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The Show Must Go On

Teil 2 - Die Sache mit Ben

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„Bitte?“, fragte ich langsam und nervös. Nur für alle Fälle. Nur zur absoluten Sicherheit, da ich das verdammte Gefühl nicht loswurde, dass ich mich gerade ziemlich verhört hatte.

„Bitte?“, echote London gereizt und tippte nebenbei auf seinem blöden Handy herum. „Was ist an meinen Worten denn so schwer zu verstehen, Besim?!“

„Ich bin... nicht gefeuert?“

London sah endlich von seinem Handy auf und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob er mich nicht vielleicht heiraten wollte. So richtig kitschig mit altmodischem Kleid und Blumen.

„Wieso sollte ich dich feuern?“, fragte der Franzose schließlich genervt.

„Naja…“ Ich zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Es hat ganz danach geklungen, als du mich in dein Büro gepfiffen hast…“

Und außerdem hatte mich London mal wieder angeschrien und vor versammelter Mannschaft als Idioten dargestellt. Dass er mich gerne anschrie, wusste ich ja inzwischen. Aber die letzten paar Wochen waren einfach extrem gewesen.

„Du schreist mich ständig an“, sagte ich und kratzte mich an der Nase. „Du weißt schon. Bist ständig unzufrieden, alles ist plötzlich meine Schuld…“

London schnaubte, dann tippte er wieder schwer beschäftigt auf seinem Handy herum. Er hatte die Krawatte gelockert, das Hemd fast komplett aufgeknöpft und machte ganz den Eindruck, noch vor wenigen Minuten ziemlich heftig gevögelt zu haben.

Natürlich war das absoluter Mist, da er zwar mit mir vor wenigen Minuten in dieses Büro gestürmt war, ich aber aus erster Quelle wusste, dass wir leider nicht gevögelt hatten. Definitiv nicht.

London hatte mich nach meiner offenen Kritik beim Meeting in sein Büro gezerrt, die Tür hinter sich zugeschlagen und dann etwas getan, was ich echt nicht erwartet hatte.

Ich hatte einen Schreianfall erwartet. Die Kündigung oder irgendein fetten und übervollen Ordner, der nach mir geworfen wurde. Aber sicher nicht DAS!

Ich, Besim Öztürk, durfte London Lacombe nach Amsterdam begleiten. Ich, der Bimbo vom Dienst und Bückstück dieses Irren, durfte Monikas Platz einnehmen und LIVE dabei sein. Nicht nur über Handy und Mail, nein. Ich durfte mit den Models quatschen, Kleider auswählen und London gestresst seinen Terminplaner und den Kaffee nachtragen.

London hatte seinen SMS-Roman scheinbar beendet, denn er warf genervt sein Handy auf den Schreibtisch und sah mich schmerzhaft direkt an.

„Also?“, fragte er ungeduldig. „Bist du dabei oder was?“

Ich nickte und London nickte ebenfalls. Wir nickten beide noch so eine gefühlte Ewigkeit vor uns hin, dann klingelte Londons Handy.

Mein Boss winkte ungeduldig zur Tür und ich verstand. Ich hatte mich zu verziehen, und wenn möglich, ihm so schnell wie möglich einen Kaffee zu bringen. Wenn London nicht seine sechs Tassen Koffein am Tag bekam, wurde er schlimmer als jedes übermüdete Kleinkind.

Ich verließ also bemüht leise das Büro von London, vor dessen Tür mich bereits die halbe Belegschaft erwartete.

„Und?“, fragte Justine nervös. „Bist du… naja… gefeuert?“

Ich schüttelte den Kopf und hetzte in Richtung Kaffeeautomaten.

„Noch nicht, aber es könnte sich rasch ändern! Keine Ahnung, was passiert, wenn er nicht gleich seinen ‚Gute Nacht!‘- Kaffee bekommt…“

Justine lachte und während die anderen Dumpfbacken von der unspektakulären Show enttäuscht abzogen, folgte mir die Praktikantin.

„Er hat gar nicht geschrien“, wunderte sich die junge Frau und fummelte nervös an ihrer Kette herum. Sie war angeblich kurz vor ihrem Praktikum in der Türkei gewesen und hatte den Anhänger mit dem Sichelmond und dem Stern einfach schön gefunden. Ich wusste nicht, ob sie mir mit dem permanenten Tragen des türkischen Symbols eine Freude machen wollte, oder ob es einfach nur Zufall war.

Monika hatte nach Justines erstem Tag hier gemeint, die kleine Schnepfe wollte sich doch nur bei mir einschleimen.

„Hat er tatsächlich nicht“, bestätigte ich und machte mich daran, einen der hässlichen Becher in den Automaten zu stellen. „Er holt mich mit nach Amsterdam…“

Justine schnappte beeindruckt nach Luft. „Wow! Ehrlich? Ist ja super!“

„Ja, schon. Aber ohne Monika wird das die Hölle. Ich kann nicht gut mit den Models umgehen.“

„Wieso?“

Ich wartete ungeduldig darauf, dass der Espresso endlich fertig durchgelaufen war und schnappte mir dann den brütend heißen Becher.

„Die machen mir Angst“, gab ich leise zu. „Ehrlich, Juse. Manche von diesen Models haben einen richtig irren Blick!“

Justine lachte und spielte erneut an ihrem Kettenanhänger herum. Sie folgte mir bis zu Londons Büro, dann packte sie mich vorsichtig am Arm.

„Ich… wollte dich da noch was fragen…“

Ich nickte genervt, deutete Justine an gefälligst leise zu sein, und öffnete schließlich die gläserne Tür zu Londons Büro.

Mein Boss hatte sich in seinem Bürostuhl zurück gelehnt, die unfassbar langen Beine auf seinem Schreibtisch liegen und nickte zustimmend, während er seinem Gesprächspartner am Handy lauschte.

Er nahm mich gar nicht weiter zur Kenntnis, als ich den Becher mit Espresso vor ihm abstellte und aus reiner Gewohnheit seinen verstreuten Papierkram ordnete. Niemand durfte Londons Büro einfach so betreten oder irgendwas anfassen.

Dass Justine hier gestern mit dem Staubsauger durch war, war von der Praktikantin vielleicht gut gemeint gewesen, aber eigentlich glatter Selbstmord. Nur ich durfte Londons Sachen anfassen.

London hob unaufgefordert die Füße etwas vom Schreibtisch, als ich ein paar Blätter versuchte unter seinen Schuhen hervorzuziehen.

Rechnungen, natürlich. Miete, Versicherungen und Steuern. Keine Ahnung, wie der Kerl das alles zahlen wollte.

London beachtete mich immer noch nicht, sondern sagte irgendetwas auf Französisch und lauschte dann wieder eine Weile.

Ich lehnte mich vorsichtig gegen seinen Schreibtisch, tippte meinem Boss gegen das linke Knie und deutete auf die Uhr.

London zog kurz gereizt die schmalen Augenbrauen zusammen, dann nickte er und machte mit einer abwinkenden Handbewegung klar, dass ich kurz meine Nachmittagspause machen konnte.

Justine stand immer noch vor Londons Büro. Wie ein geduldiger Hund hatte sie tatsächlich auf mich gewartet.

„Hast du Pause?“, fragte sie und steckte sich ihr rotes Haar mit einer großen Haarspange zusammen. „Ich muss nämlich wirklich mit dir reden…“

Ich verzog das Gesicht, sagte aber nichts und lud Justine schließlich in mein Büro ein. Dort machte es sich die Praktikantin ganz unverfroren sofort auf meinem Bürostuhl bequem und sah sich die ausgedruckten Schnittmuster von verschiedenen Kleidern an, die überall verstreut herumlagen.

„Du bist die einzige Person, die ich hier mag“, sagte Justine plötzlich und blätterte kurz durch mein Notizbuch. „Du bist viel zu nett für diesen Laden hier, Besim.“

Sie schloss das Buch wieder und schwieg eine Weile. Ich schwieg ebenfalls und es dauerte ein gefühltes Jahrhundert, bis Justine wieder den Mund öffnete.

„Ich trau mich sonst mit keinem darüber zu reden. Verstehst du? Ich mag die Arbeit hier, ehrlich. Aber ich hab noch nie eine solche Angst vor dem Chef gehabt. Ich will meinen Praktikumsvertrag kündigen. Ich weiß, sieht doof aus in meinem Studiumsnachweis, aber als ich heute Morgen gesehen hab, dass sogar diese Monika nicht mehr da ist…“

Ich verstand und nickte langsam. „Du willst, dass ich dir jetzt schon dein Praktikumsgehalt gebe, richtig?“

Justine nickte. „Ja, das wäre irgendwie super…“

Dann herrschte wieder Schweigen und Justine fummelte nervös an ihrer Haarspange herum.

„Ich wollte dich außerdem… naja… zum Essen einladen. Ich meine, du bist höchstens ein Jahr älter als ich und du warst echt die einzige Person hier, die von Anfang an nett zu mir gewesen ist.“

Irgendwie süß, irgendwie aber auch traurig. Wenn selbst die Praktikantin das verdammte Handtuch schmiss, musste es hier wirklich schlimmer als in der Hölle zugehen.

„Ich hab London Lacombe irgendwie immer bewundert“, sagte Justine nervös. „Verstehst du? Ich hab mich hier als Praktikantin beworben, weil ich dachte, der Kerl ist die pure Inspiration. Ich hab mir seine Modeshows im Fernsehen angeschaut und gedacht: Wow! Dieser Kerl aus Paris ist der absolute Kracher! Dabei ist der Kerl einfach nur total auf Koks und ein absolutes Arschloch.“

Ich sah mich kurz in meinem eigenen Büro um, dann rückte ich näher an Justine.

„Behalte so Sachen in Zukunft lieber für dich!“, zischte ich leise. „Du hast eine gewisse Schweigepflicht, alles klar? Geh zu Patrick im oberen Stockwerk und sag ihm, er soll dir die 130 Euro direkt aus der Geschäftskasse geben.“

Justine nickte dankbar und stand rasch von meinem Stuhl auf. Sie stöckelte zur Tür, drückte den Griff runter und verließ leise mein Büro.

Wunderbar. Noch eine Arbeitskraft, die weggefallen war.

Egal wie wunderbar diese Chance in Amsterdam auch für mich war, wenn London so weitermachte, würde es bis dahin gar kein Egoiste mehr geben.


„Wow, meine Fresse!“

Ben hatte sich gerade halb wieder angezogen, als ihm eine der von mir frisch kreierten Werbemappen von Egoiste in die Hände fiel. Ben war kein Modeexperte. Der Kerl war einfach nur Ben und hatte in Sachen Kleiderstil und Trend weniger den Durchblick, als ein hirnloser Fisch vom Bergsteigen.

Zwar wechselte Ben seine Kerle öfters als andere Leute ihre Unterwäsche, aber STIL hatte der Typ nicht wirklich.

„Das ist dein Boss?“, fragte Ben und deutete auf ein Foto, welches ich als Probedurchlauf auf die erste Seite der Werbemappe geklebt hatte. Es zeigte die sechs bekanntesten Models unseres Labels und London, der grinsend in ihrer Mitte stand.

Ich nickte und wollte Ben die Mappe aus den Händen reißen, jedoch war der Kerl völlig begeistert und wollte die verdammte Mappe nicht einfach so wieder hergeben.

„Alter, wieso hast du mir nie gesagt, dass du verdammter Idiot für so einen heißen Typen arbeitest? Der Kerl ist ja quasi eine wandelnde Wichsvorlage, Besim!“

Ich schaffte es endlich, diesem Blindgänger von Ben die Mappe aus den Fingern zu reißen. „Hör auf, okay? Finger weg von meinem Zeug, Mann! Außerdem will ich jetzt nicht über meinen bescheuerten Boss reden…“

Ben lachte und ließ sich wieder auf mein Sofa fallen. „Reg dich ab, Besim! Aber jetzt weiß ich wenigstens, wieso du die letzte Zeit so mies drauf bist.“

„Was?“

„Naja, wegen dieser scharfen Schnitte. Wem versaut so ein gemeiner Sexgott schon nicht die Stimmung?“

„Ben…“

„Nix Ben! Ich meine das voll ernst. Ist der Kerl eigentlich schwul?“

„Meine Fresse, natürlich ist London schwul! Der Idiot hat wohl so ziemlich jedes männliche Model auf diesem Planeten gevögelt!“

„A-h-a!“ Ben grinste breit und tippte sich kurz gegen die Stirn. „Er hat also jeden gevögelt, nur dich nicht. Ein klassisches Schwulendrama, wenn du mich fragst! Warte mal kurz, ja? Ich ruf nur mal schnell die Typen von Queer as Folk an und sag ihnen, dass sie eines ihrer Klischees verloren haben und du es per Zufall gefunden hast!“

„Ben, halt doch einfach mal die Fresse, ja? Willst du jetzt Falafel mitessen oder nicht?“

Ben zog sich in Ruhe fertig an und streckte sich anschließend genüsslich. „Ne, Alter. Nichts gegen dich und deine Kultur, aber ich hab jetzt irgendwie mehr Lust auf italienisches Essen…“

Ich nickte und schlurfte nur mit Boxershort bekleidet in meine kleine Küche. Überall standen Teller und Tassen herum, was vor allem daran lag, dass ich ein verdammt schlechter Hausmann war.

Meine Mutter hatte sogar mal eine Zeitlang nach meinem Auszug von Daheim bei mir aufgeräumt, während ich auf der Arbeit gewesen war. Sie hatte es nur gut gemeint, jedoch damit aufgehört, nachdem sie an einem frühen Abend auf den nackten Ben unter meiner Dusche gestoßen war.

Ben war nicht mein Freund, wobei ich das irgendwie schön finden würde. Ich mochte diesen Typ einfach, was vor allem daran lag, dass er überhaupt nicht kompliziert war. Aber Ben war kein Typ, der am späten Abend auf seinen Freund wartete. Ben gehörte zu diesen Kerlen, die sich ihre Freizeit damit um die Ohren schlugen, in kürzester Zeit so viel wie möglich zu trinken, zu feiern und zu vögeln.

Ben ließ sich ab und zu von mir ficken, aber mehr war da echt nicht.

„Hey…“ Ben hatte wieder die Werbemappe in den Händen und blätterte sie durch. „Du hast das echt im Griff, Besim. Sieht richtig gut aus.“

Ich zuckte nur mit den Schultern und wärmte mir eine Falafel in der Mikrowelle.

„Bist du den Winter über eigentlich wieder in der Türkei?“, fragte Ben plötzlich und legte die Mappe weg. „Dachte, ich könnte mal mitkommen…“

Ich wäre vor Überraschung fast mit dem Kopf voran in die Glasfront der Mikrowelle gekracht, konnte einen dramatischen Frontalschaden jedoch gerade noch so verhindern. „Bitte?“, ächzte ich verstört. „Du? Mit mir? In die Türkei?“

Ben nickte lässig und lehnte sich gegen meinen kleinen Kühlschrank. „Klar. Dann kann ich mal schauen, wie dein Heimatland so ist. Ich war noch nie in der Türkei, Mann! Wie peinlich ist das denn? Ich will da unbedingt mal hin. Strand. Strand und noch mehr Strand!"

Ich schüttelte den Kopf und zerrte rasch die Falafel aus der Mikrowelle auf einen leeren und sauberen Teller. „Ben, hast du dir irgendwie den Kopf gestoßen oder was? Ich fliege mit meiner Familie! Hörst du? F-a-m-i-l-i-e!“

„Ja und? Deine Mutter ist doch voll süß.“

„Süß?“

„Ja, Mann. Ist eigentlich voll der Wahnsinn, dass du so groß geworden bist, obwohl deine Mutter eigentlich voll der Hobbit ist. Weißt du noch? Letzten Monat? Ich hab deine Mutter doch wegen diesem komischen Kopftuch zuerst für deine Putze gehalten…“

Natürlich wusste ich das noch. Meine Mutter übrigens auch.

„Ne, lass mal lieber. Es ist einfach keine gute Idee, versteht du? Mein Vater sprengt das verdammte Flugzeug in die Luft, Ben! Der reißt dir und mir den Arsch auf!“

Ben zuckte mit den Schultern und gähnte kurz. „Mensch, der Kerl soll mal klar kommen. Was ist denn mit Integration und so?“

„Halt die Fresse, Ben.“

Ben wusste, dass er sich hier auf absolut dünnes Eis begab und wechselte rasch das Thema.

„Was machst du am Freitagabend eigentlich?“

Ich zog überrascht beide Augenbrauen in die Höhe, kratzte mich am Nacken und schwieg einen Moment.

„Bis in die Nacht arbeiten“, sagte ich schließlich und nahm mir aus dem Kühlschrank einen kleinen Fruchtsaft. „Wie immer also, Mann. Hab ich an einem Freitag mal je was anderes getan?“

Ben verdrehte die Augen und ließ sich schwerfällig auf einen der Küchenstühle fallen. „Eben nicht!“, zischte er. „Freitage sind dafür da, dass man spätestens ab dem Mittag nur noch so tut, als würde man was tun! Ohne Scheiß, Babe! Du solltest dringend mal wieder deine Lebensphilosophie überdenken…“

Ich lachte, obwohl ich irgendwie lieber geheult hätte. „Naja, bei mir fällt es auf, wenn ich nichts mache. London würde mir den Arsch aufreißen – und zwar bis zum verdammten Nasenbein!“

Ben nickte und grinste sein blödes Grinsen, welches er immer dann zum Besten gab, wenn er glaubte, irgendwo eine völlig kindische und unreife Zweideutigkeit herausgehört zu haben.

„Behalt’ es für dich, okay?“, fauchte ich, kaum hatte Ben den Mund geöffnet. „Ehrlich, ich will deinen blöden Spruch gar nicht hören!“

Ben schloss brav wieder den Mund, grinste aber immer noch völlig bescheuert. „Kannst du diesen Freitag nicht mal pünktlich Feierabend machen?“, fragte er schließlich. „In der City macht nämlich ein neuer Club auf und die ersten vierzig Leute bekommen einen Getränkegutschein für 10 Euro! Ich will ja nicht zu viel versprechen, aber Gerüchten zufolge soll der Laden der neue absolute In-Treffpunkt werden!“

Das war typisch Ben. In Bens Welt gab es quasi nur In-Treffpunkte, Gratisgetränke und vor allem gutaussehende Barmänner, die er in Grund und Boden flirten konnte.

„Nee“, sagte ich also gedehnt und schob kurz meinen Obstsaft über den Küchentisch hin und her. „Freitag ist immer so ein kritischer Tag. Vermutlich muss London wieder in ärztliche Behandlung, weil ihm vor lauter Geschrei eine Arterie geplatzt ist.“

Ben lachte, dann erhob er sich wieder vom Stuhl und streckte sich ein letztes Mal ausgiebig und genussvoll. Ich merkte, dass er in Aufbruchstimmung war und musste zugeben, dass es mir überhaupt nicht in den Kram passte. Ich wollte nicht wieder alleine hier herumsitzen, aber Ben länger festhalten konnte ich auch nicht.

Die einzige Methode, Ben noch ein wenig hierbehalten zu können, bestand aus einer erneuten Runde Sex, aber ich war zu müde und wollte – so tuntig und schwächlich es auch klingen mochte – eigentlich einfach nur reden. Ich wollte einfach nur auf meinem Sofa liegen, Ben von meinem Tag erzählen und schlechte Witze über meine Mitarbeiter reißen. Einfach deswegen, weil es meiner Meinung nach Bestandteil einer normalen Kommunikation war.

Ich wollte nichts von einem neuen Club hören, der vermutlich ohnehin schon in spätestens zwei Wochen wieder total down war und nur noch von den Leuten besucht wurde, die aus sämtlichen anderen Läden der Stadt geflogen waren. Ich wollte auch nichts von Bens anderen Typen hören. Zwar beteuerte er immer, dass ich der einzige Kerl war, bei dem er die passive Rolle beim Sex akzeptierte, aber ich wurde das verdammte Gefühl nicht los, dass er das jedem seiner Typen erzählte.

Ben war eigentlich nur eine Bekanntschaft, die sich zwar in mein Privatleben einmischte und zu allem eine Meinung zu haben schien, sich deswegen aber noch lange nicht für mich interessierte. Kerle wie Ben traf man nach Sonnenuntergang in Clubs, unterhielt sich mit ihnen auf einer eher oberflächlichen Ebene über belanglose Dinge und fickte sie, wenn gerade genug Lust und Zeit zur Verfügung stand.

„Sag mal…“ – begann ich langsam, obwohl mir meine Vernunft dafür den Vogel zeigte – „… darf ich dich mal zum Essen einladen?“

Bens Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hatte seine Jacke schon an und war gerade dabei, seinen Schal um den Hals zu wickeln, als ich die Bombe platzen ließ.

„Bitte?“, fragte er überrascht. „Alter, was?“

„Ich hab gefragt, ob ich dich mal zum…“

„Alter, ist klar!“, unterbrach mich Ben aggressiv. „Ist ja nicht so, als ob ich dich nicht verstanden hätte. Lass stecken, Besim. Wir hatten das Thema doch schon mal!“

Ja. Und da war Ben schon ausgerastet, als ich ihn nur ins Kino einladen wollte. Da ich aber keine Lust auf einen echten Streit hatte, nickte ich nur und sagte schließlich nichts mehr. Selbst als Ben sich an der Wohnungstür fast schon ein wenig monoton von mir verabschiedete und mir einen schönen Abend wünschte, schwieg ich eisern.

Ich sah ihm nach, wie er mit seiner knallroten Jacke die Stufen hinunterstieg und sich nicht ein einziges Mal nach mir umdrehte. Er musste wissen, nein, er musste spüren, dass ich ihn beobachtete, trotzdem steuerte er ohne Zögern stur auf den Ausgang zu.

Erst als Ben die Eingangstür hinter sich zugeknallt hatte, schloss ich leise meine Wohnungstür und verzog mich in mein Bett.


Es war Freitagabend, mein Tag war die Hölle gewesen und die Modewoche in Amsterdam rückte immer näher.

Meine Freude darüber, dass mich London Lacombe als seinen Begleiter auserwählt hatte, hatte sich relativ schnell wieder gelegt und den Mantel der trügerischen Euphorie abgestreift. Bloße Panik, Nervosität und tiefsitzende Unruhe kamen nun zum Vorschein und trieben mich in die absolute Verzweiflung.

Nicht nur, dass mich London heute dreimal angeschrien hatte, er war heute auch so richtig mies drauf gewesen. Handys, Ordner und Tassen reichten dem cholerischen Franzosen nämlich nicht mehr und er hatte eine ganz neue Disziplin für sich entdeckt: Stuhlweitwurf.

Der Gewinner war scheinbar der, der es am Schluss schaffte, seinen Bürostuhl vom Schreibtisch aus durch die gläserne Bürotür auf den Flur zu werfen. Es gab Extrapunkte, wenn man einen überraschten Angestellten traf, der zur falschen Zeit an der falschen Bürotür vorbei kam.

Obwohl ich erst extrem spät von der Arbeit weggekommen war und jetzt in der abendlichen S-Bahn die Müdigkeit spürte, bereute ich es trotzdem, Ben gestern wegen diesem neuen Club abgesagt zu haben. Irgendwie hatte ich spontan doch Lust auf eine Clubnacht.

Mein Gott, ich war gerade einmal Anfang zwanzig und fast nur am arbeiten. Immerhin war das hier quasi das letzte Wochenende, an dem ich mich einigermaßen frei bewegen konnte. Ab nächster Woche gehörte mein Arsch nämlich komplett London, welcher jetzt schon wegen der Show in Amsterdam höllischen Druck machte.

Ich zog also mein privates Handy aus meiner Manteltasche, wählte Bens Nummer und hoffte zu den Göttern aller Jugendsünden, dass sich Ben wegen meiner hirnlosen Einladung zum Essen wieder gefangen hatte.

Es tutete ungewöhnlich lange und ich wollte schon wieder auflegen, als plötzlich ein gestresstes Schnaufen erklang.

„Mach schnell, Besim! Ich hetz’ gerade zur U-Bahn…“

„Äh… hey! Ich wollte fragen, ob ich vielleicht doch mitkommen könnte…“

Kurze Stille. Nur das Geräusch von Bens Atmung war zu hören.

„Bitte?“, fragte Ben. „Ich dachte, du hättest keine Lust…“

Man musste nun wirklich kein Genie sein, um erraten zu können, dass Ben bereits Ersatz für mich gefunden und jetzt wenig Lust darauf hatte, seine Pläne extra wegen mir erneut zu ändern.

„Schon okay“, sagte ich und atmete schlecht gelaunt aus. „Hätte mir auch früher einfallen können. Ich weiß. Dachte nur…“

„Du denkst zu viel, Besim. Das ist dein Fehler, weißt du? Aber Scheiße, ey! Warte mal kurz. Ich frag meinen Kumpel, ob das okay ist, wenn du als überraschender Anhang mitkommst. Er kennt nämlich den Besitzer von dem Laden. Du weißt schon, Mann! Wir müssen dank dem Kerl dann nicht mal anstehen! Wir sind dann Ehrengäste und all der Mist!“

„Alles klar.“

„Okay, easy. Ich ruf dich in zehn Minuten zurück.“

Ben legte auf und mir war sofort klar, dass er mich nie im Leben zurückrufen würde. Hätte ich meine ganze Ärger-Reserve heute nicht schon komplett für London aufgebraucht, hätte mich Bens blödes Getue sicher gestresst. Aber so, ein wenig müde und irgendwie auch unruhig, war es mir einfach egal.

Von mir aus würde ich im Notfall sonst auch alleine losziehen, mich x-mal verlaufen und dann drei Stunden an diesem neuen Laden anstehen, nur um dann vermutlich nicht reingelassen zu werden. Hauptsache, ich würde meinen Abend nicht allein in meiner Wohnung verbringen müssen.

Die S-Bahn hielt schließlich an meiner Station und ich stieg schlecht gelaunt aus. Wieso war das eigentlich so bescheuert kompliziert? Mein Chef war ein absoluter Hysteriker, Ben ein oberflächlicher Bekannter, der sich manchmal von mir vögeln ließ und meine Eltern straften mich im Moment mit Funkstille, weil ich laut ihnen wieder einmal zu offen einen auf Schwulen machte.

Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch, kaum war ich auf offener Straße und spürte die ersten Regentropfen.

Mir kam gerade eine Frau mit einem unfassbar großen Hund entgegen, als mein privates Handy klingelte. Überrascht zog ich das lärmende Teil aus meiner Tasche. Der Anrufer war tatsächlich Ben, welch freudige Überraschung.

„Hey“, sagte ich nur und versuchte neutral zu klingen. Halt wie ein Kerl, dem es egal war, ob Ben anrief oder nicht.

„Alter, ist okay wegen heute Abend. Wir treffen uns bei mir. Joschka erwartet uns an der U-Bahnstation beim Tierpark.“

„Wer?“

„Joschka, Mann! Ich hab ihn mal erwähnt.“

Aha, als würde ich mir jeden verdammten Namen von Bens unzähligen Bekannten merken! Der Kerl kannte immerhin die ganze verdammte Stadt. Und wenn nicht, dann kannte Ben einen, der einen anderen kannte, dessen jüngsten Cousin er vor wenigen Tagen erst gevögelt hatte.

Ben war so gesehen eigentlich ein wandelndes Gesellschaftsphänomen.

„Ah!“, sagte ich jedoch gespielt verstehend und eilte durch den Nieselregen zu meinem Wohnblock. „Der Joschka! Na klar, dass ist doch der Kerl mit der… äh… geilen Jacke!“

Es war Spätherbst. Jeder verdammte Idiot trug eine Jacke, es sei denn, er legte es ernsthaft darauf an krank zu werden.

„Nee“, sagte Ben jedoch. „Der Kerl trägt nie eine Jacke.“

„Oh.“

„Ist ja auch egal. Um halb zehn geht’s los. Vorglühen im Spirow, alles klar?“

Ich bejahte und legte auf, noch bevor Ben auflegen konnte. Einfach so, damit der Kerl sich nicht wieder was darauf einbilden konnte.

Da ich nur noch wenig Zeit hatte, bis ich bei Ben sein sollte, warf ich Daheim alles in die Ecke, schwang mich rasch unter die Dusche und zog mich danach hektisch auf einem Bein hüpfend an, während ich versuchte, gleichzeitig auch etwas zum Essen in der Mikrowelle zu wärmen.

Es war schließlich knapp nach halb, als ich gestresst bei Bens WG eintraf.

Ich klingelte mir gehetzt die Finger wund und flehte leise, dass Ben noch nicht weg war. Es würde irgendwie zu Ben passen, wenn er mich wegen meiner gestrigen Essenseinladung einfach stehen lassen würde.

Scheinbar hatte Ben jedoch einen guten Tag gehabt und war noch da. Er wartete, nachdem er den Türöffner betätigt hatte, bereits an der offenen Wohnungstür.

„Alter!“, begrüßte er mich und grinste. „Meine Fresse, weißt du eigentlich, dass man dich riecht, bevor man dich sieht?“

Ich blieb kurz irritiert stehen und roch an meinem Jackenärmel. „Ehrlich?“

„Ehrlich, Besim! Ich kenne keinen einzigen Kerl, der immer so in Männerparfum badet wie du!“

Ich zuckte mit den Schultern, klopfte Ben zur Begrüßung einmal kräftig auf den Rücken und betrat die WG des Schreckens.

Bens Mitbewohner waren schräge Leute. Vielleicht lag es daran, dass ich einfach kein Mensch für eine Wohngemeinschaft war, dass mir die zwei Typen so unsympathisch vorkamen – oder es waren schlicht und einfach wirklich blöde Arschlöcher.

Julian war Arschloch Nr. 1 und Yannik folgte dicht als knapper Zweitplatzierter. Beide Typen waren meiner Meinung nach nervige Hohlköpfe, die mich mehr als deutlich spüren ließen, was sie von mir hielten. Nämlich genau so wenig, wie ich von ihnen.

Heute schienen beide Quälgeister aber bereits außer Haus zu sein und ich ließ mich erleichtert auf das dunkle Sofa im zugestellten Wohnzimmer fallen.

„Alter, vergiss das gleich wieder!“, zischte Ben der sich gerade seine Winterjacke anzog. „Hoch mit dem Arsch, ey! Wir treffen Joschka in zehn Minuten an der U-Bahnstation.“

Ich schälte mich wieder vom Sofa und folgte Ben, der rasch das Flurlicht abschaltete und die Wohnungstür absperrte.

„Kann losgehen!“, teilte er mir über das ganze Gesicht strahlend mit.


Joschka trug tatsächlich keine Jacke. Er war Russe und lehnte völlig ruhig an der grünen Kachelwand der U-Bahnstation. Ganz so, als würde er hier immer stehen und mit unerschütterlicher Geduld auf irgendwas warten.

Selbst als Ben hastig mehrere Stufen übersprang und seinen Kumpel euphorisch begrüßte, verzog dieser Joschka keine Miene.

Er trug Jeans, Turnschuhe und einen Pulli mit Kapuze, der meiner Meinung nach für diese kalte Jahreszeit viel zu dünn war.

„Das ist Besim“, sagte Ben kurz und deutete wie nebenbei auf mich. „Du weißt schon, der Modetyp. Hab von ihm erzählt.“

Joschka nickte wortlos und stieß sich von der Wand ab. Ich hatte erwartet, dass er mir wenigstens die Hand zur Begrüßung reichte, aber der hochgewachsene Kerl nickte mir nur knapp zu.

Ich war nicht besonders spannend für ihn, das war sofort klar. Vermutlich hatte ich mich als ‚spontaner Anhang‘ da in eine nach dem Clubbesuch geplante Fick-Nummer eingemischt und war jetzt der große Buhmann.

Ben gab sich auch keine große Mühe, diesen Joschka zum Reden zu animieren. Er schien es gewöhnt zu sein, dass sein russischer Kumpel eher der Dauerschweiger war und vertrieb sich die Zeit in der U-Bahn damit, laute Monologe mit sich selbst zu führen.

Ich war gerade dabei meinem jüngsten Bruder eine kurze SMS zu schreiben, mit Ben reden hätte eh keinen Sinn, als mich genau dieser Idiot plötzlich anstieß. Wobei ‚anstieß‘ nicht das richtige Wort war. Vielmehr ‚rammte‘ er seinen rechten Fuß geradewegs gegen mein Schienbein.

„Was?“, zischte ich verärgert. „Bist du blöd? Das tut vielleicht weh!“

Ben sagte nichts, sondern nickte nur in Richtung Tür. Eine Gruppe von Typen war gerade eingestiegen und es war sofort klar, dass zumindest einer von ihnen Ben gefiel.

„Der in der Mitte!“, bestätigte Ben grinsend meine Vermutung. „Der Blonde sieht doch gut aus, findest du nicht?“

Ich zuckte nur mit den Schultern und tippte in Ruhe die SMS an meinen Bruder fertig, während Ben nun Joschka anstieß und ihm das gleiche mitteilte wie mir.

Der Russe schien jedoch Bens Geschwärme ebenfalls als nicht besonders spannend und bewegend zu empfinden. Er schwieg mit absoluter Entschlossenheit weiter und vermittelte nicht den Eindruck, an diesem Zustand irgendwas ändern zu wollen.

Doch Ben wäre nicht Ben, wenn er nicht aufgestanden und einfach zu den Typen rüber gegangen wäre. Und da Ben nun einmal Ben war und das Universum Bens zu lieben schien, passte auch alles zusammen.

Der Blonde war, welch glückliche Fügung des Zufalls, auch auf dem Weg ins Spirow und ganz eindeutig diese Art von Kerl, dem SCHWUL quasi auf der Stirn stand, wenn man nur lange genug danach Ausschau hielt. Außerdem schien ihm Ben zu gefallen, denn der blonde Typ lachte die restliche Fahrt über jeden von Bens blöden Witzen. Es war eine hysterische und vor allem nervige Art.

„Diese komische Lache geht ja mal gar nicht!“, brummte es plötzlich irgendwo neben mir.

Zuerst starrte ich den verärgert wirkenden Russen einfach nur verblüfft an, dann verarbeitete mein Gehirn langsam die Information, dass dieser Joschka gerade tatsächlich etwas gesagt hatte. Er hatte gesprochen, zum ersten Mal in meiner Nähe!

„Ganz deiner Meinung“, sagte ich nur leise und grinste schief. Joschka starrte mich nur kurz an, dann starrte er wieder aus dem dunklen und den Innenraum der U-Bahn spiegelnden Fenster.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, mit dem Russen reden zu müssen. Es war einfach die Art, wie er irgendwie angespannt und misstrauisch auf seinem Sitz lungerte, die mir dieses Gefühl plötzlicher Interesse vermittelte.

Doch kaum hatte ich den Mund aufgemacht, klingelte mein verdammtes Geschäftshandy.

Ich hatte vor lauter Hektik ganz vergessen, das blöde Teil aus meiner Manteltasche zu nehmen und jetzt hatte ich den verdammten Salat. Es war nämlich ganz eindeutig London, der mich da anrief.

London Lacombe, der ewige Motzer. Mr. Unzufrieden in Person. Quasi Fausts Mephistopheles in Remake-Ausgabe für die Modewelt!

Scheiße, hörte dieser Mist denn eigentlich nie auf…?

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