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Little Lies

Teil 3

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Inhaltsverzeichnis

Luke: Donnerstag Nachmittag, 15:52 Uhr

Rip schloss die Tür von innen. Doch bevor noch jemand etwas sagen konnte, klingelte irgendwo ein Handy - Roland griff in die Tasche, es war seins. »Westermann. - Ja, vielen Dank. - Nein, noch nicht, können wir aber machen. - Bitte? - Ja, okay. 16:30 Uhr ist zu schaffen. - Gut, danke. Bis nachher, Herr Matthies.« Roland steckte sein Telefon wieder in die Tasche, dann wandte er sich an uns. »Das war die Schutzpolizei - um halb fünf kommt Jochen in Begleitung von zwei Polizisten vorbei und holt seine Klamotten ab. Frau Reilly, Sie sollten dabei sein.« Rip sah erst Roland an und dann Janosch und mich. Roland nahm ihn beiseite, ich konnte nicht verstehen, was die beiden sagten.»

Dann wandten sie sich wieder zu uns um. »Okay, Leute, ihr fahrt jetzt los. Rip und ich kommen gleich nach, ich fahre noch mal schnell in die Kanzlei. Wir sehen uns um spätestens zwanzig nach vier bei eurem Haus.« Janosch, Mum und ich standen auf. Mum drehte sich zu uns um. »Seid ihr sicher, dass ihr mitfahren wollt?«, frage sie. Wir nickten beide. »Ja. Janosch braucht noch ein paar Klamotten und will sichergehen, dass nichts passiert und Dad nicht heimlich versucht, die anderen Videos mitgehen zu lassen.« Mum war offensichtlich zu erschöpft, um uns zu widersprechen, auf jeden Fall nahm sie uns kommentarlos mit nach unten. Ich startete den Wagen, und dann fuhren wir nach Hause.

Um kurz vor halb fünf kam auch Rip an. »Sorry, ich hab' mich ein bisschen verspätet - ich musste noch kurz mit Jason reden.« Wir nickten. Noch während wir in der Tür standen, kam ein Polizeiwagen vorgefahren. »Okay - Luke, Janosch, ab nach oben, das hier regeln wir. Ich denke, es ist besser, wenn Ihr beide nicht dabei seid.« »Aber ...«, wollte Janosch ihm widersprechen. »Keine Widerrede, ihr habt gehört, was Rip gesagt hat.«, mischte sich Mum ins Gespräch ein. Einer der Beamten stieg aus dem Wagen und kam dann den Weg zum Haus hinauf. Ich sah, dass Dad auf dem Rücksitz des Wagens saß.


Ripley: Donnerstag Nachmittag, 16:27 Uhr

»Janosch, du wolltest noch ein paar Sachen zusammenpacken? Luke, hilf ihm doch einfach mal.« sagte Lynn zu den Jungs, und schließlich verschwanden sie tatsächlich. Ich hatte Jochen schon zwei- oder dreimal richtig wütend erlebt und wollte nicht, dass die Jungs das mitbekamen - wobei das bei Janosch wohl schon mehr als einmal der Fall gewesen war. Der Beamte, der ausgestiegen war, kam auf uns zu und sprach uns dann mit einem breiten Hamburger Slang an. »Moin, Polizei Hamburg, Matthies mein Name. Ist Herr Westermann schon da?« Wir schüttelten beide den Kopf. »Nein, aber der müsste jeden Moment kommen«, sagte ich. »Und wer sind Sie?« »Ripley Masters, ich bin ein Freund der Familie.« Matthies nickte. »In Ordnung, Herr Westermann hatte Sie schon erwähnt. Und Sie sind die Mutter, nehme ich an?« Lynn nickte. »Ja, Lynn Reilly ist mein Name.«

Es wurden ein paar Hände geschüttelt, dann fuhr Matthies, ganz Polizist, mit seinem Feuerwerk an Fragen fort. »Wo sind die Jungs?« »Wir haben sie nach oben geschickt, sie müssen das hier nicht unbedingt miterleben.« Matthies zuckte mit den Schultern. »Allzu viel mitzuerleben wird es hier hoffentlich nicht geben. Wir sind nur für den Fall der Fälle dabei.« Lynn nickte, aber sie wirkte keineswegs beruhigt. »Wie hat mein ... mein Mann reagiert, als sie ihn festgenommen haben?« »Wir haben ihn nicht festgenommen, sondern begleiten ihn nur. Aber ansonsten war er ... na ja, sehr überrascht eben.« Hatte es da etwa schon Probleme gegeben? Ich versuchte, aus Matthies' Gesichtsausdruck etwas abzulesen, aber da war nichts, was mir Aufschluss darüber gab.

In diesem Moment kam auch Roland vorgefahren. »Hallo zusammen, hallo Herr Matthies.« Die beiden schüttelten sich die Hand - sie kannten sich schon länger, das wusste ich aus Rolands Erzählungen. »Gut, dann sollten wir das ganze so schnell wie möglich über die Bühne bringen.« Matthies winkte in Richtung des Streifenwagens, seine Kollegin stieg aus und öffnete dann die hintere Tür. Jochen stieg aus dem Wagen, aber bevor er sich uns nähern konnte, legte die Polizistin eine Hand auf seine Schulter. Langsam kamen beide zu uns.

»Rip, gut dass du da bist. Du kannst dieses Missverständnis hier doch bestimmt aufklären?« Ich runzelte die Stirn. »Welches Missverständnis?«, fragte ich. »Na, dass ich hier festgehalten werde.« »Ich denke nicht, dass da ein Missverständnis vorliegt, Jochen.« erwiderte ich kühl. »Ich denke, du weißt, was du Janosch angetan hast, und das Einzige, was mir wirklich leid tut, ist die Tatsache, dass Janosch nicht viel eher den Mut hatte, uns zu sagen was los ist. Das hätte ihm und auch dem Rest deiner Familie verdammt viel erspart. Zum Beispiel das hier. Ansonsten hast du Glück, dass du hier in polizeilicher Begleitung erschienen bist.« Matthies warf mir einen warnenden Blick zu, und ich beschloss, erst mal lieber den Mund zu halten.

»Kommen Sie, Herr Hellmann, wir wollen das ganze hier nicht länger hinziehen als nötig«, sagte Matthies dann, übernahm Jochen und folgte Lynn mit ihm ins Haus. Die Polizistin, die dabei war, schüttelte nur den Kopf. »Wenn doch nur einer endlich mal einsehen würde, dass wir nur dann eingreifen, wenn es notwendig ist, aber nein, alle sind ja erst mal unschuldig. Na ja ...« Roland wollte wohl gerade bemerken, dass trotz aller Anschuldigungen jeder bis zum Beweis des Gegenteils unschuldig war, aber das erschien mir nicht der richtige Zeitpunkt. »Sie beide arbeiten auch schon länger zusammen, wie?« fragte ich die Polizistin statt dessen. »Ja, ich bin seit fünf Jahren mit dem Kollegen Matthies auf Streife.« Sie hielt mir die Hand hin. »Ellen Wegener, und Sie sind ...?«, fragte sie mich. »Ripley Masters. Ich bin ein Freund der Familie.« »Ach, deshalb hat Herr Hellmann sich gerade an sie gewandt.«

Ich nickte. »Ja. Er war mein Investment-Berater bei der Bank. Und mein Sohn hat irgendwann mal Janosch und Lukas kennengelernt, so ist im Laufe der Zeit zwischen den Kindern eine recht enge Freundschaft entstanden.« »Wenn ich das vorhin alles richtig verstanden habe, dann haben sich die beiden zunächst an Sie gewandt und dann erst an Dr. Westermann?«, fragte sie. »Ja, das ist richtig. Ich bin Kieferorthopäde, Janosch ist bei mir in Behandlung und er war gestern sowieso den ganzen Tag bei uns. Abends rief Luke dann noch mal an, ob er und Janosch vorbeikommen könnten, weil sie etwas mit mir zu besprechen hätten. Na ja, und das Ergebnis von diesem Gespräch sehen Sie gerade hier.«

Plötzlich fingen einige Leute gleichzeitig an zu schreien. Am Lautesten hörte ich Jochen: »Das lasse ich mir von dir doch nicht bieten, du Schlampe!«, brüllte er in einer Lautstärke, dass es wahrscheinlich drei Häuser weiter noch zu hören war. Frau Wegener, Roland und ich stolperten fast übereinander, als wir uns beeilten, ins Haus zu kommen. Mindestens ebenso laut wie vorher Jochen war jetzt Herr Matthies zu hören: »Herr Hellmann, beruhigen Sie sich gefälligst!« »WAS PASSIERT SONST?«, schrie Jochen, völlig durchgedreht. »Ich werde hier zum Besten gehalten und muss mich auch noch von meiner eigenen Frau beschimpfen lassen! Das ist doch wohl die Höhe!«

Mittlerweile waren wir am Schauplatz des Geschehens - im Flur - angekommen. Aber nicht nur wir hatten das ganze gehört, was bei der Lautstärke auch verwunderlich gewesen wäre. In diesem Moment kam Luke von der anderen Seite aus dazu. »Ah, mein ältester. Luke, willst du dich etwa auch dieser Lügenbande anschließen?«, fauchte Jochen in seine Richtung. Luke sah ihn einige Sekunden lang nur an und antwortete dann: »Dad, hau' ab. Verschwinde aus dem Haus und lass' uns in Ruhe, ja?« Jochen schnaubte verächtlich. »Das war ja klar, dass du dich von deiner Mutter einwickeln lässt. Alles andere hätte mich auch sehr gewundert.« »Dad, du hast mich anscheinend nicht verstanden. Du sollst uns einfach in ...« Mitten im Satz wurde er von Jochen unterbrochen.

»Aha, da kommt ja auch die Hauptperson. Vielleicht kann Janosch die ganze Sache ja aufklären?« Ehe Luke sich versah, stand Janosch vor ihm und sagte zu Jochen: »Papa, du weißt ganz genau, was passiert ist. Und wenn du so krank bist, dass du das nicht einsiehst, dann kann ich dir auch nicht helfen.« Luke sah, dass Janoschs Schultern zitterten - sein Bruder hatte seinen ganzen Mut zusammengenommen. Und dann sah Luke noch etwas: In den Augen seines Vaters blitzte die Wut auf. Ehe einer der Umstehenden eingreifen konnte, war Jochen einige Schritte vorgetreten und schlug Janosch mit der Faust ins Gesicht. »Ich dachte, ich hätte dir beigebracht, nicht zu lügen. Aber da hat wohl mal wieder die Erziehung deiner Mutter versagt.«


Luke: Donnerstag Nachmittag, 16:36 Uhr

Janosch schrie vor Schmerz auf und schlug seine Hand vor den Mund. Als er sie wieder herunternahm, war sie blutverschmiert. Mehr brauchte ich nicht zu sehen. Ich stürzte mich auf meinen Vater und schlug blindlings auf ihn ein. Dabei schrie ich: »Wage es nie wieder, auch nur eine Hand an Janosch zu legen, sonst bringe ich dich mit bloßen Händen um, du Schwein!« Im ersten Moment reagierte keiner - Rip sagte später, sie alle waren vor Überraschung wie gelähmt, und keiner von ihnen war in der Lage gewesen, einzugreifen. Roland trat schließlich als Erster vor. »Lukas, lass' ihn in Ruhe und mach' dir an ihm nicht die Finger schmutzig.« Rip ging mit dazwischen, und mit aller Kraft schafften sie es, mich von meinem Vater loszureißen. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Mum Janosch beiseite nahm.

Rip und Roland schafften es mit Mühe, mich festzuhalten. Doch jetzt drehte Dad richtig durch. Gerade eben hatte er nur dagestanden und so gut wie möglich versucht, sich zu schützen, doch in diesem Moment stand er unbeobachtet. Ellen Wegener hatte sich ebenfalls Mum und Janosch zugewandt, und ehe Matthies reagieren konnte, versuchte Dad, sich bei mir zu revanchieren. »So weit kommt das noch, dass ich von meinem eigenen Sohn verprügelt ...« Er kam auf mich zugestürzt, doch diesmal reagierte Rip als erster. »Bleib' wo du bist!«, fauchte er mich an und wandte sich dann Dad zu. Er packte ihn am Kragen. »Jochen Hellmann, wenn dir dein Leben lieb ist, dann schaltest du jetzt mal ein paar Gänge zurück, sonst werde ich mich persönlich bei dir für das revanchieren, was du Janosch angetan hast.«

Dad grinste abfällig. »Typisch Rip Masters - wenn er sich in Szene setzen kann, ist er immer dabei. Aber nicht mit mir, mein Lieber. Mit jedem anderen, aber nicht mit mir!« Die letzten Worte waren wieder gebrüllt, und mit einer schnellen Bewegung entwand Dad sich dem Griff von Rip - sein Sakko musste allerdings dran glauben. Bevor Rip reagieren konnte, verpasste er ihm einen Schlag in die Magengrube. Rip keuchte, und in seinen Augen sah ich, dass es jetzt mit seiner Selbstbeherrschung endgültig vorbei war. Dad lief schon wieder in meine Richtung, als Rip einmal zufasste, ihn bei der Schulter packte und herumwirbelte. Was dann folgte, ging so schnell, dass ich nur noch vermuten kann: Rip brachte zwei schnelle und heftige Schläge an - mit der Linken unter Dads Kinn und mit der Rechten in den Magen. Dad versuchte noch einmal, sich zu wehren, aber ein gezielter Tritt von Rip unter die Gürtellinie brachte ihn zum Schweigen. Er krümmte sich vor Schmerzen und sackte dann auf den Boden.

Noch bevor er sich rühren konnte, war Matthies dazugekommen und hatte ihm Handschellen angelegt. »Das ... ich werde dich ... anzeigen ... Körperverletzung«, stieß Dad mühsam hervor. Matthies drehte ihm mit einem harten Griff den Arm auf den Rücken und zog ihn hoch. »Das können sie gern versuchen, aber jeder hier im Raum wird bezeugen, dass es sich um Notwehr gehandelt hat«, sagte er dann. Rip hatte jedoch überhaupt nicht zugehört, sondern war zu Janosch gegangen, um sich dessen Verletzung anzusehen. Matthies packte währenddessen Dad und verfrachtete ihn nach draußen, während er seiner Kollegin zurief: »Ellen, kümmer' du dich bitte darum.«

Rip kniete vor Janosch nieder und besah sich dessen Gesicht. Der Kleine war völlig verstört - Tränen liefen über sein Gesicht und vermischten sich mit dem Blut um seinen Mund und seine Nase herum. Mum war in die Küche gelaufen und hatte ein Handtuch geholt. Roland ließ mich los, und ich ging zu Janosch. »Wie sieht's aus, ist er schlimm verletzt?«, fragte ich Rip. »Das kann ich im Moment noch nicht sagen, aber ich denke nicht, dass es schlimm ist. Auf jeden Fall werde ich mir das gleich in der Praxis ansehen.« Er zog sein Telefon aus der Tasche und rief zuhause an. »Richie, ich bins. Wir sind in spätestens einer Viertelstunde wieder zuhause. Sorg' bitte dafür, dass die Praxis dann klargemacht ist. Und such' mir bitte die Unterlagen von Janosch 'raus, die müssten noch auf meinem Schreibtisch liegen.« Noch bevor Richie die Gelegenheit zum Antworten hatte, steckte das Telefon schon wieder in Rips Tasche.

Zu mir gewandt sagte er: »Ihr beide fahrt mit mir. Roland, nimm' du bitte Lynn mit. Frau Wegener, können Sie uns eskortieren, mit Blaulicht?« Sie nickte etwas verwirrt. »Äh ... sind Sie Arzt?« Rip nickte. »Ja, Kieferorthopäde. Janosch ist sowieso bei mir in Behandlung.« »Gut, dann los.« Ich griff Janosch unter die Arme, er war ziemlich schwach auf den Beinen, und verfrachtete ihn in Rips Auto. Selbstverständlich setzte ich mich zu ihm nach hinten und versuchte, ihn während der Fahrt etwas zu beruhigen, was gar nicht so einfach war. Rip, der sowieso einen mörderischen Fahrstil draufhatte, nutzte seine Chance, mal ganz legal die Geschwindigkeit übertreten zu dürfen. Zum Glück waren die Straßen frei, aber außer in den Kurven hatte Rip während der ganzen Strecke mindestens achtzig Stundenkilometer auf dem Tacho.

Keine fünf Minuten nach dem Aufbruch waren wir in der Praxis - normalerweise brauchte man für die Strecke, wenn man glatt durchkam, eine knappe Viertelstunde. Rip schloss die Tür und sagte zu mir: »Geht schon mal vor, ihr kennt euch ja aus.« Rip hatte die Praxis vor zwei Jahren in sein Haus gelegt, um etwas aus der Hamburger Innenstadt herauszukommen. Ich brachte Janosch in eines der Behandlungszimmer, wo Richie noch dabei war, alles vorzubereiten. Ihm fiel fast das Tablett mit den Instrumenten aus der Hand, als er Janosch sah. »Du liebe Güte, was ist denn mit dir passiert?«, fragte er entsetzt. Ich winkte ab. »Später, Richie, später.«

Rip steckte den Kopf zur Tür herein. »Richie, ich zieh' mich schnell um. Kümmer' dich bitte um Janosch und wasch' ihm das Blut ab, okay?« Richie nickte und machte sich an die Arbeit, wobei er beruhigend auf Janosch einredete. »Mach' dir keine Sorgen, das wird schon wieder.« Janosch sah sich ängstlich um, wo ich war - ich stand hinter ihm. Richie deutete mit dem Kopf auf den Assistentenstuhl. »Setz' dich ruhig zu ihm.« Ich nahm Platz und hielt Janoschs Hand fest, während Richie vorsichtig das Blut abwusch. »Nimm' mal bitte den Kopf hoch«, sagte er zwischendurch und legte dann einen nassen Lappen in Janoschs Nacken. »Gegen das Nasenbluten«, fügte er dann hinzu.

Rip kam herein. »Und, wie sieht's aus?«, fragte er Richie. »Schlimmer als es ist, denke ich - genäht werden muss wohl nichts, soweit ich das beurteilen kann.« Janosch war die Erleichterung deutlich anzumerken. Rip übernahm Richies Platz und untersuchte Janosch dann genauer. Schließlich nickte er. »Stimmt, genäht werden muss wirklich nichts, und der Rest muss so abheilen.« Er untersuchte noch einige andere Dinge, bis er schließlich die Lampe wieder ausschaltete und den Stuhl in seine normale Position fuhr. »Janosch, du hast Glück gehabt. Ernsthaft verletzt bist du nicht, du hast dir nur an einigen Stellen die Mundschleimhaut an der Spange aufgerissen. Deine Zähne sitzen alle fest, nur ein paar Bracketts von der Spange haben sich gelockert, aber das haben wir gleich. Ich würde zur Sicherheit gern noch eine Röntgenaufnahme machen, okay?«

Janosch nickte, deutliche erleichtert, dass alles so glimpflich ausgegangen war. Zum ersten Mal versuchte er zu sprechen, und es ging ziemlich problemlos. »Wird die Lippe sehr anschwellen?«, fragte er. Rip schüttelte den Kopf. »Die Lippen vielleicht ein bisschen, aber sonst nichts. Und auch die Schwellung ist spätestens am Wochenende wieder verschwunden.« Er lächelte ihm zu und verwuschelte ihm die Haare. »Hey, du weißt doch - Unkraut vergeht nicht«, fügte er dann hinzu.

Janosch sah Rip mit einem Blick an, der alles bedeuten konnte, nur nichts gutes. Einen Moment schien er nicht zu wissen, was er sagen sollte. Er schluckt, dann sagte er: »Rip ... manchmal wünschte ich, du wärst mein Vater, und ich hätte meinen richtigen nie kennengelernt.« Der Satz hing eine Weile in der Luft, und Rip wurde sichtlich verlegen. Ich konnte Janosch das gut nachempfinden - seit wir Richie und Jason kennengelernt hatten, war Rip für uns nie nur der Vater unserer Freunde gewesen, sondern auch immer ein Freund für uns - gerade in den letzten Tagen war das wieder ziemlich deutlich geworden.

Rip räusperte sich, lächelte Janosch kurz zu und sagte dann: »Na komm, ab in den Röntgenraum - dann hast du das ganze so schnell wie möglich hinter dir.« Janosch stand auf und folgte Richie, der ihn begleitete. Rip sah mich fragend an. »Sag' mal, hat Janosch das gerade ernst gemeint?« Ich nickte. »Ja, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich denke ... ich ... ich weiß gerade nicht, wie ich das sagen soll.« Ich zögerte, bevor ich weitersprach. »Mir geht es genauso, Rip.« Rip seufzte. »Jetzt macht euch mal keine Sorgen - erst mal bin ich für euch da, und wie es weitergeht, werden wir zu gegebener Zeit sehen, okay?« Ich nickte stumm.


Luke: Donnerstag, früher Abend, 19:10 Uhr

Der Rest des Tages verlief ziemlich unspektakulär. Rip stellte Janosch soweit er konnte wieder her, der kühlte sein Gesicht noch ein wenig mit einem Eisbeutel und war etwas später auch wieder fit, körperlich zumindest. Zwei Stunden später saßen wir im Büro und diskutierten, was vorgefallen war. Roland war mittlerweile ebenfalls dazugestoßen. Auf dem Tisch standen ein paar Sandwiches, die Richie und Jason gemacht hatten - für ein richtiges Abendessen fehlte uns allen sowohl die Zeit als auch die rechte Lust, aber Rip stand auf dem Standpunkt, dass wir etwas im Magen haben mussten.

Während wir diskutierten, klingelte das Telefon - Rips private Büronummer, die nur eine Handvoll Leute kannte. Rip nahm ab. »Masters.« Er hörte kurz zu und grinste dann. »Hallo, Rick. Na, wie geht's?« Roland blickte bei der Erwähnung des Namens auf. »Ja .... Colin hat mir vor ein paar Tagen eine Mail geschrieben, da erwähnte er so etwas. Und er ist schon bei dir?« Wieder Schweigen, dann: »Klar, die Kapazitäten haben wir frei. Allerdings muss er vielleicht auf dem Sofa schlafen.« Noch einen Moment Ruhe, und schließlich: »Gut, dann bis Samstag. Jason und Richie werden sich freuen, ihr habt Euch ja auch schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Du bleibst über Nacht hier, oder willst du noch am selben Abend zurück?« Dieser Rick antwortete offensichtlich, und dann beendete Rip das Gespräch mit: »Okay, bis dann.« Roland sah ihn fragend an, und der Blick, den Rip zurückgab, bedeutete mir ziemlich klar, dass es das gerade eben geführte Gespräch nicht in unserer Gegenwart diskutieren würde.

»Äh ... sollen wir vielleicht kurz nach unten gehen? Richie sagte vorhin noch irgendwas von wegen Üben und so.« Rip nickte. »Gute Idee, dann regeln Roland und ich hier schnell den Bürokram. Wir sagen euch Bescheid, wenn wir fertig sind.« Janosch und ich standen auf und gingen 'rüber zu Richie, Jason und Nick, die gerade eine Partie Rommé spielten. Ein Blick auf den Punktezettel sagte mir recht schnell, dass Jason haushoch in Führung lag, und ein Blick in sein Gesicht - er grinste wie ein Honigkuchenpferd - bestätigte meine Vermutung.

Die drei beendeten ihre Partie, dann sah Nick uns fragend an. »Und, wie geht's dir, Janosch?« »Na ja, geht schon. Das ganze tut noch ein bisschen weh, aber Rip meinte, es wären keine bleibenden Schäden entstanden.« Nicht dadurch, fügte ich in Gedanken hinzu, hütete mich aber, das laut auszusprechen. Doch mittlerweile hatten die drei zu viel mitbekommen. »So, ihr zwei, und jetzt setzt euch bitte mal hin und erzählt uns, was los ist. Wir bekommen hier nur Bruchstücke mit, aber das was wir mitbekommen haben, reicht jedenfalls aus, damit wir uns genug zusammenreimen können. Oder wir ziehen die völlig falschen Schlüsse, das kann auch sein. Aber wir hätten gern Klarheit«, sagte Richie, während er die Karten verstaute. Ich warf Janosch einen fragenden Blick zu - die Entscheidung musste er treffen, schließlich ging es bei der ganzen Angelegenheit um ihn. Statt einer Antwort nickte er nur und nahm den Platz neben Jason in Beschlag.

Es war das erste Mal, dass er die Geschichte der letzten Monate allein erzählte, seit ich davon wusste. Er hielt sich ziemlich gut dabei - offensichtlich hatte er sich mittlerweile ein Stück weit daran gewöhnt. Zwischendurch nickte einer der drei - das war an den Stellen, die sie kannten. Als Janosch fertig war, sagte Richie: »Darum hat Dad heute morgen beim Frühstück auch so allergisch reagiert.« Janosch nickte. »Ja, aber du konntest nichts davon wissen - wir hatten Rip gebeten, niemandem etwas davon zu sagen, auch euch nicht. Aber Jason hatte heute Mittag schon einiges mitbekommen.«

»Und wenn Roland mehr Zeit bei uns als in seiner Kanzlei oder zuhause verbringt, sagt das eigentlich auch schon ziemlich viel. Ich bin mit eurem Vater zwar nie besonders gut klargekommen, aber das hätte ich ihm nicht zugetraut«, fügte Richie nachdenklich hinzu. »Tja, Richie - wem würde man das schon zutrauen?«, fragte ich. »Wohl niemandem«, sagte Richie, sah dabei aber Jason an. Der nickte. »Ja, zutrauen würde man das wirklich niemandem.« Ich sah fragend von einem zum anderen. »Äh ... haben wir jetzt was verpasst?«


Jason: Donnerstag, früher Abend, 19:58 Uhr

Ich schluckte. »Na ja, sagen wir es mal so: es gibt Dinge, die könnt ihr einfach nicht wissen. Ihr wisst, wie wir uns damals kennengelernt haben, Richie und ich?« Luke zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur, dass du mal bei Rip in Behandlung warst und Ihr beide Euch spontan ineinander verliebt habt, und dass Ihr beide etwas später noch mal mit deinem Vater aneinandergeraten seit. Mehr nicht.« Er zögerte einen Moment, dann fragte er: »Es ist doch wohl nicht das, was ich befürchte, was es ist, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz so schlimm hat es mich zum Glück nicht erwischt. Ich werde Euch jetzt die gekürzte Version erzählen, denn das Thema ist für mich zum Glück dank Richie - und auch dank Rip und Roland - erledigt.«

Während ich anfing zu erzählen, tauschten Richie und Janosch die Plätze. Richie legte mir seinen Arm um die Schulter und streichelte mich sanft. »Dass ich damals überhaupt bei Rip in der Praxis war, war der traurige Höhepunkt des Streits zwischen meinem Vater und mir - wir hatten uns regelrecht geprügelt, und dabei hatte er mich im Gesicht getroffen und mir einen Zahn abgebrochen. Ich war daraufhin für ein paar Tage bei einem gemeinsamen Freund von Richie und mir, da wusste wir aber noch nichts voneinander. Der hat mir schließlich empfohlen, zu Rip zu fliegen. Tja, das hab' ich dann auch getan, und das war wohl die beste Entscheidung meines Lebens.

Vorher hatte alles damit angefangen, dass ich zusammen mit meiner Mutter schon mal einige Wochen in Deutschland war, für einen Film. Als wir wieder zurück in L.A. waren, hatte mein Vater angefangen zu trinken - oder besser gesagt: zu dem Zeitpunkt war es so offensichtlich, dass ich es auch bemerkte. Ich denke bis heute, dass meine Mutter schon länger davon wusste. Damals war ich so alt wie du jetzt, Janosch - gerade 14. Dad fing an, uns beide - Mum und mich - zu schlagen, erst selten, dann immer häufiger. Ich weiß, dass er sie ein paar Mal vergewaltigt hat. Ich habe sie auch einige Male darauf angesprochen und sie angefleht, doch endlich zu gehen, aber sie wollte nicht - sie war ganz und gar von ihm abhängig. Das ging über ein paar Jahre so, bis der Streit dann an einem Tag eskalierte. In der Nacht vorher war er richtig blau gewesen, er wusste nichts mehr von der Welt um sich herum.

Ich weiß nicht, ob er mich mit Mum verwechselt hat, ob er mich bewusst noch mehr quälen wollte oder was auch immer, jedenfalls ist er über mich hergefallen, während ich geschlafen habe, und hat mit mir dasselbe versucht wie vorher schon ein paar Mal bei Mum. Ich bin rechtzeitig aufgewacht und konnte mich wehren - mittlerweile war ich 17 geworden, so lange zog sich das Ganze hin. Jedenfalls reichte ein Schlag vor die Brust aus, um ihn ruhigzustellen, was mit Sicherheit auch dem Alkohol zu verdanken war. Ich habe in der Nacht im Auto geschlafen und ihn an nächsten Morgen zur Rede gestellt, ihm gesagt, wenn nicht ab sofort Schluss damit wäre, auch mit seiner Sauferei, dann würde ich Anzeige gegen ihn erstatten. Daraus entstand diese Schlägerei, und schließlich bin ich abgehauen. Den Rest hatten wir gerade schon.»

Luke und Janosch hatten zwar gewusst, dass ich mit meinem Vater im Streit auseinandergegangen war, aber sie wussten nicht, was die Ursache dafür gewesen war. »Wir haben uns bei euch schon fast so etwas gedacht - im Prinzip brauchten wir ja nur eins und eins zusammenzählen. Und in einem Punkt könnt Ihr zwei euch sicher sein: wenn wir irgendwas für euch tun können, dann werden wir das tun«, fügte Richie hinzu.


Luke: Freitagmorgen, 10:15 Uhr

Müde und erschöpft von den Ereignissen des gestrigen Tages waren wir alle recht früh ins Bett gegangen und hatten bis heute Morgen durchgeschlafen. Ich war zwischendurch ein paar Mal wachgeworden, weil Janosch ziemlich unruhig geschlafen hatte, wie auch schon in der Nacht davor. Ich hatte seine Hand genommen und ihn etwas dichter zu mir herangezogen, ihn aber nicht geweckt. Meistens hatte er sich dann wieder für eine Weile beruhigt, bis das Ganze wieder von vorne losging.

Um Viertel nach neun hatte Richie uns zum Frühstück geweckt, und jetzt saßen wir bei frischem Kaffee und Croissants unten und überlegten, wie wir den heutigen Tag verbringen sollten. Rip saß bei uns, machte sich ein paar Notizen auf dem Hamburger Abendblatt, das neben ihm lag, und machte hin und wieder ein paar Vorschläge. Plötzlich klingelte es jedoch an der Tür, und zwei Minuten später stand ein Bote in einem blauen Overall und einem Strauß Blumen in der Küche.

»Guten Morgen, ich suche Herrn Janosch ... Reilly.« Janosch sah überrascht auf. »Das bin ich.« »Diese Blumen sind für ... äh, für Sie.« Janosch nahm den Strauß überrascht entgegen. »Äh ... danke. Von wem sind die?« Der Bote zuckte die Schultern. »Tut mir leid, das weiß ich auch nicht - ich bin nur der Fahrer.« Janosch bedankte sich, Rip gab ihm ein Trinkgeld und der Bote verschwand wieder. Janosch starrte ziemlich verwirrt auf den Blumenstrauß. »Komisch, wer kann denn wissen, dass ich hier bin?«, fragte er dann, wohl mehr sich selbst. Er betrachtete den Strauß und fand eine Karte an der anderen Seite befestigt.

In dem Moment, in dem er die Karte lesen wollte, riss Rip sie ihm jedoch aus der Hand und sagte nur: »Dein Vater.« »Wie bitte?«, fragten Janosch und ich gleichzeitig. »Jochen ist der einzige, der weiß, dass du hier bist.« Rip nahm die Karte aus dem Umschlag, las sie, wurde blass, brüllte nur: »Verdammter Mist!«, und war im selben Moment verschwunden, noch bevor einer von uns überhaupt richtig realisiert hatte, was los war. Ich stand auf und ging ihm hinterher. »Janosch, du bleibst hier.« Janosch, der immer noch schalten musste, nickte nur stumm.

Ich fand Rip in seinem Büro, wo er am Telefon war. »... sagen, was mit Jochen los ist - ist er etwa gestern noch freigelassen worden? .... Heute Morgen. ... Ja, wir hatten gerade, hm, Besuch. ... Nein, nicht von Jochen. ... Okay, bis gleich. Aber wir sollten schnell handeln.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Rip auf, wählte eine Rufnummer und hatte den Hörer schon wieder in der Hand. »Geh schon 'ran«, brummte er in den Hörer, dann legte er auf. »Verdammte Anrufbeantworter.« Rip war sichtlich am rotieren.

»Rip, was zum Teufel ist plötzlich los mit dir?« Er sah mich mit funkelnden Augen an, dann warf er mir die Karte zu. »Kein Wort zu Janosch, auf gar keinen Fall«, fauchte er. Ich fing die Karte auf - knapp, er hatte nur grob in meine Richtung gezielt - und klappte sie auf: »Mein Sohn, was jetzt noch kommt, ist in Deiner Verantwortung. Ihr habt es nicht anders gewollt, ich hoffe, Ihr werdet so glücklicher sein. Daddy.« Jetzt verstand ich, warum Rip gerade so blass geworden war - wahrscheinlich wich auch mir in diesem Moment jegliche Farbe aus dem Gesicht. Rip sah mich an. »Wir müssen Euch in Sicherheit bringen - Jochen weiß, wo ihr seid.«

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Rip. Das ist keine Drohung. Das ... das ist ein Abschiedsbrief«, sagte ich, dann wurden meine Kniee weich und ich musste mich hinsetzen. Rip war mit drei Schritten bei mir. »Bist du sicher?« Ich nickte nur. »Wo ist eure Mum?« »Gute Frage - ich hab' sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen.« »Sie ist noch mit zu Roland und seiner Frau gefahren, dort wollte sie auch übernachten - Roland hat mich später noch mal angerufen, aber ihr wart schon im Bett.« Mit einem Satz war Rip wieder beim Telefon und wählte noch einmal Rolands Nummer. »Ich bin's noch mal. Ist Lynn noch bei Euch? ... Gut, dann müsste sie gleich hier sein. ... Luke hat das Ganze mitbekommen, er meinte, das Ganze sei eher ein Abschiedsbrief als eine Drohung. ... Ja, könnte er. ... Bis später.«

Es klopfte, und herein kam ... Mum. »Lynn!«, rief Rip erleichtert aus. »Gut, dass du heil hergekommen bist.« Rip nahm sie zur Begrüßung kurz in den Arm. Lynn sah in verständnislos an. »Was ist denn nun schon wieder los? Janosch sagte mir gerade nur, dass du ... hm, ziemlich aufgeregt warst.« Wie Mum mir später erzählte, hatte Janosch Rips Zustand eher mit »völlig durchgeknallt« beschrieben, aber das war auch mein erster Eindruck gewesen. Ich reichte Mum wortlos die Karte. Sie las sie zwei, dreimal und zeigte dann dieselbe Reaktion wie zuvor Rip und ich. »Was ... was zum Teufel ist das?«, fragte sie dann. »Eine Drohung«, sagte Rip, und ich zeitgleich: »Ein Abschiedsbrief.«

Mum sah fassungslos von mir zu Rip und wieder zu mir zurück. »Das ist doch wohl nicht euer Ernst???« Wir beide nickten nur stumm. Sie überlegte einen Moment, dann sagte sie: »Ich denke allerdings, Luke hat recht.« Rip schluckte. »Lynn, hat Jochen irgendeine Waffe?« Mum schüttelte den Kopf. »Nein, soweit ich weiß nicht.« Ich unterbrach sie. »Doch, er hat eine Pistole, sie liegt in seinem Tresor.« Mum fiel die Kinnlade herunter, sie sah mich fassungslos an. »Wie bitte?« »Entschuldige bitte, Lynn, aber was kann dich bei Jochen noch wirklich überraschen?«, merkte Rip sarkastisch an. Mum klappte den Mund wieder zu. »Gar nichts mehr. Aber woher weißt du davon, und woher weißt du die Kombination für den Safe?« »Euer Hochzeitstag und dein Geburtstag, jeweils rückwärts«, gab ich trocken zurück.

In diesem Moment bewunderte ich Mum wirklich. Viele andere Mütter wären einfach hysterisch geworden oder sonst wie durchgedreht, aber Mum blieb relativ ruhig, und das obwohl in den letzten vierundzwanzig Stunden ihre Ehe und ihr gesamtes Privatleben mitsamt der heilen Familie zerstört worden waren. Rip mischte sich wieder ein. »Lynn, Deinen Geburtstag weiß ich - euer Hochzeitstag?« »16. Juni 1983.« gab Mum knapp zurück. Mir schwante nichts Gutes. »Rip, du willst doch wohl nicht etwa?« Rip nickte nur. »Doch. Bis wir die Polizei informiert haben, das dauert viel zu lange, außerdem wissen wir nicht, wie wir Herrn Matthies erreichen können. Luke, 83-06-16-57-04-21?« Ich nickte. »Ja. Und ich werde mitkommen.«

Mum protestierte sofort. »Kommt gar nicht ...« Normalerweise unterbrach ich sie nicht, aber diesmal vergaß ich meine guten Manieren. »Doch, Mum, das werde ich - da könnt ihr euch beide auf den Kopf stellen. Ich denke, wir beide haben viel zu lange gepennt, was Janosch und Dad betraf, und jetzt sollten wir wiedergutmachen, was wir können - sofern das überhaupt noch geht.« Das saß - und war für Mum wohl schmerzhafter, als mir eigentlich lieb war. Bevor noch einer von uns etwas sagen konnte, donnerte Rip dazwischen. »RUHE! Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist, dass Ihr Euch auch noch in den Haaren liegt. Verdammt noch mal, wenigstens ihr drei müsst jetzt zusammenhalten.« Mum nickte stumm. »Ich hole meine Jacke«, sagte ich und verließ den Raum.

Vor der Tür wartete Jason auf mich. »Was ist los?« »Später - keine Zeit. Bleibt bei Janosch, lenkt ihn ab, übt mit ihm am Schlagzeug oder was auch immer, aber haltet ihn auf jeden Fall vom Telefon fern«, sagte ich. »Und vom Radio«, fügte ich nach kurzem Zögern hinzu. Jason standen zwei große Fragezeichen in den Augen. »Äh ...?« »Jason, bitte. Wir haben jetzt keine Zeit. Ich weiß, das habt ihr alles schon mal gehört, aber wenn ich dir jetzt sagen würde, was los ist, würdet ihr euch nur unnötig Sorgen machen. Ich hoffe, dass sich alles zum Besten wendet.«

In diesem Moment traten Rip und Mum hinter mir aus der Tür. »Okay, Luke, wir fahren. Lynn bleibt hier.« Jason kapierte endlich und schaltete um. »Okay, Lynn. Dein Jüngster entwickelt sich in letzter Zeit zu einem zweiten Ringo Starr, und ich denke, er will dir bestimmt mal zeigen, was er mittlerweile drauf hat.« Dazu setzte er sein strahlendstes Lächeln auf. In diesem Moment konnte ich verstehen, dass Richie sich in ihn verliebt hatte - auch wenn ich mir nichts aus Jungs machte. Mum nickte und folgte Jason dann in Richtung Küche.

Rip und ich saßen drei Minuten später im Auto, und Rip fuhr in halsbrecherischem Tempo zu unserem Haus. »Hast du dir mal überlegt was wir machen, wenn wir Dad antreffen?«, fragte ich ihn. Er schüttelte den Kopf. »Nein, das wird sich dann ergeben müssen.« Ich schluckte - ich hatte noch nie einem Menschen mit einer Waffe in der Hand gegenübergestanden und hätte mir nie träumen lassen, dass mein Vater der erste Mensch dieser Art sein würde. »Und hast du dir mal überlegt was passiert, wenn du recht hast?«, gab Rip die Frage zurück. »Willst du eine ehrliche Antwort?«, war meine Gegenfrage. »Ja.« »Dann haben wir auf einen Schlag ganz viele Probleme, die sich in Luft auflösen.« Rip zuckte bei den Worten zusammen und seufzte dann tief. »Luke, ich erinnere dich nur ungern daran - aber immerhin ist Jochen dein Vater.«

Ich nickte. »Ja. Aber muss ich dich dran erinnern, was in den letzten Jahren los war? Oder gestern Nachmittag?« Rip schüttelte den Kopf, dann griff er zum Autotelefon und wählte Rolands Nummer. Der war schon dran, als der erste Klingelton noch nicht mal verklungen war. »Wie sieht's aus?« »Wir sind auf dem Weg zum Haus der Reillys, Luke hat mir gesagt, dass Jochen eine Schusswaffe besitzt.« »Gut. Ich habe mittlerweile mit Herrn Matthies gesprochen, nach seinem Wagen wird in ganz Hamburg gefahndet. Er und seine Kollegin sind auf dem Weg zu euch.« »Kannst du sie erreichen?« »Ja, ich hab' seine Handynummer.« »Okay, bis später.«

Rip und Roland waren ein perfekt eingespieltes Team, wie mir auffiel. Ich musste an das Telefonat von gestern mit diesem Rick denken. Das Ganze hatte sich ziemlich mysteriös angehört. Doch noch, bevor ich Rip danach fragen konnte, jagte er den Wagen auf unsere Auffahrt und brachte ihn zum Stehen - mit einer Vollbremsung, dass der Kies nach allen Seiten davonspritzte. »Okay, ab ins Haus«, befahl Rip, während er aus dem Wagen sprang.

Ich stürzte sofort hoch in Dads Arbeitszimmer - und wir kamen zu spät. Der Safe stand offen, einige Unterlagen und zwei Geldbündel lagen auf dem Fußboden, und die Pistole war verschwunden. Da der Wagen auch nicht in der Einfahrt gestanden hatte, war auch Dad offensichtlich schon wieder weg. »Kann er sonst noch irgendwo sein?«, fragte Rip. Ich zuckte die Schultern. »Praktisch überall im Haus. Aber dann müsste der Wagen da sein.« Mir kam eine Idee. Ich suchte kurz im Bücherregal, bis ich das Buch mit dem Ledereinband gefunden hatte, ging an den Aktenschrank und schaute in die unterste Schublade. »Hat die Polizei gestern die restlichen Videos beschlagnahmt?« Rip schüttelte den Kopf. »Nicht das ich wüsste. Aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht viel davon mitbekommen. Du weißt ja, wie chaotisch es zuging.« »Dann hat Dad die Kassetten mitgenommen.«

Es klingelte an der Haustür. Roland stand mit den beiden uns schon bekannten Polizeibeamten davor. »Er ist schon wieder weg«, sagte Rip knapp. »Fehlt irgendwas?«, fragte Frau Wegener. »Die Pistole. Und die restlichen Videokassetten mit den Aufnahmen, die er von sich und Janosch gemacht hat.« Wir drei standen ratlos herum, jetzt fiel uns nichts mehr ein. »Und nun?«, fragte Roland schließlich. Rip schüttelte den Kopf. »Irgendwie müssen wir weiterkommen, ich weiß nur noch nicht, wie. Haben Sie schon was neues?«, wandte er sich an Matthies. Der sah ihn schief an. »Dann würden wir wohl kaum so taten- und wortlos hier 'rumstehen«, sagte er. Rip hob beschwichtigend die Hände. »Okay, sorry.«

Dann setzte Rip sich in Bewegung. »Okay, wir beide fahren zur Bank und sehen zu ob wir da etwas herausbekommen können - vielleicht hat er noch mit einem Kollegen gesprochen oder ist erst mal dorthin gefahren. Roland, ruf' du ... nein, besser nicht.« Matthies nickte. »Und wir fragen mal bei den Fluggesellschaften an, wenn er abhauen will, wäre das der schnellste Weg.« »Dann fahre ich zum Bahnhof«, schlug Roland vor. »Das ist zwar nicht schneller, aber auf jeden Fall unauffälliger.« Wir alle setzten uns in Bewegung, und an der nächsten Kreuzung trennte sich unsere Kolonne - der Streifenwagen fuhr in Richtung Flughafen, Roland geradeaus Richtung Bahnhof, und Rip bog nach rechts Richtung Altona und Harburg ab - letzteres war unser Ziel.

Die nächsten drei Stunden verbrachten wir alle mit Suchen. Zweimal fuhr ein dunkelroter BMW an uns vorbei, der fast genauso aussah wie der von Dad, aber einer davon war aus München und der andere hatte einen Fuchsschwanz an der Antenne - an einem BMW. Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, dann hätte ich mich wahrscheinlich darüber aufgeregt, aber in diesem Moment gingen mir wichtigere Dinge durch den Kopf. Von unserer ganzen Suche ist mir dieses Bild jedoch am ehesten im Kopf geblieben.

Während der ganzen Zeit dachte ich darüber nach, was passieren würde, wenn Rip doch recht gehabt hatte und Dad zu Janosch und Mum gefahren war. Aber Lynn hatte zwischendurch zweimal angerufen, um zu erfahren, wie der aktuelle Stand der Dinge war, und aus diesem Grund schied die Möglichkeit schon fast aus. Außerdem kam man nicht so ohne Weiteres auf Rips Grundstück, erst recht nicht mit dem Auto.

Ich will den Rest unserer Suche nicht weiter beschreiben, wir fuhren durch Hamburg, klapperten verschiedene Orte ab, an denen wir Dad vermuteten, begegneten unterwegs einmal Roland, und schließlich, um Viertel nach zwei, kam ein Anruf von ihm: Matthies hatte ihm Bescheid gegeben, dass sie Dad gefunden hatten. Nicht mehr, nicht weniger. Roland gab uns eine Adresse durch, zu der wir fahren sollten, und sagte nur: »Direkt an der B431. Und ihr solltet starke Nerven mitbringen.«

Eine Viertelstunde später waren wir an der von Roland beschriebenen Stelle. Schon von Weitem konnten wir das Blaulicht sehen, und die Straße war weiträumig abgesperrt. Erst als Frau Wegener dazukam, wurden wir durchgelassen. Wir fuhren langsam um eine Kurve, und dann sahen wir die Bescherung: Statt die Kurve zu nehmen, war der Wagen geradeaus weitergefahren, hatte eine dicke Eiche getroffen und war daran regelrecht zerschellt. Der Rest der Heckklappe lag ein paar Meter neben dem Wagen, etwas zerknittert, aber das Nummernschild war noch deutlich zu entziffern. Es war Dads BMW - oder das, was noch davon übrig war.

Neben zwei Polizeiwagen und Rolands Auto stand noch ein Feuerwehrwagen in der Nähe. Matthies kam auf uns zu, sagte jedoch nichts, bevor wir ausgestiegen waren. »Vorsicht, da ist Benzin ausgelaufen«, warnte er dann nur, während wir langsam darauf zugingen. Von dem Auto war nur noch ein großer unförmiger Metallklumpen übrig. Der Motorblock lag fast auf dem Beifahrersitz. Dass der Wagen so zerstört war, machte mich in dem Moment noch wütender als die Tatsache, dass Dad gefahren war. Ich erinnerte mich noch ganz genau, wie Dad vor knapp einem Jahr zum ersten Mal mit dem Auto vorgefahren war - frisch vom Händler in Hamburg, teilweise klebte sogar noch die Schutzfolie auf den Armaturen. Und dieser Wagen lag jetzt beinahe in Einzelteilen vor mir.

Einer der anderen Polizisten kam dazu. »Der Wagen ist zugelassen auf ...« »Jochen Hellmann, geboren 1954, wohnhaft in Hamburg-Blankenese«, unterbrach Rip den Beamten fassungslos. »Was ist mit dem Fahrer?«, fragte der dann. Der Beamte sah in immer noch überrascht an. »Sind sie ein Verwandter?« Rip schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das hier ist der Sohn von Herrn Hellmann.« Er deutete auf mich. Der Polizist räusperte sich. »Mein ... mein Beileid«, sagte er. Ich winkte ab. »Danke, nicht nötig.«

Ich sah, dass ein schwarzer Mercedes langsam die Straße herangefahren kam, offensichtlich der Leichenwagen. Doch bevor irgendjemand eingriff, wollte ich mich noch selbst davon überzeugen, dass es sich wirklich um Dad handelte. Ich war mit einigen Schritten beim Wagen und musste mich dann sehr zusammenreißen, um mir mein Frühstück nicht noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Der Fahrer war in der Tat Dad, sofern man ihn noch identifizieren konnte. Der Airbag hatte nicht ausgelöst, und er war offensichtlich mit voller Wucht aufs Lenkrad geknallt, jedenfalls war von seinem Kopf nicht mehr viel übrig. Ich sah, dass auf der Rückbank ein paar Videokassetten lagen ... und daneben seine Pistole. Und dann wurde es mir langsam klar: Es war vorbei. Dad war tot. Er würde Janosch nie wieder anrühren, ihm sagen, dass er sich ausziehen sollte, ihn verletzen, ihn schlagen oder vergewaltigen. Ich fühlte mich seltsam ... frei. Ja, das war der richtige Ausdruck. Befreit.

Rip tippte mir von hinten auf die Schulter. »Bist du sicher, dass du dir das antun willst?«, fragte er mich dann ruhig und mit leiser Stimme. »Ja, Rip. Es ist vorbei. Endlich.« In einem plötzlichen Impuls drehte ich mich um und fiel Rip in die Arme - teils, weil ich mich wirklich freute, teils, weil ich in diesem Moment jemanden brauchte, an dem ich mich festhalten konnte, und teils, weil mir einfach nur nach Heulen zumute war. Nämlich dann, wenn ich daran dachte, wie wir das Ganze Mum und Janosch beibringen sollten.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Matthies zu uns trat, aber er hielt respektvollen Abstand. Ich löste mich aus Rips Umarmung - er hatte mich in diesem Moment einfach nur festgehalten - und wischte mir die Tränen aus den Augen. Matthies räusperte sich. »Hm ... soll ich dir jetzt mein Beileid aussprechen? Oder willst du etwas anders hören?«, fragte er dann vorsichtig. »Nein, danke. Und über Tote soll man nichts Schlechtes sagen«, erwiderte ich. Ein paar der Umstehenden, die mitgehört hatten, zuckten zusammen - offensichtlich kannten sie die Vorgeschichte nicht.

»Herr Matthies, auf dem Rücksitz liegen offensichtlich die restlichen Videos, die vorhin verschwunden waren - könnten Sie die bitte persönlich sicherstellen?«, sagte Rip - er hatte mich vorher schon beobachtet, wie er mir später sagte, und auch gesehen, dass ich die Tapes gefunden hatte. Matthies nickte. »Kein Problem.« Er nahm die Kassetten aus dem Wrack des Wagens und brachte sie direkt 'rüber zum Streifenwagen. Für uns gab es nicht mehr viel zu tun, die Formalitäten regelten Herr Matthies und Frau Wegener, und so setzten Rip und ich uns wieder ins Auto und fuhren nach Hause - oder besser gesagt, zu Rips Haus.

Schließlich fragte Rip nur: »Und?« Ich zuckte mit den Schultern. »Wie vorhin schon gesagt, jetzt haben wir eine ganze Reihe von Problemen weniger.« Rip nickte stumm. »Was werden Janosch und eure Mum dazu sagen?« Ich schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, beim besten Willen nicht. Janosch hat immer versucht, Dad dazu zu bringen, dass er ihm wenigstens einmal zeigt, dass er ihn mag. Ich hab' keine Ahnung, wie das weitergeht. Entweder ist er einfach nur erleichtert, oder das Ganze gibt ihm den Rest. Er ist sowieso ziemlich angeschlagen.«

Schließlich waren wir bei Rip angekommen und gingen ins Haus. Die anderen saßen im Wohnzimmer und hörten Musik. Richie und Nick erzählten abwechselnd ein bisschen dazu - es lief das Musical »The Hunting of the Snark« von Mike Batt. Rip und ich blieben ein paar Sekunden in der Tür stehen, weil wir nicht wussten, wie wir anfangen sollten. Doch ich bekam unerwartet Schützenhilfe von jemandem, von dem ich es am wenigsten erwartet hätte: Cliff Richard, den ich zwar nicht mochte, aber dessen Stimme gerade den Refrain des Songs beherrschte:

Let's teach it a lesson it'll never forget
For a devious deed it will live to regret,
It's clear that the pig must die.
We're of the opinion the pig must pay,
We can't let it live for another day,
We fear if the rules apply,
It's clear that the pig must die.
Mike Batt, »The Hunting of the Snark: The Pig must die«

Plötzlich überfiel mich ein Anfall von hysterischem Gelächter - ich hätte nie gedacht, dass ein Song so treffend sein konnte. Aber in diesem Fall war er es. Die anderen drehten sich verwundert zu mir um, sie hatten uns jetzt erst bemerkt. »Luke, was ist mit dir los?«, fragte Mum. Richie schaltete den CD-Player aus und sah mich ebenfalls erwartungsvoll an. Ich versuchte mich ein wenig zu beruhigen und schaffte es auch schließlich. Noch einmal räuspern, und auch meine Stimme war wieder zu gebrauchen. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Janosch. Ich atmete tief durch und sagte dann: »Das Schwein ist tot. Dad hat sein Auto mit vollem Tempo vor einen Baum gesetzt.«

Dank eines glücklichen Zufalls der menschlichen Anatomie ist die Kinnlade durch verschiedene Sehnen und Muskeln fest mit dem Kopf verbunden. Ansonsten wäre sie wohl bei allen Anwesenden schlichtweg auf den Boden gefallen. Janosch reagierte als Erster, er sprang auf, fiel mir in den Arm und fragte mich dann schluchzend: »Ist ... ist das wahr? Dad ist tot?« Ich nickte. »Ja, ist er, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und er wird dir nie wieder etwas antun.« Mum saß auf ihrem Sessel und war kreidebleich geworden, während Jason, Richie und Nick offensichtlich nicht wussten, was sie dazu sagen sollten.

Die nächsten Stunden zogen sich dahin, keiner hatte Lust, wirklich etwas zu machen. Roland, der einige Zeit nach uns eingetroffen war, hatte sich zu einem längeren Gespräch mit Mum zurückgezogen, die das Ganze im Großen und Ganzen recht gut verkraftet hatte. Sie hatte sich recht schnell wieder gefasst. Wir Kinder im weitesten Sinne gingen in den Garten, Janosch und Nick verbrachten viel Zeit mit Rinty, während ich mich mit Richie und Jason unterhielt. Jason erzählte ein bisschen was aus seiner Zeit in der Schauspielerei - mittlerweile hatte er den Job an den Nagel gehängt, nicht zuletzt Richie zuliebe - und kramte schließlich noch ein paar Fotos heraus.

In der Situation, in der wir uns befanden, war das ziemlich ungewöhnlich, aber Dads Tod überraschte uns mehr, als dass er uns traurig stimmte. Vielleicht standen wir auch alle unter Schock, das würde sich erst später herausstellen. Bei Janosch wirkte das Ganze am schnellsten, wie ich eher erfahren sollte, als mir lieb war. Er war plötzlich verschwunden, auch Nick und Rinty waren nirgendwo zu sehen. Ich beschloss, mal nach meinem Bruder zu sehen, und ging ins Haus.

Janosch saß allein in unserem Zimmer auf dem Bett. Ich setzte mich schweigend zu ihm. Wir fingen an, ein bisschen zu reden, und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Ich merkte, dass er ziemlich durcheinander war, versuchte, herauszubekommen, was mit ihm los war, und mein erster Impuls - den ich auch in die Tat umsetzte - war, ihn in den Arm zu nehmen. Unser Gespräch kann ich beim besten Willen nicht mehr nachvollziehen, ich weiß nur noch, dass Janosch mich plötzlich wegstieß. »Lass' mich in Ruhe«, schrie er mit tränenerstickter Stimme.

Ich war so perplex, dass ich wie eine Salzsäule mitten in der Bewegung verharrte, mein Arm noch auf seiner Schulter. »Wie bitte?« »Du sollst mich in Ruhe lassen mit deinen ständigen Umarmungen. Oder willst du vielleicht dasselbe mit mir machen, was auch Dad immer nur von mir wollte? ICH HASSE EUCH ALLE! ICH WILL EUCH NIE WIEDER SEHEN!« Mit einem wütenden Aufschrei stieß er meine Hand weg und rannte aus dem Zimmer. Einige Sekunden später hörte ich, wie die Haustür unten ins Schloss viel.

Das war zu viel für mich. Davon abgesehen, dass ich diesen Ausbruch absolut nicht einordnen konnte, war jedes seiner Worte für mich wie ein Stich ins Herz. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich fing an zu zittern, ich konnte beim besten Willen nicht mehr weiter. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen hatte, als ich plötzlich von Rips Stimme in die Gegenwart zurückgerissen wurde. »Luke, was ist passiert?« Ich schluckte und antwortete nur: »Janosch ist verschwunden.«

Binnen weniger Minuten hatte Rip den anderen Bescheid gesagt und das ganze Haus abgesucht. Janosch war nirgendwo zu finden. »Dann muss er woanders sein. Nick, du und Luke, ihr sucht die Straße Richtung Stadt ab. Jason und Richie, Ihr nehmt die andere Richtung. Ich suche am Elbufer. Und vergesst eure Handys nicht!«, ordnete Rip in einem knappen Befehlston an. Wir schwärmten aus und fingen an zu suchen. Ich wurde fast verrückt vor Sorge um Janosch, auch weil ich mir die Schuld für diesen Ausbruch gab. Und noch etwas erschwerte unsere Suche: Langsam brach die Dunkelheit herein. Das Einzige, was mich beruhigte, war die Tatsache, dass auch Rinty nirgendwo zu finden war.

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