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Schwarz und Weiß und Alles dazwischen

Teil 2 - Licht und Schatten

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel IV

Ich wollte nur raus aus der Hütte und brauchte dringend frische Luft. Also ging ich nach draußen auf die Veranda und atmete erstmal tief durch. Die Abenddämmerung hatte die schroffe Bergwelt mittlerweile fest im Griff und tauchte alles in ein kräftiges Rot-Orange. Der Wind hatte noch etwas aufgefrischt und in der warmen Abendluft lag dieser kräftige, volle Geruch, der bereits den Beginn des Herbstes ankündigte. Ich hatte die Hände tief in den Hosentaschen versenkt und starrte vor mich hin, während ich versuchte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken zu bringen.

Mein Vater war schwul!

„Eine ganz schöne Überraschung.“ Michael war neben mich getreten und sah mich vorsichtig von der Seite an.

Ich nickte nur kurz und starrte weiter geradeaus.

„Aber du bist doch selber schwul“, fuhr er fort. "Das sollte also kein Problem für dich sein. Das ändert doch nichts, oder?“

„Doch“, antwortete ich leise. „Das ändert alles.“

„Aber wieso?“ bohrte Michael nach.

„Mir ist egal, ob mein Vater schwul war, oder nicht. Da hast du Recht.“ Ich machte eine kurze Pause. “Aber ich weiß nicht mehr, was ich von dem glauben soll, was mir meine Mutter über ihn erzählt hat“, versuchte ich ihm zu erklären.

„Ich meine: Hat er meine Mutter verlassen, weil er schwul war? Wusste sie es und wollte deshalb nicht, dass ich ihn kennen lerne? Wollte er vielleicht Kontakt zu mir haben?“

Tränen stiegen mir in die Augen, als ich fortfuhr.

„Hätte ich einen Vater haben können?“

Nach ein paar Sekunden meinte Michael zögernd:

„Frag sie doch einfach. Sie schuldet dir die Wahrheit.“

Ich nickte wieder.

„Sobald ich wieder zu Hause bin“, stimmte ich ihm zu und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.

„Komm her“, sagte Michael und nahm mich in den Arm. Genau das hatte ich gebraucht. Deutlich fühlte ich seine Körperwärme durch das T-Shirt und konnte seinen gleichmäßigen Herzschlag an meiner Brust spüren. Er roch nach dem Sandelholz-Parfum, das er schon seit einer Ewigkeit benutzte, und darunter lag sein eigener Geruch, der durch die Anstrengung des Tages noch deutlicher hervortrat als sonst. Ich fühlte mich einfach nur geborgen in diesem Geruch. So als wäre er eine warme Decke in die man sich kuschelt.

„Du bist ein Weichei“, flüsterte er mir zu und brachte mich damit zum Lächeln. Das war etwas, das nur er schaffte. Völlig egal, wie beschissen es mir ging, er konnte mich immer aufmuntern.

„Es ist ja wirklich rührend euch so zu sehen“, unterbrach uns Kai nach ein paar Minuten. „Aber wenn ich nicht gleich was zu essen bekomme, garantiere ich für gar nichts mehr. Und ich glaube nicht, dass ihr für den schlimmsten Fall von Kannibalismus verantwortlich sein wollt, den es seit der tragischen Verwechslung von Onkel Herbert bei unserem letzten Familiengrillfest gegeben hat.“

„Du hast doch gar keinen Onkel Herbert!“ meinte Michael lächelnd, während wir uns aus unserer Umarmung lösten.

„Ich sagte doch: Es gab eine tragische Verwechslung...“ antwortete Kai kopfschüttelnd.

Während Kai und Michael dann zurück in die Hütte gingen um Teller und Besteck zu holen, befreite ich unsere Vorräte aus den Rucksäcken. Es gab echten Tiroler Speck, Bergkäse und dazu ein herrlich knuspriges Bauernbrot. Zufrieden mampfend saßen wir dann auf der Veranda und genossen unser wohlverdientes Abendessen, während sich langsam die Nacht um uns legte. Nach dem Essen nahm Kai wortlos unsere Gläser und verschwand mit ihnen in der Hütte. Michael und ich sahen uns fragend an und zuckten mit den Schultern. Wir hatten keine Ahnung, was er nun wieder vorhatte. Nach ein paar Minuten kam er zurück und hielt uns grinsend die Gläser hin. Auf den ersten Blick hätte man den Inhalt für Cola halten können. Aber ich kannte Kai schon viel zu lange und viel zu gut, um das zu glauben.

„Was ist das?“ fragte ich skeptisch und schnüffelte an meinem Glas.

„Es wird dir schmecken. Vertrau mir!“ meinte Kai und nahm einen Schluck.

„Vertrauen?! Dir!?“ fragte ich ungläubig. „Als ich dir das letzte Mal vertraut habe, musste ich eine Nacht in einer stinkenden Gefängniszelle verbringen und hab’ zwei Stunden gebraucht um einen riesigen, behaarten Kerl namens Bubba davon zu überzeugen, dass ich eine ansteckende Geschlechtskrankheit habe, während du dich herzhaft auf meine Schuhe übergeben hast.“

„Ach komm schon! Sag bloß du hattest keinen Spaß?“

„Bubba schreibt mir immer noch. Er kommt in zwei Monaten raus.“

„Na siehst du. Ich hab doch gesagt, dass etwas Gutes dabei herauskommen wird.“

Ich gab auf und nippte vorsichtig an meiner ‚Cola’. Und ich wurde doch tatsächlich positiv überrascht. Es war ein wirklich guter Cuba Libre.

„Dein Vater hatte wirklich Geschmack“, erklärte Kai zufrieden. „In der Küche hab ich vorhin diesen hervorragenden Brugal Extra Viejo entdeckt. Direkt aus der Dominikanischen Republik. Herrlich! Zum Glück haben wir heute noch Cola gekauft.“ Kai schien ein besonderes Gespür für Alkohol zu haben. Vielleicht roch er ihn auch einfach. Diese Fähigkeit hatte uns schon oft geholfen und mindestens genauso oft hatte sie uns schon in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht.

Wir saßen noch einige Zeit auf der Veranda, schlürften unsere Drinks und diskutierten, was man mit dieser Hütte alles machen könnte. Dabei reichten unsere Ideen vom Kloster bis zum Bergbordell. Es wurde ein richtig netter Abend. Irgendwann verabschiedete sich Kai dann ins Bett und ich blieb mit Michael noch draußen sitzen. Die Nacht war einfach zu schön, um schon ins Bett zu gehen. Die Sterne funkelten wie Diamanten über uns und ein gelber Halbmond lugte schüchtern hinter den Gipfeln des wilden Kaisers hervor.

„Und was hältst du bis jetzt von unserem kleinen Ausflug?“ fragte Michael leise.

Ich drehte den Kopf ein wenig und sah zu ihm hinüber. Er saß neben mir auf der Bank und hatte den Kopf an die Hauswand gelehnt. In der Hand hielt er sein halbvolles Glas Cuba Libre.

„Na ja, auf jeden Fall war es bisher sehr interessant“, antwortete ich ausweichend, wobei ich merkte, dass meine Zunge langsam schwer wurde. Kai hatte die Drinks wirklich gut gemischt.

„Danke, dass ihr mitgekommen seid“, fügte ich nach einer kurzen Pause noch hinzu. Michael drehte den Kopf und sah mir in die Augen. Dann umspielte ein kleines Lächeln seine Lippen.

„Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass wir dich bei so was alleine lassen, oder?“ Ein paar Sekunden lang sahen wir uns an und in diesem wunderbaren Moment gab es nur noch uns beide auf der Welt. In diesen Sekunden war Michael meine gesamte Welt. Es war ein fantastisches, aber auch ein erschreckendes Gefühl. Denn eigentlich hatte ich gedacht, dass ich diese Gefühle für ihn nicht mehr hatte. Doch in diesem Augenblick wurde mir schlagartig klar, dass sie nie wirklich weg waren. Ich mochte sie unter einem Haufen vernünftiger Gedanken begraben haben, aber tot waren sie deswegen noch lange nicht. Im Gegenteil, sie waren stärker als jemals zuvor und jetzt hatten sie sich den Weg zurück an die Oberfläche gegraben. Ich blickte verlegen weg.

„Ich glaub, ich geh ins Bett“, meinte ich, um der Situation zu entkommen. Was gar nicht so einfach war, denn Michael schloss sich mir an, und wir räumten gemeinsam unsere Sachen in die Hütte. Gemeinsam gingen wir dann auch in den ersten Stock, wo ich feststellen musste, dass sich Kai im Gästezimmer ausgebreitet hatte. Das bedeutete, dass für Michael und mich nur das Schlafzimmer meines Vaters übrig blieb.

Genau das brauchte ich nach diesem anstrengenden Tag: Eine Nacht im selben Bett mit Michael!

Es war so schon schwer genug mit meinen Gefühlen klar zu kommen. Aber was sollte ich machen? Ich konnte ihn ja kaum bitten auf dem Fußboden zu schlafen.

Also fügte ich mich in mein Schicksal und ging ins Bad um mich bettfertig zu machen. ‚Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm’, dachte ich, als ich mir die Zähne putzte. Immerhin war es ja nicht das erste Mal, dass ich mit Michael zusammen in einem Bett geschlafen habe.

Als ich wieder ins Schlafzimmer kam, stand Michael mit dem Rücken zu mir und war gerade dabei sein T-Shirt auszuziehen. Der Raum wurde nur durch das gelb-orange Licht der Nachttischlampe erhellt und in seinen engen, schwarzen Boxershorts sah er einfach atemberaubend aus (also Michael, nicht der Raum). Er hatte einen athletischen Körper, war aber nicht übertrieben muskulös. All die Jahre, in denen er Kampfsport betrieben hatte, zeigten sich deutlich in den gut definierten Muskelsträngen, die sich unter seiner hellbraunen Haut bewegten. Ich beeilte mich unter die Bettdecke zu schlüpfen, bevor sich bei mir noch mehr regte, als meine Phantasie.

Das fing ja gut an! Ich war gerade mal 5 Sekunden mit Michael in einem Zimmer und schon waren die Nähte meiner Unterhose kurz vor dem Platzen.

Dann fiel mir auch noch auf, dass es nur eine Bettdecke für uns beide gab. Diese war zwar recht groß, aber es blieb eine einzige Decke.

In dem Moment wusste ich schon, dass ich in dieser Nacht kein Auge zumachen würde, obwohl ich eigentlich hundemüde war.

„Und wie ist es?“ fragte Michael und glitt zu mir unter die Decke.

„Nicht schlecht. Vielleicht ein wenig zu weich für meinen Geschmack“, antwortete ich mit staubtrockenem Mund und räusperte mich.

„Na ja, wird schon gehen“, meinte er lächelnd. „Kann ich das Licht ausmachen?“

Ich nickte nur und er schaltete die Nachttischlampe aus. Das Zimmer wurde jetzt nur noch durch einen dünnen Streifen Mondlicht erhellt, der durch einen Spalt zwischen den Gardinen ins Zimmer fiel.

„Gute Nacht, Nick.“

„Gute Nacht, Michael“, brachte ich hervor und hoffte, dass sich meine Stimme nicht allzu zittrig anhörte.

Die Nacht entwickelte sich dann genau so, wie ich es befürchtet hatte. Ich konnte und konnte nicht einschlafen. Während ich mich frustriert von einer Seite auf die andere wälzte, versuchte ich an irgendwas anderes zu denken, als an diesen unglaublichen Jungen, der neben mir im Bett lag. Was natürlich völlig hoffnungslos war. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu ihm zurück.

„Wenn du so weiter machst, werde ich noch seekrank“, meinte Michael, als ich mich wieder mal umgedreht hatte.

„Tut mir leid. Ich kann einfach nicht einschlafen.“

„Okay, okay. Ich versteh schon“, seufzte er und rutschte zu mir herüber. Ich spürte seinen warmen Körper an meinem Rücken, als er einem Arm um mich legte. Seine Hand ruhte auf meinem Bauch und ich konnte seinen Atem in meinem Nacken fühlen. Er roch leicht nach Pfefferminze. ‚Wahrscheinlich noch vom Zähneputzen’, dachte ich unzusammenhängend.

„Besser?“ fragte er mich leise.

Besser?!

Das war kaum das richtige Wort dafür.

Aber was sollte das eigentlich?

„Ist dir klar, was du da gerade machst?“

„Kuscheln?“ erwiderte er unschuldig.

„Das ist nicht gut, Michael. Gar nicht gut.“

„Ich dachte, es hilft dir vielleicht.“

„Bitte lass das“, sagte ich eine Spur schärfer, als ich es eigentlich wollte.

„Entschuldige bitte, dass ich helfen wollte.“ Michael ließ mich los und rutschte wieder auf seine Seite.

Ich drehte mich zu ihm um und versuchte es ihm zu erklären.

„Tut mir leid. Ich weiß, dass du mir nur helfen wolltest. Aber du machst es mir damit nur noch schwerer.“

Er drehte sich zu mir um. In dem Dämmerlicht des Zimmers war er nur ein Schatten unter vielen und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

„Wie meinst du das denn?!“

Okay, schlimmer konnte diese Nacht auch nicht mehr werden. Also beschloss ich einfach ehrlich zu sein.

„Es ist dir wirklich nicht klar, oder?“ begann ich vorsichtig. Michael schüttelte den Kopf.

„Weißt du noch, wie wir uns damals kennen gelernt haben?“ fragte ich ihn.

„Klar! Das ist jetzt sicher schon fünf Jahre her.“

Ich nickte. Genau genommen waren es fünf Jahre, ein Monat und 15 Tage. Aber wer zählt bei so was schon mit?

„Wie könnte ich das denn vergessen!? Es war mitten im Hochsommer und ich war mit Steff am Baggersee verabredet. Er hatte noch ein paar Leute aus seiner Klasse dabei, die ich noch nicht kannte. Mit einem von denen hab ich mich sofort gut verstanden und ich hab mich den ganzen Tag mit ihm unterhalten. Das war ein echt toller Kerl. Nett, intelligent, gut aussehend,...“ Ich lächelte verlegen und Michael fügte völlig ernst hinzu:

„Ich frage mich, was aus ihm geworden ist. Nachdem du aufgetaucht bist, hab ich nicht mehr mit ihm geredet.“

„Mistkerl!“ fuhr ich ihn an, konnte mir aber ein breites Lächeln nicht verkneifen. Der Junge war einfach unglaublich.

„Aber später wurde der Abend erst richtig interessant, als Steff und der Rest noch in diese gottverlassene Disko gefahren sind. Wir beide wollten noch am See bleiben und sind erst ein paar Stunden später nachgekommen. Auf dem Parkplatz der Disko haben wir unsere Leute schon gesehen, wie sie sich gerade mit ein paar anderen unterhalten haben.“

„Na ja, das hattest du ja schnell im Griff“, meinte ich grinsend.

Selbst nach all den Jahren erinnerte ich mich noch genau an den Moment, als wir auf den Parkplatz gefahren sind. Unsere Leute, Steff und Bernhard, kämpften gegen drei andere, und es sah nicht gut aus. Steff wälzte sich bereits mit einem der Typen auf dem Boden und Bernhard steckte einige harte Schläge in den Magen ein. Michael blieb total ruhig, stoppte das Auto ein paar Meter entfernt und stieg aus ohne ein Wort zu sagen. Ich stieg ebenfalls aus und ging hinter ihm her. Der Typ, mit dem sich Steff schlug - ein großer Kerl mit einem lächerlichen Dreitagebart - hatte mittlerweile die Oberhand gewonnen. Er saß auf ihm und schlug Steff immer wieder ins Gesicht. Steff hatte einen Cut über dem linken Auge, der stark blutete, und seine Unterlippe war aufgeplatzt. Als Michael die beiden erreicht hatte, sagte er nur:

„Hey, Arschloch.“

Der Typ drehte den Kopf und dann ging alles ganz schnell. Michael riss seinen rechten Fuß hoch und trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Deutlich hörte man das Knacken, als seine Nase brach. Er fiel um, als hätte man ihn ausgeschaltet. Der dritte Kerl, der sicher einen Kopf größer war und auch etliche Kilos mehr auf die Waage brachte als Michael, kam auf ihn zu und versuchte ihn mit einer rechten Geraden ins Gesicht zu treffen. Michael machte einen schnellen Schritt nach links und lenkte gleichzeitig mit seinem rechten Unterarm den Schlag an sich vorbei. Dann drehte er blitzschnell seine rechte Hand, packte den ausgestreckten Arm seines Gegners und riss sein Knie hoch. Er rammte es dem Kerl so fest in die Magengrube, dass er wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Dann folgte ein gewaltiger Handkantenschlag in den Nacken und der Fremde ging zu Boden. Michael hatte noch nicht mal zu schwitzen angefangen als er zu Bernhard hinüberging, der mittlerweile aufgegeben hatte sich zu wehren und nur noch versuchte sein Gesicht vor den Schlägen zu schützen.

„Was dagegen, wenn ich abklatsche?“ fragte er den anderen mit seiner ruhigen Stimme. Kurz sah man die Überraschung in seinen Augen und dann versuchte er mit einem hohen Drehkick Michaels Kopf zu erwischen. Der wehrte den Kick mit beiden Unterarmen ab und trat mit dem rechten Fuß voll gegen das Standbein seines Gegners. Es gab ein widerliches, knackendes Geräusch als sein Bein in einem unnatürlichen Winkel einklappte und er auf den Boden fiel. Jammernd und winselnd lag er auf dem Rücken und hielt sich sein lädiertes Knie. Alles in allem hatte Michael vielleicht 30 Sekunden gebraucht um die drei Idioten außer Gefecht zu setzen.

„Ja, das war ein wirklich interessanter Abend. Aber worauf willst du eigentlich raus?“ fragte Michael. Ich seufzte und dann sprach ich es endlich aus.

„Als wir uns an diesem Abend kennen gelernt haben, hab ich mich fast sofort in dich verliebt.“

„Echt?“ Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich in diesem Moment seinen Gesichtsausdruck hätte sehen können! In seiner Stimme lag echte Überraschung, aber es schwang auch noch etwas anderes darin mit, das ich nicht deuten konnte.

„Oh ja! Als wir draußen am See geblieben sind, während die anderen zu dieser Disko gefahren sind, ist es passiert. Wir saßen am Feuer und haben stundenlang geredet. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ewig dort bleiben können und ich wäre glücklich gewesen. Du warst genau das, was ich mir gewünscht hatte. Es war fast so, als wären alle meine Wünsche Wirklichkeit geworden.“ Ich zögerte kurz. „Und dann hast du mir von deiner damaligen Freundin erzählt und alle Hoffnungen, die ich hatte, dass du vielleicht, eventuell, unter Umständen schwul sein könntest, waren einfach so zerstört.“

„Tut mir leid.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür. Die nächsten Tage habe ich dann viel überlegt. Aber im Grunde war es ganz einfach: Ich mochte dich und wollte dich auf jeden Fall als Freund haben, wenn ich dich schon nicht als Freund haben konnte. Und ich dachte wirklich, dass ich das durchstehen kann. Ich war mir sicher, dass ich meine Gefühle so weit unter Kontrolle habe, dass ich dieses Freundschaftsding durchziehen kann. Vom Kopf her war mir das alles klar, aber mein Bauch war da anderer Ansicht. Und jedes Mal wenn ich gesehen habe, wie du eine deiner Freundinnen geküsst hast, wurde ich eifersüchtig und jedes Mal, wenn du mich in den Arm genommen hast, war da wieder ein Funke Hoffnung, dass du vielleicht doch schwul sein könntest. In den letzten Monaten wurde es etwas besser und ich dachte, dass ich es endlich geschafft hätte. Aber heute auf der Veranda waren diese Gefühle plötzlich wieder da und nichts hatte sich geändert. Ich weiß, es ist armselig, aber selbst jetzt, nach über fünf Jahren, fühlt es sich noch genauso an, wie am Anfang. Und es tut immer noch so verdammt weh.“ Tränen stiegen mir in die Augen und meine Stimme wurde brüchig, aber ich musste weiterreden.

„Du hast keine Ahnung, wie schwer es für mich ist, einfach nur neben dir zu liegen und genau zu wissen, dass egal was ich tue und egal was passiert, du niemals dasselbe für mich empfinden wirst, das ich für dich empfinde.“

Michael rutschte näher an mich heran und legte seine Hand auf meine Brust. Seine Finger waren ganz warm auf meiner Haut. Dann beugte er sich über mich und küsste mich sanft auf den Mund. Unsere Lippen berührten sich eigentlich kaum und dennoch durchzuckte eine Art Stromschlag meinen gesamten Körper. Das hatte ich mir mehr gewünscht als alles andere auf der Welt. Es war wunderbar. Aber es konnte nicht echt sein. Er war nicht schwul.

„Bitte Michael, tu das nicht. Ich will dein Mitleid nicht“, brachte ich hervor.

Er erwiderte nichts, sondern küsste mich noch einmal. Länger diesmal und viel intensiver. Zögernd trafen sich unsere Zungenspitzen und wieder gab es einen kleinen Kurzschluss in meinem Körper. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten und in meinem Magen setzte ein Jumbojet zum Landeanflug an. Jede Nervenzelle in meinem Körper schien plötzlich doppelt so empfindlich zu sein wie normal. Er war ein fantastischer Küsser! Langsam und leidenschaftlich zugleich. Ich hatte mir oft ausgemalt, wie es wohl wäre Michael zu küssen, aber die Realität übertraf all meine Erwartungen um Längen. Schließlich lösten wir uns voneinander und Michael fragte leise:

„Glaubst du wirklich, dass ich das aus Mitleid getan habe?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, antwortete ich halb weggetreten. „Könnte ich den Mittelteil vielleicht noch mal haben?“

Michael wuschelte mir durch die Haare und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Nicht übertreiben, Großer.“

„Ich fürchte ich kapier’ grad gar nichts mehr. Bist du schwul?“ fragte ich ihn verwirrt.

Michael überlegte ein paar Augenblicke und meinte dann:

„Um ehrlich zu sein: ich weiß es nicht. Und es ist mir eigentlich auch egal. Aber eines weiß ich: Ich liebe dich. Wie die anderen das nennen spielt keine Rolle. Für mich ist es einfach Liebe. Und wenn mich das schwul macht, dann bin ich eben schwul. Was soll’s?“

„Wow!“ Ich stand komplett neben mir.

„Wow!“ wiederholte ich perplex. „Seit wann denkst du so?“

Seine Hand streichelte meinen Bauch, als er antwortete.

„Nach der Trennung von Jasmin vor ein paar Monaten bin ich ins Grübeln gekommen. Sie war immerhin meine vierte Freundin in eineinhalb Jahren.“

Ich nickte leicht. Michael galt schon immer als Weiberheld und er schien ständig auf der Suche nach seiner nächsten Ex-Freundin zu sein.

„Ich überlegte mir, warum ich eigentlich mit ihnen Schluss gemacht hatte, und da ist mir klar geworden, dass mir immer irgendwas gefehlt hat. Ich war nie richtig bei der Sache. Wenn ich mich mit einer von ihnen unterhalten habe, hab ich mir oft vorgestellt, was du wohl an ihrer Stelle sagen würdest. Und wenn ich mit ihr gemütlich auf der Couch gelegen bin, hab ich mich gefragt was du gerade machst und was wir beide in dem Moment alles unternehmen könnten. Zuerst hab ich mir eingeredet, dass eben noch nicht die Richtige für mich dabei war, und dass es bei der nächsten ganz anders werden wird. Aber dann ist das mit Kerstin passiert.“

Ich wurde hellhörig. Kerstin. Davon wusste ich noch gar nichts.

„Vor zwei Wochen hab ich sie in der Disko kennen gelernt. Wir haben uns sofort toll verstanden und haben den ganzen Abend miteinander getanzt. Später hab ich sie noch nach Hause begleitet und sie hat mich gefragt, ob ich mit nach oben kommen will. Es war klar, was sie wollte und natürlich bin ich mit gegangen. Aber dann, als ich mit ihr im Bett gelegen bin, konnte ich nicht. Es ging einfach nicht.“

Er schüttelte energisch den Kopf.

„Es hat erst geklappt, als ich mir vorgestellt habe, dass ich mit dir im Bett liege. Und da konnte ich es beim besten Willen nicht mehr leugnen. Ich habe mich in dich verliebt.“

Er machte eine kurze Pause und küsste mich sanft auf den Bauch bevor er weiter redete.

„Du bist all das, was ich bei meinen Freundinnen immer vermisst habe. Mit dir kann ich mich toll unterhalten, du bringst mich zum Lachen, du bist immer für mich da und ich kann mich voll auf dich verlassen. Ich habe die ganze Zeit eine Freundin gesucht, die genau so ist, wie du. Was ziemlich schwierig war, da ich ja das Original ständig vor Augen hatte.“

„Das war vor zwei Wochen! Warum hast du denn nichts gesagt?“ fragte ich sanft.

„Weil ich Angst hatte.“

„Wovor denn?“

„Erstens wusste ich nicht, ob du überhaupt mehr als Freundschaft von mir willst. Ich meine, nur weil du auf Männer stehst, muss das ja nicht heißen, dass du auf mich stehst. Und außerdem hatte ich eine Scheißangst davor, dass das unsere Freundschaft kaputt machen könnte.“

Interessant, daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

„Vielleicht wird alles auch nur besser“, gab ich zu bedenken.

„Ja, vielleicht“, erwiderte er zweifelnd. „Aber was, wenn nicht?“

„Ach, Michael“, seufzte ich leise. „Ich weiß genau, was du willst. Aber hier gibt es einfach keine Sicherheit. Ich würde dir wirklich gern versprechen, dass das alles gut ausgehen wird, dass wir uns nie streiten werden und dass wir für immer zusammen bleiben. Aber das kann ich nicht. Niemand kann das. Schlimmer noch: Ich bin mir sogar sicher, dass es Momente geben wird, in denen wir uns gegenseitig am liebsten umbringen würden.“ Ich machte eine kurze Pause und nahm sein Gesicht in meine Hände.

„Aber ich bin mir auch sicher, dass wir es uns ewig vorwerfen werden, wenn wir es nicht einfach versuchen.“

Michael überlegte ein paar Sekunden und nickte dann.

„Okay.“

„Okay.“ wiederholte ich mit einem breiten Lächeln und zog ihn zu mir herunter, so dass seine Lippen endlich wieder da waren, wo sie hingehörten, nämlich auf meinen eigenen.

„Das wurde ja auch allmählich Zeit!“

Ich erwachte nur langsam aus einem tiefen Schlaf und blinzelte in den viel zu hellen Tag. Als sich meine Augen an die grausame Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich Kai in der Tür zum Schlafzimmer stehen und breit grinsen. Ich wollte gerade fragen, was es da so dumm zu grinsen gab, als mir auffiel, dass sich etwas sehr Warmes und Weiches an meinen Rücken kuschelte. Michael und ich lagen brav in Löffelchenstellung im Bett und er hatte seinen rechten Arm um meine Hüfte gelegt. So waren wir gestern Nacht auch eingeschlafen.

„Kai es ist nicht so...“ fing ich an, aber er hob abwehrend seine Hand.

„Oh bitte, ich frag mich schon seit einer Ewigkeit, wann ihr endlich zueinander finden würdet. Wie lange geht das schon so?“

„Seit ungefähr acht Stunden“, antworte Michael hinter mir schlaftrunken.

„Tja, dann bin ich ja wohl der Erste, der euch gratuliert, oder?“ Kais Grinsen schien noch ein wenig breiter zu werden, obwohl das physiologisch unmöglich war.

„Also: Herzlichen Glückwunsch! Ich hoffe ich darf Trauzeuge sein.“

„Verschwinde!“ sagte ich lächelnd und warf mein Kopfkissen nach ihm. Er war aber zu schnell und das Kissen prallte gegen die geschlossene Tür. Ich hörte noch, wie er nach unten ging und dabei „here comes the bride“ pfiff.

„Warum sind wir noch mal mit ihm befreundet?“ fragte ich unter einem gewaltigen Gähnen.

„Weil er sonst auch keine Freunde hat und wir viel zu nett sind?“ bot Michael an und küsste meinen Nacken.

„Also so möchte ich immer aufwachen“, meinte ich mit geschlossenen Augen und drehte mich zu ihm um.

„Müssen wir wirklich schon aufstehen?“

„Grundsätzlich nicht, aber ich hab einen Bärenhunger.“ Okay, das war keine Überraschung. Michael aß immer mindestens für zwei, an guten Tagen auch für drei. Ungerechterweise wurde er dabei nicht dick, wohingegen ich ständig aufpassen musste nicht zuzunehmen. Wir legten noch ein paar Minuten Hardcore-Küssen ein und standen dann widerwillig auf.

Als wir auf die Veranda traten, hatte Kai schon den Tisch gedeckt und schenkte gerade den Kaffee ein. Gut, ‚einschenken’ konnte man das eigentlich nicht nennen, denn genau genommen quälte sich ein dicker Klumpen einer tiefschwarzen Koffeinpaste mühsam aus der Kanne und plumpste mit einem satten ‚Plopp’ in meine Tasse. Kais Kaffee ist bis zum heutigen Tag das einzige Heißgetränk, das vom Genfer Protokoll verboten worden ist. Wenn man auch nur daran nippte, hatte man den Rest des Tages einen Herzschlag wie ein Kolibri auf XTC und konnte frühestens in einer Woche wieder mit so etwas Ähnlichem wie Schlaf rechnen. Aber ich hatte ja sowieso nicht vor in nächster Zeit viel zu schlafen. Also nahm ich meine Tasse und setzte mich neben Michael auf die Bank, die noch im Schatten der Hütte lag. Zufrieden kuschelte ich mich an ihn und nippte an meinem glühend heißen Koffein-Sirup.

„Dann habt ihr es also endlich geschafft, ihr zwei“, meinte Kai noch immer grinsend.

„Du hast dir wirklich schon so was gedacht?“ wollte ich wissen.

„Ist das dein Ernst?“ fragte er ungläubig. „Wir hatten doch alle schon Wetten laufen, wann es endlich so weit sein würde mit euch. Ich hab auf nächstes Jahr getippt.“

„Tut uns leid“, sagte Michael lächelnd.

„Schon gut. Es waren nur 20€.“

„Immer schön zu wissen, was unser Glück wirklich wert ist.“

„Tja, was soll ich sagen.“ Kais Stimme wurde ein wenig verträumter. „Ich bin eben ein Romantiker.“ Ja genau, Kai war ungefähr so romantisch wie ein Rammstein-Konzert.

Wir frühstückten in aller Ruhe auf der Veranda und genossen den neuen Tag, der wieder strahlenden Sonnenschein versprach.

„Hey, wir kriegen Besuch!“ meinte Kai plötzlich. Ich folgte seinem Blick und sah einen jungen Mann den Weg herauf kommen. Den Kopf gesenkt schien er tief in Gedanken zu sein. Er trug zerrissene, ausgeblichene Jeans und ein weißes Long-Sleeve. Als er vielleicht noch 100m entfernt war, blieb er stehen und hob den Kopf. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass jemand hier war, denn ich glaubte Überraschung in seinem Gesicht erkennen zu können. Einen kurzen Moment zögerte er, dann ging er weiter. Schneller und zielstrebiger als vorher. Und er kam direkt auf uns zu. Als er auf die Veranda trat, konnte ich die Wut in seinen stahlgrauen Augen glitzern sehen. Aufmerksam musterte ich ihn. Ich schätzte ihn auf Mitte bis Ende 20. Er hatte ein männlich-markantes Gesicht mit einem eckigen Kinn und recht ausgeprägten Kieferknochen. Seine schwarzen Haare waren bis auf ein paar Millimeter abrasiert, was ihm sehr gut stand. Die gut gebräunte Haut und die Tatsache, dass er nach dem Aufstieg nicht mal schwitzte, ließen den Schluss zu, dass er öfter in den Bergen unterwegs war.

‚Mein Vater hatte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack’, dachte ich bewundernd, denn ich erkannte unseren Besucher fast sofort von dem Foto im Schlafzimmer.

Kapitel V

„Was zur Hölle macht ihr hier?!“ schnauzte er uns wütend an. Ich merkte, wie sich Michaels Körper neben mir fast unmerklich anspannte. „Ihr habt hier nichts verloren. Diese Hütte ist in Privatbesitz.“

„Das ist richtig. Und zwar in meinem“, erwiderte ich ruhig. Für eine Sekunde blitzte Überraschung in seinem Blick auf, dann verengten sich seine Augen zu Schlitzen.

„Was soll das denn heißen?“ gab er scharf zurück. Ich versuchte weiterhin ruhig zu bleiben.

„Ganz einfach: Die Hütte hat meinem Vater gehört und er hat sie mir vererbt.“

„Harald war dein Vater?!“ Ein paar Sekunden lang starrte er mich durchdringend und sehr skeptisch an, dann schien die Anspannung aus seinem Körper zu weichen.

„Ja“, sagte er leise, „du siehst ihm ähnlich.“

„Setz dich erstmal“, bot ich ihm an. Nach einem kurzen Zögern setzte er sich auf die Bank uns gegenüber. Er sah jetzt nicht mehr wütend aus. Er wirkte nur unglaublich erschöpft. So als hätte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen.

„Hi. Ich bin Nick und das sind Michael und Kai.“

„Hi, Ich bin Georg.“ Seine Stimme klang sehr müde. „Tut mir leid, dass ich euch vorhin so angeschnauzt habe.“

„Kein Problem. War sicher nicht grad leicht für dich in letzter Zeit.“

„Was meinst du?“ fragte er vorsichtig und in seinen Augen glomm ein Funke Angst auf.

„Der Tod meines Vaters. Ihr beide wart zusammen, stimmt’s?“ Er sagte nichts, also fuhr ich fort. „Ich habe das Foto im Schlafzimmer gesehen.“

Er schwieg noch immer und starrte mich an.

„Ich hab kein Problem damit. Aber vielleicht kannst du mir ein paar Fragen beantworten.“

„Wieso?“ sagte er leise, seine Lippen zusammengekniffen. „Für euch bin ich doch nur eine kleine Schwuchtel, mit der dein Vater geschlafen hat.“

„Oh Mann! Ich hab doch gesagt, dass ich kein Problem damit habe, dass du mit meinem Vater zusammen warst. Erstens habe ich meinen Vater kaum gekannt und zweitens habe ich nichts gegen Schwule.“ Mit einem wissenden Lächeln fügte ich noch hinzu: „So ausgeprägt ist mein Selbsthass auch wieder nicht.“

„Wie meinst du das denn?“

Ich verdrehte die Augen, beugte mich zu Michael hinüber und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund.

„Jetzt alles klar?“

Er nickte und sah dabei sehr traurig aus.

„Entschuldige. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so locker mit diesem Thema umgeht.“

„Willst du was zu trinken?“ fragte Kai und Georg nickte.

„Kaffee?“

„NEIN!“ schrieen Michael und ich gleichzeitig.

„Glaub mir! Du willst den Kaffee nicht“, versuchte ich ihm klar zu machen.

„Waschlappen, alles Waschlappen!“ maulte Kai. „In Zukunft mach ich eben keinen Kaffee mehr.“

„Und die Menschheit atmet erleichtert auf“, meinte Michael grinsend.

„Wie wär’s mit einer schönen, ungefährlichen Cola?“ bot ich ihm an und Georg nickte wieder.

Kai ging nach drinnen um ein Glas für unseren Gast zu holen.

„Wie lange wart ihr denn zusammen?“ fragte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Etwas über zwei Jahre.“

„Wow, eine lange Zeit.“

Er starrte auf seine Hände und schüttelte den Kopf.

„Nicht lang genug.“

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

„Es tut mir leid“ war das Einzige, das mir einfiel. Aber die Worte klangen hohl und unzulänglich und sie hingen in ihrer ganzen Armseligkeit zwischen uns.

„Zeit ist das Kostbarste, das es gibt. Sie ist unbezahlbar und es gibt nie genug davon.“ Er blickte auf und ich sah Tränen in seinen grauen Augen.

„Harald hat mir das einmal gesagt. Ich fand es ziemlich dramatisch damals. Aber er hatte Recht. Wir haben wirklich nie genug Zeit. Egal was wir tun, es ist nie genug.“

Ich wollte gerade etwas Aufmunterndes sagen, das vermutlich alles noch schlimmer gemacht hätte, als Kai in der Tür auftauchte. Sein Gesicht war kalkweiß und seine Augen waren eine Spur zu weit offen.

„Was ist los?“ fragte Michael besorgt. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

„Das solltet ihr euch anschauen“, sagte Kai mit tonloser Stimme.

Zögernd standen wir auf und folgten Kai in die Hütte. Er ging langsam den Flur entlang und öffnete dann die Tür, die in den Keller führte. Vorsichtig stiegen wir die Stufen hinunter, die bedenklich unter unserem Gewicht knarrten. Unten angekommen sah ich mich neugierig um. Der Keller war recht niedrig, maximal 1,80m, so dass ich mich ducken musste. Der Boden schien aus brauner, festgetretener Erde zu bestehen und die Wände waren aus den großen Natursteinen, die mir schon von außen aufgefallen waren. An ein paar Stellen fiel Sonnenlicht durch schmale Lücken zwischen den Steinen. Die dicken Holzdielen der Decke wurden durch massive, dunkelbraune Holzbalken gestützt, die über die gesamte Breite der Hütte verliefen. Von einem dieser Balken baumelte eine einzelne Glühbirne an einem Draht und verstrahlte ein fahles, gelbliches Licht. In der Mitte des Raumes teilte ein langes Holzregal den Keller in zwei Hälften. Die Fächer des Regals waren bis oben hin voll gestopft mit jeder Menge alter Kisten und Schachteln. Nach der zentimeterdicken Staubschicht auf ihnen zu urteilen, standen sie schon seit einer Ewigkeit hier unten. Der Keller sah also nicht unbedingt einladend aus, aber ich konnte beim besten Willen nichts erkennen, was Kais Reaktion hätte erklären können. Es sei denn, er hätte plötzlich eine Staubphobie entwickelt, von der ich noch nichts wusste. Ich drehte mich zu ihm um und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Kai schaute mich an und zeigte dann in die hintere linke Ecke. Ich ging um das Regal herum und sah fast sofort, was er gemeint hatte. Auf den grauen Steinen in der Ecke prangte ein großer, dunkelroter Fleck. Ich machte ein paar unsichere Schritte darauf zu und versuchte mir einzureden, dass es nicht das war, wonach es aussah. Der Fleck war in etwa halbkreisförmig und hatte einen Durchmesser von eineinhalb Metern. Der Rand war ausgefranst und unregelmäßig. Einige Spritzer gingen bis an die Holzdielen der Decke. Es sah so aus, als hätte jemand einen Eimer mit roter Farbe mit gewaltigem Schwung gegen die Steine geschüttet. Als ich näher trat, sah ich einige helle Splitter in der ‚Farbe’ kleben und ich konnte es nicht mehr länger leugnen. Die Farbe war Blut. Was die weißen Splitter anging, daran versuchte ich gar nicht zu denken. Ich kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder und versuchte einen klaren Kopf zu bewahren.

„Oh Scheiße!“ Ich fuhr hoch und wurde von dem Balken über meinem Kopf unsanft daran erinnert, dass ich mich in einem sehr niedrigen Keller befand.

„Mann!“ fuhr ich Michael an, der unbemerkt hinter mich getreten war. „Musst du dich so anschleichen!“

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich ohne mich dabei anzusehen und deutete dann mit seinem Zeigefinger auf den Fleck. „Ist es das, was ich denke?“

Ich hielt mir meinen schmerzenden Kopf und nickte.

„Aber ich dachte, dein Vater hat sich erschossen. Was zur Hölle war das denn für eine Waffe?!“

„Ein Schrotgewehr,“ antwortete Georg hinter uns.

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