zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Little Lies

Teil 2

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

Zwei Minuten später saß ich wieder bei Rip im Büro. »So, Lucas, jetzt erzähl' mir bitte endlich, was los ist.« Ich fasste das alles, was bisher seit der Abfahrt meiner Eltern passiert war, zusammen. Rip hörte mir schweigend zu, das Entsetzen stand ihm jedoch deutlich in den Augen. Als ich fertig war, fragte er: »Luke, bist du sicher? Das sind ziemlich harte Anschuldigungen, die können Jochen für Jahre hinter Gitter bringen. Davon abgesehen, dass sein Ruf in jedem Fall zerstört ist, wenn ihr Anzeige erstattet.« Das war die Reaktion, mit der ich gerechnet hatte - schließlich konnte ich es am Anfang ja selbst nicht glauben. »Rip, der Ruf von meinem Vater ist mir mittlerweile ziemlich egal. Ich habe Janosch mit eigenen Augen gesehen, ich habe die Brandwunden auf seinem Körper gesehen. Dieses Schwein hat Zigaretten auf seiner Haut ausgedrückt. Er hat ihn vergewaltigt. Janosch hat sich völlig verändert - das ist dir doch selbst schon aufgefallen, du hast mich erst vor ein paar Stunden darauf angesprochen.«

Ich war in Rage. Rip bedeutete mir mit einer Handbewegung, wieder auf den Teppich zu kommen. »Lucas, beruhige dich bitte. Du weißt, dass das kein Misstrauen gegen euch war. Nur - bevor einer von uns überhaupt etwas unternimmt, müssen wir sichergehen, dass da überhaupt etwas dran ist.« Ich atmete tief durch. »Ich habe ein Video im Wagen, Dad hat vor ein paar Tagen offensichtlich die Kamera mitlaufen lassen. Willst du es sehen?« Im selben Moment fiel mir ein, dass ich Janosch versprochen hatte, das Video niemandem zu zeigen, wenn es sich vermeiden ließ. Zum Glück wollte Rip sich nicht selbst von der Existenz des Bandes oder seinem Inhalt überzeugen. »Okay. Zuerst mal das Wichtigste: Ich glaube euch. Und dass irgendetwas mit Janosch nicht in Ordnung war, ist mir auch schon länger aufgefallen.« »Woran?« fragte ich knapp. »Erstens reagierte er immer empfindlicher auf Körperkontakt. Ich habe ihm öfter mal in der Praxis eine Hand auf die Schulter oder auf den Arm gelegt, wenn ich gemerkt habe, dass er Angst hatte. Das ist eigentlich völlig normal. Jedenfalls hat er sich in letzter Zeit immer mehr zusammengerissen. Ich dachte erst, dass er seine Angst einfach überwunden hätte.

Dann hat mir Richie erzählt, dass ihm das auch schon aufgefallen ist. Du warst selbst früher dabei, wenn ihr draußen im Garten herumgetobt seid. Dabei ist es zwar nicht immer ruhig zugegangen, aber es hat sich auch nie jemand beschwert. Und in letzter Zeit ist Janosch jeglichem Körperkontakt aus dem Weg gegangen. Das habe ich aber zunächst auf die Pubertät geschoben, schließlich ist er mittlerweile in dem Alter. Außerdem hat er ziemlich abgenommen. Er war zwar nie besonders kräftig, aber in den letzten Monaten ist er richtig schmächtig geworden.» Ich nickte stumm - es war mir vorhin zwar nicht weiter aufgefallen, weil ich von den Brandmalen zu schockiert war, aber Janosch war in der Tat ziemlich abgemagert. Meistens trug er jedoch weite Sweatshirts, in denen das nicht so auffiel. «Wie soll es jetzt weitergehen?», fragte ich Rip.

Der gab die Frage gleich an mich zurück. »Hast du schon eine Idee?« Ich nickte langsam. »Ich dachte an Dr. Westermann - oder besser gesagt: Janosch dachte daran. Ich habe ihm vorhin erzählt, was heute Vormittag los war, und da hat er mich mit der Nase drauf gestoßen.« Rip nickte. »Okay, das halte ich auch für die beste Idee. Ich kenne Roland, und wenn ich ihn anrufe, wird er sofort dabei sein, das verspreche ich dir.« Ich überlegte einen Moment und beschloss dann, Rip die Frage zu stellen, die mir schon länger auf der Zunge lag: »Warum hattest du eigentlich schon mal mit ihm zu tun?« Rip zündete sich noch eine Zigarette an. »Also, Kurzfassung: Du weißt wahrscheinlich, dass Nick der Halbbruder der anderen ist. Ich habe damals mit seiner Mutter, kurz nach seiner Geburt, die Vereinbarung getroffen, dass ich ihn zu mir nehme, falls ihr irgendwann einmal etwas zustoßen sollte. Wir hätten zwar nie damit gerechnet, aber wir wollten das so. Na ja, wie du dir vielleicht denken kannst, hat sich da die britische Regierung erst mal quer gestellt. Eine Bekannte hat mir dann Roland empfohlen, und er hat das Ganze in die Hand genommen. Es hat keine zehn Wochen gedauert, und Nick durfte hierbleiben. Bis dahin waren sowohl die Briten als auch die deutsche Regierung überzeugt.«

Das ganze erzählte Rip in einem lockeren Plauderton, aber ihm war recht deutlich anzumerken, dass ihm das ziemlich nahe ging - wie alles, was seine Kinder betraf. Ich weiß von Richie, dass er, Jason und Nick seinerzeit nur knapp einen Flugzeugabsturz überlebt haben, und Rip war anschließend wochenlang zu nichts mehr zu gebrauchen. Das war mittlerweile drei Jahre her, und das Einzige, war immer noch an die ganze Sache erinnerte, war Nicks verbrannter Oberkörper und die Urkunden, die alle drei nach der Katastrophe von der Flugsicherheit in New York bekommen hatten. Ein anderes Mal hatte Richie einen Unfall gehabt, als die ganze Familie in Los Angeles war. Dabei hatte er sich einige Rippen gebrochen. Für ihn selbst war das Ganze gar nicht so schlimm gewesen, aber Rip war am rotieren - vor allem, weil Richie und Jason erst mal mit ein paar Freunden Kaffee trinken gegangen waren, als Richie schließlich aus der Notaufnahme entlassen wurde.

Rip klatschte in die Hände. »Okay, auf geht's. Ich rufe Roland an und erkläre ihm das Ganze. Du kannst solange zu Janosch und den anderen gehen, wenn du willst. Und in einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier«, fasste Rip seine Planung zusammen. »Wer ist 'wir'?«, fragte ich. »Du, Janosch, Roland - wenn er es bis dahin schafft - und meine Wenigkeit. Äh ... Luke, noch eine Frage: Wissen eure Eltern eigentlich, was los ist?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihnen einen Zettel hingelegt, dass wir zu euch gefahren sind, aber sonst nichts. Janosch hat immer darauf bestanden, dass ich Mum nichts davon erzähle, dass Dad ihn verprügelt. Und alles andere habe ich ja selbst erst vorhin erfahren.« Rip nickte. »Okay. Und ... Lucas, wir bekommen das zusammen in den Griff. Das verspreche ich dir, um Janoschs Willen.« Ich wollte mich bedanken, aber Rip schob mich aus der Tür. »Wir sehen uns gleich.«

Ich ging nach unten und betrat leise den Probenraum. Die kleine Band - bestehend aus Richie, Nick, Jason und Janosch - steckte gerade mitten in einem Stück. Janosch bearbeitete mit Feuereifer die Drums, Richie lächelte ihm aufmunternd zu, während er seinen Bass bearbeitete, und Nick übernahm den Gesang. Jason machte mit dem Keyboard den Rest, und das Ergebnis konnte sich durchaus hören lassen. Als die letzten Töne verklungen waren, fragte Richie: »Na, habt ihr eure Unterredung beendet?« Ich nickte. Janosch sah mich fragend an, und ich zeigte ihm den nach oben gestreckten Daumen - alles okay. Richie stellte seinen Bass in die Ecke, steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel und fragte dann: »Könnt ihr uns jetzt vielleicht mal erzählen, was los ist? Ich will ja nicht neugierig sein, aber ich werde einfach nicht mehr schlau aus euch.«

Ich warf Janosch einen fragenden Blick zu - zum Glück stand er gerade hinter allen anderen. Er schüttelte als Antwort nur den Kopf. »Tut mir leid, Richie. Ich denke, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werdet ihr alles erfahren, aber momentan geht das einfach noch nicht. Ich kann dich nur bitten, mir nicht böse zu sein - es hat absolut nichts mit euch zu tun, das ganze ist nur einfach zu persönlich.« Richie nickte. »Okay.« Ein paar Minuten standen wir einfach nur herum, ohne dass einer von uns etwas sagte. Schließlich kam Janosch zu mir. »Kann ich kurz mit dir allein reden?« Ich nickte, und wir beiden gingen nach draußen. Auf der Vortreppe des Hauses setzten wir uns hin. »Was hat Rip gesagt?« Ich grinste schwach. »Was glaubst du denn? Natürlich ist er auf unserer Seite.« Janosch atmete erleichtert auf. »Momentan spricht er mit Roland Westermann, der wird gleich vorbeikommen, damit wir alles weitere besprechen können.«

Ich sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten waren vergangen, seit ich wieder nach unten gegangen war. Mittlerweile war es fast halb elf abends. Dieser Tag war einfach nur verrückt. Vor zwölf Stunden hatte ich noch auf dem Flughafen gesessen, und meine größte Sorge war, wie wohl das Essen an Bord der Maschine sein würde. Aber das Thema hatte sich dann ja erledigt. Janosch rutschte etwas dichter an mich heran, ich legte ihm vorsichtig meinen Arm um die Schulter. Ich versuchte dabei, jede Bewegung zu vermeiden, die er missverstehen konnte. Ich hatte zwar mit dem ganzen Thema nicht allzu viel Erfahrung, aber ich hatte seine Reaktionen erlebt und konnte mir ein bisschen was zusammenreimen. Janosch kuschelte sich eng an mich. »Ach, Luke, wenn ich dich nicht hätte ... ich weiß nicht, wie lange ich das noch ausgehalten hätte.«

Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen - mit einigen Verrenkungen gelang mir das auch. »Was soll das denn heißen? Hey, Kleiner, wir werden das zusammen durchstehen, das verspreche ich dir, so wahr wir hier sitzen. Aber bitte versprich mir auch eines.« Er sah mich erwartungsvoll an. »Was denn?« »Egal, was passiert - gib' nicht auf. Ich bin bei dir, jederzeit. Indianerehrenwort. Aber mach' nichts, was du später bereuen könntest.« Ich hoffe, er hatte verstanden was ich meine, und sein Blick sagte mir, dass das der Fall war. »Versprochen.« sagte er dann. Damit nicht genug: er nahm seine Hand, spuckte hinein und hielt sie mir hin. Ich war etwas erstaunt. Etwas mit Spucke beschwören, das hatten wir zuletzt gemacht, als ich zehn oder elf gewesen war. Und dann war es für uns immer etwas ganz Besonderes gewesen. Ich zögerte nicht lange und tat dann dasselbe wie er. Weiter möchte ich mich dazu jedoch nicht auslassen.

Ein Paar Scheinwerfer streifte die Einfahrt, wir hörten einen Wagen vorfahren, eine Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, und dann zuckten zwei orange Lichtblitze über den Rasen - da hatte sich mal wieder jemand ein Auto mit Fernbedienung zugelegt. Ein paar Schritte ... und vor uns stand Roland Westermann, mit einem jungen Mann neben ihm. Roland sah mich erstaunt an. »Lucas? Was machst DU denn hier?« fragte er mich ehrlich verblüfft. Ich zuckte die Schultern. »Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn wir uns unter anderen Umständen wiedergetroffen hätten.« Ich gab ihm die Hand, nicht ohne sie vorher noch schnell an meiner Jeans abzuwischen. »Das ist mein kleiner Bruder, Janosch - ich hatte ja heute morgen schon von ihm erzählt.« Roland nickte und gab Janosch dann die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen - ich bin Roland. Dein Bruder leistet übrigens hervorragend Erste Hilfe.« fügte er dann lächelnd hinzu. Bevor ich etwas sagen konnte, stellte er seinen Begleiter vor: »Das ist Markus, mein Sohn - ich hatte dir ja heute morgen auch schon von ihm erzählt. Markus, das sind Lucas und Janosch ... heißt ihr beide Reilly?« Wir nickten. Noch mal wurden Hände geschüttelt, und dann gingen wir nach oben.

Rip hatte einen Teil des Chaos von gerade eben beseitigt und stattdessen einige Bücher über den Tisch verteilt - unter anderem das Strafgesetzbuch, wie ich mit einer bitteren Freude feststellte. Als wir eintraten, blickte er auf. »Ah, Roland. Danke, dass du so schnell kommen konntest. Hallo Markus. Setzt euch.« Er streute eine Handbewegung quer über das Sofa und setzte sich dann zu uns, nachdem er ein paar der Bücher zusammengerafft hatte. Er warf einen prüfenden Blick zu Markus und Janosch, dann zu Roland und mir. »Bleiben wir bei dieser Runde, oder beschränken wir uns erst mal auf drei Leute?«, fragte er dann. »Vielleicht bleiben wir drei zusammen, und Markus und Janosch unterhalten sich nebenan ein bisschen?«, schlug Roland vor. Markus nickte. »Okay.« Nebenan war das Wartezimmer von Ripleys Praxis. Unter anderen Umständen hätte Janosch wahrscheinlich im Angesicht dieses Vorschlags eine säuerliche Grimasse gezogen, aber momentan war ihm danach einfach nicht zumute. Markus stand auf und winkte Janosch, ihm zu folgen.

Ich erzählte Roland - und noch einmal Rip - was ich wusste. Roland hörte schweigend zu. Hin und wieder nickte er und machte sich Notizen. Als ich fertig war, stellte er mir einige Fragen. »Du sagst, Janosch sei schon länger von Eurem Vater geschlagen worden. Wie lange ging das schon so?« »Schon seit einigen Jahren. Dad ist öfter die Hand ausgerutscht.« »Ist Janosch dabei mal verletzt worden?« Ich schüttelte den Kopf. »Nur blaue Flecke und ähnliches, keine Knochenbrüche oder Platzwunden oder ähnliches.« Abgesehen von den Brandwunden. »Wann hat der Missbrauch angefangen?« Ich überlegte - das wusste ich selbst nicht genau. Aber so wie ich Janosch verstanden hatte, ging das schon über einen längeren Zeitraum. Ich erklärte das Roland und versuchte dann, anhand der Anzeichen, die mir, Richie und Rip aufgefallen waren, zurückzurechnen. »Seit ungefähr anderthalb Jahren, denke ich.«

»Wie alt war Janosch zu dem vermuteten Zeitpunkt?« »Zwölfeinhalb.« Westermann nickte. »Gut. Dann sollten wir mal schauen, wie es den beiden geht.« Rip stand auf, um sie zu holen. »Was glaubst du, hätten wir eine Chance, wenn wir Anzeige erstatten würden?«, fragte ich Roland. Er nickte. »Das auf jeden Fall - wir brauchen nur die entsprechenden Beweise. Weißt du zufällig, wie alt die Videos sind?« »Nicht genau. Das eine, was ich gesehen habe, ist knapp anderthalb Wochen alt. Die anderen müssten älter sein.« »Viel älter?« Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht. Wofür ist das wichtig?«, wollte ich wissen. »Das erkläre ich dir später. Ich brauche nur erst mal eine möglichst unvoreingenommene Aussage von dir.«


Roland: Mittwoch abend, 22:45 Uhr

Der Grund, warum ich von Luke eine unvoreingenommene Aussage wollte, lag im deutschen Strafgesetzbuch begründet. Ich musste hier unterscheiden zwischen dem Paragrafen 182, der sich mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen beschäftigte, und den weitaus härteren Paragrafen 176 und 176a, die den sexuellen Missbrauch von Kindern betrafen. Von Luke und Janosch wollte ich erst einmal wissen, wann der Missbrauch begonnen hatte, oder genauer: wie alt Janosch zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Mir war klar, dass weder Luke noch Janosch wissentlich lügen würden, aber dieser Unterschied war einfach zu brisant. Und um sie gar nicht erst durcheinanderzubringen, ließ ich mich an dieser Stelle nicht weiter dazu aus, zumindest Luke gegenüber nicht. Rip hatte schon mehrfach miterlebt, wenn ich solche Fälle bearbeitet hatte, und wusste offensichtlich, worauf ich hinauswollte.


Luke: Mittwochabend, 22:50 Uhr

In diesem Moment kam Rip mit Janosch und Markus wieder herein. »Okay, hier sind wir.« »Janosch, darf ich dir noch ein paar Fragen stellen?«, fragte Roland - ich spürte förmlich die Vorsicht in seiner Stimme. Janosch nickte schweigend. »Lass' dir Zeit, du brauchst nicht wie aus der Pistole geschossen zu antworten. Ich weiß, dass das Ganze nicht leicht für dich ist, aber ich verspreche dir, dass wir alles tun werden, damit alles wieder in Ordnung kommt, okay?« Janosch nickte wieder, dann rutschte er zu mir heran. Ich legte ihm wieder meinen Arm um die Schulter - es sollte nicht das letzte Mal sein, dass das geschah. Diese Geste würde in Zukunft einiges für uns bedeuten. Roland begann mit den Fragen: »Weißt du noch, wann dein Vater dich zum ersten Mal auf diese Art angefasst hat.« Janosch überlegte angestrengt. »Das muss vor anderthalb Jahren gewesen sein. Mum und Luke waren losgegangen, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen, und ich war mit Dad allein.« Ich erinnerte mich noch zu gut an dieses Weihnachtsfest ...

Es war einen Tag vor Heiligabend, und wir hatten den ersten Schnee. Darum waren wir alle in entsprechend guter Stimmung. Mum und ich waren in die Stadt gefahren, um noch ein paar Dinge zu besorgen, unter anderem den Weihnachtsbaum. Dad musste noch an einigen Akten arbeiten, und Janosch sollte sein Zimmer aufräumen. Als Mum und ich zurück waren, war Janosch allein in seinem Zimmer und lag im Bett, mit total verheulten Augen und körperlich geschwächt, dabei völlig durchgeschwitzt. Ich hatte ihn ein paar Mal gefragt, was mit ihm los war, aber keine Antwort bekommen. Damals hatte ich vermutet, dass es der obligatorische Weihnachtskoller war - seit ich denken konnte, war Janosch jedes Jahr zu Weihnachten krank. Meist war es einfach nur Übelkeit. Wir schoben das auf die Aufregung, als ich noch kleiner war, ging mir das nicht anders. Und damals hatte ich natürlich nicht geahnt, was los war.

Das ganze Gespräch dauerte alles in allem ungefähr eine Stunde. Roland hatte mittlerweile vier Seiten vollgeschrieben. Als eine Weile keine Fragen mehr kamen, stellte ich die Frage, die mir am meisten auf der Seele brannte: »Wie geht es jetzt weiter?« »Als erstes müsst ihr Anzeige erstatten. Das ist eine reine Formalität. Ich kenne zwei Beamte bei der Kripo, die mit solchen Fällen vertraut sind, an die könnt ihr euch ruhig wenden. Dann wird das Ganze an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Die wird gegen Euren Vater eine Klage erheben. Dann kommt in einigen Wochen der Prozess, und wir können nur hoffen, dass er verurteilt wird. Die Frage ist eigentlich nur, wie hoch das Strafmaß ausfällt. Alles andere ist eine reine Formsache. Das Wichtigste ist jedoch, dass du, Janosch, morgen erst mal zum Arzt gehst. Der kann dich untersuchen und ein Gutachten erstellen. Und wir brauchen die Videos.«

Von beiden Vorschlägen war Janosch nicht sonderlich begeistert. »Ich komme mit zum Arzt, wenn du willst«, bot ich ihm an. Janosch nickte nur. Ich ergriff noch einmal das Wort. »Was die Videos betrifft - wie können wir da vorgehen? Ich könnte ein paar morgen kopieren, wenn Dad im Büro ist. Wir behalten die Originalbänder und platzieren bei Dad einfach die Kopien.« Roland nickte. »Prinzipiell eine gute Idee, nur wird die Staatsanwaltschaft nicht besonders angetan davon sein, wenn du dich an den Beweismitteln zu schaffen gemacht hast. Du kannst höchstens eine Kopie von ein oder zwei Bändern machen, falls dein Vater irgendetwas mitbekommen sollte oder aus einem anderen Grund auf die Idee kommt, die Bänder verschwinden zu lassen. Werden die Filme von der Kamera alle mit einem Zeitstempel versehen?«

Ich nickte - ich hatte selbst schon oft genug auf Familienfeiern mit der Kamera gearbeitet. »Äh, und das wichtigste: wie alt sind die Bänder? Janosch, wann hat Dein Vater angefangen, das aufzunehmen?« Janosch zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau, aber bestimmt schon vor einem Jahr oder so.« Roland nickte zum Verständnis. »Dann hab' ich erst mal nur noch eine Frage: Du bist am 16. Februar 1986 geboren, ist das richtig?« Janosch nickte, und Roland machte sich eine weitere Notiz.

Wir besprachen noch einige weitere Dinge. Der schwierigste Teil war erst mal der, Mum einzuweihen. Wir konnten nur darauf hoffen, dass sie uns glaubte. Jedenfalls überlegten wir noch etwas und beschlossen dann, ins Bett zu gehen. Am nächsten Tag hatten wir viel vor, und langsam spürten wir alle deutlich die Müdigkeit in den Knochen. Janosch war in der letzten Viertelstunde schon zweimal eingenickt. Rip organisierte uns die Gästezimmer so, dass Janosch und ich ein großes Bett bekamen. Kaum hatte ich mich hingelegt, war Janosch ganz dicht an mich herangerutscht und sofort eingeschlafen. Ich dachte noch einmal über den Tag nach, besonders den Abend, und schließlich war es auch bei mir mit der Selbstbeherrschung vorbei. In dieser Nacht weinte ich mich zum ersten Mal seit Jahren in den Schlaf.


Lynn: Donnerstag früh, 00:20 Uhr

Gähnend schloss Jochen die Tür auf. Er hatte sich auf dieser Party offensichtlich ebenso sehr gelangweilt wie ich - aber im Gegensatz zu ihm war ich noch nicht müde. »Hast du dich auch nur ein bisschen amüsiert?«, fragte er mich, während er seine Jacke auszog. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, außer als der Kellner deinem Chef den Sektkühler auf der Hose ausgeschüttet hat.« Jochen lachte. »Das dürfte ziemlich schmerzhaft gewesen sein, denke ich.« »Ja, das denke ich auch. Aber das habe ich bei dir ja zum Glück nicht nötig.« Er gab mir einen Kuss und sagte dann: »Dann habe ich ja noch mal Glück gehabt.«

Wir setzten uns noch ins Wohnzimmer. Jochen ging an unsere Minibar und schenkte jedem von uns einen Martini ein. »Du trinkst doch auch noch einen mit?«, fragte er, während er mir das Glas hinstellte. »Ja, schließlich bin ich vorhin gefahren. Übrigens, weißt du zufällig, wo mein Wagen ist?« Er zuckte die Schultern. »Ich denke, Luke hat ihn sich ausgeliehen.« Ich stand auf. »Bin gleich wieder da.« Ich ging in die Küche, meistens hinterließ Luke mir einen Zettel, wenn er meinen Wagen mitnahm und ich nicht da war. Und ich hatte richtig geraten - der Zettel lag mitten auf dem Küchentisch. »Hi Mum, ich habe mir für heute Nacht Dein Auto geliehen, wir sind zu Rip gefahren und übernachten dort. Gruß, Lucas.«

Na also, schon wieder eine Sorge weniger - bei Rip waren die Jungs gut aufgehoben, das wusste ich. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. »Die Jungs sind bei Rip«, sagte ich zu Jochen. »Nanu? Da war Janosch doch erst heute Nachmittag.« Ich lächelte. »Vielleicht wollte Luke erst mal von seinen großen Abenteuern als Beinahe-Bruchpassagier berichten.« Jochen nickte. »Das wird's sein. Aber nichtsdestotrotz werde ich jetzt trotzdem ins Bett gehen. Kommst du mit?« Ich sah auf die Uhr und nickte dann. »Ja, ist wohl besser. Ich muss morgen um zwölf in der Redaktion sein und hab' vorher noch einiges zu erledigen.«

Jochen sah mich etwas enttäuscht an. Wahrscheinlich hatte er die Gelegenheit nutzen wollen, noch mal eine Nacht ungestört mit mir zu verbringen. Aber dazu war ich beim besten Willen nicht in der Stimmung, auch wenn unser Liebesleben in der Tat in letzter Zeit etwas nachgelassen hatte. Ich hatte auch schon mehr als einmal darüber nachgedacht, ob Jochen mittlerweile eine Geliebte hatte, aber den Gedanken ganz schnell wieder verworfen. Von meinem eigenen Ehemann konnte ich mir so etwas beim besten Willen nicht vorstellen.


Janosch: Donnerstagmorgen, 07:40 Uhr

Ich wachte auf und wusste zunächst nicht, wo ich war. Luke lag neben mir, hatte seinen Arm um mich gelegt, und sein Kissen war ganz feucht. Langsam wusste ich wieder, was gestern Abend passiert war. Ich hatte Luke alles erzählt. Es war ein komisches Gefühl. Einerseits war ich erleichtert, weil ich das alles endlich jemandem erzählen konnte, und andererseits wusste ich nicht, was noch passieren würde. Ich hatte einfach Angst. Auch davor, was Dad mit mir anstellen würde, wenn ich ihm allein begegnen sollte.

Noch immer spürte ich all die Brandwunden auf der Haut. Bei jeder Bewegung tat es weh. Und dann die Erinnerungen ... ich hatte zum ersten Mal seit zwei Wochen wieder ruhig geschlafen, und das lag daran, dass mein Bruder wieder bei mir war. Ich hatte ihn vermisst. Die letzte Woche war die schlimmste. Luke war noch im Urlaub, Mum war für einige Tage auf einem Seminar gewesen, und Dad hatte sich Urlaub genommen - ohne dass die anderen etwas davon wussten. Jeden Tag war er zu mir gekommen, und mir sträubten sich jetzt noch die Nackenhaare, wenn ich nur daran dachte - an seine Hände, die mir über den Rücken unter das T-Shirt glitten, wenn er hinter mir stand, und wie er sagte: »Komm schon, Janosch, es wird wieder Zeit, Daddy einen Gefallen zu tun.«

Kein einziges Mal hatte ich mich gewehrt. Jedes Mal hatte ich darauf gehofft, dass es so schnell wie möglich wieder vorbei sein würde, aber das war es nicht. Vorbei war es erst, als Luke wieder da war. Der Einzige, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er vielleicht schon vorher etwas gemerkt hatte, war Ripley. Ich mochte Rip sehr gern, aber ich hasste seinen Job. Er war der Einzige, der mir Zeit ließ, wenn ich mal wieder Angst hatte. Früher hatte er mir immer eine Hand auf die Schulter gelegt, um mich zu beruhigen, aber mittlerweile hatte ich einfach Angst davor. Darum hatte ich versucht, ihm nicht zu zeigen, wenn ich in seiner Praxis war und mal wieder angst davor hatte, was diesmal kommen würde. Dabei wusste ich genau, dass Rip mir niemals wehtun würde.

Dasselbe galt für Luke. Wir lagen ziemlich eng zusammen, fast genau so, wie Dad mich ein paar Mal an sich gezerrt hatte. Aber diesmal war es etwas anderes: Es gab keinen Menschen, dem ich so sehr vertraute wie Luke. Kaum konnte ich weiter darüber nachdenken, als er aufwachte. Er sah mich verschlafen an. »Guten Morgen, Kleiner. Na, hast du halbwegs schlafen können?« Ich nickte. »Na ja, so halbwegs.« Luke streichelte mir über den Kopf. »Wir werden wohl noch einige unruhige Nächte haben, denke ich.« Da hatte er wohl recht. Schließlich gab er mir einen Kuss auf die Wange und stand auf. »Ich geh' schnell duschen, du kannst noch ein paar Minuten liegen bleiben, wenn du willst.«

Nach zehn Minuten war er wieder da und zog mir die Bettdecke weg. »So, 'raus aus den ...«, und er brach mitten im Satz ab und starrte mich an. Ich sah an mir herunter und bemerkte, dass mein T-Shirt hochgerutscht war. Mein Bauch und mein Rücken waren von den Brandflecken übersät, die Luke jetzt zum ersten Mal bei Tageslicht zu sehen bekam. Er war offensichtlich schockiert - ich hatte mich an den Anblick und die Schmerzen gewöhnt. Luke schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Ich denke, wir haben heute noch einiges vor«, sagte er dann. Ich nickte und stand dann auf, um mich ebenfalls zu duschen. Nach ein paar Minuten war ich auch wieder da, und wir gingen gemeinsam nach unten in die Küche.

Rip saß bereits am Tisch und blätterte in der Zeitung. Als wir hereinkamen, legte er sie jedoch aus der Hand. »Guten Morgen, Jungs. Na, ausgeschlafen?« Wir nickten - so eine typische »Das kann jetzt alles heißen«-Geste. Rip deutete auf die Stühle und schenkte uns dann Kaffee in die Becher. »Esst erst mal in Ruhe, wenn ihr Hunger habt. Alles Weitere können wir gleich besprechen.« In diesem Moment kamen Richie und Jason herein. »Guten Morgen ...«, begann Richie den Satz, brach aber mittendrin ab, als er uns sah. Er sah uns fragend an. »Wie jetzt? Noch hier?« Luke nickte. »Ja, ich hatte dich doch gestern um Asyl gebeten.«

»Stimmt, daran erinnere ich mich. Aber ich habe euch gegen halb zwölf zuletzt gesehen, und nachdem ihr um zwei immer noch nicht aufgetaucht seid, sind wir schon mal ins Bett gegangen.« Anschließend fügte er grinsend hinzu: »Dabei wolltet ihr uns aber wohl sowieso keine Gesellschaft leisten, oder?« Er zwinkerte in Lukes Richtung, der grinste zurück. »Nicht wirklich, Richie. Außerdem werde ich mit Sicherheit nicht Jason eifersüchtig machen.« Richie sah mich an. »Na ja, Janosch ist noch ein bisschen jung, den können ...« Bevor er den Satz beenden konnte, wurde er von Rip in einem ziemlich scharfen Ton unterbrochen: »Richie, halt' endlich die Klappe und fang an, zu frühstücken.«

Richie warf einen überraschten Blick in Richtung seines Vaters, sagte aber nichts mehr. Der Rest des Frühstücks verlief ziemlich ruhig, keiner sagte etwas. Schließlich sagte Rip zu uns: »Wenn ihr wollt, könnt ihr euch fertigmachen - Roland ist in ein paar Minuten da.« »Okay.« Wir standen auf und gingen nach oben - und Luke hatte natürlich prompt seine Zigaretten auf dem Küchentisch liegen lassen. »Geh' schon mal hoch, ich hol' sie.«, bot ich ihm an. »Okay, danke.«

Als ich vor der Küchentür stand, hörte ich, dass Rip leise, aber eindringlich mit Richie sprach: »Richie, tu' mir bitte einen Gefallen und verkneif' dir solche Sprüche, wenn Janosch oder Luke dabei sind.« »Hey, die beiden wissen schon längst Bescheid und hatten noch nie ein Problem damit«, warf Richie ein. »Das weiß ich. Das hat auch nichts mit euch zu tun oder damit, dass ihr schwul seid. Ich kann und will euch das jetzt nicht erklären, ich bitte euch einfach nur darum, euch etwas zurückzuhalten, okay?« »Okay ... es war nicht böse gemeint.« Ich konnte mir vorstellen, wie Rip nickte. »Das ist mir klar, Richie, es kam nur zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Und so wie es momentan aussieht, werden die Zeitpunkte auch nicht günstiger werden, zumindest nicht in den nächsten Monaten. Also denkt bitte dran.«

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und dachte daran, wie mein Vater wohl reagiert hätte ... Richie hatte nicht mal einen Fehler gemacht, er konnte es einfach nicht wissen, schließlich hatten wir ihm nichts erzählt. Aber mein Vater hätte wahrscheinlich nicht großartig irgendetwas erzählt, sondern mir bei der nächstbesten Gelegenheit einfach eine 'reingehauen und mir dazugesagt, dass ich gefälligst meinen Mund halten sollte. Insgeheim beneidete ich Richie um seinen Vater.


Luke: Donnerstag, 09:50 Uhr

Irgendwie tat Richie mir leid. Rip hatte ihn gerade in einem Ton angesprochen, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihm gehört hatte. Dabei konnte Richie gar nicht wissen, was passiert war. Ich überlegte, ob wir ihn einweihen sollten, schließlich war er einer unserer besten Freunde. Aber die Entscheidung wollte ich lieber Janosch überlassen. Ich sah auf die Uhr - kurz vor zehn war es mittlerweile. Roland wollte gleich auftauchen, und dann würden wir wohl alles Weitere besprechen.

Was mir momentan am meisten Sorgen machte, war die Frage, wie wir Mum das Ganze beibringen sollten, und vor allem, ob sie uns glauben würde. Ich hoffte es wirklich, aber mein Gefühl sagte mir etwas anderes. Schließlich liebte sie Dad, und sie hatte auch nichts davon mitbekommen, wie er Janosch in letzter Zeit zugerichtet hatte. Dann bleiben wohl nur noch die Videos als Beweismittel, aber das würde Janosch wohl nicht unbedingt passen. Ich würde das nachher mal mit Rip durchsprechen.

Janosch kam herein. »Unten ist gerade ein Auto angekommen, ich denke, das ist Roland.« Ich nickte. »Okay, ich komme 'runter.« Eigentlich hätten wir gar nicht erst hochgehen müssen. Janosch machte noch schnell einen Abstecher in Richtung Toilette, und als ich zu Ripleys Arbeitszimmer ging, lief mir Richie über den Weg. »Luke, warte mal. Ich ... äh ... ich wollte gerade eben nichts Falsches sagen.« Ich winkte ab. »Kein Problem. Schließlich seid ihr immer noch nicht eingeweiht. Ich denke, von uns hat das keiner falsch aufgefasst - schließlich kennen wir dich ja mittlerweile.« Von dem Gespräch, dass Rip mittlerweile mit Richie geführt hatte, wusste ich nichts - schließlich hatte ich nur die Szene bei Tisch mitbekommen.

Richie war offensichtlich erleichtert. »Okay. Ich wollte nur, dass ihr es wisst. Dad hat mir gerade gesagt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, so wie ich ihn verstanden habe, wohl hauptsächlich mit Janosch. Luke, ich hoffe du weißt, dass ich ihn niemals anrühren würde?« Ich nickte. »Schon klar, darüber machen wir uns auch keine Gedanken - ich denke, ich kann für Janosch mitsprechen. Und Dein Spruch gerade eben war ... naja, unpassend, aber schließlich wusstest du das nicht. Ich würde es auch gern erst mal dabei belassen, wenn es dir Recht ist, okay?« »Okay. Nur eins noch: Wenn ihr jemanden braucht, egal wofür, sagt einfach Bescheid.« »Machen wir, Danke.«

»Luke, Janosch, kommt ihr? Roland ist da«, rief Rip. Ich zuckte die Schultern und grinste ein wenig. »Du hast es gehört - der große Boss ruft.« Richie zog mit gespielter Hochachtung die Augenbrauen hoch. »Den sollte man nicht warten lassen. Wir gehen jetzt jedenfalls erst mal eine Runde mit Rinty 'raus.« »Viel Spaß, und flirtet nicht zu viel - das ist unanständig.« Lachend trennten wir uns. Ich war froh darüber, mal einen kurzen Moment von all dem abgelenkt gewesen zu sein, und hoffte darauf, dass wir das auch mit Janosch schaffen würden - ihn wenigstens mal für ein paar Minuten von seinen Problemen ablenken.

Roland stand schon ihm Büro. »Hallo, Luke. Kommt Janosch auch?« Ich nickte. »Ja, hoffe ich zumindest - er ist nur noch mal schnell dahin gegangen, wo auch der Kaiser nur alleine hingeht.« Roland grinste. »Alles klar. Ist aber vielleicht auch ganz gut, wenn wir drei kurz allein miteinander reden können. Ich denke, wir müssen jetzt erst mal eure Mutter informieren.« Ich nickte. »Ja, und das dürfte ein hartes Stück Arbeit werden.« »Wieso?«, fragte Roland. »Weil sie und Dad eigentlich eine ziemlich glückliche Ehe führen, abgesehen von meinen ewigen Streitereien mit Dad wegen Janosch verstehen sie sich prächtig.« »Was für Streitereien?«, hakte Roland gleich nach.

Ich erzählte ihm kurz, wie solche Gespräche in der Regel abliefen - Dad bevorzugte mich oder benachteiligte Janosch, ich versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, und Mum bat uns irgendwann, dass wir uns einigen sollten - meist dahin gehend, dass ich meinen Kopf doch durchsetzte oder Dad das, worum es gerade ging, ganz fallen ließ. Rip und Roland hörten schweigend zu. »Wie lange geht das schon so?« Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Fünf oder sechs Jahre bestimmt schon.« Roland nickte und machte sich ein paar Notizen. Ich sah, dass er mittlerweile eine Akte für Janosch angelegt hatte.

Der kam in diesem Moment herein. »Hallo.« »Hallo, Janosch. Na, wie geht's dir heute.« »Hm.« Er zuckte die Schultern und sagte dann: »Jedenfalls besser als gestern.« Roland lächelte. »Na, immerhin etwas. Komm, setz' dich. Ich hab' nämlich noch ein paar Fragen an dich.« Die beiden setzten sich aufs Sofa, und ich sah, dass Janosch sich konzentrierte - er versuchte offensichtlich, Rolands Fragen so genau wie möglich zu beantworten. »Luke, wir haben für euch um Elf einen Termin mit der Kripo vereinbart, Roland wird mit euch dahin fahren. Ich werde währenddessen mit eurer Mum sprechen, in der Hoffnung, dass sie mir glaubt.« »Darüber habe ich auch schon nachgedacht.« »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Ich denke, wenn sie dir wirklich nicht glaubt, müssen wir ihr wohl das Video zeigen.« Rip sah mich an. »Das klingt so, als ob da noch ein 'aber' hinterherkäme?« Ich nickte. »Ja. Janosch will nicht, dass noch irgendjemand das Video sieht.« Rip nickte. »Kann ich verstehen, aber das wird sich sowieso nicht umgehen lassen. Zumindest Roland und die Staatsanwaltschaft müssen sich das Band ansehen, außerdem der Richter. Die Polizei vielleicht nicht unbedingt - wenn wir es geschickt anstellen, müssen wir es erst dem Staatsanwalt übergeben, wenn der eingeschaltet ist.« »Okay.«

Wir setzten uns zu Roland und Janosch. Roland sah Rip fragend an, und der nickte nur. Roland wandte sich an Janosch. »Janosch, wir haben für elf Uhr einen Termin mit der Polizei vereinbart. Wenn du willst, fahre ich dort mit euch zusammen hin.« Janosch war davon gar nicht begeistert, nickte dann aber. »Okay.« Ich setzte mich zu Janosch. »Hey, kleiner Bruder, vergiss' nicht, dass ich bei dir bin, und wenn es geht, werde ich auch dabei sein, wenn du Deine Aussage machst.« Roland nickte: »Kein Problem. Offiziell geht das zwar nicht, aber ich kenne die beiden Beamten wie gesagt recht gut, und ich denke, da wird man einiges machen können.«

Ich räusperte mich. »Janosch, da ist noch was. Rip wird gleich mit Mum sprechen. Aber vielleicht muss er ihr das Video zeigen.« Ich spürte, dass Janosch sich versteifte. »Muss das sein?« Ich nickte. »Vielleicht nicht, aber schau' mal: Mum liebt Dad. Sie weiß nichts von der ganzen Sache. Und wie ich sie kenne, wird sie Rip nicht glauben, wenn er keine Beweise hat. Vor allem, wenn wir nicht dabei sind.« Janosch dachte eine Weile darüber nach, nickte dann aber. »Okay, dann ... dann zeigt ihr das Band.« Ich umarmte ihn. »Hey, ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Roland und Rip einen anerkennenden Blick austauschten.

»Okay, dann sollten wir aufbrechen«, schlug Roland vor. »Rip, rufst du dann bitte die Mutter an?« Rip nickte und wandte sich dann an mich. »Luke, wo ist das Video?« »Das liegt noch unten im Auto, ich geb's dir gleich.« Wir gingen alle zusammen nach unten, ich gab Rip das Video, und dann fuhren wir mit Roland zusammen zur Kriminalpolizei. Janosch war sichtlich unwohl bei der ganzen Sache. »Luke, muss das wirklich sein?« Ich nickte. »Ja. Wenn wir irgendetwas gegen Dad unternehmen wollen, dann müssen wir das hier durchziehen. Und ich denke, wir haben die beste Unterstützung, die man haben kann.«

Ein paar Minuten später waren wir bei der Polizei eingetroffen. Roland war dort schon bekannt und wurde von den Beamten begrüßt, es wurden ein paar persönliche Worte gewechselt. Dann sagte einer der Polizisten: »Geh' ruhig hoch, die Kollegen warten schon auf euch.« Roland nickte und nahm uns dann mit nach oben. Wir wurden den Beamten kurz vorgestellt, und dann begannen Janosch und ich mit unseren Aussagen.


Ripley: Donnerstag Vormittag, 10:30 Uhr

Ich ging wieder in mein Büro und setzte mich an den Schreibtisch, das Video hatte ich noch in der Hand. So richtig glauben konnte ich immer noch nicht, was hier gerade passierte. Andererseits hatte ich es schon viel zu oft erlebt - meistens dann, wenn die Kids zu mir in die Praxis kamen, mit ausgeschlagenen Zähnen, manchmal sogar mit einem gebrochenen Kiefer oder noch schlimmeren Verletzungen. Allerdings waren das körperliche Wunden, die wieder heilen würden. Die seelischen Schäden waren meist viel größer. Bei Janosch kam noch mit dazu, dass Jochen ihn nie wirklich wie seinen Sohn behandelt hatte.

Ich machte mir selbst Vorwürfe. Ich kannte Janosch mittlerweile lange genug und hatte auch oft genug mit missbrauchten oder misshandelten Kindern zu tun gehabt, sodass mir die Veränderungen von Janosch eigentlich genug hätten sagen müssen. Und jetzt, in diesem Moment, wusste ich nicht, warum ich nicht reagiert hatte. Vielleicht auch deshalb, weil Luke mir immer wieder bestätigt hatte, dass im Großen und Ganzen alles in Ordnung war - er nahm die Versprechen, die er Janosch gegeben hatte, sehr ernst. Ich war froh, dass Luke dabei war. Er war für Janosch in seiner jetzigen Situation der beste Ansprechpartner, den er sich wünschen konnte. Ähnlich wie Richie damals für Jason da war, aber hier noch viel intensiver - das zeigte mir einmal mehr, dass nichts ein festes Band zwischen zwei Brüdern zerreißen konnte.

Ich schüttelte kurz den Kopf, um ihn wieder klar zubekommen, griff dann zum Telefon und wählte die Nummer der Reillys. »Reilly und Hellmann«, meldete sich Lynn nach dem zweiten Klingeln. »Hallo Lynn, hier ist Rip.« »Rip? Ist was mit den Jungs?« Sofort klang sie besorgt. Ich überlegte - sollte ich hier ansetzen oder sie erst einmal beruhigen? Ich entschied mich für letzteres. »Nein, keine Sorge - es ist alles in Ordnung. Ist Jochen da?« »Nein, der ist schon im Büro, da müsstest du ihn erreichen können. Ist es wichtig?« »Nein, im Gegenteil. Ich müsste mal in Ruhe mit dir reden, könntest du eventuell bei mir vorbeikommen?« »Jetzt? Eigentlich muss ich gleich auch ins Büro.« »Es wäre schon gut, wenn du so schnell wie möglich kommen könntest. Hast du einen wichtigen Termin?« »Nein, nur die Redaktionssitzung, aber die Kollegen kommen auch ohne mich aus.«

Ich hoffte insgeheim, dass das nicht nur für heute galt - in den nächsten Wochen würde Janosch seine Mutter dringender brauchen denn je. »Okay, dann setz' dich ins Auto und komm' her, ich bin Zuhause.« bat ich sie. »Willst du mir nicht wenigstens sagen, worum es geht? Hat einer von den Jungs etwas angestellt?«, fragte sie, doch wieder etwas besorgter. »Nein, mach' dir keine Sorgen, die Jungs sind absolut unschuldig. Ich erklär' dir das gleich hier in Ruhe.« Das ganze am Telefon zu erklären schied für mich aus zwei Gründen aus: erstens war ein persönliches Gespräch überzeugender, und zweitens - wenn sie mir glaubte - wäre sie anschließend wohl kaum noch in der Lage, Auto zu fahren, bis sie den Schock erst mal verdaut hatte. »Okay, ich bin in einer halben Stunde da. Bis dann.«

Lynn kam pünktlich auf die Minute. Wir begrüßten uns und setzten uns dann auf die Couch. »Okay, das Gespräch wird nicht ganz einfach werden. Lynn, ich möchte ein paar Worte vorneweg sagen. Du wirst gleich wahrscheinlich ziemlich schockiert sein, das ist mir klar. Aber glaub' mir eins: Wenn ich mir nicht hundertprozentig sicher wäre, was ich sage, dann würde ich es nicht tun. Ich weiß, was sich nach diesem Gespräch verändern kann, und ich kann dich nur bitten, dass du mir glaubst. Und wenn du mir nicht glaubst, dann warte bitte, bis die Jungs wieder da sind.« Lynn sah mich mit einem Blick an, der eine Mischung aus Neugier, Besorgnis und Skepsis war. »Wo sind die Jungs überhaupt?«, fragte sie. Okay, dann wurde das eben der Einstieg.

»Sie sind mit einem Rechtsanwalt bei der Polizei und erstatten Anzeige gegen Jochen.« Lynn fiel nicht nur die Kinnlade herunter, sondern auch die Kaffeetasse aus der Hand. »WIE BITTE?« Das Temperament der Reillys - das hatte ich ja gestern bei Janosch und Luke auch schon erlebt. »Beruhige dich bitte.« »Ich soll mich beruhigen? Du sitzt hier und erzählst mir in aller Seelenruhe, dass meine beiden Söhne bei der Polizei sind und Anzeige gegen ihren eigenen Vater erstatten, und ICH SOLL MICH BERUHIGEN????« Ich versuchte, ruhig zu bleiben. »Wenn du mich bitte mal ein paar Sätze weiterreden lassen würdest, dann würde ich dir das ganze ja erklären.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Rip, beim besten Willen nicht. Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen.«

Ich atmete tief durch. »Okay, Lynn, ich mache dir folgendes Angebot: Du hörst mir fünf Minuten lang zu. Von mir aus kannst du die Zeit mitstoppen. Wenn du dann immer noch nicht überzeugt bist, dann geh' von mir aus zur Polizei und erstatte Anzeige gegen mich wegen Verleumdung ...« - was sowieso keinen Sinn hatte, da es keine Zeugen gab - » ... oder mach' sonst was. Aber hör' mir bitte zu. Um Janoschs Willen.« Statt einer Antwort stand sie auf. »Meine Kinder gegen mich zu benutzen ... Rip, das hätte ich dir beim besten Willen nicht zugetraut.« Sie nahm ihre Tasche und machte Anstalten, aus dem Zimmer zu gehen. Dann eben auf dem brutalen Weg. »Jochen hat Janosch mehrfach vergewaltigt und misshandelt.«

Ihre Hand, die gerade auf dem Weg zur Türklinke war, blieb mitten in der Luft hängen. Ungefähr zehn Sekunden lang stand Lynn still wie eine Salzsäule, dann drehte sie sich langsam zu mir um. »Sieh' mir in die Augen und sag' mir das bitte noch einmal.« Ich stand auf, stellte mich eine Armlänge entfernt vor sie hin, sah ihr in die Augen und sagte dann: »Dein Mann Jochen hat euren Sohn Janosch mehrfach vergewaltigt und misshandelt.« Langsam ließ sie sich wieder aufs Sofa sinken. Dann sagte sie leise: »Das ... das kann doch unmöglich dein Ernst sein.« Ich nickte. »Doch, ist es leider.«

Eine Weile schwiegen wir. Ich wollte ihr erst einmal die Zeit geben, den Schock zu verdauen. Schließlich fragte sie mich: »Woher weißt du das?« »Luke und Janosch sind gestern zu mir gekommen und haben mir das ganze erzählt. Luke hat zufällig mitbekommen, dass Jochen Janosch zweihundert Mark zugesteckt hat, mit dem Hinweis, er sollte niemandem etwas von ihrem kleinen Geheimnis erzählen. Luke hat bei Janosch nachgehakt, und der hat ihm das Ganze schließlich erzählt. Lynn, ich habe Janosch hier gestern erlebt - der Kleine stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.« Sie versuchte krampfhaft, ihre Fassung zurückzugewinnen, was ihr allerdings nicht gelang.

»Habt ... habt ihr irgendwelche Beweise?« Ich nickte. »Beim letzten Mal hat Jochen wohl Zigarettenkippen dazugenommen, jedenfalls hat Janosch eine ganze Menge Brandmale auf dem Körper. Außerdem hat Jochen diese Schweinereien wohl mehrfach gefilmt. Luke hat mir eine von den Kassetten gegeben, ich habe sie allerdings noch nicht gesehen.« Statt einer Antwort schlug sie nur die Hände vors Gesicht. Leise hörte: »Das hätte ich ihm nie zugetraut ...« Ich ließ sie ein paar Minuten allein, damit sie den Schock verdauen konnte. Ich wusste nicht, wie ich an ihrer Stelle reagiert hätte - meine Frau und ich waren seit fünfzehn Jahren geschieden, von daher stellte sich mir die Frage in der Form nicht - aber ich wusste, dass Lynn und Jochen bis dahin glücklich verheiratet gewesen waren, und ich wusste auch, dass Lynn ihn immer noch liebte.

Schließlich sagte ich: »Ich konnte es ja selbst erst nicht glauben, Lynn.« Ich stand auf und ging zu meinem Schreibtisch. Normalerweise war ich kein Freund von Alkohol, erst recht nicht in solchen Situationen, aber ein kleiner Schluck zur Beruhigung der Nerven würde Lynn jetzt gut tun. Ich schenkte ihr einen kleinen Whisky ein, stellte das Glas vor sie hin und setzte mich dann ebenfalls wieder. »Danke.« Sie nahm das Glas und leerte es in einem Zug. »Kann ich das Band sehen?« Ich deutete mit dem Kopf auf meinen Schreibtisch. »Es liegt dort drüben. Ich muss dir allerdings gleich dazusagen, dass Janosch von der Idee nicht begeistert war, dir das Band zu zeigen.« »Wieso nicht?«, fragte sie. »Überleg' doch mal ... versuch' mal, dich einen Moment in Janosch hineinzuversetzen, und was in ihm vorgeht. Ihm ist das Ganze total peinlich. Und wenn Luke nicht so energisch nachgefragt hätte, wüssten wir wahrscheinlich immer noch nichts.«

Lynn nickte. Dann fügte ich hinzu: »Roland hat das Band auch noch nicht gesehen. Ich würde vorschlagen, dass wir zumindest warten, bis er wieder da ist.« »Wer ist Roland?« »Ach so ... sorry. Roland Westermann ist Rechtsanwalt und ein guter Freund von mir. Sein Fachgebiet ist Familienrecht, er hat sich in den letzten Jahren fast nur mit Fällen von sexuell missbrauchten Kindern beschäftigt. Luke hat ihn übrigens gestern Morgen auf seinem Katastrophenflug schon kennengelernt.« Lynn sah mich überrascht an. »Etwa sein Sitznachbar?« Ich nickte. »Genau der.« Lynn schüttelte den Kopf. »Das darf doch alles nicht wahr sein ... wie soll es denn jetzt weitergehen?« Ich begann, Lynn alles zu erklären, wie ich es mit Roland besprochen hatte.

Etwa eine Stunde später klingelte das Telefon. »Rip Masters.« »Hallo Rip, Roland hier. Wir sind mit der Polizei durch, ich hab' die Jungs gerade bei Dr. Böttcher abgesetzt.« »Gut, wie ist es gelaufen?« »Recht gut. Janosch hat sich alle Mühe gegeben, sich zusammenzureißen, und alle Fragen so gut er konnte beantwortet. Aber ich denke, wenn Luke nicht dabei gewesen wäre, dann hätte er es nicht so leicht geschafft. Unter uns gesagt, ich weiß nicht, wie lange die beiden das noch durchstehen«, äußerte sich Roland ziemlich besorgt. »Ja, ich weiß.« »Hast du mittlerweile mit der Mutter gesprochen?« »Ja, habe ich.« »Dann gib' sie mir doch bitte mal.« Ich hielt Lynn den Hörer hin und schaltete den Lautsprecher ein. »Hier, Roland möchte kurz mit dir sprechen.«

»Lynn Reilly.« »Roland Westermann, guten Tag, Frau Reilly. Ich denke, Rip hat sie schon informiert?« »Ja, hat er. Sie sind der Anwalt?« »Ja, genau. Frau Reilly, um es kurz und knapp zu sagen: Janosch und Lucas haben mittlerweile Anzeige gegen Ihren Mann erstattet. Theoretisch reicht es aus, wenn Luke dabei ist - er ist volljährig und kann im Ernstfall alle notwendigen Entscheidungen treffen. Es wird nur für uns alle bedeutend einfacher, wenn wir Sie auf unserer Seite wissen. Können wir mit Ihnen rechnen?« »Geht es um die finanzielle Seite? Wir haben eine Rechtschutzversicherung, und ...« Ich konnte mir förmlich vorstellen, wie Roland abwinkte. »Erstens greift eine Rechtschutzversicherung sowieso nicht bei innerfamiliären Streitigkeiten, und zweitens ist das Geld wirklich das allerletzte, was mich momentan interessiert. Es geht mir erst mal darum, dass Janosch geholfen wird. Dazu gehört auch, dass er nicht in die Gefahr gerät, Ihrem Mann noch einmal über den Weg zu laufen.«

Lynn atmete tief durch. »Herr Westermann, für mich ist das ganze auch nicht einfach. Ich bin seit sechzehn Jahren mit Jochen verheiratet, das wirft man nicht einfach so über Bord.« »Ja, ich weiß, dass das auch für Sie nicht leicht ist. Aber ich bitte Sie, denken Sie erst mal an Janosch. Er ist gerade erst vierzehn. Ich habe lange genug mit Jungs wie ihm zu tun, um mir vorstellen zu können, was Ihr Mann da angerichtet hat, und auch eine Situation wie Ihre ist mir nicht neu - dass die anderen Familienmitglieder überhaupt nichts ahnen, bis schließlich der große Knall kommt. Hat Rip Ihnen von den Videos erzählt?« »Ja, aber ich habe sie noch nicht gesehen.« Ich mischte mich ein. »Lynn, bitte tu' Janosch den Gefallen und hör' auf Roland. Das Ganze ist zwar nicht wiedergutzumachen, aber zumindest können wir Janosch die ganze Sache jetzt ein bisschen leichter machen. Aber dafür brauchen wir dich.«

Lynn nickte erneut. »Okay. Rip, ich denke, ich kenne dich lange genug, um zu wissen, was du tust, und dass du die richtigen Leute einschaltest. Herr Westermann, ich erteile Ihnen hiermit volle Handlungsvollmacht. Ich werde das hier bei Ripley gleich schriftlich festhalten. Hauptsache, wir können etwas für Janosch tun.« Auf diesen Satz hatte ich gewartet, seit Luke mir von all dem berichtet hatte - 'wir können etwas tun' aus dem Mund von Lynn. Jetzt war ich mir sicher, dass sie dabei war. »Okay. Dann fahre ich direkt weiter zum Vormundschaftsgericht und hole auf dem Rückweg Janosch und Luke ab. Wir kommen dann direkt bei Rip vorbei. Bis nachher.« Es klickte, und dann hatte Roland aufgelegt. Lynn sah mich an. »Rip, du weißt, dass ich normalerweise kein religiöser Mensch bin. Aber diesmal kann ich wirklich nur beten, dass alles wieder in Ordnung kommt.« Ich nickte. »Das wird es, Lynn, das wird es. Das habe ich Janosch und Luke versprochen, und das verspreche ich auch dir. Gemeinsam werden wir das schaffen, und ich werde euch helfen, wo ich nur kann.«


Luke: Donnerstag Nachmittag, 14:45 Uhr

Wir standen draußen vor der Praxis von Dr. Böttcher. Er hatte Janosch gründlich untersucht, und seiner Reaktion konnte ich entnehmen, dass er so etwas nicht zum ersten Mal sah. Nach der Untersuchung hatte er uns noch für ein paar Minuten ins Wartezimmer geschickt und mir dann einen Briefumschlag in die Hand gedrückt, der an Roland adressiert war. »Gib' das bitte an Dr. Westermann weiter, und sag' ihm, wenn noch Fragen sind, kann er mich wie immer jederzeit anrufen.« Bei der Gelegenheit fiel mir auf, dass seit wir Rip eingeschaltet hatten alles lief wie ein Schweizer Uhrwerk. Noch vor vierundzwanzig Stunden stand so viel in den Sternen, und jetzt ging alles wie am Schnürchen weiter.

Janosch tippte mir auf die Schulter. »Luke, hast du 'ne Zigarette für mich?« Ich gab ihm die Schachtel und mein Feuerzeug, fügte dann aber doch hinzu: »Pass' auf, dass du dir das nicht dauerhaft angewöhnst, Kleiner.« »Wieso, du rauchst doch auch?« Ich nickte. »Ja. Aber wenn ich vom Fernsehturm springen würde, würdest du dann hinterherspringen?« Janosch grinste. »Kommt drauf an - wenn du schon unten angekommen wärst und ich weich landen würde, warum nicht?« Ich schüttelte den Kopf. »Und so einer ist mein Bruder«, sagte ich lachend. »Na klar. Einer allein kann doch gar nicht so abgefahren sein wie du.« Ich knuffte ihn in die Rippen. »Du, pass' auf ...« Ich hatte wohl eine ungünstige Stelle getroffen - jedenfalls sah ich, dass in seinen Augen der Schmerz aufblitzte und sein Lachen schlagartig erstarb. »Sorry, tut mir leid.«

»Schon okay, ist ja nicht deine Schuld«, sagte er leise, dann wandte er sich ab. Mist, das hatte eindeutig ich verbockt. »Janosch, ich ...«, fing ich an, aber er unterbrach mich. »Nein, Luke. Ist schon in Ordnung. Ich hätte dir da gar nichts davon erzählen dürfen, es ist sowieso alles meine Schuld. Wenn Mama und Papa sich jetzt auch noch trennen, dann ...« Ich sah, dass seine Schultern zitterten. Ich ging an ihm vorbei und hockte mich vor ihm hin - ihm von hinten die Hand auf die Schulter zu legen wäre wahrscheinlich so ziemlich das Verkehrteste gewesen, was ich machen konnte.

Ich sah ihm in die Augen. »Janosch, bitte - sag' so etwas nie wieder. Der Einzige, der hier etwas verbrochen hat, ist Dad - aber bestimmt nicht du. Du kannst nichts dafür, Janosch.« Er erwiderte meinen Blick, mit einer Mischung aus Trauer und Ungläubigkeit. Allein dieser Blick reichte auch, um meine Wut auf Dad wieder für eine Weile zu schüren. »Und, Janosch ... wenn Mum und Dad sich wirklich trennen, dann wird Dad sich nie wieder an dir vergreifen können. Jetzt kommt er erst mal ins Gefängnis, und bis er da wieder 'raus ist, wer weiß, wo wir dann sind ... vielleicht ziehen wir mit Mum nach Dublin. Dann können wir Granny und Grams öfter besuchen. Oder wir bleiben hier und bauen uns etwas Eigenes auf, zusammen mit Mum. Wir brauchen Dad nicht dafür. Was er dir angetan hat, ist mit nichts in der Welt, aber auch gar nichts, zu entschuldigen.«

Janosch schien mir zwar zu glauben, aber trotzdem fing er wieder an zu weinen. Ich erhob mich und nahm ihn in den Arm. Er schluchzte nur noch lauter. Plötzlich tippte mir von hinten jemand auf die Schulter. »He, lass' gefälligst den Jungen los.« Ich war so überrascht, dass ich Janosch tatsächlich losließ und mich umdrehte. Hinter mir stand ein älterer Mann, ich schätzte ihn so auf Anfang siebzig. Er griff nach meinem Arm und versuchte, mich von Janosch wegzuziehen. »Moment mal, das ist mein Bruder!«, sagte ich. Er sah mich mit funkelnden Augen an. »So? Das wollen wir doch mal sehen. He, Kleiner!«, meinte er, zu Janosch gewandt.

Der war genauso überrascht wie ich und trocknete sich erst mal die Augen ab. »Wollte der Kerl hier irgend was von dir?« »Luke? Nein. Das ist mein Bruder, aber das hat er doch schon gesagt.« »So? Na ja ... bei der Jugend von heute weiß man ja nie ... schönen Tag noch.« Er ging an uns vorbei, ohne sich noch mal umzudrehen. Uns beiden kam das Ganze vor wie eine schlechte Komödie. Monatelang war Janosch allein gewesen mit seiner Angst und seinem Schmerz, und jetzt, wo das schlimmste überstanden war, zeigte plötzlich jemand Zivilcourage.

In diesem Moment kam Rolands Wagen vorgefahren. »Okay, Jungs, da bin ich. Sorry, es hat etwas länger gedauert, aber ich habe gute Nachrichten. Steigt erst mal ein.« Wir setzten uns in den Wagen, und Roland fuhr ohne Umwege zu Rip. »So, ich habe in der Zwischenzeit einiges erreicht. Zunächst mal, Rip hat mit eurer Mutter gesprochen. Sie steht voll hinter euch beiden.« Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, und ich denke, Janosch ging es nicht anders. »Okay, und das ist nicht die einzige gute Nachricht. Ich war gerade beim Vormundschaftsgericht. Vorläufig hat eure Mutter das alleinige Sorgerecht für dich, Janosch - Luke, du bist schon volljährig und somit überhaupt nicht davon betroffen. Außerdem hat euer Vater ab sofort Hausverbot. Er wird heute Nachmittag noch mal vorbeikommen und seine Sachen abholen, dann wird aber die Polizei dabei sein.«

Bis Janosch und ich das alles kapiert hatten und Roland uns noch einiges erklärt hatte, waren wir bei Rip angekommen. Mum empfing uns, äußerlich zwar gefasst, aber ich kannte sie und wusste, dass sie innerlich entweder kochte oder mit den Nerven am Ende war. Roland erklärte noch einmal, was passiert war. Dabei fiel mir ein, dass ich noch den Umschlag von Dr. Böttcher in der Tasche hatte. »Hier, das soll ich dir geben, mit einem schönen Gruß dazu. Wenn noch Fragen sind, kannst du Dr. Böttcher jederzeit anrufen.« Roland nickte. »Das habe ich auch gar nicht anders erwartet. Hier, Frau Reilly, das können Sie sich gleich mal ansehen.« Mum nahm den Umschlag, öffnete ihn und besah sich den Inhalt. Neben einem offiziellen Anschreiben war der Rest wohl ein Gutachten, vermutete ich jedenfalls. Dr. Böttcher hatte Luke eingehend untersucht und sich eine ganze Menge Notizen gemacht.

Mum legte das Schreiben aus der Hand und sah dann Janosch an. »Dürfte ich mir das auch mal kurz ansehen?« Janosch nickte wortlos und zog dann sein T-Shirt aus. Ich hatte mich mittlerweile schon fast an den Anblick gewöhnt, es tat trotzdem noch weh. Mum, Rip und Roland sahen Janoschs Verletzungen zum ersten Mal - und die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Rip wandte sich mit einem Blick ab, als wenn er sich gleich übergeben müsste. Roland zuckte bei dem Anblick sichtlich zusammen, sah aber im Wesentlichen aus, als sei es das, was er erwartet hatte. Und Mum ... sie verlor endgültig die Fassung. Statt etwas zu sagen, stand sie wortlos auf und griff nach ihrer Jacke und ihrer Handtasche.

»Lynn, stopp mal! Wo willst du hin?«, fragte Rip, während er nach ihrem Arm griff. »Zu Jochen ins Büro«, zischte sie. Rip schüttelte den Kopf. »Gar keine gute Idee. Es ist nicht so, dass ich dich nicht verstehen könnte, aber wenn du das jetzt machst, dann könnte Roland auf die Idee kommen, Anzeige gegen Dich zu erstatten wegen Körperverletzung oder was auch immer.« Statt einer Antwort legte sie wortlos die Tasche wieder aus der Hand. »Ist wohl wirklich besser. Aber ich würde ihn am liebsten mit bloßen Händen erwürgen, Rip, das kannst du dir vielleicht vorstellen.« Ich nickte. »Ja, das kann ich. Aber damit ist keinem von uns geholfen.«

In diesem Moment klopfte es, und noch bevor einer von uns reagieren konnte, stand Jason in der Tür. »Äh, Rip ... oh, shit!« Janosch versuchte zwar noch schnell, sich sein T-Shirt zu schnappen, aber da er mitten im Raum stand, hatte Jason sowieso schon alles gesehen, was er sehen musste. »Sorry, ich komm' später noch mal wieder.« sagte er, drehte sich um und ging wieder 'raus. »Jason, warte mal!«, rief Rip ihn zurück. »Ja?« Rip ging zu ihm. »Erzähl' den anderen bitte erst mal nichts davon, okay? Janosch möchte nicht unbedingt, dass gleich alle Bescheid wissen.« »Okay. Ist es das, was ich vermute?« Rip nickte. »Ja, leider.« »Wenn ihr noch jemanden braucht ... sagt einfach Bescheid, egal was ist«, sagte Jason, warf noch einen Blick in Janoschs Richtung und ging dann wieder aus dem Zimmer.

Lesemodus deaktivieren (?)