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Schwarz und Weiß und Alles dazwischen

Der Aufstieg

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

"Ich lasse das Band mitlaufen", meinte der Polizist mit leicht gelangweilter Stimme und schaltete das Aufnahmegerät ein, das auf dem fleckigen Tisch zwischen ihnen stand. Er hatte eigentlich schon seit einer halben Stunde Feierabend und wollte nur noch nach Hause. Aber der Kommissar hatte darauf bestanden, dass er sich die Geschichte dieses Verdächtigen anhörte.

"Was immer Sie wollen", antwortete der junge Mann ihm gegenüber und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Als er sie mit einem billigen Plastik-Feuerzeug anzündete, beugte er sich ein wenig nach vorne und sein Kopf geriet in den Lichtkegel der tiefhängenden Lampe. Eine frische Narbe zog sich in einer langen, unruhigen Linie über seinen kahlgeschorenen Kopf und glänzte ungesund.

„Die Haare haben sie mir im Krankenhaus abrasiert. So konnten sie leichter nähen. Es waren 15 Stiche,“ meinte der Verdächtige, der den überraschten Blick des Polizisten bemerkt hatte. Seine Stimme war ruhig und scheinbar ohne jede Emotion. Langsam legte er den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und blies genießerisch den blauen Rauch gegen die Decke. Seit vier Stunden saß er jetzt schon hier und mittlerweile kannte er jede Einzelheit dieses Vernehmungszimmers.

Genau in der Mitte des fensterlosen Raumes stand ein wackliger Metalltisch, dessen ehemals glänzende Oberfläche über die Jahre längst stumpf geworden war und unzählige Dellen und Flecken aufwies. Direkt über dem Tisch hing eine billige Lampe mit einem grünen Plastikschirm von der Decke. Das war die einzige Lichtquelle in dem Raum. Die Wände des Zimmers waren in einem trostlosen Grau-Grün gehalten, das ihn an alte Krankenhausflure erinnerte und das wunderbar mit dem gleichfarbigen Beton-Fußboden harmonierte. Die billigen weißen Plastikstühle, auf denen sie saßen, waren mindestens genauso unbequem, wie sie aussahen. Ein widerlicher Geruch nach saurem Schweiß und kaltem Rauch hing wie Nebel in der Luft.

"Können wir dann anfangen?" Die raue Stimme des Polizisten holte ihn unsanft in die grau-grüne Realität zurück und er öffnete die Augen.

"Was?...Ach so. Ja, können wir."

In den letzten vier Stunden hatten zwar die Polizisten gewechselt, aber ihre Fragen blieben stets die gleichen. Es waren Fragen, die er anscheinend nie zu ihrer Zufriedenheit beantworten konnte. Er hatte ihnen genau erzählt, was passiert war, und sie nickten verständnisvoll. Aber er sah in ihren Augen, dass sie ihm kein Wort glaubten. Er hatte auch nicht wirklich damit gerechnet und irgendwie konnte er die Polizisten auch verstehen. Immerhin lagen da zwei Leichen in den sterilen Kühlkammern der Gerichtsmedizin Kufstein. Und er lieferte ihnen als Erklärung eine Geschichte wie aus einem billigen Schundroman. Aber so war es nun mal passiert, und er würde seine Aussage so lange wiederholen, bis sie ihm endlich glaubten oder ihn einsperrten. Beides war ihm egal.

Nach einem weiteren, langen Zug an der Zigarette sagte der Verdächtige mit einem bitteren Lächeln: "Ich rauche eigentlich gar nicht. Zumindest bis vor ein paar Wochen war ich überzeugter Nichtraucher. Doch dann änderte sich das, damals änderte sich alles."

"Warum erzählen sie nicht von Anfang an?" forderte ihn der Polizist auf, dessen Interesse für die Geschichte dieses jungen Mannes langsam erwachte.

"Ja, natürlich." seine Stimme war noch immer völlig ruhig, beinahe gelassen. Der Polizist musterte sein Gegenüber und versuchte es mit dem in Einklang zu bringen, was er schon aus der dünnen Akte über ihn wusste. Sein Name war Nick Berger. Er war 21 Jahre alt, kaum mehr als ein Junge. Außer seiner Mutter, Monika Berger, hatte er keine Angehörigen. Und er war noch nie straffällig geworden, bis jetzt zumindest. Sein Gesicht war interessant, wirkte aber sonderbar hart. Er konnte es nicht besser beschreiben, es lag einfach eine gewisse Härte in diesem Gesicht und in seinen hellblauen Augen spiegelte sich eine Intelligenz und Scharfsinnigkeit wider, die man bei einem Jungen seines Alters nur selten fand. Ihm fiel die kleine Nase auf, die in einem interessanten Kontrast zu dem markanten Kinn stand. Das bemerkenswerteste an diesem Gesicht waren allerdings die dichten, schwarzen Augenbrauen, und darüber das kurze schwarze Haar.

Der Verdächtige zuckte mit den Schultern und fing an zu erzählen.

Kapitel I

Das Ganze begann an einem Donnerstag vor drei Wochen. Ich studiere im zweiten Jahr Mathematik an der hiesigen Uni und hatte gerade meine letzte Prüfung in diesem Semester geschrieben. An diesem Tag bekam ich ein wichtig aussehendes Schreiben von einer Anwaltskanzlei in München, das mich in bestem Juristen-Deutsch davon in Kenntnis setzte, dass mein Vater überraschend verstorben war. Anscheinend war ich der nächste lebende Verwandte, den sie ausfindig machen konnten, und deshalb sollte ich mich wegen meines lächerlichen Erbes und ihres horrenden Honorars bei ihnen melden. Da ich den noblen Verschiedenen kaum gekannt hatte, hielt sich meine bescheidene Trauer verständlicherweise in engen Grenzen. Ganz im Gegensatz zu meiner Neu- und nicht zuletzt Habgier. Deshalb vereinbarte ich noch am selben Tag einen Termin und einige Tage später fuhr ich dann nach München um mich mit den Anwälten zu treffen. Offensichtlich war es eine recht wohlhabende Kanzlei in einem alten, aber frisch renovierten, fünfstöckigen Gebäude, ganz in der Nähe des Marienplatzes. Ein dezent seriöses Messingschild neben der großen Holztür verkündete stolz:

Sozietät Roth & Sailer, Rechtsanwälte, 3.Stock.

Ich war ziemlich aufgeregt, als ich die geschmackvolle Eingangshalle betrat und langsam zu dem Aufzug am anderen Ende ging. Rechts neben der Eingangstüre war eine Rezeption, an der eine stattliche, blonde Frau um die vierzig saß, die gelangweilt in einem Magazin blätterte. Ungefähr in der Mitte der Eingangshalle wurde ich von eben dieser Frau abgefangen, die mich bis dahin tunlichst ignoriert hatte.

"Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie und baute sich mit einem kalten, professionellen Lächeln vor mir auf. Obwohl sie flache Schuhe trug, war sie trotzdem nur ein paar Zentimeter kleiner als ich.

"Nein, können Sie nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte", erwiderte ich knapp und schob mich an ihr vorbei. Nachdem ich den Aufzug betreten hatte, drehte ich mich um und sah gerade noch, wie sie nach dem Telefon griff, um meinen Besuch anzukündigen. Ich drückte den Knopf für den dritten Stock und die Aufzugtüren schlossen sich geräuschlos. Während sich der Lift langsam nach oben bewegte, schloss ich die Augen und versuchte mich ein wenig zu beruhigen. Ein paar Sekunden später wurde die Kabine auch schon sanft abgebremst und die Türen glitten zur Seite. Ich öffnete die Augen.

Die Inneneinrichtung der Kanzlei war überraschend modern und bildete einen gelungenen Kontrast zu dem äußeren Eindruck des Gebäudes. Der Aufzug befand sich am Ende eines kurzen Ganges, an dessen anderem Ende ein wirklich beeindruckender Glastisch stand. Hinter diesem imposanten Beispiel modernster Innenarchitektur saß ein nicht minder imposantes Beispiel einer fast neuwertigen Sekretärin, die gerade den Telefonhörer wieder auflegte. Sie hätte ohne weiteres als Zwillingsschwester der Empfangsdame gelten können, wäre sie nicht um gute zehn Jahre jünger gewesen. Vielleicht sahen alle Sekretärinnen der Welt gleich aus. Wahrscheinlich gab es ein einziges, immer gleiches, langweiliges Muster, nach dem alle gefertigt wurden. Diesen und ähnlichen Unsinn denkend bahnte ich mir unaufhaltsam und zielstrebig den Weg zu ihr. Vorbei an abstrakten Gemälden und an kleinen unbequem aussehenden Bänkchen, die unter den Bildern standen. Als ich vor ihr stand, versuchte ich mir meine Aufregung und Nervosität nicht anmerken zu lassen.

"Hallo, mein Name ist Nick Berger. Ich habe einen Termin bei Herrn Roth", sagte ich mit meinem allerletzten Rest an gespielter Selbstbeherrschung.

Zuerst sagte sie gar nichts, sah mich nur kalt an. Schließlich nickte sie leicht und drückte auf einen Knopf der Telefonanlage.

"Herr Roth, hier ist ein Herr Berger für Sie." sagte sie mit soviel Verachtung in der Stimme wie nur irgend möglich. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit dem Gedanken spielte mir die Kleider vom Leib zu reißen und ihren perfekt aufgeräumten Schreibtisch gemein zu besudeln. Bei diesen Gedanken musste ich wohl ein wenig seltsam gewirkt haben, denn sie schien immer unsicherer zu werden. Ich lächelte sie jetzt breit an, und fixierte sie mit meinen Augen. Sie sah schließlich als Erste weg, und ich hatte gewonnen. Da soll noch einer behaupten, Menschen hätten nichts mit Tieren gemeinsam. Manche Instinkte ändern sich nie.

"Schicken Sie ihn bitte herein, Frau Groß", quäkte es schließlich aus der Gegensprechanlage.

Sie machte eine vage Geste in Richtung einer großen Doppeltür, die sich am Ende des Ganges zu meiner Linken befand. Für den Moment verkniff ich mir jede spitze Bemerkung und machte mich wortlos auf den Weg. Als ich vor der Tür stand, atmete ich noch mal kurz durch und versuchte mich zu beruhigen, dann klopfte ich an und öffnete die schwere Tür. Herr Roth saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch, in einem riesigen, ledernen Bürostuhl und sah irgendwelche Akten durch. Als er mich bemerkt hatte (offensichtlich hätte ich lauter klopfen müssen), stand er auf und hielt mir über den Schreibtisch hinweg seine Hand hin. Das Händeschütteln an sich war aufgrund seiner außerordentlichen Größe – also die des Tisches, nicht des Rechtsanwalts – ein akrobatisches Kunststück für sich, bei dem wir uns beide mit den freien Händen auf selbigen stützen mussten. Herr Roth war im Gegensatz zu seinem Schreibtisch ein sehr kleiner Rechtsanwalt, der mir nur bis ans Kinn reichte. Als Ausgleich hatte er jedoch seinen Stuhl so hoch eingestellt, dass seine Füße den Boden kaum noch berührten. Und so war er im Sitzen fünf Zentimeter größer als ich. Herr Roth hatte ein hageres Gesicht mit spitzen Wangenknochen und einem vorstehenden Kinn. Tiefliegende graue Augen musterten mich intensiv durch dicke Brillengläser hindurch.

"Herr Berger, darf ich Ihnen noch einmal mein Beileid zum Tod ihres Vaters aussprechen. Es muss sehr hart für Sie gewesen sein", begann er dann mit ernster Mine.

"Danke, aber ich habe meinen Vater kaum gekannt. Und das Wenige, was mir meine Mutter über ihn erzählt hat, gefiel mir nicht besonders." erwiderte ich ruhig.

Mein Vater hatte uns kurz nach meiner Geburt verlassen und sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Nichts, kein Anruf, kein Brief, kein unglaublich kostbares Geschenk um sein Gewissen zu beruhigen, gar nichts. Früher hasste ich ihn dafür, aber ich wurde älter und erkannte schließlich, dass mich mein Hass irgendwann auffressen würde. Und so hatte ich ihn irgendwo auf dem aufreibenden Weg von meiner Kindheit bis in die Gegenwart abgelegt; hatte ihn abgestreift wie eine Schlange ihre zu eng gewordene Haut. Zurück blieben ein wenig Enttäuschung, dass ich ohne Vater aufwachsen musste, und eine in letzter Zeit immer größer werdende Neugier.

Aber das gehörte jetzt nicht hierher, also versuchte ich langsam und behutsam das Gespräch auf wichtigere Themen zu lenken.

"Also, von wie viel reden wir?" fragte ich so langsam und behutsam wie möglich.

Herr Roth schien ein wenig gekränkt, dass seine wohlformulierten und zweifellos gut einstudierten Beileidsbekundungen auf so taube Ohren stießen, kam dann aber doch endlich zum Thema.

"Ihre Frage bezieht sich wohl auf das Ihnen zustehende Erbe. Wenn dem so ist, dann muss ich Sie leider enttäuschen. Ihr Vater hat beinahe kein Geld hinterlassen; im Gegenteil..." Seine Stimme wurde nachdenklich, als er in ein paar Papieren auf seinem Tisch blätterte. Schließlich fand er, was er gesucht hatte.

"Ah, ja. Es gibt da sogar einige, nicht unerhebliche Schulden, die noch zu begleichen wären." Er schien mehr zu wissen, wollte aber zunächst sehen, wie ich auf das reagieren würde. Ich tat ihm den Gefallen und spielte mit.

"Das ist völlig unmöglich. Sehen Sie, die Familie meines Vaters war recht wohlhabend, und auch mein Vater selbst verdiente nicht schlecht mit seiner Firma", erklärte ich ihm. Mein Vater war, soweit ich wusste, ein recht erfolgreicher Anlageberater bei einem großen Finanzdienstleister in Frankfurt gewesen. Vor einigen Jahren machte er sich dann selbstständig und gründete eine kleine Firma. Und wenn man dem Internet glauben durfte, liefen die Geschäfte ganz gut für ihn. Er beschäftigte in seinem Unternehmen drei Berater, einen Buchhalter, zwei Sekretärinnen und einen eigenen Anwalt. Es erschien sogar einmal ein Interview mit ihm in einer großen überregionalen Tageszeitung. Unter dem Titel „Eine deutsche Erfolgsgeschichte“ war dort ein Foto abgedruckt, das ihn vor seinem riesigen Haus zeigte, wie er lässig an seinem prolligen Porsche lehnte und selbstgefällig in die Kamera lächelte. Meine Mutter und ich sahen keinen Cent von dem Geld, das er offensichtlich reichlich verdiente.

"Das mag richtig sein, aber es sieht so aus, als ob ihr Vater vor gut zwei Jahren die Firma weit unter Wert verkaufte und sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen hat. Mit dem Geld aus dem Verkauf erwarb er unter anderem eine Berghütte in den Tiroler Alpen, wo er dann die letzten Jahre recht isoliert gelebt hat." Ich glaubte fast eine Spur echten Bedauerns herauszuhören, war mir aber nicht ganz sicher.

Wir redeten noch ein paar Minuten, in denen mir klar wurde, dass diese Hütte wirklich das Einzige von Wert war, das mir mein Vater hinterlassen hatte. Und ich hatte mich schon auf den Porsche gefreut! Aber vielleicht konnte man ja mit dieser Hütte auch was anfangen.

Ich sagte Herrn Roth, dass ich die Hütte erst einmal besichtigen müsste, bevor ich mich entschied das Erbe anzutreten. Er suchte daraufhin aus den Akten die Wegbeschreibung und begann etwas auf ein Blatt Papier zu schreiben.

"Die Hütte liegt weit oben auf einem Berg und ist leider nicht mit dem Auto zu erreichen. Am besten fahren Sie erstmal nach Kufstein und gehen dann zu Fuß hinauf." Er faltete das Blatt in der Mitte und gab es mir.

"Mit diesen Angaben sollten Sie die Hütte ohne Probleme finden."

"Danke, ich denke, ich werde sie mir am Wochenende mal ansehen." beschloss ich kurzerhand. Herr Roth öffnete eine Schublade in dem riesigen Schreibtisch, nahm einen großen schwarzen Schlüssel heraus und gab ihn mir.

"Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende."

Wir verabschiedeten uns, wobei wir das Ritual des Händeschüttelns wiederholten und wieder um unser Gleichgewicht rangen.

Auf dem Weg zur Tür fiel mir noch etwas ein.

„Eine Frage hätte ich noch.“

„Ja?“

„Wie ist mein Vater eigentlich gestorben?“

Herr Roth sah mich überrascht an.

„Das hat Ihnen niemand gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf.

Er nahm seine Brille ab und legte sie behutsam auf den Tisch vor sich, bevor er mit ruhiger Stimme sagte:

„Er hat sich umgebracht, Herr Berger. Erschossen, wenn ich mich noch recht entsinne.“

Kapitel II

Als ich am Abend wieder zu Hause war, rief ich sofort Michael, meinen besten Freund, an und fragte ihn, was er denn am Wochenende tun würde.

"Bis jetzt noch nichts, aber ich schätze, gleich werde ich etwas vorhaben", meinte er amüsiert.

Ich erzählte ihm ausführlich von meinem Gespräch mit dem Anwalt und dass ich mir die Hütte am kommenden Samstag mal anschauen wollte. Er war von der Idee sofort begeistert und schlug vor eine Art Kurzurlaub daraus zu machen. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber es schien eine wirklich gute Idee zu sein.

"Ich habe keine Ahnung, in welchem Zustand das Ding ist, aber ich glaube, wir werden es wohl ein paar Tage darin aushalten, wenn wir die übliche Ausrüstung mitnehmen."

Heutzutage war die Partyausrüstung für uns unverzichtbar geworden. Wenn man irgendwo zu Gast ist und dort aufgrund exzessiver Alkoholisierung übernachten muss, sollte man wenigstens gut vorbereitet sein. Unsere Ausrüstung besteht im Wesentlichen aus einem leicht zu öffnenden Schlafsack, einer Iso-Matte, einer Packung Aspirin und Kleidung zum Wechseln.

Wir verabredeten, dass ich Michael am Freitag in aller Herrgottsfrühe, also gegen 11.00 Uhr, abholen würde. Anschließend rief ich noch bei Kai an und schlug ihm vor, uns zu begleiten. Auch er war hellauf begeistert. Aber das war kein Wunder. Ich kannte Kai seit der fünften Klasse und er war immer sofort von jeder Idee begeistert. Völlig egal, wie absurd sie auch sein mochte.

Danach kam der unangenehme Teil: meine Mutter.

Es war mir wirklich unangenehm meiner Mutter sagen zu müssen, dass unser geliebter Verstorbener uns nur eine uralte Berghütte und jede Menge Schulden hinterlassen hatte. Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung in der Innenstadt überlegte ich mir die ganze Zeit, wie ich es ihr am schonendsten beibringen könnte.

"Alles, was er uns hinterlassen hat, ist eine uralte Hütte und jede Menge Schulden." Ich hatte mich für den direkten Weg entschieden.

Man konnte ihr ihre Betroffenheit richtig ansehen.

"Dieser Mistkerl. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn umbringen“, sagte sie und bügelte ungerührt weiter. Ich spielte kurz mit dem Gedanken ihr auch zu erzählen, dass er sich erschossen hatte, nur um ihre Reaktion zu sehen, hielt aber dann doch meinen Mund. Warum sollte ich sie mit so was belasten? Sie sprach eigentlich nie über meinen Vater. Wollte nichts mehr von ihm wissen, seit er sie verlassen hatte. Ich blieb noch zum Essen, wobei wir jedoch nur über belanglose Dinge redeten, und dann machte ich mich auf den Weg in meine Wohnung. Als ich an diesem Abend alleine in meinem Bett lag, dachte ich an das bevorstehende Wochenende. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind kurz vor dem Aufbruch in den Urlaub. Ein Ausflug mit meinen beiden besten Freunden! Klasse! Ich war mir sicher, dass das ein paar denkwürdige Tage werden würden, an die wir noch lange denken würden. Aber ich hatte ja keine Ahnung.

...

"Das ist ja wirklich am Arsch der Welt", kam es keuchend von hinten. Entnervt drehte ich mich zu Kai um. Auf dem letzten, sehr steilen Stück des Wegs war er einige Meter zurückgefallen, und man sah ihm die Strapazen deutlich an. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet und leuchtete mit seinem Blondschopf und seinen hellblauen Augen um die Wette.

"Nein, das ist noch nicht der Arsch der Welt. Aber man kann ihn von hier aus schon ganz gut sehen. Er ist dort drüben", gab ich gereizt zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn.

"Ich habe seit über einer Stunde keine Spuren menschlicher Zivilisation mehr gesehen. Das ist der Arsch der Welt, wenn du mich fragst."

"Du vergisst diesen verlassenen und halb abgebrannten Bauernhof vor einer halben Stunde." Jetzt mischte sich auch Michael ein, der neben mir stand und als Einziger noch relativ fit aussah. Na ja, er machte ja auch dreimal in der Woche Kung Fu.

"Danke, Michael", meinte ich sarkastisch und nahm einen Schluck aus meiner fast leeren Wasserflasche.

„Jederzeit, Nick“, kam es von ihm zurück und er strahlte mich mit seinen braunen Augen so treudoof an, dass ich auch lächeln musste. So war Michael: man konnte ihm unmöglich böse sein. Egal, was er auch anstellte oder sagte, sobald er einen mit seinem Hundeblick ansah, musste man ihm einfach verzeihen.

„Arsch“, brummte ich lächelnd.

„Sag ich doch: Der Arsch der Welt“, kam es von Kai und ich seufzte laut. Langsam setzten wir uns wieder in Bewegung.

Im Grunde hatten meine Freunde Recht, wir waren wirklich am Arsch der Welt. Es war jetzt später Nachmittag und ich hatte eigentlich vorgehabt schon vor zwei Stunden bei meinem Erbe zu sein. Ich muss gestehen, dass ich den Aufstieg völlig unterschätzt hatte. Mittags waren wir in Kufstein angekommen, hatten uns mit reichlich Proviant versorgt und hatten uns dann auf den Weg gemacht. Auf der Karte sah es nicht wirklich weit aus und ich dachte, dass wir in einer knappen Stunde bei der Hütte sein könnten. Aber wir fanden schnell heraus, dass in den Bergen Meter weniger wichtig waren als Höhenmeter. Und davon machten wir eine Menge. Dazu kam, dass keiner von uns ordentliche Schuhe anhatte. Michael und ich trugen leichte Turnschuhe und Kai hatte sogar nur Sandalen an. Perfekt für einen gemütlichen Stadtbummel, aber nicht besonders geeignet für einen schmalen und steinigen Bergweg. Und wir waren immerhin schon über zweieinhalb Stunden unterwegs. Am Anfang war es einfach eine nette Wanderung vor einer beeindruckenden Bergkulisse gewesen. Rechts von dem Weg fiel das felsige Gelände steil ab und tief unten in der Schlucht konnte man den Kaiserbach in der Sonne funkeln sehen. Auf der anderen Seite des Baches ragte die schroffe Bergwelt des wilden Kaisers in den wolkenlosen Himmel. Ich machte eine Menge Fotos und genoss den Aufstieg. Aber nach über zwei Stunden wünschte ich mir, ich wäre zu Hause geblieben. Meine Oberschenkel brannten und in meinen Waden bahnte sich ein gewaltiger Krampf an.

"Habe ich dir eigentlich schon mal dafür gedankt, dass du mich hierzu überredet hast?" Wieder ein bisschen Sarkasmus von hinten und langsam reichte es mir. Ich drehte mich um und versperrte Kai den Weg.

"Du kannst jederzeit umkehren."

Kai setzte zu einer Antwort an, doch dann glitt sein Blick an mir vorbei nach oben.

"Oh, wow." Jede Spur von Sarkasmus war aus seiner Stimme verschwunden. Ich fuhr herum, und da sah ich sie. Die Hütte lag auf einer kleinen Anhöhe links vor uns. Es war wirklich beeindruckend. Ich hatte sie mir wesentlich kleiner vorgestellt. Sie hatte locker die Größe eines durchschnittlichen Einfamilienhauses. Der untere Teil der Hütte bestand aus großen, hellgrauen Natursteinen, die scheinbar ohne Mörtel aufeinander geschichtet waren. Dieses ‚Fundament’ war etwa 1,50m hoch und darüber türmten sich zwei Stockwerke des dunkelsten Holzes auf, das ich je gesehen hatte. Nur die kleinen Fensterrahmen waren aus einem etwas helleren Holz gefertigt. Eine breite Veranda aus dicken Holzbrettern streckte sich uns einladend entgegen. Da sie über den abfallenden Hang gebaut war, wurde sie von massiv aussehenden Pfosten gestützt. Unter diesem Vorbau, gut geschützt vor Regen und Wind, lagerte ein riesiger Haufen Brennholz. Auf der Veranda, neben der windschiefen Eingangstür, standen zwei einfache Bänke und ein Tisch, die aus demselben dunklen Holz zu sein schienen wie der Rest der Hütte. Die tiefstehende Sonne spiegelte sich in einem der kleinen Fenster im Erdgeschoss und es sah fast so aus, als würde uns die Hütte zuzwinkern.

„Und das gehört dir?“ fragte mich Michael ungläubig.

„Ja. Wenn ich das Erbe annehme, dann schon“, gab ich zurück ohne den Blick von dem Haus zu wenden.

„Hab ich schon mal erwähnt, dass du mein allerbester Lieblingsfreund bist?“ Michael grinste mich an und ich musste wieder lächeln.

„Hey, und was ist mit mir?“ fragte Kai mit beleidigter Stimme.

„Ich weiß nicht. Hast du auch eine Hütte in den Bergen?“ antwortete Michael unschuldig.

„Gott, bist du käuflich.“

„Nicht streiten, Kinder“, ermahnte ich die beiden und fügte noch hinzu:

„Sehen wir uns das Ganze erstmal genauer an.“

Kapitel III

Mit dem Ziel vor Augen fielen uns die letzten Meter wesentlich leichter. Und während wir uns langsam der Hütte näherten, wuchs in mir ein seltsames Gefühl. Einerseits war ich einfach nur neugierig. Was hatte meinen Vater dazu gebracht seine Firma zu verkaufen und allein in dieser Hütte zu leben? Und warum hatte er sich das Leben genommen?

Aber Neugier war nicht alles, was ich empfand. Da war noch etwas anderes. Es war schwierig zu beschreiben, und ich brauchte einige Zeit, bis ich wusste, was es war.

Ich fühlte mich betrogen.

Ich kannte meinen Vater praktisch nicht, und mir wurde erst jetzt so richtig bewusst, dass ich ihn auch nie mehr kennen lernen würde. Gut, wahrscheinlich hätte ich sowieso nie den Mut aufgebracht mit ihm zu reden. Aber jetzt war mir auch die bloße Möglichkeit genommen worden. Das Leben hatte mich um diese Möglichkeit gebracht. Es hatte mich betrogen.

Nun, vielleicht würde ich ja in diesem Haus ein paar Antworten auf meine Fragen finden. Als wir die Hütte erreicht hatten, betrat ich als Erster die Veranda. Die Holzdielen knarrten bedenklich unter meinen Füßen.

„Wenn ich auch nur einen einzigen dummen Kommentar wegen meines Gewichtes höre, schlaft ihr heute Nacht draußen“, kam ich meinen beiden Freunden zuvor ohne mich umzudrehen. Ich kannte sie mittlerweile gut genug um meistens zu wissen, was sie dachten. Beide hüstelten schuldbewusst, sagten aber nichts. Erleichtert seufzend nahm ich meinen Rucksack ab und stellte ihn auf eine der Bänke. Dann stemmte ich die Hände in die Hüften und streckte mich erstmal, was von einem deutlich hörbaren Knacken meines Rückens begleitet wurde.

„Gott! Ich bin wirklich zu alt für so was!“ murmelte ich vor mich hin.

Die beiden anderen hatten sich inzwischen auch ihrer Rucksäcke entledigt und saßen auf einer der Bänke.

„Also die Aussicht ist schon klasse“, meinte Michael bewundernd. Ich drehte mich um und sah, was er meinte. Von der Veranda hatte man einen wirklich atemberaubenden Blick auf das gegenüberliegende Kaisergebirge. Da dessen höchste Gipfel uns um gute 600m überragten, war die Sonne schon fast hinter einer hellgrauen Felswand verschwunden. Ich setzte mich zu meinen Freunden auf die Bank und lehnte mich an die Hauswand, die von der Hitze des Tages noch angenehm warm war. Gemeinsam beobachteten wir schweigend, wie die Sonne langsam hinter den Bergen versank. Ein leichter Wind hatte eingesetzt und blies uns ins Gesicht. Es war ein fast perfekter Moment. Durch den Aufstieg waren wir so erschöpft, dass wir nicht mehr denken konnten. Und so konnten wir den Augenblick einfach nur genießen. Vielleicht war es das, weswegen so viele Leute in die Berge gehen. Vielleicht war es das, was sie dabei suchten.

„Los, sehen wir uns dein Erbe mal von innen an“, sagte Kai nach ein paar Minuten ungeduldig.

„Nur nicht hetzen“, erwiderte ich und griff nach meinem Rucksack. In der vorderen Tasche fand ich den schweren Schlüssel, den mir der Anwalt gegeben hatte. Als ich ihn in das Schloss steckte, lief mir ein leichter Schauer den Rücken hinunter.

Was würde ich finden? Antworten auf meine Fragen, oder noch mehr Enttäuschungen?

Langsam öffnete ich die Tür und machte einen zögerlichen Schritt in das Halbdunkel der Hütte. Ich stand in einem engen, fensterlosen Flur und blickte in einen großen Spiegel am anderen Ende. Auf dem Boden standen zwei Paar dreckige und sehr gebrauchte Bergstiefel. An dem einfachen Wandhaken darüber hing eine alte, olivfarbene Regenjacke und eine rote Baseballmütze, die völlig fehl am Platz wirkte. Ich ging den Flur entlang, an dessen Ende sich rechts und links jeweils eine Tür befand. Beide waren geschlossen und ich entschied mich spontan für die Tür zu meiner Linken. Eine steile und nicht besonders stabil aussehende Holztreppe führte in den dunklen Keller mit den dicken Natursteinwänden. Den konnte ich mir später noch genauer ansehen, dachte ich mir. Vorerst interessierte mich der Rest des Hauses mehr. Kai und Michael standen in dem engen Flur und sahen mich erwartungsvoll an.

„Da geht’s zum Keller. Mal sehen, was sich hinter Tür Nummer 2 verbirgt“, sagte ich in bester Moderatoren-Stimme und öffnete die Tür zu meiner Rechten. Das sah schon besser aus.

Ich betrat das Wohnzimmer der Hütte. In der linken hinteren Ecke war ein mächtiger, halbrunder Kachelofen, mit einer gemauerten Bank davor. Die dunkelgrünen Kacheln sahen aus, als wären sie erst vor kurzem poliert worden. In der rechten Ecke stand ein großer Tisch aus hellem Holz vor einer rustikalen Eckbank. Zwei Holzstühle, mit dem obligatorischen, herzförmigen Loch in der Rückenlehne, waren ordentlich an den Tisch gestellt. Die Fenster, durch die das orange Licht des späten Nachmittags träge in den Raum floss, waren erst vor kurzem geputzt worden und um Einiges sauberer als die in meiner Wohnung.

„Wow! Dein Vater war ein ganz schöner Ordnungsfreak, oder?“ Michael hatte hinter mir das Zimmer betreten und sah sich um.

Ich nickte nur und ging dann zu einem niedrigen Durchgang neben dem Kachelofen. Er führte in eine recht geräumige Küche, die von einem riesigen, schwarzen Ofen an der linken Wand dominiert wurde. Der Boden bestand auch hier aus den gleichen dunklen Holzdielen, wie im Wohnzimmer. In der Mitte des Raumes stand ein quadratischer Holztisch, der wohl als Arbeitsplatte diente. Direkt über dem Tisch hingen mehrere schwere Kupferpfannen und Töpfe an einer handgeschmiedeten Eisenkonstruktion von der Decke. In der rechten Wand befand sich eine halb geöffnete Tür. Durch den Spalt konnte man eine steile Holztreppe erahnen, die in den ersten Stock führte. Alles in allem eine sehr schöne, wenn auch ein wenig dunkle Küche. Gemeinsam erkundeten wir noch den Rest des Erdgeschosses. Es gab noch ein sehr kleines Klo, in dem man sich kaum umdrehen konnte und in dem es nur kaltes Wasser gab. Außerdem fanden wir eine muffige Speisekammer neben der Küche, die bis auf zwei Dosen Bohnen leer war. Dann gingen wir nach oben. Die Treppe knarrte unter meinen Schritten und wieder hörte ich ein deutliches Räuspern und Hüsteln hinter mir, als meine zwei ehemals besten Freunde ihren Senf dazugaben.

„Es wird schon ziemlich kühl draußen. Vor allem in der Nacht“, drohte ich, ohne mich umzudrehen.

„Wir haben doch gar nichts gesagt. Es ist nur etwas staubig hier“, meinte Michael mit unschuldiger Stimme, gefolgt von einem unglaublich künstlichen Hustenanfall.

Die Treppe endete in einen langen Gang mit jeweils zwei Türen links und rechts. Durch ein kleines Fenster am Ende des Ganges fiel das dämmrige Licht des frühen Abends in den Flur.

Ich öffnete die erste Tür rechts von mir. Es war das Schlafzimmer, das erstaunlicherweise sehr schlicht und geradlinig eingerichtet war. Etwas, das ich in so einer Hütte beim besten Willen nicht erwartet hatte. An der linken Wand befand sich ein breiter Kleiderschrank aus einem dunkelbraunen Holz mit großen Türen aus Milchglas. Gegenüber stand ein schnörkelloses breites Bett, das aus demselben braunen Holz wie der Schrank gemacht war. Das sandfarbene Betttuch auf der Matratze sah aus, als wäre es gerade frisch aufgezogen worden und die dicke Daunenbettdecke war ordentlich zusammengelegt.

„Nicht schlecht“, kommentierte Michael das Zimmer. „Dein Vater hatte Geschmack, das muss man ihm lassen.“

„Und Geld“, fügte Kai hinzu. „Das sind keine IKEA-Möbel, die sind alle vom Schreiner.“

Ich wollte gerade wieder gehen, als mir etwas auffiel. Neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch mit einer Leselampe und einem gerahmten Photo. Ich hob den edel aussehenden Metallrahmen hoch und ging ans Fenster um mir das Bild genauer anzuschauen.

Das konnte doch nicht wahr sein!

Das Photo zeigte meinen Vater auf der Bank vor der Hütte, wie er in der Sonne saß. Er hatte seinen Arm um einen etwa 25-jährigen Mann gelegt, der seinen Kopf an die Schulter meines Vaters gelehnt hatte. Es war keine besonders gute Aufnahme und sie war offensichtlich mit Selbstauslöser gemacht worden, denn bei meinem Vater war ein Teil seiner Haare abgeschnitten. Aber dieses Bild strahlte etwas aus, das mich faszinierte. Die beiden sahen so verdammt glücklich aus, wie sie da saßen und in die Kamera lächelten. Man hätte die beiden fast für Vater und Sohn halten können, aber es war mir sofort klar, dass die beiden ein Paar waren. Mein Vater hatte anscheinend nicht alleine hier gelebt.

Kai hatte sich hinter mich gestellt und sah mir über die Schulter.

„Wow. Liegt wohl in der Familie,“ sagte er dann überrascht. Er meinte das aber nicht böse. Kai und Michael wussten schon seit einigen Jahren, dass ich schwul war und hatten keine Probleme damit.

In dem Augenblick war mir das aber alles zu viel. Ich warf das Photo auf das Bett und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.

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