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Schwarz und Weiß und Alles dazwischen

Teil 3 - Die Sünden der Väter

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel VI

Ich drehte mich um. Georg stand hinter uns und starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf das Blut an der Wand.

„Ein Schrotgewehr?“

„Ja, Harald hat vor ein paar Monaten den Jagdschein gemacht und hat sich dann eine Schrotflinte gekauft. Soweit ich weiß, war er aber nie beim Jagen. Ich glaube, er hat den Schein nur gemacht um an die Waffe ranzukommen.“

„Er hat sich mit einem Schrotgewehr erschossen?!“ Ich konnte es nicht fassen. Das waren definitiv mehr Details, als ich jemals über den Selbstmord meines Vaters wissen wollte.

„Gehen wir wieder nach oben“, meinte ich kopfschüttelnd. Ich fasste Georg an den Schultern und drehte ihn sanft um. Er ließ sich ohne Widerstand in Richtung Treppe führen.

„Ich glaube, mir wird schlecht“, sagte er dann mit emotionsloser Stimme als wir die Treppe beinahe erreicht hatten. Fast elegant beugte er sich vornüber, hielt sich mit einer Hand am Treppengeländer fest und würgte heftig. Ich wartete auf den Schwall und wappnete mich für den sauren Geruch von Erbrochenem. Aber es kam nichts. Er würgte trocken und ich wusste aus leidvoller Erfahrung, dass das eines der schlimmsten Gefühle ist, die es gibt. Ich trat neben ihn und hielt seinen Oberkörper, der sich immer wieder heftig zusammenkrampfte. Nach einer Minute bekam er sich langsam wieder in den Griff und richtete sich auf.

„So eine Scheiße!“ murmelte er leise und spuckte auf den Boden. Besorgt sah ich ihn an. Er stand zweifellos unter Schock. Sein Gesicht war noch weißer als das von Kai vorhin. Unzählige Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet und dicke Tränen liefen ihm über die Wangen. Mit zitternder Hand fuhr er sich durchs Gesicht, den Blick ins Leere gerichtet. Gemeinsam schafften wir ihn nach oben und setzten ihn auf die Bank vor dem Haus.

Die Sonne lugte vorsichtig um die Ecke der Hütte und es war bereits angenehm warm auf der Veranda. Georg lehnte an der Hauswand und starrte apathisch vor sich hin. In seinem Blick lag eine Leere, die so vollständig war, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was im Augenblick in ihm vorging. Jemanden, den man liebt, auf diese Weise zu verlieren war einfach unvorstellbar. Unweigerlich glitt mein Blick zu Michael, der neben Georg auf der Bank saß. Wie würde es mir gehen, wenn ich ihn verlieren würde?

Bei diesem Gedanken krampfte sich alles in mir zusammen. Es fühlte sich an, als wären meine Eingeweide durch einen Sack voller Scherben ersetzt worden.

Wir haben nie genug Zeit...

Es stimmte, egal wie lange ich mit Michael auch zusammen sein würde, es würde nie lang genug sein. Das wusste ich jetzt schon. Würde ich am Ende auch so dasitzen wie Georg? Umgeben von lauter Fremden und allein mit meiner Trauer?

Dann erwischte mich Michael dabei, wie ich ihn anstarrte. Er sah mich fragend an und ein unsicheres Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus.

Gott, wie ich den Kerl liebte!

Er stand auf und kam zu mir herüber. Gemeinsam stellten wir uns in die entfernte Ecke der Veranda, außer Hörweite von Georg und Kai.

„Und, was denkst du?“ fragte er mich leise.

„Im Augenblick weiß ich nicht, was ich davon halten soll, aber irgendwas stimmt hier nicht“, sagte ich nachdenklich.

„Was meinst du?“

„Ich meine das mit dem Schrotgewehr“, antwortete ich. „Wieso ein Schrotgewehr? Er hatte den Waffenschein, das heißt, er hätte sich genauso gut eine Pistole kaufen können. Aber er jagt sich lieber eine Ladung Schrot in den Kopf. Wieso?“

Michael zuckte mit den Schultern.

„Es ist dramatischer?“

„Aber dafür der ganze Aufwand?“

„Wieso Aufwand? Ist doch egal mit was ich mich erschieße. Ich muss nur abdrücken und das war’s.“

„Genau das ist der Punkt“, erklärte ich eindringlich. „Du musst den Abzug drücken.“

„Ja, und?“

„Eine Schrotflinte ist eine verdammt lange Waffe. Wenn er sich den Lauf an den Kopf gehalten oder in den Mund gesteckt hätte, dann wäre er niemals mit der Hand an den Abzug gekommen. Entweder er hat den Lauf abgesägt, oder er hat irgendwas benutzt um abzudrücken.“

Michael sah mich an und überlegte. In seinem Blick lag ein undeutbarer Ausdruck.

„Aber du hast Recht“, redete ich weiter. „Es ist ein dramatischer Selbstmord. Wenn sich jemand so viel Mühe macht, dann will er ein Zeichen setzen.“

„Na ja, das hat er ja auch“, meinte Michael vorsichtig.

„Aber wieso hat er sich dann im Keller erschossen?“ fragte ich „Wenn man sich schon auf so dramatische Weise umbringt, dann sollen das doch wenigstens ein paar Leute mitkriegen. Aber er geht in den staubigen, verlassenen Keller, setzt sich in die hinterste Ecke und bläst sich dort den Schädel weg. Das passt einfach nicht zusammen.“

Michael biss auf seine Unterlippe, was er immer tat, wenn er nachdachte. Ich glaube, ihm war gar nicht bewusst, wie unglaublich sexy das aussah.

„Und wir haben bis jetzt auch noch keine Ahnung, warum er es überhaupt getan hat.“

„Na ja, ich glaube wir sollten Georg nicht unbedingt jetzt danach fragen“, meinte Michael mit einer Kopfbewegung in Richtung der Bank.

Ich sah zu Georg hinüber, der nach wie vor reglos dasaß und ins Leere starrte. Kai saß ihm gegenüber und nippte an seinem Kaffee, den er vorhin mit einem Schuss Rum angereichert hatte. Seine Hand zitterte deutlich, als er die Tasse wieder auf den Tisch stellte. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, aber er sah noch immer nicht gut aus.

„Ja, hat jetzt sicher keinen Sinn. Aber vielleicht bekomme ich die Antworten ja auch anders“, sagte ich und zog mein Handy aus der Tasche.

„Wen rufst du an?“

„Dr. Roth. Den Anwalt meines Vaters. Vielleicht weiß er ja mehr.“

Aber ich erlebte eine böse Überraschung, als mir höhnisch „no network available“ auf dem Display entgegen blinkte.

„Mist! Kein Empfang. Wie sieht’s bei dir aus?“ fragte ich Michael. Er kramte in seiner Hosentasche und beförderte sein Handy zu Tage. Aber auch auf seinem Gesicht breitete sich nach ein paar Sekunden ein besorgter Ausdruck aus.

„Auch nichts, oder?“

Michael schüttelte den Kopf.

„Vielleicht ist in der Hütte ein Telefon“, sagte er dann hoffnungsvoll.

„Nein, da ist sicher keins.“

„Woher weißt du das so genau?“

Ich zeigte auf das Dach der Hütte, ohne selbst hin zu sehen.

„Hier hätten sie die Kabel überirdisch verlegen müssen. Aber da sind keine.“

Michael sah mich lange an und dann breitete sich ein wissendes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Was ist los?“ fragte ich.

„Ach nichts.“

„Michael!“

„Es gefällt mir bloß, wie du einen auf Columbo machst. Das hat was.“

„Columbo!? Also wenn du schon solche Vergleiche anstellen musst, dann hätte ich mir eher Magnum gewünscht.“

„Nein, du siehst mit Schnauzer Scheiße aus.“

Gut, da konnte ich nicht widersprechen. Vor drei Jahren hatte ich das nämlich mal versucht und es sah wirklich furchtbar aus. Es wurde Zeit das Thema zu wechseln.

„Wann habe ich dir eigentlich das letzte Mal gesagt, dass ich dich liebe?“

„Hmm, lass mich überlegen. Das ist jetzt sicher schon über zwei Stunden her“, antwortete er.

„Noch nicht länger?“

Er schüttelte den Kopf.

„Na ja, wird schon stimmen“, meinte ich schulterzuckend.

Er sah mich erwartungsvoll an und ich schaute völlig ausdruckslos zurück.

„Und?“

„Und was?“ fragte ich unschuldig.

„Wäre das jetzt nicht der ideale Augenblick es wieder mal zu sagen?“

„Ja, da hast du recht. Tu dir keinen Zwang an“ meinte ich grinsend. Michael wendete sich frustriert ab und wollte zurück zu den anderen gehen, aber ich hielt ihn am Arm fest und drehte ihn wieder zu mir. Ich zog ihn näher und küsste ihn, bevor er protestieren konnte. Als wir uns nach ein paar Sekunden voneinander lösten, flüsterte ich ihm sanft ‚Ich liebe dich’ ins Ohr.

„Gerade noch mal die Kurve gekriegt“, sagte er glücklich lächelnd.

Kapitel VII

Wir gingen zurück zu den anderen und ich ging vor Georg in die Hocke. Erschöpft sah er mich an. Ich musste mich zusammenreißen, um seinem Blick stand zu halten und nicht zurückzuweichen. Diese unglaubliche Leere in seinen Augen ließ meine Eingeweide verkrampfen und schnürte mir die Kehle zu.

Wenn es wirklich stimmte, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, dann war alles andere hinter diesen schönen, grauen Augen bereits tot. Denn in seinem Blick lag keinerlei Hoffnung mehr. Da war nur noch alles betäubender Schmerz und Resignation. Der Junge, der vor mir saß, suchte nicht mehr nach Hilfe. Er hatte sich damit abgefunden, dass es für ihn keine Hilfe geben würde und dass Hoffnung ein Luxus war, den er sich nicht mehr leisten konnte. So einen Blick hatte ich erst einmal in meinem Leben gesehen. Das war vor ein paar Jahren. Damals war ich viel zu spät dran. Ich rannte durch die Stadt und hoffte dass ich die letzte U-Bahn noch erwischen würde. Es war eine verregnete, nass-kalte Nacht mitten im November. Der frostige Nieselregen, der mir ins Gesicht schlug, fühlte sich an wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut. Dann endlich sah ich den Eingang zur U-Bahn mit dem blauen Leuchtschild darüber. Es kam mir vor, wie das Tor zum Paradies. Ich war noch ein paar Meter entfernt, als ich zwei Polizisten die Treppen heraufkommen sah, die einen älteren Mann nach draußen ‚begleiteten’. Ich hörte auf zu laufen und zwang mich langsam zu gehen. Als ich näher kam fiel mir auf, dass der Mann gar nicht so alt war, wie ich gedacht hatte. Er war höchstens 25, also nur ein paar Jahre älter als ich damals.

„Lass dich hier nicht wieder blicken. Such dir gefälligst einen anderen Platz zum fixen“, sagte einer der Polizisten scharf und stieß den Mann nach vorne. Er trug nur einen schmuddeligen, grünen Pulli und zerrissene Jeans, die so dreckig waren, dass ich nicht mal raten konnte welche Farbe sie einmal gehabt hatten. Ich fror schon, als ich ihn nur anschaute. Die Polizisten drehten sich um und gingen wieder nach unten. Nach einem kurzen Zögern folgte ich ihnen. Als ich an dem zitternden Mann vorbeiging, blickte er auf und sah mir für einen kurzen Moment in die Augen. In seinen wässrigen, blauen Augen lag dieselbe, alles verzehrende Hoffnungslosigkeit, wie ich sie jetzt in Georgs Augen sah.

Eigentlich wollte ich ihm sagen, dass es besser werden würde; dass der Schmerz irgendwann nachlassen würde. Aber ich konnte es nicht. Die Sätze wollten mir einfach nicht über die Lippen kommen. Ich schätze, ich hatte Angst davor, dass sich die Worte genauso verlogen anhören würden, wie sie sich in meiner Kehle anfühlten. Denn, wenn ich eines in meinem Leben gelernt hatte, dann, dass die Zeit eben nicht alle Wunden heilen konnte. Manchmal waren die Wunden einfach zu tief und die Zeit war zu kurz.

„Willst du dich hinlegen?“ fragte ich stattdessen besorgt.

„Nein“, antwortete er matt. „Ich will nach Hause.“

„Okay. Wir bringen dich hin.“

Zusammen mit Michael und Kai machten wir uns auf den Weg. Georg ging stumm neben mir und wies uns den Weg. Zuerst ging es ein Stück bergab, bis ein schmaler Pfad scharf nach rechts abzweigte. Auf einem verwitterten, braunen Holzschild an der Gabelung stand ‚Rainerhof’ in altdeutscher Schrift. Wir folgten diesem steinigen Weg, der leicht bergauf führte, ungefähr 45 Minuten lang. Dann wand sich der Pfad um einen Felsvorsprung und wir sahen endlich Georgs Zuhause. Der Rainerhof lag ein wenig unter uns, in einer kleinen Senke. Vom Stil her war er unserer Hütte ziemlich ähnlich. Auch er war aus demselben dunklen Holz und hatte diese kleinen Fenster. Allerdings stand diese Hütte nicht auf einem Fundament aus Natursteinen und sie schien mir auch etwas kleiner zu sein. Rechts neben der Hütte stand noch ein kleiner Schuppen, der nicht besonders vertrauenserweckend aussah. Das bemooste Holzdach war an einer Seite etwas eingesackt und die Seitenwand darunter lehnte sich bedenklich nach innen. Vor dem Schuppen stand ein älterer Mann an einem Sägebock und zersägte gerade eine Holzlatte. Als wir näher kamen, blickte er auf und legte die Säge weg. Dann nahm er das Stück, das er gerade abgesägt hatte und verschwand im Schuppen. Wir waren noch 100 m entfernt. Er musste Georg erkannt haben.

„Das nenne ich mal einen herzlichen Empfang“, murmelte Kai sarkastisch.

Georg sagte nichts, aber er wirkte nicht mehr so apathisch wie vorher. Jeder Muskel in seinem Körper schien angespannt zu sein und sein Gesicht war wie versteinert. Er machte auf mich den Eindruck, als würde er sich auf eine Auseinandersetzung vorbereiten.

Schließlich hatten wir die Hütte erreicht und standen ein paar Meter von dem Sägebock entfernt.

„Danke fürs Herbringen. Aber ich glaube es ist besser, wenn ihr jetzt verschwindet.“ Georgs Stimme klang resigniert und er konnte mir nicht in die Augen sehen.

„Bist du sicher?“ fragte ich besorgt.

Er starrte zum Eingang des Schuppens und nickte nach einem kurzen Zögern.

„Ja, bin ich.“

„Wenn du irgendwas brauchst oder mit jemandem reden willst, komm einfach vorbei.“

„Danke... für alles.“

Wir wollten gerade gehen, als der Mann aus dem Schuppen kam und auf uns zuging. Das musste Georgs Vater sein. Die Ähnlichkeit war frappierend. Er war ein wenig kleiner als Georg und hatte auch ein paar Kilos mehr auf den Rippen. Aber das Gesicht ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie Vater und Sohn waren. Er trug ein verschwitztes kurzärmliges Karohemd und schmutzige, graue Arbeitshosen.

„Da bist du ja endlich!“ sagte er wütend und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich heute deine Hilfe mit dem Schuppen brauche. Wo warst du?“

Georg schwieg, aber seine Hände ballten sich zu Fäusten. Auf. Zu. Auf. Zu.

„Ich habe dich was gefragt! Warst du wieder bei der Hütte von diesem Schwein?“

„Hi. Sie müssen Georgs Vater sein“, sagte ich freundlich und streckte ihm meine Hand hin. „Ich bin Nick, und das sind Michael und Kai.“

Er ignorierte meine Hand und sah mir in die Augen.

„Kenne ich euch?“

„Nein, aber Sie kannten offensichtlich meinen Vater.“

Er zögerte kurz und versuchte mich einzuordnen.

„Wer war dein Vater?“

„Das Schwein“, sagte ich noch immer freundlich lächelnd.

„Diese kleine Schwuchtel hatte einen Sohn!? Wie hat er denn das geschafft?“ Aus den Augenwinkeln sah ich Georgs Hände. Auf. Zu. Auf. Zu.

„Tja, jeder macht mal einen Fehler“, sagte ich noch immer lächelnd und sah zu Georg hinüber „Und leider können wir uns unsere Eltern nicht aussuchen.“

Sein Blick wurde eine Spur kälter, als er durch fast geschlossene Lippen hervorpresste: „Verschwindet von hier.“

„Georg?“

Er sah mich stumm an und in seinem Gesicht lag wieder die Hoffnungslosigkeit, die mir eine solche Angst machte. Er nickte langsam und blickte dann weg.

Ich zögerte; wollte ihm helfen. Aber wie hätte ich das anstellen sollen?

„Wenn du etwas brauchst, dann...“

„Er braucht nichts von euch!“ fiel mir Georgs Vater ins Wort. „Er hat hier alles, was er braucht.“

Ich schüttelte den Kopf, warf noch einen Blick auf Georg, der auf seine Füße starrte, und drehte mich dann um.

„Kommt Leute“, sagte ich enttäuscht. „Gehen wir zurück.“

Michael ging neben mir und legte seine Hand auf meine Schulter.

„Du konntest nicht mehr tun“, versuchte er mich aufzumuntern. „Mehr als ihm unsere Hilfe anzubieten konntest du nicht tun. Er muss selber den nächsten Schritt machen.“

„Ich weiß“, erwiderte ich, ohne es wirklich zu meinen. „Aber er wird es nicht leicht haben, mit so einem Vater.“

„Nein, leicht wird er es nicht haben. Das stimmt.“

Kapitel VIII

Als wir wieder bei unserer Hütte waren, sah mich Michael fragend an.

„Und was jetzt?“

Dieselbe Frage hatte ich mir auf dem Rückweg auch schon gestellt.

„Jetzt versuchen wir mehr über meinen Vater herauszufinden. Irgendwas ist seltsam an der Geschichte und ich würde zu gern wissen was es ist.“

„Okay, dann los“, meinte Michael lächelnd und seine braunen Augen blitzten kurz auf.

„Also ich bin dafür, dass wir verschwinden“, sagte Kai bestimmt.

Michael und ich drehten uns erstaunt um. Kai hatte, seitdem er das Blut im Keller entdeckt hatte, kaum ein Wort hervorgebracht.

„Was?“

„Ich denke wir sollten runter von dieser Hütte.“

„Wieso denn?“

„Weil wir alles gesehen haben, was wir sehen wollten. Und noch ein paar Dinge, die wir nicht sehen wollten.“ Er fuhr sich nervös mit der Hand durch seine kurzen blonden Haare und redete dann leise weiter. „Das hier sollte ein ruhiges, entspanntes Wochenende werden. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin nicht wirklich entspannt. Also, was machen wir hier noch?“

Eigentlich hatte er Recht und im Nachhinein wäre es sicher besser gewesen, wenn wir gegangen wären. Aber damals war ich noch nicht bereit aufzugeben und die Dinge auf sich beruhen zu lassen.

„Ich verstehe dich und von mir aus könnt ihr schon runter gehen. Aber ich möchte zuerst noch ein paar Antworten.“

„Und du glaubst wirklich, dass du deine Antworten hier finden wirst?“

Ich ließ meinen Blick langsam über das dunkle Holz der Hütte gleiten und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht, aber ich muss es wenigstens versuchen. Wo könnte ich denn sonst suchen?“

„Also ich bleib bei dir“, sagte Michael entschlossen.

„Na klasse!“

„Kai, bitte!“

„Nein, ist doch toll! Lasst uns doch hier bleiben. Hier, wo das Blut noch an den Wänden klebt! Super Idee! Wird sicher ein tolles Wochenende.“

Wütend setzte er sich auf die Bank vor dem Haus und starrte auf den Tisch.

„Es tut mir leid, Kai. Aber ich kann hier noch nicht weg“, sagte ich leise und ging in die Hütte. Michael folgte dicht hinter mir. Und so begannen wir unsere kleine Hausdurchsuchung. Nach ein paar Zimmern, die nicht wirklich viel hergaben, betraten wir schließlich das Arbeitszimmer, das direkt gegenüber des Schlafzimmers lag. Es war ein sehr kleiner Raum, maximal zwei auf drei Meter. Durch ein kleines Fenster flutete das Licht des hellen Mittags herein. Unter dem Fenster stand ein einfacher Schreibtisch aus dunklem Holz mit einem bequem aussehenden schwarzen Lederstuhl davor. An der linken Wand befand sich ein großes Regal, das mit Aktenordnern und Büchern voll gestopft war.

Seufzend setzte ich mich an den Schreibtisch, der unglaublich aufgeräumt war. In der Mitte der Arbeitsfläche stand ein schlanker, weißer Laptop, rechts davon lag ein Notizblock und daneben stand ein Stiftehalter mit zwei sehr teuer aussehenden Füllfederhaltern. Ansonsten war die Tischplatte leer.

Ich klappte den Laptop auf und schaltete ihn ein. Weiter als bis zur Passwort-Abfrage kam ich aber nicht. Na ja, ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass ein Geschäftsmann wie mein Vater seinen Computer ungesichert herum stehen lassen würde. Ich schaltete ihn wieder aus und nahm mir die Schubladen des Schreibtisches vor. In der oberen fand ich ein paar Büroutensilien: einen Locher, eine Schere, einen Hefter, aber nichts Interessantes.

In der unteren Schublade förderte ich unter einem weiteren Schreibblock ein in dunkles Leder gebundenes Buch zu Tage. Vorsichtig legte ich es vor mich auf den Schreibtisch. Auf dem dicken Einband stand kein Titel, aber das weiche Leder wirkte sehr teuer. Ich schlug die erste Seite auf und sah sofort, was es war. In einer sehr extrovertierten, kantigen Handschrift stand dort:

Tagebuch von Harald Berger

Ich war auf Gold gestoßen!

Wer könnte mir mehr über meinen Vater erzählen als er selbst?

„Hast du was gefunden?“ fragte mich Michael und blickte über meine Schulter.

„Oh ja“, antwortete ich.

„Wow! Sein Tagebuch! Nicht schlecht.“

Mit zitternden Fingern blätterte ich um.

„Mal sehen. Der erste Eintrag ist vom 23. Juni vor zwei Jahren.“ Ich begann vorzulesen. Es war seltsam, die Worte meines Vaters aus meinem eigenen Mund zu hören.

„Ich beginne dieses Tagebuch am ersten Tag meines neuen Lebens. Es ist das erste Tagebuch, das ich schreibe und ich weiß noch nicht genau, warum ich es eigentlich mache. Es erscheint mir einfach richtig. Ich bin jetzt seit drei Tagen in meinem neuen Zuhause und heute sind die letzten Kisten mit meinen Sachen geliefert worden. Es war nicht einfach und vor allem nicht billig Leute zu finden, die mir beim Tragen helfen. (Ich musste mir ja unbedingt eine Hütte suchen, die man nur zu Fuß erreichen kann.) Aber jetzt bin ich erstmal versorgt.

Ich habe heute einen jungen Mann kennen gelernt, der auf einer Hütte in der Nähe wohnt. Sein Name ist Georg und er ist wirklich ein faszinierender Junge. Er hat mir beim Auspacken geholfen und wir haben uns auf meiner Veranda lange unterhalten. Seltsam, ich habe keine Ahnung mehr, über was wir eigentlich geredet haben. Ich weiß nur noch, dass ich mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten habe. Er will in den nächsten Tagen noch mal vorbei kommen. Ich freue mich schon darauf.

Die nächsten Einträge erzählten davon, wie sich Georg und mein Vater in den folgenden Wochen näher gekommen waren. Wie Georg immer öfter vorbei kam und sie sich auf der Veranda über Gott und die Welt unterhielten.

„Jetzt wird es interessant“, meinte ich mit einem Lächeln und las den Eintrag vor, den ich gerade aufgeschlagen hatte.

Heute haben wir uns geküsst.

Ich stehe noch immer etwas neben mir. Wir saßen auf der Veranda und Georg erzählte mir von seiner Mutter und wie sie starb, als er gerade mal 12 war. Er erzählte mir, wie sehr er sie geliebt hatte und wie schwer es für ihn nach ihrem Tod war. Und er fing an zu weinen, als er gestand, wie wütend er damals auf sie war, weil sie ihn mit seinem Vater alleine gelassen hatte. Ich umarmte ihn und wischte ihm die Tränen weg. Dann sah ich ihm in die Augen, in denen immer so viel Schmerz zu liegen scheint, und ich konnte nicht anders. Ich gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. Zuerst starrte er mich total geschockt an und ich stammelte eine Entschuldigung. Ich war überzeugt, dass er einfach verschwinden würde und dass wir uns nie wieder sehen würden. Aber er meinte nur: „Du hättest mich wenigstens vorwarnen können.“ Und dann küssten wir uns noch mal. Es war wunderschön.

Ich befürchte, ich bin dabei mich zu verlieben.

Ich blickte auf und sah Michael in die Augen. Er lächelte mich an und sein Blick ließ mein Herz ein paar Schläge schneller schlagen. Als hätte jemand den Turbo eingeschaltet. Er küsste mich auf die Stirn und meinte:

„Ich weiß, Kleiner. Ich weiß.“

Die nächsten Einträge überflog ich nur, bis ich auf einen Eintrag stieß, der sich mir ins Gedächtnis brannte. Er war vom 17. März diesen Jahres

Wir sind unvorsichtig geworden. Heute hat Georgs Vater gesehen, wie wir uns auf der Veranda geküsst haben. Zuerst dachte ich, dass er ohnmächtig werden würde, dann schrie er mich an, dass ich gefälligst meine dreckigen Finger von seinem Sohn lassen soll. Er beschuldigte mich, dass ich ihn verführt hätte. Ich glaube ich habe noch nie jemanden so wütend gesehen. Ich wollte es ihm erklären, aber dann erkannte ich, dass es da nichts zu erklären gibt. Und ich will verdammt sein, wenn er es schaffen würde, dass ich mich schäme für das, was ich bin. Aber ich mache mir Sorgen um Georg. Er war total geschockt, als sein Vater aufgetaucht ist und hat kein Wort hervorgebracht. Und dann ist er einfach mit seinem Vater mitgegangen. Für ihn ist das alles neu. Er weiß noch nicht, wie er mit so etwas umgehen soll.

Ich blätterte um und las den Eintrag des nächsten Tages.

Heute kam Georgs Vater noch mal vorbei. Er stand plötzlich vor der Tür und diesmal war er absolut ruhig und eiskalt. Das war fast noch schlimmer als sein Geschrei von gestern. Als wir uns gegenüber standen, lag in seinem Blick so viel Verachtung und Wut, dass ich richtig Angst bekam. Mit einer ganz ruhigen und sachlichen Stimme hat er mir klar gemacht, dass es besser für mich ist, wenn ich Georg nicht wieder sehe. Ich versuchte ihm zu erklären, dass wir uns lieben und da wurde er noch deutlicher. Er sagte, dass er mich umbringen würde, wenn ich seinem Sohn noch mal zu nahe kommen würde. Und als ich in seine Augen sah, erkannte ich, dass er das wirklich ernst meinte und dass er auch dazu fähig wäre. Ich glaube, er könnte mich umbringen, danach gemütlich nach Hause gehen, sich zu Georg an den Tisch setzen und zu Abend essen. Nicht einen einzigen Moment würde ihn dabei sein Gewissen quälen. In dem Moment wurde mir klar, wie abgeschieden ich hier wohne. Die Polizei würde Stunden hier herauf brauchen. In der Stadt hätte ich über Typen wie ihn nicht weiter nachgedacht. Aber hier oben...allein... Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken mir eine Waffe zuzulegen.

„Mein Gott, vielleicht war das wirklich kein Selbstmord“, meinte Michael erstaunt. „Wie geht’s weiter?“

Ich überflog die nächsten Seiten.

„Hmm, anscheinend haben sie sich danach heimlich getroffen und waren sehr vorsichtig. Und so wie es aussieht hat es ihnen Georgs Vater auch abgekauft. Zumindest steht da nichts mehr über ihn.“

„Blätter’ mal zum Ende.“

Ich tat ihm den Gefallen und schlug den letzten Eintrag auf. Mein Vater hatte ihn vier Tage vor seinem Tod geschrieben.

Ich habe mich gerade von Georg verabschiedet. Ich bin zwar nur für zwei Tage weg, aber ich vermisse meinen Kleinen jetzt schon. Am liebsten würde ich hier bleiben, aber wenn ich Dr. Wurzrainer noch mal versetze, muss ich mir einen neuen Hausarzt suchen. Also werde ich hingehen, obwohl ich genau weiß, dass es ihm nur um die Praxisgebühr geht. Von wegen Nachuntersuchung.... Ich gebe zu, dass diese verdammte Sommergrippe ziemlich unangenehm war, aber seit zwei Wochen geht es mir wieder hervorragend. Na ja, was soll’s, so kann ich wenigstens mal wieder richtig einkaufen und meine Vorräte aufstocken.

Anderes Thema: Kurz nachdem Georg heute gegangen ist, habe ich eine Entscheidung getroffen. Wenn ich wieder hier bin, werde ich noch mal versuchen mit seinem Vater reden. Das kann so nicht weitergehen. Ich bin einfach zu alt für dieses Versteckspiel. Georg werde ich nichts sagen. In den letzten Monaten habe ich immer wieder versucht ihn auf dieses Thema anzusprechen, aber er hat immer abgeblockt. Wahrscheinlich wird er mich dafür hassen, aber ich kann nicht anders. Ich liebe ihn mehr als mein Leben. Sein Vater wird es einfach akzeptieren müssen.

„Das ist der letzte Eintrag?“

Ich nickte. „Ich muss das Georg zeigen.“

„Jetzt?“

„Auf was sollen wir denn warten?“ antwortete ich müde.

„Keine Ahnung. Vielleicht, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hat.“

„Die Zeit haben wir nicht. Spätestens morgen müssen wir wieder runter von dieser Hütte.“

Michael biss wieder auf seine Unterlippe und nickte dann.

„Okay, dann los.“

Kapitel IX

Draußen auf der Veranda erzählten wir Kai, was wir entdeckt hatten und was wir vorhatten.

„Oh Mann“, stöhnte er. „Heißt das, wir müssen schon wieder marschieren?“

„Sieht so aus. Tut mir leid.“

Nach einigen mürrischen Bemerkungen fügte sich Kai dann doch in sein bedauerliches Schicksal und wir machten uns wieder auf den Weg.

„Hat sich dein Vater jetzt selbst erschossen oder nicht?“ fragte Kai nach ein paar Minuten.

„Ich weiß es nicht. Aber wenn ich raten müsste, dann würde ich sagen, dass es kein Selbstmord war.“

„Okay“, meinte Kai ruhig. „Korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber das heißt dann, dass wir geradewegs zu der Hütte des Mörders gehen, oder?“

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Kai hatte wirklich ein Talent dafür eine Situation auf den Punkt zu bringen. Dummerweise war mir dieser spezielle Punkt noch gar nicht so klar gewesen.

„Und gehe ich recht in der Annahme“, redete er weiter, „dass der Kerl höchstwahrscheinlich bewaffnet ist, keines unserer Handys funktioniert und die Polizei mehrere Stunden brauchen würde um hier rauf zu kommen?“

Ich sah ihn lange an und antwortete dann mit einem hilflosen Lächeln.

„Ja, so sieht es aus.“

„Okay, ich wollte nur sichergehen, dass uns allen klar ist, was wir hier machen.“ Damit ging er an mir vorbei und unsere kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, wobei jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.

Als wir bei Rainerhof ankamen war es bereits später Nachmittag und die Sonne stand nur noch eine Handbreit über den Gipfeln des Wilden Kaisers. In der schwülen Luft tanzten unzählige, winzige Insekten vor meinen Augen, wie ein lebendiger Schleier. Im Norden konnte ich eine gewaltige, tiefhängende Wolkenfront erkennen, die sich uns langsam näherte. Es war absolut windstill. Die Luft lag wie eine träge Flüssigkeit in der Senke, in der Georgs Hütte stand. Es war buchstäblich die Ruhe vor dem Sturm.

Ich wischte mir mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn, der nur teilweise von der Hitze herrührte.

„Also, hier sind wir wieder.“

„Sieht fast so aus, als wäre keiner zu Hause“, meinte Michael zweifelnd.

„Oh, schade!“ gab Kai seinen Senf dazu. „Dann kehren wir wohl besser um.“

„Nicht so schnell“, ermahnte ich ihn. „Gehen wir erstmal runter.“

Kurz bevor wir die Hütte erreicht hatten, ging die Tür auf und Georg trat heraus. Überrascht sah er uns an und kam auf uns zu. Seine Augen waren gerötet. Er hatte wohl wieder geweint.

„Hi!“ begrüßte er uns mit einem unsicheren Lächeln. „Ich habe nicht damit gerechnet euch so bald schon wieder zu sehen.“

„Hi. Ja, es ging nicht anders“, erwiderte ich. „Wo ist dein Vater?“

„Er hat sich seine Kettensäge geschnappt und ist dann losgezogen. Er hat gemeint, dass er endlich den Weg zum Gipfel frei machen will. Vor ein paar Wochen hat der Sturm einen Baum quer über den Weg gelegt.“

Das Bild von Georgs Vater, wie er mit einer riesigen Kettensäge hantiert, leuchtete kurz in meinem Kopf auf und jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Ich hatte definitiv vor, weg zu sein, bevor er wieder zurückkam.

„Ich möchte dir etwas zeigen, was wir in Haralds Hütte gefunden haben“, sagte ich und holte das schwere Lederbuch aus meinem Rucksack. Mit einem leichten Zögern gab ich es ihm.

„Kennst du es?“

Georg schüttelte den Kopf und schlug es auf. Seine Augen blitzten auf und er sah mich mit fassungslosem Blick an. Dann fuhr er mit zitternden Fingern über das erste Blatt.

„Haralds Tagebuch!“ Georgs Stimme war kaum mehr als ein Flüstern als er sprach. „Ich wusste gar nicht, dass er eines geführt hat. Danke!“

„Gern geschehen“, erwiderte ich, „aber da ist noch mehr.“

„Mehr?“ Georg blickte von dem Buch auf und sah mir in die Augen. Ich nickte.

„Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen?“

„Ja klar! Tut mir leid. Kommt mit.“ Wir folgten Georg und setzten uns auf eine rustikale Holzbank, die hinter dem Schuppen in der schwindenden Abendsonne stand. Für einen kurzen Augenblick raubte mir die fantastische Abendstimmung den Atem. Die Sonne hing als roter Feuerball zwischen den Berggipfeln und es roch irgendwie nach frisch gemähtem Gras. Ein leises Donnergrollen erfüllte die Luft und erinnerte mich daran, dass wir wirklich nicht viel Zeit hatten.

„Ich habe ein paar Einträge gelesen. Nachdem dein Vater euch erwischt hat, war er ziemlich sauer, oder?“

Ein Schatten zog über Georgs Gesicht, als er sich daran erinnerte.

„Stinksauer! Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen, wie an diesem Tag und den folgenden. Aber er war vor allem auf Harald wütend. Er war davon überzeugt, dass er mich verführt hat. Er meinte, wenn er uns noch mal zusammen sieht, erschlägt er ihn.“ Georg schüttelte den Kopf, wie um diese schlimmen Erinnerungen zu vertreiben. „Die nächsten Wochen und Monate waren nicht leicht. Wir haben uns heimlich getroffen, wann immer es ging. Harald hat das nicht besonders gefallen. Er sagte immer, dass er nicht wüsste, für was er sich schämen sollte. Aber mir zuliebe hat er mitgespielt.“

„Kurz bevor er gestorben ist, war er noch unten in der Stadt, oder?“

Georg nickte und Tränen stiegen in seine Augen.

„Ja. Er musste wegen einer Nachuntersuchung zu seinem Arzt und wollte sich noch um ein paar Dinge kümmern.“

„Hast du ihn noch gesehen, nachdem er wieder hier oben war?“

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann ließ ich die Bombe platzen.

„In seinem letzten Eintrag schreibt er, dass er noch mal mit deinem Vater sprechen wollte, wenn er wieder zurück ist“, sagte ich vorsichtig und wartete auf seine Reaktion. Georg hob den Kopf und starrte mich erstaunt an.

„Er wollte was?“

„Er hatte das Versteckspiel satt und wollte deinem Vater erzählen, dass ihr noch immer zusammen seid.“

Georgs Blick glitt an mir vorbei in die Ferne. Dann nickte er.

„Deswegen war er so seltsam, als ich mich von ihm verabschiedet habe. Ich hab mir damals nichts dabei gedacht, aber jetzt...“

„Wäre es möglich, dass er es deinem Vater noch gesagt hat?“

Georg sah mich an und eine Art grausames Erkennen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Nein. Das kann nicht sein.“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen und wiederholte immer wieder „Das kann nicht sein.“

„Was ist los?“ fragte ich. Er fuhr sich mit den Händen über seine kurzgeschorenen Haare und sah mich wieder an. In seinem Blick lag eine seltsame Mischung aus Härte und Verletzlichkeit.

„Am Tag, als Harald starb, war mein Vater fast den ganzen Tag weg. Er ist schon früh am Vormittag aufgebrochen und hat gesagt er hätte noch was Wichtiges zu erledigen. Etwas, das er schon lange vor sich hergeschoben hätte.“

„Georg, ich....“ ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Nichts schien angemessen. Alles, was mir einfiel, war zu armselig oder zu unbedeutend. „Es tut mir leid“, beendete ich schließlich meinen Satz.

„Die ganze Zeit habe ich versucht einen Grund zu finden, warum er sich umgebracht hat. Ständig hab ich mich gefragt, ob ich es vielleicht hätte verhindern können. Aber er hat sich gar nicht selbst umgebracht, oder?“

„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise. „Es sieht nicht so aus. Wie du gesagt hast: Er hatte keinen Grund sich umzubringen.“

Georg nickte und starrte auf seine Hände.

„Und was jetzt?“ fragte er ruhig.

„Jetzt kommst du erst mal mit zu uns. Und morgen sehen wir weiter.“

Er sah mich an und nickte dann wieder.

Wir standen auf und bogen um die Ecke des Schuppens.

„Oh Shit!“ Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Georgs Vater stand vor dem Haus und schaute sich suchend um. In der rechten Hand hielt er eine rote Kettensäge. Er trug eine dunkelgrüne Schnittschutzhose und ein schmutziges, ehemals weißes T-Shirt. Ich war wie erstarrt. Dann sah er uns und sein Blick verfinsterte sich.

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