschaft war.« Der Ärger hatte mich übermannt, und ich konnte anfangen ihn 'rauszulassen. »Hey ... wenn das immer noch so wäre, dann wären wir nicht hier«, warf er ein. Ich hörte nicht richtig hin und schoss zurück: »Wenn du damals mal ein bisschen nachgedacht hättest, würden wir diese Diskussion jetzt nicht führen. Aber nein, du, Mr. Perfect, konntest natürlich nicht zulassen, dass jemand deine heile Welt kaputtmacht. Und dann auch noch jemand der sowie in die Hölle kommt.« Die letzten Worte hatte ich ihm praktisch ins Gesicht gespuckt.

»Wer aus unserer Klasse weiß es eigentlich noch von dir?« Aprupter Themenwechsel ... na gut, auch 'ne Taktik. »Thorben und Sven natürlich.« »Natürlich.« Dieses Wort kam so zynisch 'rüber, dass ich fast glaubte, so etwas wie Eifersucht herauszuhören. »Und wieso Thorben? Mit dem hast du doch auch auf der Fete damals 'rumgemacht.« Ich schnaubte schon wieder. »Ich hab' nicht mit ihm 'rumgemacht ... ich war sternhagelvoll und hab' ihn aus Spaß angebaggert.« Wobei ich mir nicht ganz so sicher war, ob das wirklich nur aus Spaß gewesen war ... ich war auf dieser Geburtstagsfeier wirklich sturzbetrunken gewesen, noch nie in meinem Leben war ich so blau (und noch nie zuvor, und niemals später, ging es mir am nächsten Tag so dreckig). Thorben hatte ich auf seine Art immer süß gefunden, und an besagtem Abend war ich ihm wirklich um den Hals gefallen. Ich hatte aber beim besten Willen keine Erinnerung mehr daran, was ich gesagt hatte, und von den anderen hatte nie wieder jemand davon gesprochen.

»Wie hat er reagiert?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab's ihm in 'ne Mail geschrieben, und auf die Antwort warte ich bis heute.« Das berührte mich nur am Rande ... ich war zufällig über seine E-Mail-Adresse gestolpert und hatte das irgendwann fast beiläufig erwähnt, aber so, dass er es kapiert hatte. Er hatte sich gar nicht mehr dazu geäußert, sondern einfach nicht mehr geantwortet. Das war jetzt auch schon einige Monate her, und ich hatte es aufgegeben. Aber Thorben hatte mir nie so nahe gestanden wie Jonas, und damit ging mir das Ganze ziemlich am Arsch vorbei.

Aber jetzt war ich mit dem Themenwechsel dran. »Was hast du eigentlich so für Vorurteile gegen Schwule?« »Die laufen alle tuntig 'rum, sprechen völlig durch die Nase, wackeln mit dem Arsch, wenn sie sich nicht gegenseitig 'reinficken.« Ich schüttelte den Kopf. Wenn er so weiter machte, würde es mir wirklich nicht schwerfallen, ihn vor die Tür zu setzen. »Schade dass ich meine Handtasche gerade nicht zur Hand habe, um ein paar von deinen Vorurteilen zu bestätigen.« Scharf, leise und giftig kam dieser Satz. Es sollte so klingen, als wenn jedes Wort ein kleiner Pfeil wäre, und Jonas' Blick bestätigte mir ziemlich eindeutig, dass mir das gelungen war.

»Du bist anders«, sagte er leise und senkte seinen Blick zum Boden. Ich nickte. »Ja. Was du beschrieben hast, klingt mir verdächtig nach 'ner großen Zeitung mit großen Überschriften und wenig Aussagen.« »Hey, du weißt genau, dass ich das Ding nicht lesen würde.« »Das hört sich aber anders an«, knurrte ich. Langsam war ich die Diskussion leid. »Jonas, ich weiß nicht welcher Teufel Sven geritten hat, als er dich hier angeschleppt hat, aber ich denke das war keine gute Idee. Du kannst ihn gern von hier aus anrufen, wenn du willst, und ich such' dir auch gern 'ne Straßenbahn 'raus, die zu seiner Tante ...« »Ich wollte keiner von denen sein.« »... fährt, wenn er dich nicht abholen ... Moment mal, was hast du gerade gesagt???«

Ich hatte mich ja wohl verhört. Jonas schluckte und sah mir dann in die Augen. »Ich hab' gesagt, ich wollte keiner von denen sein.« »Ich bin ja nicht taub, aber was soll das heißen?« Nervös und mit deutlich zitternden Händen zündete er sich noch eine Zigarette an. Er inhalierte tief, bevor er weitersprach. »Weißt du, immer wenn ich an Schwule gedacht habe, waren das für mich einfach nur Perverse. Hinterlader, ...«, fing er an, aber ich fiel ihm gleich ins Wort. »Danke, ich kenne die gängigen Bezeichnungen. Komm' endlich zum Punkt.« Eigentlich hätte ich schon längst merken müssen, was er sagen wollte, aber ich war in Rage und hatte gerade überhaupt keine Lust, den Seelenklempner zu spielen.

»Rick ...« - das war das erste Mal, dass er mich mit meinem Namen angesprochen hatte - »... ich weiß, dass ich dir weh getan habe, aber bitte, gib' mir wenigstens die Chance dir das zu erklären. 10 Minuten, mehr will ich nicht von dir. Vielleicht habe ich bis dahin geschafft 'rüberzubringen, was ... naja, was ich versuche dir zu sagen.« Ich hatte einfach keine Lust, aber von mir aus sollte er noch die zehn Minuten haben. Ich hatte sowieso nichts Besseres vor, und er hatte mir schon genügend Munition geliefert, um ihm endlich klarzumachen, was er mir damals angetan hatte. »Also bitte, sag was du sagen willst.«

»Du weißt wie ich aufgewachsen bin, Du kennst meine Eltern. Ich mag sie, aber sie sind alt und sie sind streng katholisch. Ich bin bis ich 15 oder so war jeden Sonntag mit in der Kirche gewesen. Und ich brauch' dir ja nicht zu sagen, was man da so hört. Irgendwann ging bei uns im Ort mal das Gerücht 'rum, dass jemand schwul war. Der Pfarrer hat das gleich am nächsten Sonntag in die Predigt eingebaut und sich nicht gescheut allen zu sagen, was das für eine Sünde wäre und so.« Er zögerte. »Das scheinst du ja auch gut behalten zu haben.« Anders als ich es mir gedacht hatte, hatte ich doch den Nagel auf den Kopf getroffen.

Jonas überhörte den Satz und fuhr mit seiner Rede fort. »Für mich stand fest, dass ich nur bei dem bloßen Gedanken daran in die Hölle kommen würde. Ich hab' die Zeit totgeschlagen, viel mit Sven 'rumgehangen und versucht mein Leben irgendwie voranzubringen. Dann kamst du irgendwann in unsere Klasse ... Du hast so ein Selbstbewusstsein ausgestrahlt, und irgendwie sind wir ins Gespräch gekommen. Ich mochte dich von Anfang an, und du hast mir die Chance geboten, endlich von Sven loszukommen. Der ist mir damals tierisch auf den Senkel gegangen.« Ich nickte. »Ja, das hast du mir irgendwann mal gesagt.« »Ich mochte dich, ich hab' dir vertraut. Ich konnte mit dir reden, wir haben was zusammen unternommen. Endlich war da ein anderer, eben nicht Sven. Du warst ein bisschen strange, aber das gefiel mir an dir.«

Er stand auf, stellte sich vor da Wohnzimmerfenster und sah nach draußen. »Irgendwann spürte ich, dass da noch mehr war. Unter anderem auch damals am See. Der Abend war wunderschön, und am liebsten hätte ich diesen Moment irgendwie greifbar gemacht. Irgendwie, ich wusste nur nicht, wie ich das machen sollte. Dann bist du weggezogen, wir haben ein paar Mal telefoniert, und irgendwann erzählst du mir einfach so dass du schwul bist. Bei mir ist 'ne Sicherung durchgebrannt, ich hätte dich am liebsten erschlagen. Ich fühlte mich von dir verraten, und ich hatte einfach Angst, dass du genauso wirst wie diese Typen die immer bei der einen Disco 'rumhängen.« Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber ich hörte, dass seine Stimme ein wenig zitterte. Und langsam, ganz langsam, merkte auch ich, worauf er hinauswollte.

»Ich hab' mich zurückgezogen, bin kaum noch weggegangen. Meine Mutter hat sogar ein paar Mal nach dir gefragt. Sie wollte wissen, ob wir Streit gehabt hätten, weil du nicht mehr angerufen hast. Ich hab' ihr gesagt, dass der Kontakt einfach eingeschlafen ist. Jedes Mal hab' ich anschließend geheult, wenn sie mich gefragt hat. Ich hab' dich gehasst für das was du warst, und ich hab' mich selbst gehasst, weil ich dir damals blöde gekommen bin.« Hm, charmant ausgedrückt. »Weiter?«, ermunterte ich ihn. Mir war zwar mittlerweile ziemlich klar, was er wollte, aber jetzt hatte ich den Joker in der Hand und wollte ihn ein wenig leiden sehen.

Langsam drehte er sich um, und ein Blick in seine Augen bestätigte mir, was ich schon vermutet hatte: er war kurz davor zu heulen. Ich spürte einen starken Impuls, aufzustehen und zu ihm zu gehen, aber irgendetwas hielt mich zurück. Vermutlich mein verletzter Stolz. »Rick, ich weiß nicht was es für ein Gefühl ist jemanden zu lieben, und ich weiß auch nicht was es für ein Gefühl ist von jemandem geliebt zu werden. Aber ich weiß, dass du 'ne Zeitlang der wichtigste Mensch in meinem Leben warst. Und du hast mir gefehlt. Seit unserem Telefonat damals habe ich mir gewünscht, ich könnte das irgendwie ungeschehen machen. Und wenn ich dich jetzt so sehe ... entweder bist du nicht schwul, oder das sind wirklich nur dumme Klischees.« »Tja, dann war das wohl ein dummer Scherz von mir und ich bin tatsächlich Hetero. Meine Freundin müsste übrigens gleich hier sein.«

Ich hätte genauso gut mit einem Vorschlaghammer ausholen und seinen Kopf treffen können, die Reaktion wäre wohl kaum anders gewesen. Jonas sprangen fast die Augen aus den Höhlen, und sein Gesicht war pures Entsetzen. »Bitte, tu' mir das nicht an«, flüsterte er. Jetzt stand ich wirklich auf und sah ihm in die Augen. »Du verlangst allen Ernstes von mir, dass ich auf deine Gefühle Rücksicht nehme? Hast du Arschloch damals etwa Rücksicht auf mich genommen? Hast du nur mal 'nen Gedanken daran verschwendet, wie es mir bei der ganzen Sache ging? Und hast du dir mal überlegt, was es mich für 'ne Überwindung gekostet hat, dir das Ganze zu erzählen? Ich hatte auf Unterstützung von dir gehofft, aber alles was ich von dir zu hören bekommen habe war dummes Gelaber.« Ich merkte nicht, dass ich laut geworden war.

Jonas stand schweigend vor mir, wie ein begossener Pudel, mit gesenktem Blick. Langsam, sehr langsam, sah er schließlich zu mir auf und sagte. »Ich weiß dass ich Mist gebaut hab', und ich hatte gehofft du würdest eine Entschuldigung von mir akzeptieren. Ich konnte damals auch nicht aus meiner Haut. Aber offensichtlich hab' ich mich vertan.« Er nahm seine Jacke und ging zur Tür. Ich war hin- und hergerissen ... einerseits wollte ich, dass er ging, und andererseits wusste ich, dass er Recht hatte, und dass ich ihm doch verzeihen würde. Ich focht einen inneren Kampf aus, und der entschied sich buchstäblich in letzter Sekunde.

»Jonas ... halt, warte bitte«, sagte ich. Seine Hand lag schon auf der Türklinke, aber er drehte sich um. »Bitte geh' nicht. Denn wenn du jetzt gehst, wird wohl gar nichts mehr zu retten sein. So oft bekommt man keine zweite Chance.« Ich denke, dieser Moment war für uns beide der Griff nach dem Strohhalm. Bewegungslos stand Jonas in der Tür und sah mich an. Diesen Blick kannte ich noch von ihm. Ich hatte ihn nicht sehr oft gesehen, aber die paar Male hatten mir gereicht. Es war ein Ausdruck der Qual, um nicht zu sagen der Verzweiflung. Ich ging zu ihm und nahm seine Hand. »Jonas ... bist du schwul?«

Traurig sah er mich an. »Ich weiß es nicht, Rick. Ich will es eigentlich nicht, aber ich komme nicht dagegen an. Mit den Mädels klappt es nicht, und am Ende denke ich doch immer wieder an Jungs. Und noch etwas weiß ich ... ich hab' damals einen Fehler gemacht, der mir heute wirklich leidtut. Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Mir ist klar, dass das nicht so einfach geht, aber vielleicht können wir noch einmal von vorn anfangen. Ich ... ich brauche dich.« Ich sah ihm in die Augen. Wir standen einander so dicht gegenüber, dass ich sein Aftershave riechen konnte.

»Ist das wirklich dein Ernst?« Er nickte. »Jonas, vielleicht kannst du dir vorstellen, was du mir damals angetan hast. Ich weiß, wo und wie du aufgewachsen bist, ich habe mir auch immer so etwas gedacht. Ich habe sogar ein wenig damit gerechnet, dass du schwul bist, vielleicht war da auch einfach nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Und andererseits ... es gab nie einen Menschen, den ich näher an mich herangelassen habe, und nie jemanden, der mich mehr enttäuscht hat.« Er senkte den Blick und fragte dann leise: »Empfindest du denn nichts mehr für mich?«

»Das ist es ja, was ich versuche dir zu sagen. Kaum hast du vor mir gestanden, es hat nicht lange gedauert, sind die alten Gefühle wieder hochgekommen. Du hast dich verändert, aber nicht zu deinem Nachteil. Ich fand dich immer süß, aber weshalb ich mit dir zusammen sein wollte, das war dein Charakter.« Ich wusste selbst nicht so richtig, worauf ich eigentlich hinauswollte. »Jonas, ich will von dir einfach nicht wieder enttäuscht werden. Wenn wir einen neuen Versuch in Sachen Freundschaft starten wollen, okay. Aber wenn das mehr werden soll, dann möchte ich vorher wissen, dass du dir wirklich sicher bist.«

Er nahm meine Hände und sah mir in die Augen. »Das kann ich dir nicht versprechen. Ich habe keine Erfahrung mit Beziehungen und erst recht keine mit Jungs. Nur in meinen Gedanken ...«, fügte er leise hinzu. »Und jetzt? Willst du das einfach ausprobieren oder was?« »Wenn es so einfach wäre, würde ich das wollen.« »Und wer sagt, dass das nicht so einfach ist?« Ein fragender Blick von Jonas. Ich zog mein Sweatshirt über den Kopf und legte es auf den Sessel. Nachdem wir uns noch einmal in die Augen gesehen hatten, nahm ich seine Hand in meine. Er verstand, und er ging mit mir zum Bett ...

Nachwort

Und was passierte dann? Nun, das kann sich jeder selbst ausmalen. Ich habe kein Ende gefunden, das wirklich zu dieser Story gepasst hätte, was vielleicht auch daran liegt, dass ich mit Jonas immer noch nicht so abgeschlossen habe, wie ich glaube. An welcher Stelle hier der Schnitt zwischen Realität und Fiktion eintritt, sollte klar sein. Bei mir läuft jetzt immer noch das Album »Submodalities« von den Moffatts, auf dem auch »Antifreeze and aeroplanes« zu finden ist - der Song, mit dem diese Story eingeleitet wird und der sie ihren Titel verdankt. Der Song selbst hat nichts mit Jonas zu tun, sondern eher mit der Zeit, zu der diese Story entstand. Just another phase ...

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