zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Little Lies

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Vorwort

If I could turn the page in time, then I'd rearrange just a day or two ... ist der Anfang des Songs Little Lies von Fleetwood Mac. Wie oft wünscht man sich, man hätte einige Dinge anders gemacht? Und vor allem: Wie oft wünscht man sich, dass andere Leute Dinge anders gemacht hätten?

Genauso geht es Lucas Reilly, einem der beiden Protagonisten dieser Geschichte. Lucas ist 19 Jahre alt und hat gerad sein Abitur in der Tasche. Der letzte Tag seines Urlaubs ist gleichzeitig der Tag des Rückfluges. Der Rückflug verläuft nicht ganz planmäßig, aber die Ereignisse, die sich anschließend ereignen, passen noch weniger in Lukes Planung für die Sommerferien. Gut, wenn man Freunde hat.

Diese Story ist zwei Personenkreisen gewidmet: zunächst einmal allen Jungs, denen es genauso geht wie Janosch. Zum Glück habe ich selbst keine unmittelbaren Erfahrungen mit diesem Thema, aber ich habe zum Glück Freunde, die mich in dieser Beziehung unterstützen und mich immer wieder ermuntern, weiterzuschreiben. Der zweite Personenkreis, dem diese gewidmet ist, sind die Personen wie Ripley Masters und Roland Westermann, die sich selbstlos für andere einsetzen und alles daran setzen, allen Janoschs auf dieser Welt zu helfen. Das setzt aber auch voraus, dass alle in Janoschs Situation den Mut finden, darüber zu reden. Zumindest einen Freund, mit dem man über alles reden kann, hat jeder.

Die Personen und die Handlungen in dieser Geschichte sind größtenteils frei erfunden, aber dennoch geschehen Dinge in dieser Art jeden Tag. Der Grund, warum ich diese Geschichte geschrieben habe, wird hier noch nicht verraten - das würde zu viel von der Story vorwegnehmen, und das ist nicht der Sinn der Übung. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wie lang diese Story überhaupt werden wird, aber es wird definitiv mehr als nur einen Teil geben.

Wer den Namen »Ripley Masters« gelesen hat, wird vielleicht sagen: »Moment mal ... den kennen wir doch irgendwo her?« Wäre das hier ein Dialog, würde ich jetzt nur wissend grinsen und nicken. Natürlich, Ripley Masters und einige andere Leute sind alte Bekannte aus der Story »Jason«. Auf diesem Wege soll sich dann wieder der Kreis schließen, der meine Storys miteinander verknüpft.

Genug der Vorrede - ich habe noch genug zu schreiben, Ihr noch genug zu lesen, und darum will ich Euch nicht länger mit dem Vorwort aufhalten. Nur eins noch: Wenn Ihr sowieso gerade ein bisschen schlechter drauf seid als sonst, solltet Ihr Euch vielleicht zweimal überlegen, ob Ihr wirklich mit dieser Story anfangt. Sie wird Spuren hinterlassen, da bin ich mir sicher. Und das ist beabsichtigt. Nur noch eine Bitte: Wenn in Eurem Freundeskreis mal ähnliche Andeutungen fallen - so wie das, was Janosch passiert ist - versucht mal, es nicht zu überhören, sondern hört zweimal hin. Und reagiert entsprechend. Wenn Ihr sonst auch vielleicht nicht viel tun könnt, außer demjenigen zur Seite zu stehen - aber das könnt Ihr tun. Und das ist verdammt wichtig.

Euer Rick

12. Juli 2000

»Meine Damen und Herren, wir freuen uns, sie an Bord unseres Fluges von Chania nach Hannover begrüßen zu dürfen. Ihr Flugkapitän ist ...« Ich steckte mir die Ohrhörer meines Walkmans in die Ohren und lehnte mich zurück. Schließlich wusste ich, auf welchem Flug ich mich befand, und der Name des Piloten nützte mir sowieso nichts. Die Maschine startete planmäßig, ich schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Ich hatte zwei Wochen Urlaub auf Kreta hinter mir, ein Geschenk meiner Eltern und Großeltern zum bestandenen Abitur. Das Mittelmeer war schon immer mein Traum gewesen, und meine Eltern waren der Meinung, dass ich nach der bestandenen Reifeprüfung (mein Vater sagte nie 'Abitur', sondern immer nur Reifeprüfung) auch alt genug war, um einen kleinen Urlaub allein antreten zu können. Meine Eltern waren währenddessen zuhause geblieben, mein Vater musste arbeiten, und Janosch, mein kleiner Bruder, hatte zu dem Zeitpunkt noch Unterricht gehabt. Mittlerweile hatte auch er Ferien, und ich freute mich darauf, noch ein paar Tage mit ihm zu verbringen.

Einige Minuten nach dem Start kam eine Durchsage des Piloten: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, leider haben wir ein kleines technisches Problem mit dem Fahrwerk. Dies wird unseren Flug jedoch nicht sehr beeinflussen, bitte stellen Sie sich lediglich darauf ein, dass der Flug etwas unruhiger werden wird als vorgesehen. Es besteht kein Grund zur Panik.« Ich zog die Augenbrauen hoch. Das Fahrwerk? Na ja ... blieb zu hoffen, dass der Vogel genügend Sprit an Bord hatte, denn durch den erhöhten Luftwiderstand würde sich der Treibstoffverbrauch deutlich erhöhen. Endlich wusste ich, weshalb ich für das Abitur Physik und Mathe als Leistungskurse gewählt hatte ....

Ich schaffte es, trotz der Mitteilung ein wenig zu schlafen, und gegen 13:00 Uhr wurde ich wieder wach. Als ich aufwachte, sah ich, dass wir deutlich unter der normalen Flughöhe waren. Eine Stewardess kam vorbei, und ich winkte sie zu meinem Platz. »Entschuldigen Sie bitte, landen wir schon vorher?« »Es tut mir leid, aber dazu kann ich nichts sagen - die Entscheidung trifft der Kapitän. Aber wenn das der Fall sein sollte, wird er Sie rechtzeitig informieren.«

»Alles klar, vielen Dank«, antwortete ich und beschloss, einfach mal abzuwarten, was der Kapitän - wie hieß er eigentlich? Vielleicht hätte ich doch auf den Namen achten sollen ... - uns zu sagen hatte. Es dauerte keine zwei Minuten: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden in ca. zwanzig Minuten einen außerplanmäßigen Stop in Wien-Schwechat einlegen. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Bitte bleiben Sie ruhig sitzen, schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein. Ladies and Gentleman, in a few minutes we will land for a non-schedule stop in Vienna-Schwechat ...« Aha. Das musste die Durchsage sein, von der die Stewardess gesprochen hatte. Na ja, wahrscheinlich die obligatorischen Vorsichtsmaßnahmen.

Ich arbeitete seit meinem 18. Geburtstag beim Roten Kreuz im Katastrophenschutz, und darum kannte ich die Maßnahmen, die getroffen wurden, wenn es ein technisches Problem an Bord gab - schließlich war unsere Einheit nicht weit vom Hamburger Flughafen stationiert. Ich beschloss, vorsichtshalber wach zu bleiben, und ging im Geiste unseren Einsatzplan für Notfälle durch. Wir hatten das Ganze oft geübt, auch schon zweimal an Bord eines Flugzeuges, aber bisher war nie der Ernstfall eingetreten. Einerseits spürte ich eine gewisse Spannung - ein Hauch von Nervenkitzel und Abenteuer - aber spätestens, als ich mir vor Augen führte, dass ich hier in einem voll besetzten Airbus A310-300 saß und mir ausmalte, was bei einem Absturz passieren könnte, war die Spannung verflogen.

Ein paar Minuten später wurde es etwas ruhiger auf der einen Seite der Maschine, wenige Sekunden später hörte man nur noch den Wind und unruhiges Stimmengemurmel - das sonore Dröhnen der Turbinen war einem unruhigen Rauschen gewichen. Ich spannte mich an und sah noch einmal nach draußen. Mein Verdacht bestätigte sich: Die Triebwerke waren ausgefallen - was aber nur am fehlenden Kondensstreifen zu erkennen war. Am Horizont war schon mittlerweile der Wiener Flughafen zu sehen. Es gab eine weitere Durchsage des Kapitäns: »Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch ein technisches Problem werden wir gezwungen sein, in Wien eine Notlandung durchzuführen. Es besteht nach wie vor kein Grund zur Panik, wir werden Sie ständig informiert halten. Ladies and Gentleman ...«

Das klang nach einem etwas größeren Problem. Während ich noch darüber nachdachte, tippte mir jemand auf die Schulter. »Entschuldigen Sie, haben Sie eine Ahnung, wie diese Anweisungen zu verstehen sind?« fragte mich jemand. Ich drehte mich in die Richtung und sah einen Mann um die vierzig, der etwas unbeholfen versuchte, mit den Sicherheitshinweisen klarzukommen. Er erklärte ihm das Nötigste. »Sie fliegen wohl nicht oft?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, normalerweise fahre ich mit dem Zug. Nur bei langen Strecken nehme ich das Flugzeug.« Dann streckte er mir die Hand hin. »Vielen Dank.« Ich ergriff die Hand und winkte mit der anderen ab. »Keine Ursache, gern geschehen.«

Eine ganze Weile glitt die Maschine verhältnismäßig ruhig durch die Luft - es war regelrecht unheimlich. Ich schaute abwechselnd auf die Uhr und aus dem Fenster - es war mittlerweile 13:30 Uhr. Plötzlich gingen die Lichter der Maschine aus. Es ertönten ein paar einzelne Schreie. »Meine Damen und Herren, hier spricht noch einmal ihr Kapitän. Dass die Lichter ausgeschaltet wurden, ist eine reine Sicherheitsmaßnahme. Wir werden in wenigen Sekunden landen, die Landung könnte etwas unsanft werden. Bitte verschränken Sie die Arme vor den Kopf und stützen Sie sich an der Lehne des Vordersitzes ab. Ladies ...«

Das Letzte, was ich sah, bevor ich der Anweisung folgte, war der Zaun des Flughafens, der langsam unter uns vorbeiglitt - und für meinen Geschmack sah ich ihn viel zu deutlich. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, brüllte eine Stewardess durch die Kabine: »Köpfe runter!«, und es wurde schlagartig ruhig. Bei Autounfällen ist mir schon ein paar Mal aufgefallen, dass es in der Sekunde vor dem Aufprall immer totenstill zu sein scheint, und genauso war es auch jetzt.

Es krachte ein paar Mal, die Maschine wurde gewaltig durchgeschüttelt, und man hörte das Kreischen von Metall, das zerrissen wurde - ein ekelhaftes Geräusch. Schließlich stand die Maschine still, und plötzlich brach die Panik aus, die der Pilot und die Mannschaft die ganze Zeit versucht hatten, zu unterdrücken - man hörte einige Schreie, und schließlich brüllte fast jeder, der an Bord war, los. Ich nahm vorsichtig den Kopf hoch und sah mich um.

Ein paar der Fächer im Dach waren aufgesprungen, und einige Handgepäckstücke hatten sich in der Kabine verteilt. Ein paar Leute hatten offensichtlich leichte Verletzungen, aber es schien keiner ernsthaft verletzt zu sein. »Stehen Sie bitte auf, gehen Sie langsam zu den Ausgängen und verlassen Sie die Maschine über die Notrutschen!«, rief eine Stewardess durch die Maschine. Die meisten Passagiere standen auf, ohne sich um den Rest zu kümmern. Einige blieben sitzen, und ich sah zwei andere, die versuchten, Kindern oder älteren Menschen zu helfen. Mein Sitznachbar, der vorher Probleme mit der Hinweistafel gehabt hatte, rührte sich ebenfalls nur langsam.

Ich beugte mich zu ihm herüber und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. »Ist mit Ihnen alles okay?«, fragte ich ihn. Er stöhnte auf, als er den Kopf hob. »Nein, ich glaube nicht«, sagte er gepresst. Ich hob ihn vorsichtig an und lehnte ihn zurück in seinen Sitz, und da sah ich auch schon die Bescherung. Neben seinem Sitz lagen Glasscherben, sein Hemd und seine Hose waren durchnässt und in seinem Arm klaffte eine große Schnittwunde, aus der das Blut regelrecht herauspulsierte. Offensichtlich war eine Flasche aus dem Gepäckfach gefallen und auf dem Sitz vor ihm zerschellt. Die Reste - unter anderem der noch fast intakte Hals der Flasche - lagen auf dem Boden um den Sitz verstreut.

Ich überprüfte erst mal meine Gliedmaßen, ob alles in Ordnung war - zum Glück war das der Fall - und stand dann auf. Um meinen Sitznachbarn herum war alles mit Blut verschmiert. Ich überlegte nicht lange und zog meinen Gürtel aus der Hose. Zum Glück hatten wir damals in der Grundausbildung für den Katastrophenschutz gelernt, wo die Schlagadern verliefen. Ich nahm meinen Gürtel und band den Arm so gut wie möglich ab. Der Blutstrom wurde schlagartig schwächer. Ich schaute mich um, ob ich etwas für einen behelfsmäßigen Druckverband finden konnte. Andererseits wusste ich nicht, wie es um die Maschine stand, und auch in mir kam Panik auf.

»Können Sie aufstehen?«, fragte ich ihn. Er nickte. »Ja, ich glaube, das geht.« »Okay. Dann sollten wir zusehen, dass wir hier herauskommen.« Ich stand auf und nahm vorsichtig seinen unverletzten Arm. Dabei fiel mir auf, dass er eine Krawatte trug. »Haben Sie zufällig ein oder zwei Stofftaschentücher dabei?«, fragte ich ihn. Er griff mit der freien Hand in seine Hosentasche. »Eines habe ich hier.« Es war noch perfekt gefaltet - zwar etwas zerknittert - aber ansonsten noch unbenutzt. Außerdem steckte in der Brusttasche seines Jacketts ein zusammengefaltetes Tuch. Ich nahm beide, faltete sie der Länge nach zusammen und legte sie mit dem sauberen Taschentuch nach unten auf die Wunde. »Ich brauche bitte ihre Krawatte«, sagte ich.

Er sah mich verwundert an, griff dann aber mit der rechten Hand zu seinem Kragen und zog den Knoten auf. Ich band den Stoffstreifen um die Wunde und die Tücher. Es war zwar kein perfekter Druckverband, aber bis der Notarzt eintraf, würde er seinen Zweck erfüllen. Mein 'Patient' sah mich verwundert an. »Sag' mal, wo hast Du das gelernt?«, fragte er. »Ich bin beim Roten Kreuz, Katastrophenschutz in Hamburg.« Er lächelte und streckte mir die unverletzte Hand hin. »Ich bin auch aus Hamburg. Roland Westermann«, stellte er sich vor. Ich erwiderte vorsichtig den Händedruck. »Lucas Reilly.«

»Bist Du Amerikaner?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine Mutter ist Irin, und sie hat meinen Vater erst später geheiratet. Bei meinem Bruder hat er sich dann durchgesetzt - er heißt Janosch.« Westermann versuchte noch ein Lächeln, diesmal gelang es ihm besser. »Kommen Sie, wir sollten sehen, dass wir hier 'rauskommen. Jetzt aber wirklich.« Er nickte und ging vorsichtig voran. Ich ging dicht hinter ihm, immer bereit, zuzufassen, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. Aber er hielt sich recht gut auf den Beinen.

Wir waren fast die Letzten, die ausstiegen - hinter uns kamen noch einige Passagiere und die Besatzung der Maschine. Über die Notrutsche ging es nach draußen. Ich versuchte, Herrn Westermann etwas abzufangen, damit er nicht auf seinen verletzten Arm fiel. Draußen herrschte natürlich Chaos - die Menschen standen herum, teilweise - bildlich gesprochen - völlig kopflos, und versuchten, ihre Gedanken zu ordnen oder andere Familienmitglieder zu finden. Mittlerweile waren auch einige Rettungswagen eingetroffen, und die Sanitäter machten ihre Runde.

Ich übergab Herrn Westermann an einen Kollegen vom Österreichischen Roten Kreuz. Dann erkundigte ich mich, ob ich mich noch irgendwie nützlich machen könnte. Der Kollege sah mich abschätzend an. »Hast Du denn Ahnung von so was?« Herr Westermann hielt seinen verletzten Arm etwas höher. »Reicht das?«, fragte er. Der Kollege grinste. »Das sieht nach guter Arbeit aus, aber trotzdem solltest Du Dich vielleicht auch erst mal etwas sammeln.« Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich zum Gehen, als Herr Westermann mich noch einmal rief: »Lucas! Warte bitte mal.«

Ich drehte mich noch einmal um. »Gib' mir doch bitte mal Deine Telefonnummer, ich würde mich gern mal bei Dir melden, wenn wir wieder heil in Hamburg angekommen sind.« Ich nickte. »Okay.« Der Kollege vom Roten Kreuz hielt mir einen Stift und einen Block hin. Grinsend sagte er: »Allzeit bereit.« Ich grinste zurück, was aber wohl eher nervös und angespannt als belustigt wirkte. »Das waren die Pfadfinder - in unserer Satzung steht das nicht drin.« Ich schrieb Herrn Westermann meinen Namen und meine Telefonnummer auf, und er versprach mir, sich noch mal bei mir zu melden, wenn wir das Ganze hier heil überstanden hatten. Außerdem bedankte er sich mindestens fünf Mal für die Hilfe. Ich winkte ab - für mich war das eine Selbstverständlichkeit gewesen, schließlich wurde ich ja seit über anderthalb Jahren darauf getrimmt.

Zum Abschied drückte er mir noch seine Karte in die Hand - wie ich etwas überrascht feststellte, war Dr. Roland Westermann Rechtsanwalt in Hamburg und Geschäftsführer einer renommierten Kanzlei für Familienrecht. »Dann weiß ich ja gleich, an wen ich mich im Falle einer Scheidung wenden kann«, sagte ich. Er sah mich etwas überrascht an. »Du bist verheiratet?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein ... bisher zumindest noch nicht.« Er versuchte ein Lächeln. »Ich denke, das wird sich schon noch irgendwann ergeben.« Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck, und dann ging ich zum Sammelpunkt für die unverletzten Passagiere.


Drei Stunden später stieg ich wieder ins Flugzeug. Die Fluggesellschaft hatte einige Plätze in einem anderen Flugzeug organisiert, sogar direkt bis nach Hamburg. Aus - nach dieser Beinahe-Katastrophe verständlichen - Gründen hatten viele jedoch auf den Flug verzichtet und sich für den Zug oder einen Mietwagen entschieden. Gerade hatte ich mich hingesetzt, als ich hinter mir eine Stimme hörte. »So trifft man sich wieder. Hallo, Lucas.« Ich drehte mich um, und hinter mir stand mein 'Patient'. »Hallo, Herr Westermann. Was macht der Arm?« Der Arm war verbunden. Offensichtlich war der Schnitt vor Ort genäht worden, jedenfalls blutete nichts durch. Und er hatte sich mittlerweile umgezogen - der Anzug wies jedenfalls keine Blutflecken auf. Nur auf die Krawatte hatte er verzichtet.

»Dem geht's schon wieder recht gut. Nochmals vielen Dank für Deine Hilfe. Der Notarzt meinte, wenn Du nicht so schnell gehandelt hättest, wäre das wohl nicht so glimpflich ausgegangen.« »Wie gesagt, Ehrensache - ich bin seit einiger Zeit beim Katastrophenschutz. Auch wenn ich wohl nie meinen Doktor machen werde«, fügte ich grinsend hinzu. Er winkte ab. »Vergiß' den Doktor und bleib' ruhig beim Vornamen, wenn Du willst. Ich heiße Roland.« Wir schüttelten uns noch einmal die Hände, und ich hatte in der nächsten halben Stunde das Problem, das eigentlich jeder hat, der eine Person erst mit 'Sie' angesprochen hat und dann auf das weniger förmliche 'Du' umgestiegen ist.

Er setzte sich zu mir, und wir kamen während des Fluges - der diesmal ohne Zwischenfälle verlief, wie wir später erleichtert feststellten - ins Gespräch. »Was haben Sie ... hast du eigentlich auf Kreta gemacht? Nach Urlaub sah mir das nicht aus«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte mit einem Klienten etwas zu klären, eine Erbschaftssache. Ich bin auch nur für einen Kollegen eingesprungen, der den Fall normalerweise bearbeitet.« »Und was bearbeitest du sonst? Ich meine, was darf man sich unter 'Familienrecht' vorstellen?« »Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Scheidungsfragen und Fällen von sexuellem Missbrauch.« Ups. Das war ein verdammt hartes Thema. Ich war froh, dass ich damit bisher noch nicht unmittelbar in Berührung gekommen war. Oder war er vielleicht ...? Ich beschloss, nachzuhaken.

»Auf welcher Seite?«, fragte ich. »Keine Sorge - immer auf Seite der Opfer. In letzter Zeit ist es allerdings ein paar Mal vorgekommen, dass ein Angeklagter um Unterstützung gebeten hat. Diese Fälle habe ich jedoch abgelehnt.« »Und warum, wenn ich fragen darf?« Er atmete tief durch und trank einen Schluck von dem Kaffee, den die Stewardess mittlerweile verteilt hatte. »Meine Frau und ich haben einen Adoptivsohn, Markus. Er ist jetzt 18 und lebt seit neun Jahren bei uns. Ich habe ihn damals kennengelernt, als der Scheidungsprozess seiner Eltern lief. Dabei stellte sich heraus, dass sein leiblicher Vater ihn schon seit Längerem aufs Übelste missbraucht hat.«

Er schluckte. »Als ich später die Schilderungen gehört habe, auch von seinem Vater selbst, wäre ich am liebsten auf ihn losgegangen. Kurz nach dem Prozess hatte seine Mutter einen tödlichen Verkehrsunfall, und seinem Vater war selbstverständlich das Sorgerecht entzogen worden - davon abgesehen saß er noch im Gefängnis. Und da meine Frau und ich keine eigenen Kinder bekommen können, haben wir ihn zu uns genommen.« Ich mochte gar nicht daran denken. In diesem Moment gingen mir einige Namen und Schlagzeilen durch den Kopf. Kinder, die erst vergewaltigt und dann getötet worden waren. Täter, die viel zu geringe Bewährungsstrafen bekamen. Opfer, die das Ganze zwar überlebten, aber Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchten, um das Ganze zu verarbeiten, was ihnen angetan worden war.

»Und wie hat Markus das ganze verarbeitet?«, fragte ich vorsichtig nach. »Zum Glück ziemlich gut. Wir hatten das Glück, eine hervorragende Therapeutin für ihn zu finden. Sie hat das Ganze Schritt für Schritt mit ihm aufgearbeitet, und mittlerweile ist aus dem Kleinen ein junger Mann geworden, der mit beiden Beinen im Leben steht. Nach dem Abitur will er Psychologie studieren und in der Jugendhilfe arbeiten.« Ich hatte irgendwo mal gehört, dass viele Psychologiestudenten das Studium nutzten, um erst mal ihre eigenen Probleme zu verarbeiten, und das schien mir hier auch nicht allzu weit hergeholt zu sein. Das war aber auch nur verständlich. Wie gesagt, zum Glück hatte ich nie etwas damit zu tun gehabt, aber trotzdem konnte ich mir ansatzweise vorstellen, was in den Köpfen von Kindern vorgehen musste, denen das widerfahren war.

Den Rest des Fluges verbrachten wir weitgehend schweigend. Am Flughafen in Hamburg verabschiedeten wir uns schließlich. Roland versprach mir noch mehrere Male, sich bei mir zu melden. Schließlich nahm mich meine Mutter am Terminal Vier in Empfang und in die Arme. »Lucas! Was machst du für Sachen! Da lässt man Dich einmal allein los, und schon ...« Ich beruhigte sie. »Mama, es ist alles in Ordnung. Erstens war es wirklich nicht meine Schuld, und zweitens ist nicht allzu viel passiert. Es gab ein paar Verletzte, aber es war nichts wirklich Schlimmes dabei.«

Sie schüttelte den Kopf. »Hauptsache, du bist unverletzt. Geht es dir gut?«, fragte sie. Ich nickte. »Ja, ich bin etwas müde, aber mir fehlt nichts.« »Janosch war ganz besorgt um dich. Er hat im Radio davon gehört und mich ständig gefragt, ob du dich gemeldet hast.« Ich musste lächeln. Das war typisch für meinen kleinen Bruder. Janosch ... mit meinen Eltern verband mich die typische Liebe zwischen Eltern und ihrem Sohn, aber Janosch und mich verband etwas ganz besonderes. Er war 14, somit also fünf Jahre jünger als ich. Wir hatten zusammen schon viel Blödsinn gemacht und unsere Eltern mehr als ein Mal zur Verzweiflung getrieben. Wir vertrauten uns gegenseitig völlig, und im Großen und Ganzen verstanden wir zwei uns blendend. Natürlich stritten wir uns hin und wieder, aber genau so schnell war ein Streit wieder vergessen.

Und wir waren absolut ehrlich zueinander. Mit unseren Eltern nahmen wir das nicht ganz so genau, so stand ich zum Beispiel öfter für das gerade, was Janosch angestellt hatte. Meine Mutter behandelte uns beide gleich, aber bei Dad hatte ich klare Vorteile - selbst Außenstehende konnten sehen, dass er mich meinem Bruder gegenüber bevorzugte. Er sah Janosch eher als Betriebsunfall denn als Wunschkind, und ich wusste, dass meine Mutter seit seiner Geburt wieder die Pille nahm.

Das war auch der einzige immer wiederkehrende Streitpunkt zwischen meinem Vater und mir. Ich hatte ihn schon mehrfach darauf angesprochen, dass ich sein Verhalten Janosch gegenüber ziemlich unfair fand, aber das fruchtete nicht weiter. Janosch war auch schon mehr als einmal von Dad geschlagen worden, jedoch immer so, dass es nicht weiter auffiel. Mum wusste nichts davon, und Janosch wollte auch nicht, dass ich ihr etwas davon erzählte.

Immerhin konnte ich ihn immer ein bisschen trösten. Ich erinnerte mich an manche Nächte, in denen Janosch bei mir im Bett geschlafen hatte. Er kuschelte sich dann immer ganz dicht an mich. Ein paar Mal hatte er schon gesagt, dass er sich bei mir wirklich sicher fühlen würde. Doch seit einiger Zeit tat er das nicht mehr. Er kam zwar noch hin und wieder zu mir, aber er ließ es nicht einmal mehr zu, dass ich ihn in den Arm nahm, wenn es ihm nicht gut ging. Er wollte einfach nur reden. Und ich hatte das Gefühl, dass er irgend etwas vor mir verbarg. Ich hatte ihn einmal danach gefragt, aber er meinte nur: »Später, Luke, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist.« Seinen Blick dabei werde ich jedoch nie vergessen ... unendlich traurig. Er hatte wunderschöne blaue Augen, und er konnte manchmal einen wirklich traurigen Hundeblick aufsetzen. All das änderte jedoch nichts daran, dass wir beide nach wie vor die besten Freunde waren.

Meine Mutter rief mich zurück in die Realität. »... mit den Vorbereitungen anfangen?«, fragte sie. »Wie bitte? Ich habe gerade nicht zugehört.« Sie lächelte, während sie den Wagen in die Auffahrt lenkte. »Das habe ich gemerkt. Ich wollte wissen, wann ihr mit den Vorbereitungen für Eure Abschlussfeier anfangen wollt?« Die eigentliche Abiturfeier war schon vorbei, aber wir wollten trotzdem noch mit ein paar Leuten getrennt feiern. Dazu hatte sich unser Haus angeboten, weil wir einen großen Garten hatten und recht abgeschieden wohnten - etwas außerhalb vom Stadtzentrum. Wir, das war eine feste Clique von ein paar Leuten, die sich regelmäßig traf, um irgendetwas zu unternehmen. Seit einiger Zeit hatten wir auch ein schwules Pärchen mit in der Gruppe: Richie Masters und sein Freund Jason.

Wir - Janosch und ich - hatten die Beiden und Richies Halbbruder Nick vor einiger Zeit auf einer Go-Kart-Bahn in Hamburg kennengelernt, als Jason und Janosch fast zusammengestoßen wären. Jason hatte die Kontrolle über seine Kiste verloren, hatte zwei Pirouetten gedreht und war genau vor Janoschs Kart zum Stehen gekommen. Zum Glück konnte der noch fast rechtzeitig bremsen, und es gab weder Verletzte noch ernsthafte Blechschäden. Janosch hatte Jason - er war Schauspieler - erkannt und ganz schüchtern um ein Autogramm gebeten. Jason hatte ihm eines gegeben, und so waren wir ins Gespräch gekommen.

Die drei waren total nett, und auch wenn ich bisher noch nie mit Schwulen zu tun gehabt hatte, fand ich, dass Jason und Richie zusammen ein richtig schönes Paar abgaben. Wir verbrachten den Rest des Tages zusammen, tauschten schließlich die Adressen aus und mussten abends feststellen, dass Richies und Nicks Vater schon öfter mit unserem zu tun gehabt hatte. Ripley Masters war Zahnarzt und ziemlich wohlhabend, und unser Vater leitete die Investmentabteilung einer Hamburger Privatbank. So war schließlich zwischen Richie, Jason, Nick, Janosch und mir eine gute Freundschaft entstanden. Was nicht zuletzt auch daran lag, dass Jason sich absolut normal verhielt und keinerlei Starallüren hatte.

Im letzten Sommer hatten die drei uns beide auf einen Urlaub in die USA mitgenommen - Rip hatte ein Haus in Los Angeles. Wir beide waren das erste Mal in Amerika gewesen und hatten jeden Tag in vollen Zügen genossen. Außerdem hatte Rip Janosch etwas unter seine Fittiche genommen. Wie gesagt, er war Zahnarzt - genauer gesagt: Kieferorthopäde, darauf legte er Wert - und behandelte normalerweise nur irgendwelche Promis (es war schon interessant, wer im Hause Masters so ein- und ausging - ein paar Mal hatten wir Leute getroffen, als wir da waren). Hin und wieder behandelte Rip auch »normale« Leute, meistens wenn es Bekannte von ihm oder seinen Kindern waren - neben Richie gab es noch Julian, der etwas älter war, und die jüngere Schwester Anne (auf die ich ein Auge geworfen hatte).

Für Janosch waren Zahnärzte in jeglicher Form immer das berühmte rote Tuch gewesen, aber dass er sich irgendwann mal in eine Behandlung begeben musste war schon klar, als er sieben Jahre alt war und immer noch nicht von seinem Daumen lassen konnte - was ich im Übrigen auch meinem Vater zuschreibe. Ripley hatte es jedenfalls geschafft, Janoschs Vertrauen zu gewinnen, und mittlerweile bereute der seine Entscheidung nicht. Ich weiß, das Ganze ist nicht unbedingt interessant, aber für den späteren Verlauf der Ereignisse nicht ganz unwichtig.

Zurück in die Gegenwart. Mittlerweile war ich in meinem Zimmer und packte meinen Koffer aus. Es klopfte, und mein Vater stand in der Tür. »Lucas! Zum Glück ist dir nichts passiert!«, rief er. Er kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Geht es dir gut?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, alles okay, ich bin nur müde.« Er lächelte. »Hauptsache, du hast das ganze unbeschadet überstanden. Rip Masters hat auch schon angerufen und nach dir gefragt.« »Wieso das denn? Er wusste doch gar nicht, dass ich heute wiederkomme, oder?« »Doch, wusste er. Er hatte uns vor ein paar Tagen gefragt, weil er heute sowieso in Hannover zu tun hatte, und hätte dich dann am Flughafen abgeholt - wenn du planmäßig angekommen wärst.« Ich grinste. »Wäre bestimmt eine nette Fahrt geworden.« Rip war immer zu Späßen aufgelegt.

Nach einer kurzen Pause fragte ich meinen Vater: »Wo ist Janosch eigentlich? Ich habe ihn die ganze Zeit noch nicht gesehen.« »Rip war vorhin hier und hat ihn mitgenommen. Er hätte sowieso einen Termin bei ihm gehabt, und ich war ganz froh, dass er nicht mitbekommt, was wir uns für Sorgen um dich machen. Kommst du essen? Mum hat extra Irish Stew gemacht.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging aus der Tür. Ich schüttelte nur den Kopf. Das war mal wieder typisch mein Vater - wir haben Janosch kurzzeitig aus dem Weg geschafft, kommst du essen? Ich regte mich jedoch nicht mehr darüber auf - die Zeiten waren vorbei. Mittlerweile hatte ich nur noch resigniert, zumindest in diesem Punkt. Na ja, dann würde ich Janosch nachher eben abholen, wenn die Pläne nicht noch weiter durcheinandergeraten würden.

Das Essen meiner Mutter war wie immer hervorragend. Wir sprachen wenig, bis mein Vater schließlich sagte: »Sag' mal, ist es dir recht, wenn wir nachher noch weggehen? Ich habe noch einen geschäftlichen Termin und würde deine Mutter gern mitnehmen. Du müsstest allerdings auf den Kleinen aufpassen.« Ich räusperte mich. »Dad, der Kleine ist mittlerweile 14 Jahre alt und könnte gut auf sich selbst aufpassen. Aber da ich sowieso noch nichts vorhabe, könnt Ihr gern weggehen. Schließlich habe ich Janosch auch zwei Wochen nicht gesehen, und ich denke, wir haben uns viel zu erzählen.« Den letzten Satz hatte ich hinzugefügt, um etwas die Schärfe herauszunehmen - der Blick, den mir meine Mutter zugeworfen hatte, sprach Bände: »Um Himmels willen, streitet Euch doch nicht schon wieder.«, war wohl die kürzeste Interpretation.

Gegen halb acht brachte Rip schließlich Janosch vorbei und schaute noch kurz bei mir rein. »Hey Luke. Na, alle Knochen noch beisammen?«, fragte er, als er hereinkam. Ich grinste. »Na klar doch, ich will Dir ja nicht unnötig Arbeit machen.« Rip grinste zurück. »Och, da ist sowieso nicht mehr so viel zu retten, glaube ich. Aber mal im Ernst: Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte er. Ich erzählte ihm das Ganze in Kurzfassung. Als ich den Namen 'Roland Westermann' erwähnte, stutzte er. »Der Anwalt?«, fragte er. Ich nickte. »Ja, genau. Kennst du ihn.« Rip nickte. »Ja. Er hat mir damals geholfen, die ganze Sache mit Nick über die Bühne zu bringen.« [Anmerkung des Autors: 'Die Sache mit Nick' schließt sich an die Ereignisse an, die in der Story 'Jason' geschildert werden. Sie wurde jedoch - bisher - nicht schriftlich festgehalten. ]

Ich zuckte die Schultern und grinste. »Tja, die Welt ist nun mal ein Dorf.« Rip gab mir die Hand. »Ich will dich nicht länger aufhalten - Janosch kann es kaum noch erwarten, dich endlich wiederzusehen. Sag mal ... da fällt mir gerade ein, hat er in letzter Zeit Probleme mit Eurem Vater?«, fragte er. »Äh ... ein wenig, wieso?« »Er deutete so was an. Vielleicht kannst Du mal mit ihm reden? Wenn ich mich einmische, regt Jochen sich immer gleich so auf.«, schlug Rip vor. Jochen war unser Vater. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Glaub' mir, das habe ich schon versucht. Aber ... keine Chance. Manchmal ist der Kleine noch sturer als ich.« Rip grinste. »Das muss in der Familie liegen. Bis die Tage, Luke.« »Bis dann.« Rip schloss die Tür hinter sich, was ich allerdings kaum noch mitbekam - ich war schon wieder in Gedanken versunken.

Ich dachte über das nach, was Rip gesagt hatte. Wenn es schon so weit war, dass sich andere über die Situation Gedanken machten, war es wohl mehr als kritisch. Ich beschloss, erst mal nach Janosch zu sehen. Als ich vor seinem Zimmer stand, hörte ich die leise, aber eindringliche Stimme meines Vaters: »Denk' einfach daran, niemandem etwas zu erzählen, und es wird dir bestens gehen. Vielleicht hilft dir das hier ja bei der Entscheidung.« Ich hörte das Rascheln von Papier, dann die Schritte meines Vaters. Ohne zu zögern glitt ich in die nächste Tür - das Arbeitszimmer meiner Mutter. Als ich sicher war, dass mein Vater außer Hörweite war, ging ich in Janoschs Zimmer. Er war völlig in Gedanken versunken, eine Träne lief ihm über die Wange, und er starrte auf ... zwei Geldscheine, Hunderter. Er hielt sie in der Hand, als wüsste er gar nicht, wie sie dort hingekommen waren.

Ein schrecklicher Verdacht beschlich mich. Ich hatte immer noch im Hinterkopf, dass Dad Janosch schon öfter geschlagen hatte. War es etwa wieder passiert, und wollte er es diesmal auf diesem Wege aus der Welt schaffen? Aber ich traute Dad eigentlich nicht zu, dass er so weit gehen würde. Ich räusperte mich. »Hey, Kleiner.« Er erschrak und sah zu mir auf. »Luke!« Einen Moment lang sah er zwischen mir und dem Geld hin und her, dann legte er die Scheine beiseite und kam auf mich zu. Er zögerte, und dann fiel er mir schluchzend in die Arme. »Luke!« Ich hab' Dich so vermisst!» Ich streichelte ihm beruhigend über die Schultern. «Hey, ist ja alles okay - oder glaubst Du etwa, ich würde meinen Lieblingsbruder hängen lassen?»

»Janosch, Lucas - wir fahren los. Bis nachher«, rief meine Mutter von unten. »Wann seid ihr wieder da?«, rief ich zurück. »Nicht vor ein Uhr, denke ich. Macht keine Dummheiten.« »Wir doch nicht ... viel Spaß«, rief ich zurück. Die Haustür klappte zu, und dann hörte ich, wie der Motor des Wagens gestartet wurde. Ich legte Janosch den Arm um die Schulter. »Komm, wie gehen nach unten, da haben wir Ruhe.« Ich betrachtete ihn näher. Normalerweise war Janosch von einer klassischen Schönheit. Er hatte dunkelbraune, fast schwarze Haare, dazu wunderschöne blaue Augen - sehr helle und klare Augen. Seine Gesichtszüge waren noch recht weich - sie wirkten fast feminin. Das schob ich auf sein Alter, schließlich war er erst vierzehn. Meine Eltern und ich hatten recht kantige Gesichtszüge. Dank Rip Masters' Hilfe hatte Janosch mittlerweile ein unheimlich süßes Lächeln, und ich wusste, dass schon einige Mädchen hinter ihm her gewesen waren.

Von seinem guten Aussehen war allerdings momentan nicht viel übrig. Das Auffälligste waren die dunklen Ringe unter seinen Augen, er sah unheimlich müde aus. Dazu der Blick ... seine Augen, wie gesagt normalerweise hell und lebendig, wirkten fast ein wenig verschleiert. Man hätte meinen können, dass er unter Drogen steht, aber erstens war er den ganzen Nachmittag bei Rip gewesen und zweitens wusste ich, dass er keine Drogen nahm - er hatte zwar hin und wieder mal eine Zigarette geraucht (es war mir einfach zu blöd, ihm das zu verbieten, schließlich war ich sein Bruder), aber von allem anderen ließ er zum Glück die Finger. Diese Möglichkeit schied aus, also musste das alles einen anderen Grund haben.

Wir setzten uns ins Wohnzimmer, ich holte uns eine Flasche Cola und zwei Gläser. Dann nahm ich auf dem Sofa Platz. Janosch blickte ein paar Mal zwischen dem Sessel und dem Sofa hin und her, bis er schließlich fragte: »Darf ich mich zu dir setzen?« Ich nickte. »Klar doch.« Spätestens jetzt wurde ich richtig stutzig. Alles andere konnte ich mir mehr oder weniger noch erklären - oder zumindest zusammenreimen - aber das mein eigener Bruder mich fragte, wo er sich in unserem Haus hinsetzen durfte, erschien mir mehr als ungewöhnlich. Es konnte Nervosität sein, aber ich hatte das Gefühl, als steckte mehr dahinter. Ich beschloss, erst mal nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.

»Wie war deine Woche?«, fragte ich ihn. Er lächelte schwach. »Ganz nett. Ich hab' dich vermisst.« »Ich dich auch«, sagte ich. Janosch erzählte weiter: »Rip hat jetzt einen Hund. Einen Deutschen Schäferhund. Ein ganz lieber, er stürzt sich sofort auf jeden, der ihm über den Weg läuft.« Ich war verblüfft - Ripley Masters als Hundehalter? Das war etwas, dass ich mir nun gar nicht vorstellen konnte. »Warte mal, ich bin gleich wieder da.« Er stand auf und rannte nach oben. Ich lächelte ... innerlich bedauerte ich manchmal, was einem in der Jugendzeit alles verloren ging. Unter anderem die Spontaneität, die mir fehlte und die ich an Janosch so liebte. Ich weiß, das hört sich blöd an, aber mir fiel der Unterschied immer wieder auf. Auch wenn ich mit meinen 19 Jahren nur fünf Jahre älter war als Janosch.

Er kam wieder nach unten und drückte mir ein paar Polaroid-Fotos in die Hand. Er selbst war drauf, Richie, Nick und Richies Freund - und der Hund natürlich. Die fünf tobten ausgelassen im Garten herum, und Janosch strahlte über das ganze Gesicht - zumindest auf den Fotos. »Und, wie heißt er?«, fragte ich. »Rinty.«, antwortete Janosch. »Rinty? Warte mal ... den kenn' ich nur aus dieser Fernsehserie, Katts and Dog.« Janosch grinste frech. »Rip hat mir das ganze erklärt - er selbst hat seinen Namen aus einer Buchserie namens 'Rin Tin Tin', da gab es einen Lieutenant Ripley Masters. Und die Hauptfigur in diesem Buch war ein Hund namens Rin Tin Tin oder genannt Rinty.« Das war mal wieder typisch für Rip ... außerdem wusste ich jetzt endlich, wie er zu seinem Namen gekommen war. Ich hatte immer auf die englische Grafschaft Ripley in der Nähe von London getippt.

»Und was war sonst noch so? Hast Du die letzten Schultage überstanden?« »Na ja ... mehr oder weniger. Es war nicht viel los, wie immer vor den Ferien. Drei Leute waren auch schon vorher nicht da, denen war das egal.« Ich lächelte. »Und mein Bruder hat jetzt schon seinen ersten Schulabschluss in der Tasche ... ich kann's immer noch nicht glauben.« Nach einer kurzen Pause fügte ich grinsend hinzu: »Ich spar' mir jetzt aber die Frage, wie das Zeugnis ausgefallen ist - die werden Oma und Opa dir wahrscheinlich auch schon gestellt haben.« Janosch nickte. »Das kennst du ja auch noch bestens.« »Ja, aber ich hab' das ganze hinter mir«, sagte ich lachend.

Janosch sah mich einen Moment an, dann nahm er mich ganz unvermittelt in den Arm. »Mensch, Lucas, schön, dass Du wieder da bist. Du glaubst gar nicht, wie du mir gefehlt hast.« Seine Schultern bebten, und ich merkte, dass er beinahe heulte. Ich streichelte ihm sanft über die Schultern. »Hey, ist ja alles okay. Was ist denn los mit dir?« Eine Weile saßen wir einfach schweigend beisammen, ich hielt ihn im Arm und versuchte, ihn ein bisschen zu trösten. Schließlich hatte er sich wieder halbwegs beruhigt. »Hast ... hast Du zufällig Zigaretten dabei?«, fragte er mich. Ich gab ihm wortlos die Schachtel und das Feuerzeug. »Danke.« Er zündete sich eine Zigarette an und legte dann beides wieder auf den Tisch.

»Janosch, was ist los mit dir? Hat das irgendwas mit dem Geld zu tun, dass Dad Dir vorhin gegeben hat?«, fragte ich ihn. Er sah mich erschrocken an. »Hast du gelauscht?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht absichtlich. Ich wollte nur gerade anklopfen, als ich gehört habe, dass Dad bei dir ist und dir irgendwas gegeben hat - er sagte was von 'Vielleicht hilft dir das ja bei deiner Entscheidung'. Und als ich dann 'reingekommen bin, hattest du die Geldscheine in der Hand. Den Rest konnte ich mir dann ziemlich problemlos zusammenreimen.« Eine Weile saß Janosch schweigend da, rauchte seine Zigarette zu Ende und überlegte offensichtlich was er sagen sollte. Dann meinte er: »Wenn ich dir erzähle, was passiert ist, glaubst du mir das sowieso nicht.«

Ich zögerte. »Wieso sollte ich dir nicht glauben? Hat Dad dich wieder verprügelt?« Er sah mich abfällig an. »Wenn es nur das wäre.« Typisch Janosch. Aber normalerweise ging er mir gegenüber nur dann in eine Abwehrhaltung, wenn er Angst vor etwas hatte. Vor mir wohl kaum. Also doch vor Dad? Ich versuchte, ihn die Hand auf die Schulter zu legen, um ihn zu beruhigen - doch er ließ mich nicht an sich heran. »Wenn nicht mal du mich verstehst, wer denn dann?« Sein Blick war eine Mischung aus Hass und Enttäuschung. Und ganz langsam keimte in mir ein leiser Verdacht auf - der Verdacht, dass Dad Janosch vielleicht nicht nur geschlagen hatte.

Ich versuchte es noch einmal in einem ruhigen Ton. »Janosch, bitte. Ich werde dir helfen, wenn ich es irgendwie kann - das verspreche ich dir. Aber du musst mir sagen, was los ist.« Ich spürte, dass Janosch einen innerlichen Kampf ausfocht. Einerseits wollte er seine Abwehrhaltung nicht aufgeben, andererseits hatte er einfach keine Kraft mehr. Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, wann er am Ende war. »Ich kann nicht!«, schrie er und sprang auf. Wie ein gereizter Tiger lief er hin und her.

Langsam war ich mit meinem Latein am Ende. Ich kannte Janosch seit über vierzehn Jahren, aber so hatte ich ihn noch nie erlebt. Auch ich stand langsam auf und versuchte, ihm in die Augen zu sehen. »Bitte, beruhig' dich doch.« Ab hier konnte ich mich nur noch wiederholen. Mir fiel einfach nichts mehr ein. Janosch sah mich verzweifelt an. Dann sagte er mit heiserer Stimme: »Was soll's ... es hat sowieso keinen Sinn mehr.« Er zog sich sein T-Shirt aus, warf es hinter sich aufs Sofa, setzte sich hin - und fing an zu weinen. Jetzt hatte er endgültig die Selbstbeherrschung verloren.

Und ich sah auch warum. Auf seinem Rücken waren einige rote Flecken - nicht größer als ein Pfennigstück. Ein paar davon saßen ziemlich dicht über dem Hosenbund. »Was ist das?«, fragte ich ihn. »Schau' genauer hin«, schluchzte er knapp. Ich fasste ihn vorsichtig bei den Schultern, und schon zuckte er zusammen. Ich nahm die Hände weg, konnte aber nichts entdecken. »Dreh' dich bitte mal etwas mehr ins Licht«, bat ich ihn. Jetzt konnte ich sehen, was er meinte - die Flecken waren offensichtlich Brandwunden, und von der Größe her würde ich fast auf ... Zigaretten schließen. Mir drehte sich fast der Magen um, als mir das klar wurde.

»Dad?« Er nickte. »Ach du sch.....«, war alles, was mir in dieser Sekunde noch dazu einfiel. Ich hatte schon einiges von meinem Vater erlebt, und ich denke, ein paar Mal war es reines Glück, dass Janosch nicht ernsthaft verletzt wurde, weil ich dazwischen gegangen bin oder Mum zufällig in der Nähe war, aber das hätte ich ihm doch nicht zugetraut. Ich streifte Janosch vorsichtig das T-Shirt wieder über und nahm ihn in die Arme. Ich hatte das Gefühl, als ließ er in diesem Moment alles aus sich heraus, was ihn in den letzten Wochen bedrückt hatte. »Warum hat er das getan?«, fragte ich schließlich. Janosch stand auf. »Komm mit«, sagte er nur. Ich folgte ihm, ins Arbeitszimmer von unserem Vater.

»Du weißt, wo Dad den zweiten Schlüssel für den Aktenschrank aufbewahrt?«, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab' ihn nie danach gefragt.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich ihn auch nicht.« Er ging ans Bücherregal, griff zielsicher nach einem Buch und öffnete es. Der Schlüssel steckte im Einband. Janosch nahm ihn heraus und gab ihn mir. »Schau' mal im untersten Fach, hinter den Hängemappen.« »Äh ... Janosch, was soll das ganze? Du weißt, dass ich es nicht mag, in den Sachen anderer Leute herumzuschnüffeln.«

Statt einer Antwort nahm er mir den Schlüssel wieder aus der Hand, steckte ihn zurück ins Buch und stellte dieses wieder ins Regal. »Wenn du wissen willst, was los ist, musst du schon selbst nachsehen.« Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer. In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich dachte, du wolltest mir helfen.« Dann war er endgültig verschwunden. Ich schwankte. Einerseits widerstrebte es mir, in Dads Sachen herumzuschnüffeln, andererseits war mir völlig klar, dass etwas in der Luft lag. Und ich hatte Janosch noch nie so erlebt wie gerade eben. Er hatte mich angeschrien - das war vorher noch nie passiert.

Am Ende musste ich doch nicht allzu lange überlegen. Janoschs Verhalten sprach Bände, also schaute ich nach. Im besagten Fach befanden sich eine Reihe von Mappen - Unterlagen aus Dads Firma, mit denen ich sowieso nichts anfangen konnte. Janosch hatte gesagt, ich sollte hinter den Mappen nachsehen. Alles, was ich fand, waren ein paar Videocassetten ohne Etikett. Das musste wohl das sein, was Janosch meinte. Ich nahm eine Cassette mit und warf einen Blick auf die Uhr - es war kurz nach halb neun, ich hatte also noch genug Zeit. Vorsichtshalber legte ich alles wieder so hin, wie es war, und ging dann mit der Cassette nach oben. Natürlich musste sie erst zurückgespult werden ... ich legte sie in den Recorder und drückte die entsprechende Taste. Schließlich lief der Film an - beziehungsweise die letzten Reste der Tagesschau. Dann kam der Vorspann zu einem James-Bond-Film. Ich konnte nichts Besonderes an diesem Film entdecken und spulte etwas vor, bis zum Ende des Films. Das Wort zum Sonntag interessierte mich auch nicht besonders.

Ich wollte gerade die Cassette herausnehmen, als ein scharfer Bildschnitt erfolgte. Was jetzt kam, war offensichtlich mit einer Videokamera aufgenommen - man sah es an der Bildqualität und an der unten eingeblendeten Uhrzeit. Wenn das Datum stimmte, war dieser Film erst vor ein paar Tagen aufgenommen worden. Offensichtlich war dies das Schlafzimmer meiner Eltern ... mir war etwas unwohl. Ich wusste ja nicht, wie sie ihr Sexleben gestalteten, aber es interessierte mich ehrlich gesagt auch nicht besonders, was sie miteinander trieben. Ich beschloss, trotzdem einen Blick auf das Band zu werfen - rechtzeitig abschalten konnte ich ja immer noch.

Die Kamera schwenkte langsam vom Fenster - mit geschlossenen Vorhängen - zum Bett. Auf dem Bett saß ... Janosch. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und sah ziemlich verängstigt aus, außerdem hatte er nichts an. Ich hörte die Stimme meines Vaters im Hintergrund. »Keine Angst, dir wird nichts passieren.« Er kam von der Seite ins Bild, ebenfalls nackt, und legte sich aufs Bett. Dann zog er Janosch zu sich heran. Was nun folgte, konnte ich einfach nicht glauben. Mein Vater ... verging sich an seinem eigenen Sohn. Mit zitternden Händen schaltete ich den Videorecorder aus. Ich war sprachlos. Dass mein Vater auf Sex mit Kindern stand, war eine Sache, die mich einfach nur entsetzte. Aber dass er sich dazu auch noch Janosch ausgesucht hatte, machte mich rasend vor Wut. Diese ohnmächtige Wut überfiel mich schlagartig. Am liebsten hätte ich alles um mich herum kurz und klein geschlagen. Unter diesen Umständen war es natürlich kein Wunder, dass Janosch so verstört war. Und jetzt konnte ich mir auch erklären, warum er vorhin so zusammengezuckt war, als ich seine nackten Schultern berührt hatte.

Ich versuchte, mich erst mal etwas zu beruhigen. Zum Glück waren meine Eltern momentan nicht, da ... ich wußte, wo mein Vater eine Pistole aufbewahrte, und ich glaube, in diesem Moment hätte ich von diesem Wissen Gebrauch gemacht. Doch das alles brachte in diesem Moment sowieso nichts. Ich ging zu Janosch Zimmer und klopfte an. »Was ist?«, fragte er - offensichtlich mit tränenerstickter Stimme. »Darf ich 'reinkommen?«, fragte ich. »Ja.« Er saß auf seinem Bett - in einer ähnlichen Pose wie auf dem Video, klein in der Ecke und regelrecht zusammengerollt. Ich setzte mich zu ihm. Er sah mich durch seine verweinten Augen halb fragend, halb erwartungsvoll an. »Und jetzt?« Ich schluckte. »Ich hab' die Cassetten gefunden.«

Wir beide schwiegen lange. »Und ... glaubst du, dass es wahr ist?« Ich nickte langsam. »Ich wünschte, ich könnte 'Nein' sagen, aber es gibt einfach zu viel, was dafür spricht.« Ich wartete, wie Janosch reagieren würde. Nichts. Ich ging die paar Schritte in seine Richtung und nahm ihn in die Arme. Er ließ sich gehen, ich spürte, wie er zitterte. Aber er fing nicht an, zu heulen - offensichtlich wollte er sich auch jetzt noch nicht anmerken lassen, wie es ihm ging. Ich spürte in diesem Moment eine Zuneigung zu ihm, wie ich sie vorher nie gefühlt hatte. Niemand hatte das Recht, dafür zu sorgen, dass es um jemanden so schlimm stand wie in diesem Moment um Janosch. In diesem Moment schwor ich mir, dass mein Vater für das ganze teuer bezahlen würde. Ich wusste noch nicht wie, aber ich würde dafür sorgen.

Jetzt ging es jedoch erst einmal darum, Janosch zu helfen. Er war praktisch nur noch ein Häufchen Elend in meinem Armen. Ich hielt ihn fest und versuchte ihn zu trösten, so gut es ging. Schließlich fragte er: »Luke, was können wir jetzt machen? Können wir überhaupt was machen?« Ich nickte. »Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.« Nach einer kurzen Pause fügte ich mit einem zuversichtlichen Lächeln hinzu: »Streich' das 'ziemlich'.« »Und wer soll uns helfen? Wird mir überhaupt jemand glauben? Ich will nicht, dass noch irgendjemand das Video sieht.«

»Ich werde versuchen, das zu vermeiden, wenn es geht. Ansonsten kenne ich mindestens eine Person, die dir auf jeden Fall glauben wird. Einer unserer besten Freunde, oder besser gesagt: der Vater unserer besten Freunde.« Er sah mich überrascht an. »Du spricht von Rip Masters.« Das war definitiv mehr eine Feststellung als eine Frage. »Luke, ich bitte dich ... Rip ist Zahnarzt, aber kein Rechtsanwalt.« Ich konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen - das war wieder mal typisch mein Bruder. Vor ein paar Minuten war er noch völlig am Boden, und jetzt diskutierte er mit mir die verbliebenen Möglichkeiten.

»Das weiß ich, aber neben deinem Zahnarzt ist Rip auch ein verdammt guter Freund von uns. Und wenn uns jemand außerhalb der Familie helfen kann, dann er. Er hat die Möglichkeiten, er kennt jede Menge Leute. Vergiss' nicht, dass Mum nie etwas mitbekommen hat, sie weiß nichts. Sie wird sich mit Sicherheit erst mal auf die Seite von Dad stellen. Zwar nicht für lange, aber ich denke, so wird es sein. Außerdem ist das für Rip nicht das erste Mal, dass er damit konfrontiert wird ...« »... mit sexuellem Missbrauch.« Es war das erste Mal, dass Janosch diese Worte wirklich benutzt hatte. Sie hingen in der Luft wie ein Peitschenknall.

Janosch, der sich gerade wieder etwas gefangen hatte, brach nun endgültig zusammen. Er heulte hemmungslos und war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Ich spürte, wie die Wut auf meinen sogenannten Vater noch weiter wuchs. Ich spürte puren Hass in mir aufwallen. Außerdem musste ich mich erst daran gewöhnen, dass Janosch' Stimmung so plötzlich umschlug. Früher war er immer ziemlich ausgeglichen gewesen. Aber in Anbetracht der Umstände war es kein Wunder, dass es ihm so schlecht ging. Und mir fiel noch etwas ein.

»Janosch, darf ich dich mal was fragen?« Er nickte. »Was denn?« »War das ... was da auf dem Video passiert ist ... war es das erste Mal?« Er schüttelte nur den Kopf. Das reichte mir. »Okay. Pack' Dir ein paar Sachen zusammen, Klamotten und so, ich mache dasselbe und in einer halben Stunde sind wir beide hier verschwunden.« »Und wohin?« »Zu Rip. Da können wir zumindest für ein paar Tage bleiben - ich glaube nicht, dass Rip etwas dagegen haben wird, spätestens wenn wir ihm das ganze erklären.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging in mein Zimmer, um zu packen.

Zunächst griff ich jedoch zum Telefon und wählte die Nummer von Richie. »Wer glockt zu dieser Tageszeit?«, meldete der sich. »Richie, ich bins - Luke. Äh ... habt Ihr zwei heute Abend schon was vor?« »Eigentlich nichts außer einem gemütlichen Videoabend zu zweit. Aber Du klingst nicht gerade, als ob Du mit uns ein Bier trinken gehen willst?«, antwortete er. »Nicht wirklich. Habt Ihr zufällig noch zwei Betten frei?« Jetzt klang er wirklich erstaunt. »Ist euer Haus abgebrannt, oder was ist los?« »Nicht direkt. Ich erklär' Dir das ganze später, Janosch und ich können auf jeden Fall heute Nacht nicht zuhause schlafen.«

Spätestens jetzt wurde Richie ernst. »Okay, kein Problem.« »Und noch was, ist Rip zuhause?« »Ja, ist gerade wiedergekommen«, antwortete Richie. »Super. Tu' mir bitte den Gefallen und halte ihn fest, bis wir bei Euch sind - ich denke, wir sind so in einer halben Stunde da, vielleicht etwas später.« »Okay, bis dann. Und ... danke, Richie.« »Wofür?« »Dafür, dass Du im richtigen Moment nicht zu viele Fragen stellst.« Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er abwinkte. »Dafür kenne ich Dich mittlerweile gut genug - wenn etwas dringend ist, dann merkt man Dir das an. Bis nachher.« Es klickte, er hatte aufgelegt.

Ich war dabei, meine Sachen zusammenzupacken und suchte meinen Rasierer. Der steckte noch im Koffer ... zwei Katastrophen an einem Tag, nur: diese hier würde nicht so glimpflich ausgehen. Ich überlegte einen Moment, warum ich das Ganze miteinander in Verbindung brachte, beschloss dann aber, dass es wohl am Tag liegen müsste. Kaum hatte ich fertig gepackt - das Video hätte ich beinahe vergessen -, kam Janosch herein. »Und nun?« »Ab ins Auto, wie fahren zu Rip.« Wir schnappten uns unsere Taschen und machten uns auf den Weg. Mum hatte mir erlaubt, ihren Wagen zu benutzen, solange ich das Benzin bezahlte. Aber darüber machte ich mir keine Gedanken - zum Glück war der Tank noch voll.

Was kümmerten mich solche Kleinigkeiten eigentlich? Der Sprit oder das Geld dafür war für mich eigentlich genau interessant wie die Lage des neunundzwanzigsten Reissacks im Hafen von Peking oder die Verkaufszahlen der letzten Platte Mozart 143. Sinfonie in der Neuaufnahme mit dem Orchester von Nowosibirsk - sie interessierten mich einfach nicht. Was mich interessierte, war Janosch. Ich war völlig durcheinander und musste mich zusammenreißen, um mich halbwegs auf den Verkehr konzentrieren zu können. Was ich brauchte - zumindest im Moment - war Ablenkung. Wir fuhren los. Janosch stellte das Radio an und fragte mich dann: »Was ist eigentlich heute Vormittag mit deinem Flugzeug passiert?« Die ganze Sache hatte ich schon fast wieder vergessen. Ich erzählte ihm das ganze, bis er mich plötzlich unterbrach: »Was war dieser Westermann noch gleich von Beruf?« »Rechtsanwalt, für Fami...« ...lienrecht, sollte der Satz enden. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: das war unser Mann. Er war Spezialist auf dem Gebiet, und er hatte schon selbst Erfahrungen gemacht - wenn jemand nachvollziehen konnte, wie es Janosch im Moment ging, dann er. Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, waren wir auch schon bei Rip angekommen.

Wir stiegen aus dem Auto. Kaum standen wir, kam aus der Dunkelheit ein dunkler Schatten auf uns zugeschossen. Janosch lächelte und beugte sich herab. »Hey, Rinty. Na, Kleiner, wie geht's Dir?« Statt einer Antwort schleckte Rinty Janosch das Gesicht ab und inspizierte mich dann. Janosch stellte uns pro forma einander vor - auch wenn ich bis heute denke, dass Rinty davon kein Wort verstanden hatte. Aber hier kam eben noch das Kind in Janosch durch. Rinty kam auf mich zu, beschnüffelte mich etwas, ließ sich von mir streicheln und schleckte mir dann die Hand ab. Von hinten ertönte plötzlich ein Lachen: »Und schon wieder hast du einen Freund fürs Leben, Luke.« Ich drehte mich um. »Hey, Richie. Lange nicht gesehen.« Wir nahmen uns zur Begrüßung kurz in den Arm.

Richie lachte immer noch. »Tja, und doch wiedererkannt. Na, wie geht's dir?« Ich winkte ab. »Na ja, geht so. Und euch?« Ich brauchte ihn und Jason nur anzusehen um zu wissen, dass ich mir die Frage sparen konnte. »Okay, alles klar.« »Dad ist oben«, sagte Richie dann - offensichtlich hatte er gemerkt, dass ich gerade nicht in der Stimmung für eine belanglose Plauderei war. Ich nickte. »Danke, wir gehen sofort hoch.« Richie nahm mich noch kurz beiseite. »Sag' mal, was ist denn mit Janosch los? Er sieht aus, als ob er die letzte Stunde nur geheult hätte.« Ich nickte. »Das kommt hin, aber das erklär' ich dir in Ruhe. Sei' mir nicht böse, aber ich weiß momentan selbst noch nicht so genau, wie das eigentlich weitergehen soll.«

Janosch und ich gingen nach oben. In Ripleys Büro herrschte wie immer das Chaos. Rip saß an seinem PC, um sich herum hatte er jede Menge Unterlagen gestapelt. Der ganze Raum wurde dominiert von einem riesigen Schreibtisch - ein Stahlgestell mit einer Platte, die ungefähr die Stärke von Panzerglas hatte. Auch darauf lagen jede Menge Unterlagen, ebenso auf dem flachen Couchtisch in der Ecke - Ripleys Lieblingsecke zum Entspannen. An der Tür hing ein Schild mit dem Spruch: »Wo ich bin, ist das Chaos, aber ich kann nicht überall sein.« Rip selbst saß wie gesagt vor dem Schreibtisch, mit offenem Hemdkragen, hochgekrempelten Ärmeln, einer Zigarette im Mundwinkel und völlig in seine Arbeit vertieft. Als ich mich räusperte, blickte er auf. »Luke, Janosch - Richie hat mich schon vorgewarnt. Was ist denn mit euch los?«

Dann sah er sich Janosch genauer an, dem die letzten zwei Stunden ziemlich deutlich ins Gesicht geschrieben standen. »Okay, setzt euch erst mal hin. Kaffee?« Wir nickten stumm. Rip zauberte unter dem Chaos drei saubere Kaffeebecher hervor und goss sie mit seinem schwarzen Gebräu voll - der Farbe nach zu urteilen hatte Richie ihn gekocht, dann konnte man nämlich fast den Löffel in den Kaffee stellen. Ich füllte meine Tasse mit der entsprechenden Menge an Milch auf und schüttete Janosch noch etwas mehr hinein - in seinem jetzigen Zustand war ein Koffeinschock das Letzte, was er gebrauchen konnte, und bei Richies Kaffee war diese Gefahr nie ganz auszuschließen.

Rip räumte ein paar Unterlagen vom Tisch und setzte sich dann zu uns. »So, jetzt erzählt erst mal in Ruhe, was passiert ist.« Ich nickte langsam. »Rip, wie gut kennst du Dad eigentlich?« Er runzelte die Stirn. »Jochen? Hm ... wir haben seit ungefähr fünfzehn Jahren beruflich miteinander zu tun, ich war schon oft genug bei euch, ihr alle bei uns, gerade in den letzten Jahren. Gegenfrage: Worauf willst Du hinaus?« Janosch und ich wechselten einen Blick, dann bedeutete mir Janosch, dass ich weiterreden sollte. »Könntest ... könntest du dir vorstellen, dass Dad einem anderen Menschen etwas zuleide tun könnte?«

Rip schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht.« Bevor er weiterreden konnte, sah mich Janosch niedergeschlagen an. »Siehst du.« Ich legte Janosch vorsichtig meinen Arm um die Schultern und flüsterte ihm ins Ohr. »Langsam, er hat noch gar nicht gehört, was los ist. Soll ich es ihm erzählen?« Janosch sah mich zweifelnd an. »Luke, ich glaube nicht, dass das noch etwas bringt.« Rip räusperte sich. »Würdet ihr mir bitte endlich mal erzählen, was los ist?« Ich hob die Hand. »Moment.« Dann wandte ich mich wieder Janosch zu. »Soll ich allein mit Rip reden? Dann kannst Du solange zu Jason und Richie 'runtergehen.« Er nickte. »Okay, ist vielleicht besser.« Ich stand auf. »Rip, ich bringe Janosch schnell nach unten, ich bin gleich wieder da.« Rip nickte nur. »Okay.«

Die beiden waren - wie erwartet - im Probenraum, Nick war auch bei ihnen. Er begrüßte uns erfreut. »Hey, Jungs, schön Euch mal wiederzusehen.« »Habt ihr euch heute Nachmittag nicht schon gesehen?«, fragte ich etwas erstaunt. Nick schüttelte den Kopf. »Nein, ich war in der Stadt unterwegs.« Ich wandte mich auch an Jason und Richie. »Könnt Ihr Janosch noch irgendwie bei Euch unterbringen? Ich hab' was mit Rip zu besprechen.« Richie schüttelte den Kopf. »Oh Mann, Luke, aus dir soll noch einer schlau werden.« Bevor ich irgend etwas sagen konnte, drückte Jason Janosch die Drumsticks in die Hand. »Hier, das war doch beim letzten Mal dein Lieblingsinstrument.« Janosch lächelte schwach. »Danke.« Jason sah mich einen Moment prüfend an, dann sagte er: »Wir kümmern uns um Janosch, geh' ruhig wieder hoch zu Rip.« Ich zwinkerte ihm zu. »Danke dir.«

Lesemodus deaktivieren (?)