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The Show Must Go On

Teil 1 - Prolog

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Prolog – Londons Wahnsinn

London Lacombe hieß nicht nur mit dem Vornamen wie meine absolute Lieblingsstadt, der Kerl war auch noch so heiß wie die verdammte Sahara. Er trug immer diesen eleganten Anzug, war immer gepflegt und konnte einen so unglaublich attraktiv anlächeln, dass es einen fast von den Füßen haute.

Selbst wenn er vor wenigen Sekunden noch irgendeine arme Sau hysterisch am Handy zur Schnecke gemacht hatte, konnte er innerhalb einer einzigen Millisekunde wieder den schnittigen Boss spielen.

Aber selbst alle Schauspielerei brachte nichts mehr. Es war einfach ein Fakt, dass London die letzte Zeit für jede noch so winzige Sache in die Luft ging. Klar, ausflippen konnte London eigentlich schon immer einsame Spitze, aber die letzte Zeit war er nicht nur ein wenig gestresst, sondern unfassbar aggressiv.

London wurde beim kleinsten Fehler zur apokalyptischen Rache. Der Kerl war gerade einmal 25 Jahre alt, trotzdem hatte er einen vermutlich höheren Blutdruck als jeder Berufsboxer.

Es war wirklich keine Seltenheit, dass schon mal Stühle und Aktenordner flogen, wenn dem Herr Oberboss wieder einmal der Geduldsfaden riss.

Meiner Meinung nach waren unbegründete Aggressionsschübe definitiv eine Eigenschaft, die man als Modedesigner einfach im Blut haben musste. Typen, die der verschüchterten Praktikantin keinen ‚Kaffee To Go‘-Becher an den Kopf schmissen und sie als ‚Drecksstück!‘ betitelten, waren einfach nicht für den Job als Modemacher geschaffen.

London hingegen schon. Justine, unsere Praktikantin seit vorletzter Woche, hatte schon ganze sieben Heulanfälle hinter sich und siebenundzwanzig Taschentücher verbraucht. Trotzdem hielt die Kleine durch. Die eher ruhige Studentin hatte schnell gelernt, dass man in der Modebranche ganz unten anfing und ziemlich sportlich sein musste. Wer nämlich keinem dicken Ordner rechtzeitig ausweichen konnte, der bis oben vollgestopft mit Skizzen und Stoffproben war, der hatte hier definitiv nichts zu suchen.

Manchmal schmiss London auch sein Handy durch die Gegend. Manchmal sogar auch seinen Laptop oder sein dickes Notizbuch. Er war unfassbar kreativ, was seine Wurfgeschosse anbelangte.

Im Moment musste man bei Londons Laune sogar damit rechnen, von einer Minute auf die andere gefeuert, angeschrien oder so vor der gesamten Belegschaft so zur Sau gemacht zu werden, dass es selbst dem tapfersten Helden die Tränen in die Augen trieb.

Die Stimmung bei Egoiste war am absoluten Tiefpunkt angelangt, denn die Modeshow in Mailand war dieses Jahr für uns gestrichen. Egal wie sehr London auch getobt und geschrien, geheult und dramatisch vor den Göttern der Inspiration in die Knie gegangen war – der Typ bekam einfach nichts mehr auf die Reihe.

Zu Beginn meiner nicht vorhandenen Karriere bei Egoiste war London unglaublich kreativ gewesen. Der Kerl hatte Ideen, die auf dem Papier wie purer Wahnsinn aussahen, aber fertig genäht und gut präsentiert wie die pure Genialität wirkten.

London war vor wenigen Monaten noch absolut gefragt gewesen. Seine Kleider wurden in Berlin, New York und Paris gelobt und gefeiert. Der Kerl hatte die halbe Welt in zwei Tagen bereist. War immer unterwegs gewesen und hatte jeden Abend mit den Göttern der Modewelt Cocktails geschlürft.

Nur jetzt nicht mehr. Mit einem Schlag war der aufstrebende Mode-Star London Lacombe aus dem Rennen.

Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, was eigentlich genau passiert war, aber seit der letzten Modeshow war bei London der Wurm drin. Entwürfe wurden nicht fertig, Kunden vergrault und sämtliche Termine abgesagt. In Massen wurden Verträge von Models, die seit Jahren schon mit absoluter Professionalität für uns gearbeitet hatten, einfach für Null und Nichtig erklärt.

Man konnte es also drehen und wenden wie man wollte, London Lacombe war ohne Frage am Abgrund seiner Kariere angekommen.

Ich gab mir wirklich Mühe kaum aufzufallen, aber als persönlicher Assistent war man einfach immer der angeschmierte Idiot. Egal wo oder wann, London faltete mich im Notfall auch über SMS zusammen.

Es war Mittwoch, übrigens selten ein guter Tag, als die gigantische Scheiße endgültig eskalierte.

Ich war gerade dabei mir an meinem Laptop die ersten Vorschauen für den neuen Modekatalog anzuschauen, als ein episches Krachen von zuknallenden Türen die Rückkehr von London verriet.

Er hatte spontan ein verlängertes Wochenende in Spanien gemacht, ganz in der hysterischen Hoffnung, dort irgendwie wieder zur Besinnung zu kommen. Er brauchte dringend eine Muse, hatte er gesagt. Eine einmalige Idee. Vielleicht auch einfach nur wieder guten Sex.

Ich arbeitete schon seit gut einem Jahr für London und daher wusste ich bereits bei dem ersten Türknallen, dass in Spanien wohl nichts von all diesen Dingen funktioniert hatte.

Ehrlich, ich wusste schon, dass der Kurztrip absolut nicht die erhoffte Wirkung gebracht hatte, noch bevor London mir fast die Glastür zu meinem winzigen Büro eintrat.

„Besim, lösch sofort die Schnittmuster für Kleid 4! Die Kaffeemaschine ist außerdem kaputt und wer zum Teufel ist diese kleine Giftkröte, die ungefragt in meinem Büro staubsaugt?!“

Ein ‚Hallo‘ hörte man selten von London. Er legte einfach los, denn alles andere war seiner Meinung nach völlige Zeitverschwendung.

„Wer staubsaugt?“, fragte ich genervt und klappte den Laptop zu. „Meinst du Justine? Sie ist die neue Praktikantin, London.“

„Kenne ich die?!“, ätzte London sofort gereizt und lockerte unglaublich aggressiv seine Krawatte. „Zum Teufel nochmal, hab ich die hier je schon einmal gesehen?!“

„Du hast letzte Woche mehrmals einen Ordner und dein Handy nach ihr geworfen, London.“

London hielt kurz inne, schien sich so langsam wieder wage an Justine zu erinnern und machte schließlich eine wegwerfende Handbewegung. „Mir egal, diese Tussi nervt! Setz ein Kündigungsschreiben oder so was in der Art auf. Sie war eine große Hilfe, doch leider haben wir im Moment keine Verwendung und all dieser Klischee-Mist halt. Haben sich eigentlich diese Saftsäcke aus Moskau endlich gemeldet?!“

Ich sah kurz auf meinem Notizblock nach, dann schüttelte ich langsam den Kopf.

Seit Wochen wartete London schon auf einen Anruf aus Moskau. Es ging um einen ziemlich lohnenden Auftrag für eine steinreiche Tussi, die sich sogar Stoffproben zuschicken gelassen hatte, sich jedoch für ihre endgültige Zusage unverschämt viel Zeit ließ.

Auch wenn es London wegen seines hysterischen Stolzes nicht zugeben wollte, wir liefen auf die roten Zahlen zu. Mailand war unsere Hauptgewinnquelle gewesen. Klar, Paris war auch okay und nicht zu verachten, aber Mailand war nun einmal das ultimative Mekka der Modewelt.

Ohne Mailand war alles einfach komplizierter. Mailands Einkommen hatte uns bis zur Modewoche in New York immer den Arsch gerettet. Aber wie es aussah, hielten wir dieses Jahr nicht mal bis zum Jahresende durch.

Die Herbstmode war unsere einzige Hoffnung. Wenn jetzt nicht halb Europa das Bedürfnis bekam, Mützen und Handschuhe von Egoiste zu kaufen, waren wir geliefert. Wir waren im Moment ohne Zweifel das hilflose Reh auf der Straße. Wir glotzten geradewegs in die auf uns zukommenden Scheinwerfer eines verdammt fetten Autos, hinter dessen Steuer Markengiganten wie Prada und D&G saßen. Die Typen hatten uns absolut ausgestochen. Gefickt ohne Kondom, wenn man so sagen wollte.

Und London wusste das. London konnte es sich eigentlich gar nicht leisten, hier herumzuschreien und wegen unserer Praktikantin zu toben. Er war auf billige Hilfskräfte wie Justine angewiesen. Der einzige Grund, warum ich diese eigentlich sympathische Studentin aus Hamburg überhaupt bei uns eingestellt hatte, war ganz klar der Mangel an gut bezahltem Fachpersonal.

London hatte in einem Anfall blanken Menschenhasses die halbe Belegschaft gekündigt. Die Damen von der Rezeption waren weg, die Leute von der Reinigung, die Designer vom Katalog und die Hilfskräfte der Näherinnen.

Von ursprünglich 35 Leuten waren nur noch 10 Personen übrig. London, Justine und ich inklusive. Wir waren also absolut überlastet, an allen Ecken und Kanten wucherte der Ärger und Zeitdruck.

„Reg dich ab“, sagte ich also und streckte mich kurz auf meinem Bürostuhl. „Justine ist jetzt nicht dein größtes Problem, London. Hast du schon den neuen Katalog gesehen? Er ist eine Katastrophe. Hörst du? Ein absolutes Desaster! So kann das nicht in den Druck gehen…“

London nickte nur gestresst, zerrte sein Handy aus seiner linken Anzugtasche und machte ein Gesicht, als hätte er plötzlich den Geruch von Scheiße in der Nase.

„Ich muss weg!“, fauchte er und schnappte sich ohne zu fragen meinen Kaffeebecher vom Schreibtisch. „Sag dieser Pfeife von Pedro, er soll verdammt nochmal seinen Arsch hochbekommen und mir endlich die Vorlagen für Kleid Nr. 34 per Mail zusenden. Der Kunde in Zürich klebt mir am Arsch, also soll er verdammt nochmal in die Gänge kommen!“

London leerte den Kaffee völlig gehetzt mit einem einzigen Schluck, dann katapultierte er den leeren Becher per Weitwurf sauber in meinen Papierkorb.

„Und was ist jetzt mit der Tussi aus Moskau?“, fragte ich und klappte meinen Laptop wieder auf.

„Die kann mich an meinem stockschwulen Arsch lecken!“, zischte London und fuhr sich einmal kräftig durch sein kurzes, dunkles Haar. „Mail mir die Katalogvorlagen innerhalb der nächsten vier Minuten. Ich schau mir den Mist unterwegs an und wenn es mir nicht gefällt, muss der Scheiß halt neu gemacht werden!“

Ich schnalzte vorsichtig mit der Zunge, dann nickte ich schweigend. Lieber zustimmen, als wieder einen absoluten Krieg vom Zaun zu brechen.

London rauschte laut krachend und ohne Abschiedsgruß davon, nur um vier Sekunden später wieder in mein Büro einzumarschieren und gereizt zu blaffen:

„Besim, was für Termine hab ich um 18 Uhr?!“

Ich durchblätterte schnell Londons Terminplaner und antwortete:

„Erst Essen mit Jay im Galonius, danach geht’s weiter zur Anprobe in der alten Fabrik für die Herbstshow.“

London tippte sich kurz nachdenklich gegen das Kinn, dann schnaubte er genervt.

„Absagen!“, fauchte er. „Ruf in der Fabrik an und sag, ich bin verhindert. Lüg diesen geschmacklosen Idioten die verdammte Hucke voll! Alles klar?!“

Ich nickte und hatte bereits den Telefonhörer in der Hand.

„Wieder die Ausrede mit der ansteckenden Ohrenentzündung?“

London nickte, dann rauschte er erneut davon und ließ mich mit jeder Menge Arbeit und schlechter Laune alleine im Büro zurück.

......

...

.

London Lacombe war sicher kein soziales Zuckerstück, aber es war ihm immerhin egal, woher seine Leute kamen.

Bei meiner Einstellung hatte es ihn einen Mist interessiert, ob ich Türke, Iraner oder Marsmensch war.

Mein Vater hingegen hatte damals einen halben Herzinfarkt erlitten und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als ich ihm von der Arbeit bei Egoiste erzählt hatte.

Mein Vater arbeitete auf der Baustelle. Meine Brüder arbeiteten auf der Baustelle. Meine Onkels und Cousins arbeiteten auf der Baustelle. Man konnte fast meinen, jede Baustelle in diesem Land war ein einziges Familientreffen der männlichen Öztürks.

Moslems hatten der Meinung meines Vaters nach keine Berufe wie Designer oder Grafiker zu lernen. Arbeit am PC? Völlig okay, solange man nicht mit einem Design-Programm bunte Kleidungsstücke zusammenschnitt und für einen stockschwulen Hysteriker arbeitete.

Mein Vater war eigentlich ein echt netter Kerl, aber bei körperlichen Aktivitäten zwischen Männern war er unfassbar empfindlich. Ich hatte meine Familie echt gern, ich war auch gerne Türke und hatte eigentlich echt ein gutes Verhältnis zu meinen Brüdern, aber es gab Momente, da hatten wir uns einfach nichts zu sagen.

Es gab einfach immer dieses ewige Schweigen am Esstisch, wenn ich mal wieder zu spät zum Essen gekommen war und allen sofort klar war, dass es nicht, wie von mir behauptet, die Schuld des Feierabendverkehrs in Richtung Stadtmitte war.

Ich konnte tun und lassen was ich wollte, solange ich mein eigenes Geld verdiente und die Kerle niemals mitbrachte. Keine Ahnung, was mein Vater dann tun würde. Ich glaube, er würde sie dann vermutlich mehrmals durch den Fleischwolf jagen und an irgendwelche Tiere verfüttern.

Das größte Problem war nicht einmal mein Sex mit Kerlen. Klar, mein Vater und meine Brüder verzogen bei dem Thema sofort das Gesicht, aber meiner Familie ihre größte Sorge war es, dass ich irgendwann mal einen richtigen Freund haben würde. Sie hatten den blanken Horror davor, dass ich mit einem Kerl Möbel kaufen ging, mit ihm in eine gemeinsame Wohnung zog und meine Homosexualität damit so offensichtlich auslebte, dass selbst meine Mutter nichts mehr zurecht tratschen konnte.

Ficken? Okay. Zusammenleben? Nur über Vaters Leiche!

Bis jetzt hatten meine Beziehungen aber mehr oder weniger nie lange gehalten. Es war auch schwer jemanden kennen zu lernen, wenn man quasi mit seiner Arbeit verheiratet war und als persönliches Bückstück seines Bosses herhalten musste.

Klar, ich mochte die Arbeit, aber wenn London Lacombe Urlaub hatte, war es auch automatisch erholsamer Urlaub für die gesamte Modewelt.

Der Typ hatte einfach ein ernsthaftes Aggressionsproblem, egal wie gut er auch aussah.

Mein Handy klingelte plötzlich und ich bedauerte die Tatsache, dass man neuerdings auch in der S-Bahn überall zu erreichen war.

Ich ließ es eine Weile klingeln, aber als mein Sitznachbar genervt seine Zeitung zusammenfaltete und kurz angepisst in meine Richtung schaute, wusste ich, dass ich genug gewartete hatte.

Außerdem verriet mir das hartnäckige Klingeln, dass London mit absoluter Garantie der Anrufer war. Für London gab es so etwas wie ‚Feierabend‘ nicht. Typen wie London wussten gar nicht mehr, was Privatleben eigentlich war. Für meinen Boss war Arbeit und Privatleben nichts, was man trennen müsste. Der Briefträger lieferte inzwischen sogar Londons private Post an die Geschäftsadresse aus.

„Ich hab Feierabend, London“, meldete ich mich genervt und kniff die Augen zusammen. „Feierabend, London. Hörst du? F-e-i-e-r-a-b-e-n-d!“

„Bist du taub oder was?!“, fauchte London jedoch nur gereizt und ich hörte an seiner hektischen Atmung, dass er ziemlich gestresst unterwegs war. „Lässt du dein Handy neuerdings immer hundertmal klingeln oder was?! Meine Fresse, ich brauch das Passwort von deinem Laptop!“

„Bitte?“

„Dein Passwort, du geistiger Döner! Passwort! Code! Sicherheitszeug! Alles klar?!“

„Was willst du denn jetzt noch an meinem Laptop? Es ist fast zehn Uhr durch, London!“

„Ich brauch die Adresse von dieser Schlampe in Moskau! Und zwar sofort, alles klar?!“

„Die hab ich nicht.“

„Was soll das heißen, die hast du nicht?!“

„Ich hab sie nicht, London. Du hast gesagt, ich soll die kompletten Daten dem Versandhaus wegen dem Zoll schicken.“

„Und du hast keine Kopie angefertigt?!“

„Nein, verdammt! Du hast gesagt, dass das Zeug einfach so schnell wie möglich weg soll.“

„Du hast keine verfickte Kopie?! Sag mal, denkst du eigentlich auch mal nach?! Da bin ich mal vier Tage im Urlaub und schon fällt mir mein halber Betrieb zusammen! Sag mal, hatten die bei deiner Geburt in Istanbul keine Gehirne mehr übrig oder was?!“

Ich legte auf. Es war mir egal, dass es mein Boss war und dass er mir durchaus gefiel. Er war mit einer solchen Laune einfach nur ein Arschloch und hatte nicht das Recht, mich so zu beleidigen. Vor allem nicht am Handy und auf meinem Weg nach Hause.

Mein Handy klingelte sofort wieder Terror, aber ich schaltete es ab und grinste den genervten Typen neben mir kurz an.

Manchmal wäre es schon schön, einen Freund zu haben. So einen richtig sentimentalen Typen, der im Schlafanzug abends auf dem Sofa darauf warten würde, dass ich müde von der Arbeit nach Hause kam und mir dann Tee kochte.

So ein Kerl, der mir durch die Haare fuhr, mich zum Lachen brachte und mich nicht anschrie.

Wenn das mit London so weiterging, würde ich kündigen müssen. Keine Frage.

Ich steig bei meiner Haltestelle aus und wollte gerade die S-Bahnstation verlassen, als mein privates Handy klingelte.

Da London ja keinen Respekt vor Privatsphäre hatte, hatte ich es schon bei meiner Einstellung als Assistent als besser empfunden, mir zwei Handys anzuschaffen. Nur für alle Fälle.

„Sag jetzt bitte nicht, dass er dich auch angerufen hat!“, zischte ich und wartete erst gar nicht auf die Antwort. „Scheiße, Monika! Der Kerl geht mir auf den Sack!“

Monika arbeitete in der Organisation und war quasi die ‚Jammertante‘ für die Models. Wenn den dürren Ladies mal wieder was nicht in den Hals passte, jammerten sie sich in der Regel bei Monika aus.

Monika versuchte dann die Wünsche und Beschwerden der Models London so schonend wie möglich beizubringen. In der Regel flogen trotzdem Ordner durch die Gegend.

„Jaaaa“, sagte Monika gedehnt. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Hab gar nicht gewusst, dass wir neuerdings Kopien von Adressdaten machen müssen. Hast du gewusst, dass er außerdem der Brasilianerin gekündigt hat?“

Ich überlegte kurz. „Die Lady für Kleid Nummer 9?“

„Ja! Ausgerechnet Kleid Nummer 9! Er hat tatsächlich das Abschlusskleid vom Laufsteg gestrichen! Der Typ ist völlig durch, Besim!“

„Ich weiß, ich weiß.“

„Wir haben bald kein Personal mehr, keine Aufträge und keine Models! Was auch immer dem Kerl quer im Arsch steckt, der Typ muss wieder zur Vernunft kommen!“

„Ich weiss, Monika. Kann ich jetzt BITTE Feierabend machen? Ja? Ich musste mir schon genug Londons Geschrei anhören…“

„Nein, ich halt das nicht mehr aus. Weißt du was, Besim? Ich hab dich echt gern, aber du kannst diese Nummer in Amsterdam ohne mich machen. Sag London, ich bin spontan weggestorben!“

Dann legte Monika einfach auf und ich wusste, dass sie Nägel mit Köpfen machen würde.

Seit Monaten kriselte es schon zwischen Monika und London. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es endgültig eskalieren würde. Wobei, momentan kriselte es ja zwischen der gesamten Welt und London.

Ich schaltete auch mein zweites Handy ab und klappte den Kragen meiner Jacke hoch.

Ich hasste Mittwoche einfach. Mittwoche waren wirklich nie gute Tage.


Es war 06.30 Uhr am Morgen, als das Telefon in meinem Büro zum ersten Mal klingelte. Da es sich laut London nicht gehörte, direkt beim ersten Klingeln den Anruf anzunehmen, schlürfte ich behutsam weiter an meinem Kaffe-To-Go herum und wartete.

Man sollte sich beim Kunden ‚rar machen‘, predigte London immer und drückte vor acht Uhr morgens alle Anrufe aus Prinzip weg. Man sollte als Kunde ja nicht glauben, dass man bei Egoiste ständig und zur jeder Zeit wahrgenommen wird.

Außerdem würde es verzweifelt wirken, bereits beim ersten Klingeln hektisch nach dem Hörer zu greifen.

Nun, nach meinem kurzen und allmorgendlichen Blick auf unsere Geschäftskonten, musste ich zugeben, den Drang des hektischen Anrufannehmens wirklich unterdrücken zu müssen.

Wir waren blank, verdammt. Unsere Konten wirkten wie leer geleckt. Kein Euro zu viel, keine Investition mehr sicher genug.

Das Telefon klingelte noch ganze drei Minuten stur weiter, zeigte eine ausländische Nummer an und ich machte schließlich den sagenhaften Fehler, und verstieß eiskalt gegen Londons alberne Telefonregel.

Meine Güte, wir brauchten jeden verdammten Cent! Wenn das mit Londons Wahnsinn so weiter ging, konnte sich Egoiste endgültig vom Modemarkt zurückziehen. Im schlimmsten Fall der Fälle auch gerade noch das ‚Ego‘ aus dem Namen abgeben. Denn bei diesem Modelabel war das stolze Ego schon lange nur noch Schall und Rauch.

„Willkommen bei Egoiste. Sie haben Besim Öztürk am Apparat.“

Egal wie exotisch die anrufende Telefonnummer auch war, es war eine weitere klare Anweisung von London, dass wir uns auf Teufel komm raus immer auf Deutsch am Telefon meldeten. Wenn jemand aus Frankreich anrief und kein Deutsch sprach, stellten wir ihn zu London durch. Wenn jemand aus England anrief und kein Deutsch sprach, wurde er ebenfalls zu London durchgestellt.

Egal wie gut mein Englisch auch war, London wollte einfach nicht, dass ich ihm in sein Sprachtalent hineinfunkte.

„Guten Tag!“, erklang es jedoch dröhnend und stockend auf bestem Schulbuchdeutsch. „Ich rufe an wegen Woche in Amsterdam!“

Innerlich stöhnend, griff ich nach Londons Terminplaner. Obwohl das Teil eigentlich IHM war, hatte er noch keinen einzigen seiner Termine selbst eingetragen. Ich verwaltete nicht nur seine Mails und Aufträge, ich kümmerte mich inzwischen auch um seine Zeit.

„Ah, Herr …“ - ich starrte kurz gehetzt auf den hektisch notierten Namen am Rand von Londons Terminplaner - „… Van Hoberig! Schön, rufen Sie an! Was kann ich für Sie tun?“

Der Holländer schwieg kurz, scheinbar überrascht über meinen sensationellen Treffer bei seinem Namen, dann gab er dieses geschäftliche „Mmmh!“ von sich, was vor allem Modemacher und Designer so liebten.

Einfach nur ‚Mmmh!‘. Und ein ‚Mmmh!‘ konnte in dieser Berufsbranche so gut wie ALLES heißen.

„Ist Herr Lacombe da?“, fragte der Holländer schließlich. „Ist wichtig. Muss ihn sprechen.“

„Er ist im Moment außer Haus, Herr Van Hoberig. Hinterlassen Sie mir einfach Ihre Telefonnummer oder Ihre Email und Herr Lacombe kontaktiert Sie noch in den nächsten 24 Stunden.“

Absolut leere Floskel, denn London meldete sich aus Prinzip bei potenziellen Kunden erst nach drei oder vier Tagen.

„Nein, ist gut!“, lachte der Holländer. Er klang witzig am Telefon. Irgendwie stockend und geduldig. „Ist gut! Nicht sooooo wichtig! Ich rufe einfach später wieder an. Ihr Name war…?“

„B-e-s-i-m Ö-z-t-ü-r-k“, buchstabierte ich aus reiner Gewohnheit. „Besim Öztürk. Wenn Sie Herr Lacombe auch später nicht erreicht bekommen, wählen sie nach der 6 einfach die 15, anstelle der 17. Dann landen Sie direkt wieder bei mir.“

Wieder erklang Gelächter am Telefon. „Super!“, bollerte der Holländer unfassbar gut gelaunt. „Wunderbar! Vielen Dank, Besim!“

Dann legte Herr Van Hoberig auf. London würde sich jetzt vermutlich die Haare raufen und im cholerischen Dreieck springen, wenn er das gesehen hätte. Immerhin beharrte er darauf, dass WIR vor dem Kunden auflegten. Wenn der Kunde schneller war, machte es den Eindruck, als wollten wir ihn zwangsmäßig länger in der Leitung behalten.

Ich legte den Hörer vorsichtig zurück auf die Station, dann fiel mir plötzlich auf, dass mich der Holländer einfach geduzt hatte.

Entweder ich klang am Telefon wirklich so jung wie ein Auszubildender, oder es gehörte in Holland einfach zum üblichen Gang der Dinge, gewisse Leute von Anfang an zu duzen.

Ich machte eine kurze Notiz für London, leerte meinen Kaffee und checkte die neu eingetroffenen Mails.

Es war eigentlich kein wirklich bewegender Morgen, aber das Lachen des Holländers verfolgte mich bis zum ersten Meeting.

Wir hatten die letzte Zeit ziemlich oft Meetings. In der Regel begannen sie damit, dass London über eine halbe Stunde zu spät auftauchte und damit endeten, dass Justine und ein paar andere Mitarbeiter heulten.

Heute fing es auch nicht groß anders an. London kam mit seiner üblichen Verspätung von sechsundzwanzig Minuten in den Raum gerauscht, warf seine Aktentasche theatralisch auf den runden Glastisch und klatschte einmal laut in die Hände.

Soweit alles klar. Doch dann sah er sich jede einzelne Person am Tisch ganz genau an. Seine Augen scannten jeden Millimeter Haut.

„Ich werde nicht gerne verarscht!“, zischte er plötzlich und stützte sich lässig auf dem Glastisch ab. „Wo ist Monika, mmh?“

Stille. Niemand wagte es auch nur zu laut zu atmen.

„Verstehe!“, zischte London gereizt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Natürlich, ich bin mal wieder der böse Wolf, nicht? Ihr armen Sklaven meiner untragbaren Firmenpolitik! Jeder, dem irgendwas hier nicht passt, soll sich jetzt seine Jacke schnappen und sich aus dem Staub machen!“

Niemand rührte sich. Niemand machte Anstalten nach seiner Jacke zu greifen.

„Feige Schweine!“, zischte London und fing an, auf jede einzelne Person zu zeigen. „Patrick, gestern hast du noch am Kaffeeautomaten geprahlt, wie gerne du mir mal die Meinung geigen willst! Anika, vorgestern hast du zu unserer Praktikantin gesagt, sie soll sich diesen Zirkus nicht länger antun. Monika ist einfach ohne ein Wort abgesprungen, womit mir nun direkt zu Besim kämen…“

Natürlich. Die Lästertanten der Firma wurden nur mit einem Streifschuss bestraft, während ich direkt die Kugel in den Kopf bekam.

„Mein lieber Besim!“, schnurrte London und beugte sich noch etwas weiter nach vorne. „Adressdateien werden in Zukunft immer kopiert, klar? Der Herbstkatalog ist absoluter Müll und es war eigentlich deine Aufgabe, ein Auge darauf zu halten! Es bringt mir absolut nichts, wenn zwei Tage vor Drucktermin mein hirnverblödeter Assistent zu mir kommt und jammert, dass der Katalog die totale Scheiße ist!“

„Seit wann bin ich denn bitteschön für den Katalog zuständig?“ Ich sah London direkt an. Ich hatte kein Bock mehr, der ewige Bimbo zu sein und zu kuschen, so wie diese ganzen anderen Feiglinge. „Seit du so abdrehst, ist plötzlich alles MEIN Problem. Ich hatte heute Morgen diesen Herr Van Hoberig am Telefon. Der Kerl wäre eigentlich DEIN Problem. Er hat dich gesucht. So wie dich hier im Moment JEDER sucht. Was ist mit dir los, Mann?!“

Stille, dann ein verdächtiges Zucken in Londons Gesicht. Blaue Augen, klar und stechend, schienen mich geradewegs ins Jenseits zu starren.

„In mein Büro!“, zischte London schließlich.

„Was? Ich hab doch nur…“

„SOFORT, BESIM!“

Ich stand genervt von meinem Stuhl auf, schnappte mein Jackett und verließ laut fluchend den bescheuerten Konferenzraum.

Mir waren die Blicke meiner Kollegen egal. Mir war ehrlich gesagt in diesem Moment alles egal. Dieses Mal würde mich London nämlich nicht so leicht klein bekommen.

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