zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Das Fest der Liebe

Weihnachtschallenge 2014

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Das Fest der Liebe

„Du bist echt voll der Grinch!“, ruft Susanne mir zu und stößt mich in die Seite. „Ich meine, ich verstehe, dass du diesen ganzen Familienzirkus nicht abkannst. Mich nervt es ja auch. Trotzdem: Einmal im Jahr kannste dich doch mal herablassen und mit deiner Familie W…“

„Nein Susanne!“, unterbreche ich sie. „Alles, nur nicht dieses hässliche W-Wort. Was soll ich denn dort? Alle kommen und fressen sich voll. Zum einen finde ich das abstoßend, diese fettigen Vögel. Dann das Gezanke, ob die Haut nun knusprig sein soll oder ob Tante Olgas falsche Zähne zu schützen seien. Du weißt genau, als Vegetarier kann ich das eh nicht essen.

Oma presst in ihrem alten Ofen bestimmt wieder Betonplatten, die sie wahrscheinlich danach noch mit der Hand so aussägt, dass sie aussehen sollen wie Rote-Mützen-Männer, Schlitten, Elche und irgendwelche Nadelgewächse, die eher Kinderkleidchen gleichen. Die Teile sind albern und – und irgendwie ...“

„Felix! Sei nicht so undankbar. OK, ich verstehe, dass du von der Gans nichts essen willst. Ich verstehe auch, dass dich die üblichen Familienquerelen langweilen. Aber hör mal, die würden sich alle so sehr freuen, wenn sie dich mal wieder zu Gesicht bekämen“, versuchte sie mich weiter zu überreden, während ich an meinem Ingwertee nippe.

„Die können mich doch eh alle nicht leiden“, entgegne ich knurrend. „Und dann stellen sie wieder alle diese dämlichen Fragen, wann ich denn endlich mal meine kleine Freundin mitbringen würde. Das kotzt mich an. Nur weil mein Vater meint, ich solle nicht gerade zum Fest der Liebe der Familie mitteilen, warum ich wohl niemals eine Freundin mitbringen würde.

Dann fragen sie mich bestimmt noch nach meinem Studium und ich sage ihnen, ich studiere eben, besuche Vorlesungen und Seminare und sammle meine Punkte. Was denn sonst?

Worüber soll ich mich mit denen denn unterhalten?“

„Komm, Felix, erstens bin ich doch auch da und Hannes kommt auch mit. Zudem hat sich selbst dein Vater mittlerweile mit deinem Liebesleben abgefunden. Willst du ihm seinen Ausbruch nach der Geschichte mit Jonathan ewig vorhalten? Er hat sich entschuldigt.“

„Susanne, du weißt ganz genau, dass ich die doch schon vorher nur genervt habe. Ich mag mir auch die ganzen Sprüche nicht mehr anhören. Wenn du nicht bald mehr isst, kannste dich hinter einer Straßenlaterne umziehen. Der Mensch ist ein Fleischesser, du brauchst doch die Proteine. Hast du schon eine kleine Freundin? So ein hübscher junger Mann wie du …“, äffe ich die immer wiederkehrenden Sprüche der Tanten, Onkel und Omas nach.

Dabei sehe ich meinen Vater mit den Augen rollen, weil es ihn nervt, dass ich keine adäquate Antwort darauf geben würde. Meine Mutter blickt dann immer angsterfüllt, weil sie befürchtet, ich könnte der Versammlung die Wahrheit verkünden.

Ja, so ist das. Meine Familie nervt voll ab. Schon als kleiner Junge habe ich mich nach dem Tag gesehnt, an dem ich mit der Schule fertig bin und einfach abhauen könnte. Kurz nach dem Abitur bin ich dann auch ausgezogen. Weit bin ich allerdings nicht gekommen, weil ich blöderweise schon während meines Zwischenjobs, den ich nach dem Abi begonnen hatte, einen Studienplatz in meinem Wunschfach hier an der Uni nachgewiesen bekommen habe. So studiere ich seit einem Jahr und wohne seit anderthalb Jahren in einer WG mit drei anderen Studenten zusammen.

„Also, Felix, was ist nun? Tauchst du übermorgen auf?“ So sehr ich meine Lieblingscousine mag und schätze, ihre Hartnäckigkeit geht mir gerade ordentlich auf den Zeiger. Die Gute ist eben doch ein Familienmensch. Im Gegensatz zu mir.

„Och, nöhö, lass mich damit einfach in Ruhe“, nöle ich rum.

Susanne ist die beste in unserer Sippschaft. Ich kann sie echt gut leiden. Sie ist immer die einzige gewesen, die mich verstanden hat, die mir immer hilft, wenn es kracht. Und ich habe es ungewollt schon einige Male krachen lassen. Ich weiß genau, zu ihr kann ich immer kommen. Sie muntert mich immer wieder auf, ist trotz aller Kritik immer verständnisvoll.

So ist sie die einzige, die sich nicht ein Mal abfällig geäußert hat, nur weil ich Fleisch eklig finde. Mein Vater ist ausgerastet, als ich meinen Eltern eines Abends eröffnete, dass ich keine Tiere mehr essen würde. Sie haben nicht geglaubt, dass ich das durchziehen würde. Habe ich aber. Bis heute. Dabei sollen meine Eltern doch froh sein, dass ich noch nie an einem Komasaufen teilgenommen habe und auch nicht rauche. Nun ja, meinen Eltern kann ich eh nichts recht machen. Susanne hat mich nicht nach dem Warum gefragt, einfach nur gesagt, dass sie es toll finde, dass ich mir über das Thema so viel Gedanken mache und meine Konsequenzen daraus zöge.

Sie ist auch die einzige, die mir nach meinem ungeplanten Coming-Out keine blöden Fragen gestellt hat.


Damals im Sommer war Jonathan bei mir zu Besuch. Jonathan und ich waren siebzehn Jahre alt. Er war mein allerbester Freund, schon seit der Einschulung. Wie so oft hingen wir auch an diesem Abend in meinem Zimmer ab. Wir saßen zusammen auf meinem Bett, weil das mein einziges Möbelstück war, auf dem wir zu zweit sitzen konnten. Wir quatschten über alles mögliche, lästerten über unsere Mitschüler und schmiedeten Pläne fürs Wochenende. Alles war wie immer.

Ganz unvermittelt fragte mich Jonathan: „Sag mal, was hältst du eigentlich von Simone? Ich glaube, die hat sich in dich verguckt.“

Außer über sie lästern, waren Mädchen nie Thema zwischen uns.

Ich zuckte mit den Schultern und meinte nur, dass mir das nicht aufgefallen wäre und mich auch nicht sonderlich interessierte. Was sollte diese Frage eigentlich? Und warum leuchtete Jonathans Gesicht so rot? Ich kannte ihn zu gut und fragte mich, was er eigentlich wollte.

„Du, Felix …“, flüsterte er fast.

„Ja, was gibt’s?“

Er druckste ein wenig rum und blickte mir so merkwürdig scheu in die Augen.

„Hey, Joey, mir kannste alles sagen, wir sind doch Freunde. Also, was ist los?“

Er wandte seinen Blick von mir ab, rutschte neben mir auf dem Bett nervös hin und her. Dann seufzte er laut und sprach schnell: „Ich hätte Lust, dich zu küssen.“

Endlose Sekunden schwiegen wir. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich wollte es eigentlich auch schon immer mal, nur hatte ich mich nie getraut, ihn zu fragen oder es einfach zu tun. Außer ganz zu Anfang die üblichen Rangeleien zwischen Jungs und später dann unsere freundschaftlichen Umarmungen, hatten wir uns nie wirklich berührt. Bei diesen Umarmungen fühlte ich mich allerdings immer sehr geborgen. Es fühlte sich einfach gut an, Jonathan zu umarmen, seine Arme um mich zu spüren, ihn zu riechen. War jetzt eine Gelegenheit gekommen, auf die ich selbst schon so lange gewartet hatte?

Schließlich schaute ich ihn direkt an und fragte: „Und? Warum machste es dann nicht?“

Wieder schwiegen wir.

„Wie jetzt? Du jagst mich nicht aus dem Zimmer? Was, wenn ich dir jetzt noch sage, dass ich dich schon ganz lange mal küssen will?“, fragte er zögerlich.

„Mach es doch einfach“, entgegnete ich ruhig. Dann geschah mit uns etwas, wovon ich schon so lange geträumt hatte. Ohne unser bewusstes Zutun kamen wir uns mit unseren Gesichtern näher. Es passierte einfach. Ich schloss meine Augen und spürte seine Lippen auf meinen. Ganz zaghaft, die Berührung war kaum fühlbar. Es war irgendwie so anders, als ich es von den Küssen meiner Mutter oder meiner Tanten her kannte. Wir drückten unsere Lippen aneinander, so fest es ging. Seine Lippen waren so warm und weich, überhaupt nicht kalt und hart. Ich öffnete meinen Mund etwas und leckte mit meiner Zunge an seinen Lippen. Langsam kam mir seine Zunge entgegen. Das fühlte sich überhaupt nicht eklig an. Ich wollte mehr.

Seine Hände begannen eine zaghafte Wanderschaft unter mein T-Shirt. Ich drückte ihn an mich und streichelte seinen Rücken. Wir hörten einfach nicht mehr auf, uns zu küssen und zu betasten. Er rieb sich an mir, so dass ich seine Erregung deutlich spüren konnte. Meine Hose war mir auch schon längst zu eng geworden.

Irgendwann lagen wir übereinander auf meinem Bett und knutschten laut schmatzend was das Zeug hielt. Unserer T-Shirts hatten wir uns schon längst entledigt. Wir hatten sie uns einfach von den Leibern gerissen und weit ins Zimmer geworfen. Meine Finger gingen gerade auf Wanderschaft in Jonathans offener Jeans, seine Hände fuhren gerade hinten in meine Hose und krallten sich an meinen Hintern, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde und mein Vater im Zimmer stand. Er schaute nur kurz mit finsterer Miene in unsere Richtung und verschwand dann wortlos.

Jonathan erstarrte vor Schreck, der kleine Freund in seiner Hose wurde weich und fiel in sich zusammen. Auch ich war jeder Bewegungsfähigkeit beraubt.

„Scheiße“, sagte ich leise. Es hatte so schön angefangen.

„Ich glaub, ich gehe dann jetzt besser“, flüsterte Jonathan.

„Bleib noch“, flehte ich ihn an. Er stand auf, schloss seine Hose, hob sein T-Shirt auf, zog es sich über und ging zur Tür. Bevor er mein Zimmer verließ, blickte er mich noch traurig an, sagte aber keinen Ton. Ich blieb verdattert auf meinem Bett sitzen.

Eine Ewigkeit später traute ich mich dann endlich, mein Zimmer zu verlassen. Darauf bedacht, so wenig wie möglich Geräusch zu verursachen, schlich ich die Treppe hinunter. Unten im Wohnzimmer wartete mein Vater und bedeckte mich mit einem Wortschwall an Vorwürfen, Tadeln, ja sogar Beleidigungen. Was ich mir einbildete, sein Haus zu einem Bordell zu machen. Ob ich nur das eine im Sinn hätte, ob ich Schande über ihn und meine Mutter bringen wollte. Wozu es führen würde, wenn man nur mit dem Schwanz dächte.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Vorhin noch hat mich Jonathan sitzen gelassen, als ob wir etwas verbotenes gemacht hätten. Nun hielt mir mein Vater diesen Vortrag. Was konnte nur falsch sein an etwas, das sich so schön, so richtig anfühlte?

Mein Vater wurde immer lauter. Ich wagte nicht, auf seine Fragen zu antworten. So drehte ich mich wortlos um, ging in die Diele, zog mir meine Turnschuhe an und verließ das Haus.

Susanne öffnete mir ihre Wohnungstür und frage nur: „Mensch, Felix, wie siehst du denn aus? Du weinst ja. Was ist passiert? Komm erst mal rein.“

Kaum hatte sie die Tür hinter mir geschlossen, fiel ich ihr auch schon um den Hals und fing an laut zu schluchzen. Sie schwieg und hielt mich einfach nur fest. Als sie mir mit der flachen Hand auf den Rücken klopfte, ließ ich alle meine Gefühle einfach laufen und heulte hemmungslos.

Sie wartete geduldig, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Dann schob sie mich ins Wohnzimmer auf ihr riesiges Sofa und setzte sich zu mir. Da saß ich nun. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.

„Ich hab mich verliebt“, schluchzte ich endlich.

„Das ist doch schön, Felix“, lächelte sie mich an.

„Gar nichts ist schön. Mein Vater hat uns erwischt.“

„Der wird sich wieder beruhigen“, versuchte sie es mit fester Stimme.

„Nein, das wird er nicht. Ich bin schwul!“ Das letzte Wort brüllte ich fast und fing wieder an zu flennen wie ein kleines Mädchen. Es war raus. Zum ersten Mal hatte ich es jemandem gesagt. Ich wusste in diesem Moment, dass hier mein kleines Geheimnis sicher war.

Susanne rückte näher, nahm mich in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: „Das ist schön, Kleiner. Schön, dass du das erkannt hast. Wer ist denn der Glückliche?“

„Jonathan“, brachte ich schniefend hervor.

„Jonathan? Der Jonathan aus deiner Klasse, mit dem du immer schon zusammenhängst? Ich hätte es mir denken können, so wie ihr immer zusammenklebt. Ihr seid doch wie Latsch und Bommel.“

Damit zauberte sie so etwas wie ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Ich erinnerte mich an die Comic-Sammlung ihres Mannes. Latsch und Bommel waren zwei Helden, die immer in irgendetwas hineingerieten, die kein Missgeschick ausließen und dennoch immer für einander da waren und sich niemals unterkriegen ließen.

„Seid ihr richtig zusammen?“, wollte sie nach eine kurzen Pause wissen.

„Ich weiß nicht. Wir haben uns gerade erst offenbart.“ Dann erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Gewisse Einzelheiten ließ ich aus. Sie fragte auch nicht danach.

Später bot sie an, mit meinem Vater und meiner Mutter zu reden, was sie dann auch bald getan hatte.


„Hey, Felix, hörst du mir überhaupt zu?“, Susanne holt mich aus meinem Tagtraum.

„Ja. Was?“ stammele ich.

Sie lächelt mich an, und ich weiß wieder ganz genau, warum sie die einzige Frau ist, die ich wirklich liebe.

„Unser Onkel Andreas kommt. Er bringt seine neue Flamme Katharina mit und ihren Sohn. Die sind doch gerade in eine große gemeinsame Wohnung gezogen. Hannes hat beim Umzug geholfen. Er meint, unser neuer Cousin wäre ein ganz netter. Und. Ein. Hübscher.“ Sie betont die letzten drei Wörter besonders und grinst mich dabei breit an. „Paul heißt er, ist achtzehn Jahre alt, macht bald Abitur. Ist blond und schlank. Kann wohl auch ganze Sätze sprechen. Dann gibt es da wohl auch noch eine Tochter, die aber nicht mehr zu Hause wohnt.“

„So, wie du das berichtest, scheint sich Hannes fast in den Knaben verliebt zu haben“, flöte ich ihr zu. Wieder ernte ich dieses unwiderstehliche Susanne-Lächeln, das mir gerade zu verstehen gibt, sie denke dabei wohl eher an mich.

„Jedenfalls würde Onkel Andreas sich freuen, wenn auch du dabei wärst. – Felix! Dieses eine Jahr. Bitte! Ich sorge dafür, dass auch vegetarisch gekocht wird und dass du nicht wieder Bratensoße auf deinen Rotkohl und die Kartoffeln gegossen kriegst.“ Wenn sie nicht sofort zu grinsen aufhört, fliegen hier Sofakissen.

Während ich mich so neben ihr auf dem Sofa hinlümmele, lauwarmen Ingwertee trinke und noch etwas aus der kleinen Schüssel greife, das ich knabbere, bin ich fast schon soweit, da hin gehen zu wollen und diese Familie zu treffen. Diesen einen kleinen Teil. Vielleicht ertrage ich ja dann auch den Rest der Sippe.

Wir quatschen noch ein bisschen. Dann verabschiede ich mich mit einer innigen Umarmung von Susanne, die mich zum Abschied fast schon anfleht: „Bis übermorgen. Du kommst doch, oder?“

Ich lächle und gehe.


***

Abends gehe ich ins Fitness-Studio. Gerade heute, wo die Stadt voller Leute ist, die nur eins im Sinne haben: hektisch einkaufen. Das Studio ist etwas außerhalb, also habe ich kein Problem, mit meinem kleinen Auto einen Parkplatz zu finden. So kurz vor dem Hohefest der Liebe und des Konsumterrors ist es auch ziemlich leer hier. Ich betrete das Studio und merke, dass ich eigentlich überhaupt keine Lust habe, mich körperlich zu betätigen. Also zumindest nicht im engeren sportlichen Sinne. Ich ziehe mich um und beginne danach in der Halle eine stille Diskussion mit den Fitness-Geräten. So sehr ich mich auch gedanklich sträube, die Geräte sind in der Überzahl. Zum Warmwerden suche ich mir einen Crosser in der Ecke, von dem aus ich einen guten Überblick über das Studio habe, und beginne mit der Kasteiung.

Während meine Augen die fast menschenleere Halle abscannen, taucht er auf: ganz in grün gekleidet: grüne Turnschuhe, ein verdammt kurzes grünes Turnhöschen und ein grünes ärmelloses Hemd. So was von grün. Sein hübsches Gesicht wird umrahmt von wuscheligen blonden Haaren. Sicheren Schrittes steuert er auf die Ergometer gegenüber den Crossern zu und setzt sich auf eines. Diese Bewegungen. Diese Haare. Dieses Lächeln. Dieses Grün. Ich falle fast vom Crosser: Er schaut mir ungeniert ins Gesicht und lächelt mich an. Verschämt senke ich den Blick und tue möglichst uninteressiert, während ich schneller strampele.

Den habe ich hier noch nie gesehen. Wie alt mag er sein? Siebzehn? Achtzehn? Neunzehn? Jedenfalls etwas jünger als ich. Wie kann sich ein Junge wie er nur so grün anziehen und sich so elfengleich hier durch die Halle bewegen?

Immer wieder wage ich einen verstohlenen Blick zu ihm hinüber. Schnell schaue ich in eine andere Richtung, wenn sich unsere Blicke treffen. Ich wende mich ihm nach ein paar Sekunden wieder zu und bemerke noch, wie er seinen Kopf wegdreht. Hat er mich die ganze Zeit angeguckt?

Nach dreißig Minuten beschließe ich, warm genug zu sein und steige von der Maschine ab. Auf meinem Weg zu den Hanteln treffen sich noch einmal unsere Blicke. In der Hantelecke sind nur zwei Kraftprotze, die sich gegenseitig helfen, schwerstes Metall laut stöhnend zu stemmen. Ich beachte sie nicht weiter und wende mich den Kurzhanteln an der großen Spiegelwand zu. Es dauert eine Weile, bis ich zwei gleichschwere Hanteln gefunden habe. Verausgaben sich die meisten hier so sehr, dass ihnen am Ende die Kraft fehlt, die Geräte wieder an ihren Platz zu räumen?

Ich beginne meine Übungen und beobachte mich im Spiegel. Plötzlich entdecke ich ihn, wie er mich quer durch die Halle anstarrt. Als er meinen Blick entdeckt, lächelt er kurz und schaut dann weg.

Nach einem verkürzten Hantelpensum, schlendere ich zu den großen Foltergeräten: Ruderzug-, Lastzugmaschinen, Butterfly Reverse, Brustpresse und Beinstrecker … Während meines ganzen Bewegungsprogramms bemerke ich immer wieder, wie er mich zu beobachten scheint. Entweder blicke ich ihn an und er schaut lächelnd schnell weg oder umgekehrt.

Führt dieser Hübschling in Grün etwas im Schilde? Auch meine Bauchübungen auf der Matte scheinen ihn sehr zu interessieren. Immer wenn ich zu ihm schaue, lächelt er und tut, als konzentriere er sich auf seine jeweilige Übung. Der will was von mir.

Im Umkleideraum sehe ich zu, dass ich schnell aus meinen Sportsachen und in Jeans, Pullover und Jacke komme. Duschen kann ich zu Hause. Plötzlich – ich bin fast fertig zum Gehen – erscheint etwas grünes in meinem Augenwinkel, worauf ich mir erst mal den Schnürsenkel verknote. Dann öffnet er einen Spind drei neben meinem und setzt sich dicht neben mich auf die Bank. Zu dicht, ich bekomme diesen verdammten Knoten einfach nicht auf.

„Du hast tolle Muskeln.“

Er spricht. Mit mir. Seine Stimme macht mich schmelzen. Muskeln? Meint er wirklich mich? Wen sonst, wir sind allein. Gut, ich hab tatsächlich ein paar Muskeln, nicht übermäßig viel. Ich bin halt schlank, das lässt meinen ansatzweise vorhandenen Sixpack etwas auffallen. Meine Schultern sind einigermaßen gut ausgeprägt. Muskulös würde ich meine Arme nicht bezeichnen. Etwas mehr als nur Knochen habe ich schon unter der Haut. Unter meinem schlabberigen T-Shirt konnte er das eigentlich gar nicht so gut gesehen haben.

Moment. Der meint doch wohl nicht … Ich trage beim Sport gern enge Turnhosen. Meint der etwa meinen Hintern oder was?

„Was guckst du mich so an? Ich meine das ernst. Ich hab dich beobachtet“, durchbricht er mein Schweigen. Ach was, das ist mir kaum aufgefallen.

Ich merke wie ich ihn anstarre und klappe erst einmal meinen Mund zu. Eben will ich mich wieder meinem verknoteten Schnürsenkel widmen, als er mich wieder mit seiner Stimme erregt: „Ich bin übrigens Phillip.“

„F-Felix“, stammle ich und versuche, zurück zu lächeln. Macht der mich gerade an?

„Hei Felix. Trainierst du häufig hier?“

„Ja“, antworte ich, „dreimal die Woche. Und du? Ich hab dich hier noch nicht gesehen.“

„Wir sind gerade erst hierhergezogen. Ich bin das erste Mal hier.“

„Ausgerechnet heute so kurz vor den Feiertagen?“, frage ich verwundert.

„Zuhause ist Stress pur. Meine Mum ist hyperaktiv. Sie packt die Kartons aus, stopft alles in die Schränke, räumt alles wieder raus, um es dann woanders einzuräumen. Die macht mich wahnsinnig. Ständig stehe ich ihr im Weg. Mein Zimmer ist fertig.“ Er ist sichtlich stolz auf sich. „Dann fiebert sie noch rum wegen dem W…“

„Halt!“, falle ich ihm ins Wort. „Lass uns jetzt bitte nicht darüber reden. Ich hasse das.“

Er schaut mich verdutzt an. Oh Gott, diese Augen, grün, wie sollte es auch anders sein. Ich weiß, dass ich überhaupt nicht mit ihm reden will. Ich will mich gerade verlieben.

Ich schaue weg. Es gelingt mir irgendwie, den Knoten zu lösen und meinen Schuh zuzubinden. Dann stopfe ich mein Handtuch und die Turnschuhe in meine Tasche, schultere sie und wende mich zum Gehen. „Ich muss los. Wir sehen uns.“ – Gar nichts muss ich. Ich ertrage nur diese Schönheit nicht länger.

„Wann bist du wieder hier?“, höre ich diese Stimme, die mich schwach macht.

Eh meine Knie zu Pudding werden, entgegne ich knapp: „Am ersten Feiertag vielleicht. Gleiche Zeit.“

Dann verlasse ich den Umkleideraum und die Bank, auf der Phillip immer noch in seinen grünen Turnsachen sitzt. Grün! Ich schmelze.

Als ich in der Wohngemeinschaft ankomme, ist niemand zu Hause. So dusche ich schnell, mache es mir dann bei einer bestellten Pizza und ein, zwei Gläsern Rotwein in meinem Zimmer gemütlich.

Irgendwann kommen meine Mitbewohner nach Hause und verkriechen sich in ihren Zimmern. Ich hab meine Ruhe heute Abend und kann das Zusammentreffen mit Phillip noch einmal durchdenken.

Dieser Typ hat es mir echt angetan. Ich ärgere mich, dass ich ihn nicht gleich mit hierher genommen habe. Deutlicher hat er mich ja nun wirklich nicht anmachen können. Und ich? Was mache ich Trottel? Ich schmelze vor mich hin und bin schüchtern. Dabei hätte er jetzt so lieb neben mir im Bett liegen können. Mit ihm schmeckt Pizza im Bett bestimmt ganz außerordentlich gut. Ich könnte seine warmen Finger auf meinem Bauch fühlen und mit meinen Händen seinen tollen Körper abtasten. Ich könnte ganz nebenbei in seinen wunderschönen grünen Augen ertrinken. Wir könnten knutschen ohne Ende. Wir könnten uns spüren und noch viel mehr.


Der nächste Tag beginnt unspektakulär. Ich erwache, stehe auf, bin der erste im Bad, dusche kurz, versuche, meinen Haaren so etwas wie eine Frisur abzutrotzen, durchwuschele alles mit beiden Händen, so dass meine fast schulterlangen Strähnen einfach rechts und links herunterhängen, ziehe mich an, gehe in unsere Wohnküche und werfe die Kaffeemaschine an. Während ich dem Kühlschrank alles für mein Marmeladenfrühstück entnehme, dringen weitere Lebenszeichen aus dem größten unserer WG-Zimmer an meine Ohren.

Dort wohnen Tim und sein langjähriger Freund Stephan, genannt Struppie. Tim betritt gerade nur mit Boxershorts bekleidet und einem Handtuch um die Schulter geworfen die Küche.

„Moin Schätzchen“, ruft er mir zu. Ich lehne an der alten Küchenzeile und mustere zum weiß-ich-wievielten Male diesen schlanken, großgewachsenen Mittzwanziger mit seinen feuerroten Locken.

„Hier riecht es wieder mal köstlich. Es geht nichts über frischen Kaffee am Morgen und die beiden schönsten Männer am Frühstückstisch. Ich geh mal eben duschen“, flötet Tim und wirft mir einen Handkuss zu.

Tim als tuckig zu bezeichnen, mag übertrieben sein. Kerlig-männlich ist allerdings irgendwie etwas anderes. Tim ist einfach nur ein herzensguter Mensch, der immer gut gelaunt erscheint. Ich habe ihn seit ich hier wohne schätzen und tatsächlich auch lieben gelernt, auf diese ganz besondere Art.

Tim duscht gerade. Das bedeutet bei ihm, dass die Fließgeräusche nicht das lauteste ist, was durch die Wohnung schallt. Tim liebt es, laut unter der Dusche zu singen. Und dieser Mann kann singen. Das lernt man wohl auf der Schauspielschule.

Gerade lausche ich „I am what I am. And what I am needs no excuses …“, als sich die große Zimmertür erneut öffnet. Heraus kommt Struppie, mindestens einen Kopf kleiner als Tim, dafür wesentlich stämmiger. Seine blauen Haare stehen wirr in alle Richtungen von seinem rundlichen Kopf ab. Struppies Haare kenne ich nur blau-, orange- oder irgendwie anders gefärbt und immer absolut kunstvoll zerzaust. Daher hat er wohl auch seinen Spitznamen – und weil das so schön zu „Tim“ paßt. Struppie ist wie immer morgens in einen farbenfrohen Frottee-Bademantel gewandet. Müde ringt er seinem Gesicht ein Lächeln ab und lässt sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. Hastig nimmt er einen Schluck aus dem Kaffeepott, den ich ihm vor die Nase stelle.

„Ja, mein Lieber, so gefällt mir dein Gesicht schon besser. Was Kaffee aus dir zu machen vermag. Selbst am frühen Morgen.“ Struppie lächelt tatsächlich.

Soeben verstummt Gloria Gaynor und das Wasser wird abgestellt. Ein paar Augenblicke später erscheint Tim in einem ebenso bunten Frottee-Mantel.

„Schon was von ihm gehört?“, fragt Tim und zeigt in Richtung des dritten Zimmers.

„Nein, noch nichts“, antworte ich, “ist unsere Fledermaus eigentlich schon nach Hause geflattert?“

In dem kleinen Zimmer zum Hof wohnt Markus. Markus ist wohl das, was man einen Gruftie nennt: Frisur wie Robert Smith, gerne schwarze Lippen und Augenränder, immer in schwarz gekleidet, was sein eh schon blasses Gesicht noch lebloser erscheinen lässt. Nur ein einziges Mal hat er uns mit weißen Socken und einem schwarz-weiß-geringelten ärmellosen T-Shirt schockiert. Markus erscheint stets traurig und hört auch entsprechende Musik. Wen wundert es, dass auch sein Zimmer in eher schwarzen Tönen gehalten ist: alle seine Möbel sind schwarz. Er hat sogar schwarze Bettwäsche. Die Fenster- und Türrahmen hat er auch schwarz lackiert und die Fenster mit schweren undurchsichtigen Vorhängen verschlossen.

Ob Markus wirklich schwul ist, wie er gern selbst behauptet, können wir nicht nachvollziehen. Wir haben ihn niemals mit einem Kerl erlebt. Vielleicht behauptet er das auch nur, damit man ihn in Ruhe traurig sein lässt. Er steht wohl eher auf Fledermäuse und dergleichen.

Tim und ich decken den Frühstückstisch zu Ende. Struppie wird langsam Mensch.

„Für heute Abend haben wir zu einer kleinen Fête geladen“, erklärt Tim. „Wenn du Bock hast, mach einfach mit.“

Wenn Tim und Struppie Gäste zu sich eingeladen haben, bedeutet das fast immer, dass ich mich zu ihnen geselle und wir einen lustigen Abend mit geistigen Getränken und mehr oder wenigen ebensolchen Gesprächen verbringen. Manchmal enden solche Soiréen auch in Tim und Struppies Himmelbett, wo wir schon so manche Kuschelorgie zu dritt oder viert oder fünft gefeiert haben. Das könnte mir auch heute gefallen.

„Wer kommt denn?“, frage ich leicht grinsend.

„Hetenalarm“, errät Tim meine Gedanken, „mein Bruder kommt mit Annabella. Die bringt ihren Bruder mit, der ist gerade erst mit Mutti hierhergezogen und soll ein bisschen unter Leute kommen, meint Annabella. Naja, du kennst sie ja mittlerweile. Dann kommen vielleicht noch Daniel und Matthias.“

Ich sage meine Teilnahme zu und wir planen, wer noch was für den Abend besorgen will. Dann mache ich mich auf ins Einkaufszentrum. Hier ist es schon eine größere Aufgabe, einen Parkplatz zu finden. Jeder, der nicht morgen auf den letzten Drücker noch was zu besorgen hat, tut es wohl heute einen Tag davor, in der Hoffnung, nur wenige würden auf dieselbe Idee kommen. Wie man sich doch irren kann.

„… This year, to save me from tears, I'll give it to someone special, special …” Wham! Dieses eine Lied aus den Achtzigern hätte doch eigentlich schon seit dreißig Jahren tot sein müssen. Aber nein, sie spielen es in jedem Kaufhaus in heavy Rotation. Ich sehe zu, dass ich verletzungsfrei alles einkaufe und fahre ebenso stolz wie genervt meine Beute nach Hause in unsere heuchelfreie gemütliche Wohngemeinschaft. Dort verstaue ich alles in der Küche und begebe mich in mein Zimmer. Ich brauche Ruhe.


Gegen acht kommen Daniel und Matthias. Die beiden sind kein Paar, erscheinen aber recht häufig zusammen. Ich denke an Latsch und Bommel und grinse. Matthias ist angeblich nicht einmal schwul. Beide sind bis auf kleinere amouröse Romanzen eigentlich immer Single. Sie gehen häufig zusammen zur Liebesjagd aus.

Kurz darauf klingelt es wieder. Struppie steht auf, drückt den Summer und öffnet die Wohnungstür. Ich trete gerade aus der Küche in unseren Korridor, als zuerst Annabella, gefolgt von Tims Bruder Mark die Wohnung entert. Hinter Mark erblicke ich nicht sehr viel mehr als einen blonder Wuschelkopf. Ich stütze mich an der Zarge der Küchentür ab. Annabella und Mark ziehen ihre Mäntel aus, übergeben sie Struppie und bücken sich gerade nach ihren Stiefeln. So geben sie meinen Blick frei auf einen schlaksigen Jungen, der mich mit aufgerissenen grünen Augen anstarrt. Ich atme schwer. Phillip! Was macht der denn hier?

Tim rempelt mich an, als er aus der Küche stürmt, um seinen Bruder zu umarmen und Annabella auf die Wangen zu küssen. Dann bleibt er vor Phillip stehen und schaut ihm ins Gesicht. Dann dreht er sich zu mir um, der ich immer noch wie angewurzelt in der Küchentür stehe und glotze. Annabella und Mark tun es ihm gleich. Soeben kommt Struppie aus dem großen Zimmer, in das er die Mäntel gebracht hat. Alle schauen mich an und dann Phillip. Weder er noch ich sind zu irgendeiner Regung fähig, geschweige denn zu irgendeinem einem Wort.

„Felix, dieser junge Mann dort ist mein kleiner Bruder Phillip. Phillip, jener adrette Herr heißt Felix“, zerschneidet Annabella die Situation und zeigt dabei erst auf mich, dann auf Phillip und wieder auf mich. Sie kämpft schwer mit sich, nicht laut zu lachen. Mein Gesicht hingegen wird heiß. Ich erröte. Auch Phillip ist alles andere als blass.

„Felix, mein Schatz“, klopft mir Tim auf die Schulter, „was ist denn los mit dir? Man könnte meinen, du hast einen Geist gesehen. Alles was ich sehe ist ein Engel!“ Phillips Gesichtsfarbe macht jeder Tomate alle Ehre.

„Steht hier nicht so rum. Kommt in die Küche, Mädels“, fordert uns nun Struppie auf. Tim, Struppie, Mark und Annabella verlassen den Flur. Tim lässt es sich nicht nehmen, mir in den Hintern zu kneifen. Annabella grinst mich breit an.

Jetzt bin ich mit Phillip allein im Flur und merke gerade, dass er immer noch seinen Anorak und seine Stiefel anhat. Ich schließe also zunächst meinen Mund und gehe die fünf Schritte auf ihn zu. Während er sich den Anorak auszieht und ihn mir in die Hand gibt, spricht er mich an: „Was machst du denn hier?“

„Das gleiche wollte ich dich fragen. Ich wohne hier“, versuche ich die erregende Wirkung seiner Stimme auf mich herunterzuspielen.

Er lächelt mich an. Seine grünen Augen schauen mich dabei groß an. Mir werden die Knie weich. Wo ist mein selbstsicheres Auftreten, wenn ich es am nötigsten brauche?

„A-Annabella, meine Schwester, hat mich mitgebracht. Sie meinte, ich solle unbedingt ein paar liebe Freunde von ihr kennenlernen. Und nun bin ich wohl hier gelandet“, erklärt er, während er sich aus seinen Stiefeln befreit. Die ganze Zeit sieht er mich an.

Diese Augen. Dieses Lächeln. Ich stütze mich vorsichtshalber an der Kommode ab.

Ich werfe schließlich Phillips Anorak in Tim und Struppies Zimmer aufs Bett zu den anderen Jacken, ergreife Phillips Hand und ziehe ihn in die Küche, wo wir mit großen Augen und offenen Mündern empfangen werden. Wir nehmen uns jeder einen Stuhl und setzen uns nebeneinander an den Tisch. Phillip hält immer noch meine Hand fest. Oder ich seine. Ich möchte sie gerade nie wieder loslassen.

„So, Freunde der Sonne und des langen Getränks“, setzt Tim an, „schön, dass ihr alle da seid. Greift zu. Wir haben alles aufgebaut, was Küche und Kammer zu bieten haben.“

Um unseren Küchentisch passen bequem acht Leute, sogar mehr, wenn wir zusammenrücken. In der Mitte dieses Tisches bauen wir zu unseren Fêten immer das „Büffet“ auf. Soeben ist ein lautes „Plopp“ zu hören. Struppie hat eine Flasche Sekt geöffnet. Matthias und Mark stehen sofort neben ihm und halten ihm Gläser zum Füllen hin, die sie dann verteilen. Mit einer Flasche kommen wir nicht weit und hören dieses „Plopp“ noch häufiger heute abend. Später wird es dumpfer, als die Rotweinflaschen dran glauben müssen.

„Sag mal Felix, woher kennst du eigentlich meinen Bruder?“, will Annabella wissen.

„Das ist fast zu unglaublich, um es zu erzählen. Eigentlich kennen wir uns überhaupt nicht. Wir sind uns gestern Abend im Sportstudio das erste Mal begegnet“, plapper ich munter drauf los.

„Du hättest ihn mal sehen müssen, wie er mich beobachtet hat, Anna“, steigt Phillip in das Gespräch mit ein. „Und er wäre doch glatt vom Crosser gestürzt, als ich das Studio betreten habe.“

„Nun lass dich mal nicht feiern, Brüderchen“, lächelt Annabella.

„Er hat mir Komplimente gemacht“, werfe ich unvorsichtig dazwischen.

„Ihr seid ja fast schon wie ein altes Ehepaar“, meint Daniel, den ich auch direkt unter dem Tisch gegen das Schienbein trete.

„Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast“, wundert sich Tim. Und weiter zu Annabella und Mark: „Ihr habt noch nie von ihm erzählt.“

„Ich wohne ja schon ziemlich lange nicht mehr zu Hause. Mama und Phillip haben ja bis vor kurzem noch am anderen Ende der Stadt gewohnt. Vor einem dreiviertel Jahr hat Mama ihren Andreas kennengelernt und neulich sind sie zusammengezogen“, sagt sie.

Andreas? Ich werde hellhörig. Onkel Andreas? Nein, das wäre ein zu großer Zufall. Außerdem soll der „neue Cousin“ doch anders heißen. Genau, „Paul“ hat Susanne gesagt.

So geht die Unterhaltung weiter. Ein Wort ergibt das nächste und so erfahre ich, dass Phillip wohl die letzten Tage ziemlich maulig zu seiner Mutter gewesen sei. Zum einen wegen des Umzugs, schließlich müsse er nach den Ferien mit dem Bus zur Schule fahren und alle seine Freunde wohnen jetzt so weit weg. Zum anderen nerven ihn wohl das Chaos zu Hause und Mutters Vorbereitungen zum bevorstehenden Fest. Deswegen hat ihn seine Schwester mit hierher geschleift. Damit der Junge mal rauskomme und sich amüsiere.

Ich sage kaum etwas, hänge stattdessen mit den Augen an Phillips Lippen und lausche zunehmend unruhig seiner samtenen Stimme. Im Augenwinkel bemerke ich, wie mich Tim und Daniel wissend beobachten und angrinsen. Die Doofen, die!

Mir wird schnell bewusst, dass ich mich gerade verliebe. Warm ist mir, dabei überheizen wir unsere Wohnung selten, ziehen lieber einen Pullover an. Während die anderen ordentlich Rotwein trinken, komme ich vor lauter Aufregung nicht dazu, mein Glas zu leeren. Phillip trinkt wohl keinen Alkohol. Vor ihm steht statt eines Weinglases ein Becher mit Limonade.

Irgendwann – Phillip und seine Schwester lachen gerade über einen von Tims Sprüchen – erhebe ich mich, gehe ins Bad, verriegele die Tür und setze mich auf den heruntergelassenen Klodeckel. Ohje. Dieses fröhliche Lachen, diese samtene Stimme, diese blonden Wuschelhaare, diese grünen Augen, dieser Kerl.

Was mache ich nur? Gehe ich zurück in die Küche, werde ich dem Drang, über diesen Traumprinzen herzufallen, wohl nicht allzu lange widerstehen können.

Bleibe ich hier, werden mich die anderen bald vermissen und hier im Bad ausfindig machen. Dann muss ich ihnen erklären, warum ich hier wie blöde auf dem Klodeckel sitze.

Was kann mir schon passieren? Daniel und Matthias kennen mich und wissen, dass ich schwul bin. Für sie wäre es nichts besonderes, wenn ich mich an Phillip heranmache. Für Tim und Struppie sowieso nicht. Mark kenne ich auch schon eine Weile. Sein Humor ist nicht so albern wie der seines Bruders, eher ziemlich bissig. Er ist mir sympathisch. Naja, und Annabella hat vorher gewusst, wohin sie ihren Bruder mitnimmt. Außerdem ist sie mit Mark zusammen. Das spricht eindeutig für sie.

Und Phillip? Wie würde er reagieren? Eigentlich hat er mich gestern angemacht und tut es den ganzen Abend schon wieder – bewusst oder unbewusst. Was könnte er gegen einen kleinen Flirt haben? Sind wir da nicht schon mittendrin? Ist das nicht schon eher ein großer Flirt? Allerdings hat er mich während der letzten Stunde kaum beachtet, als er von sich erzählt hat.

Ich beschließe die Flucht nach vorn, stehe auf, betätige die Spülung und verlasse das Bad in Richtung Küche. Dort scheint die Stimmung noch immer recht ausgelassen. Ich vernehme mehrere Stimmen und Gelächter. Phillips Stimme kann ich allerdings nicht herausfiltern.

So betrete ich die Küche. Matthias und Daniel schauen mich aus glasigen Augen an. Sie haben wohl beide ziemlich viel Rotwein ziemlich schnell getrunken. Tim unterbricht gerade einen seiner berüchtigten Monologe und sieht mich fragend an. Mark und Annabella scheinen gerade zu bemerken, dass ich ein paar Minuten zu lange weg gewesen bin. Phillip lächelt mich an als ich mich neben ihm niederlasse.

„Wo bist du so lange gewesen?“, fragt er mich.

„Ich, ich war auf dem Klo“, antwortete ich in der Hoffnung, er werde nicht weiterfragen.

„Achso, ich dachte schon, du wärst schlafen gegangen, ohne dich von mir zu verabschieden.“

Hör auf, mich mit deinen grünen Augen anzulächeln. Ich will dich sofort küssen.

Genau das mache ich jetzt auch. Nur ganz kurz und ganz zaghaft. Das reicht schon, um mich sofort zu verlieren. Seine Lippen sind so weich und warm. Es ist mit einem Mal sehr still in unserer kleinen Partyrunde. Ich fühle mich beobachtet. Ich will mehr und habe doch das Gefühl, mein Vorhaben besser auf ein anderes Mal zu verschieben.

Phillip greift meine Hand und hält sie fest. Das Stimmengewirr wird wieder etwas lauter und unverständlicher. Ich folge keinem der Gespräche wirklich aufmerksam. Ich halte einen Schatz fest und hab nicht vor, ihn wieder loszulassen.

Plötzlich kommt Bewegung in die Runde. Matthias und Daniel verkünden, sich verabschieden zu wollen. Sie wirken auch beide eher müde als wach, Matthias hat an Daniel gelehnt sogar schon ein kleines Nickerchen hinter sich.

Annabella fragt ihren Bruder, ob er auch gehen möchte. Dieser schaut mich nur kurz an und schüttelt den Kopf.

Wir stehen alle auf und geleiten unser müdes Männerpaar in den Flur und helfen ihnen noch in die Jacken und die Stiefel. Als dann jeder jeden umarmt hat, kehren Tim, Struppie und Mark zurück in die Küche. Annabella zögert noch, schaut ihrem Bruder ins Gesicht und folgt ihnen dann nickend und lächelnd.

Phillip und ich bleiben im Korridor stehen und sehen uns an. Ich greife nach Phillips Händen und ziehe ihn zu mir heran. Unsere Lippen vereinigen sich zu einem innigen Kuss. Unsere Zungen tanzen Limbo.

„Zu mir oder zu dir?“ Phillip unterbricht unsere Knutscherei nur für diese eine kurze Frage.

„Zu mir“, gebe ich bekannt und ziehe ihn in mein Zimmer. Mit dem Hintern schiebe ich noch die Tür zu als mir Phillip auch schon wieder seine Zunge in den Hals hängt. Völlig außer Atem stehen wir dann stumm in meinem dunklen Zimmer und halten uns an den Händen.

„Wo bist du nur die letzten Jahre gewesen, als ich dich nicht finden konnte?“, fragte er mich plötzlich leise kichernd. Wir fingen beide an zu lachen.

Nach einer weiteren Knutschrunde meine ich, wir können uns auch auf mein Bett setzen, wie damals das einzige Möbelstück in meinem Zimmer, auf dem wir zu zweit nebeneinander Platz finden. Während wir uns setzen, schalte ich meine kleine funzelige Nachttischlampe an.

Da sitzen wir nun und schauen uns tief in die Augen.

„Ich liebe deine großen braunen Augen, Felix“, haucht er mich an, dass ich von seinem Atem eine Gänsehaut bekomme. Aus der Küche dringen Gesprächsfetzen zu uns herüber. Wir kümmern uns nicht um die anderen. Nur wir zählen jetzt.

Sein Gesicht nähert sich meinem. Seine Lippen kommen immer näher, bis sie meine berühren. Seine Lippen fühlen sich wieder so warm und weich an. Diesmal gehen wir nicht so ungestüm vor wie eben noch. Jetzt haben wir alle Zeit der Welt. Ich presse meine Lippen stärker auf seine. Wir halten beide die Luft an. Dann öffne ich meine Lippen ein wenig. Seine öffnen sich gleichzeitig. Langsam schiebe ich meine Zunge zwischen seinen Zähnen hindurch und stoße dabei an seine. Unsere Zungen verknoten sich. Unser Stöhnen wir lauter.

Ich spüre seine warme Hand unter meinem Pullover und schicke meine Hände sogleich auf Wanderschaft unter seinen. Ich umfasse seine Hüften und spüre, wie er gleichzeitig dasselbe mit mir macht. Vier Hände wandern nach oben, suchen und finden vier harte Brustwarzen, die sie umspielen. Fast gleichzeitig ziehen wir uns die Pullover mitsamt den T-Shirts über die Köpfe. Diese unnötigen Kleidungsstücke landen achtlos vor dem Bett auf dem Boden. In meinem Zimmer ist es nicht kalt. Uns ist warm.

Phillip tastet meinen Oberkörper ab und ich seinen. Dann nähert sich sein Gesicht meiner Halsbeuge. Ich spüre dort seinen Atem und wie er sanft seine feuchtwarmen Lippen dort ablegt.

In meinem Kopf ist die Hölle los, genauso wie in der Hose. Nicht erst seit eben bin ich erregt. Phillip küsst meinen Hals. Meine Hände wandern in seine Jeans. Auch er ist erregt. Ohne mit dem Küssen aufzuhören, nestelt er an meinem Gürtel. Eh ich mich versehe, schiebt er auch schon meine Hose zu meinen Knien und die Unterhose gleich mit. Dann umfasst er meinen harten Schwanz.

„Darf ich ihn küssen?“, flüstert er in mein Ohr und drückt meinen Schwanz fester. Eine Gänsehaut läuft mir über den gesamten Körper.

„Wenn du magst“, stöhne ich.

Phillip läßt von meinem Ohr ab, küsst mich in der Halsbeuge und dann eine meiner Brustwarzen, fährt mit seinen feuchten Lippen quer über meinen Oberkörper, um dann seine Zunge in meinen Bauchnabel zu stecken. Ich lasse mich nach hinten auf die Bettdecke fallen. Ich bin willenlos. Er robbt um mich herum, zieht mir die Hosen über die Füße, kniet sich zwischen meine Beine und stülpt seine Lippen über den strammstehenden kleinen Felix.

Sternschnuppen fliegen um mich herum. Mehr Kitsch geht nicht.

Zwischendrin hält er inne, um sich von seinen Hosen und unseren Srümpfen zu befreien.

Nun wälzen wir uns nackt übereinander, küssen uns an allen erreichbaren Körperstellen und stöhnen lauthals unsere Lust hinaus.

Dann kommt der Augenblick der Wahrheit. Phillip dreht mich auf den Bauch. Gut, dass ich immer Kondome auf Vorrat im Nachtschränkchen habe. Ich greife in die Schublade und reiche ihm eins nach hinten.

So kurz diese Nummer auch ist, sie ist das beste, was ich mir zum Fest der Liebe vorstellen kann. Phillip ist so zärtlich und doch fordernd zugleich. Er weiß genau, wie er es mir besorgt. Seine Speerspitze drückt genau die richtigen Knöpfe in meinem Zentrum. Mein Gehirn schaltet um auf puren Genuss. Ich spüre sein Zucken, höre seinen Aufschrei und komme gleichzeitig, ohne mich anzufassen.

Wau! Was für ein Orgasmus! Was für ein süßer Kerl hat mir den gerade besorgt! Normalerweise bin ich eher der Aktive, aber gerade eben ist genau das Richtige um mich geschehen.

Nur kurz haben wir ineinander verschlungen noch dagelegen. Kaum zu Atem gekommen, dringt Phillips Stimme in mein Ohr: „Ich habe Durst.“

Langsam befreie ich mich aus seiner Umklammerung, ziehe mir nur notdürftig Jeans und T-Shirt an. Seine Hand hindert mich am Verlassen meines Zimmer.

„Meine Hose steht dir gut“, meint er lakonisch und macht mich darauf aufmerksam, dass ich aus dem Klamottenhaufen seine gegriffen habe. Egal, ich fühle mich wohl. Ich fühle mich erleichtert. Mein Süßer hat Durst. So verlasse ich beschwingten Schrittes und lächelnd mein Zimmer.

Man sagt ja, Sex sei gut, wenn sich danach die Nachbarn eine Zigarette anzünden.

Tim, Struppie, Annabella und Mark sitzen noch immer in der Küche am Tisch und zünden sich gerade nacheinander Zigaretten an, als ich hereinkomme. Tim grinst mich wissend an und leckt sich obszön über die Oberlippe. Mark lächelt mich an und zeigt mir einen erhobenen Daumen. Struppie lächelt einfach nur wie ein Honigkuchenpferd. Annabella sieht mich an, als wolle sie herausfinden, ob mich ihr kleiner Bruder gerade kaputt gespielt habe. Ich merke, wie mir das Gesicht warm wird und ich offensichtlich mal wieder knallrot werde.

„I-ich hole uns nur schnell was zu trinken“, stottere ich und sehe zu, dass ich schnell an den Kühlschrank komme und mit einer Flasche Limonade wieder verschwinde. Sie sollen sich nicht länger als unbedingt nötig an meiner Gesichtsfarbe ergötzen.

Ein paar Schlucke aus der Flasche und ein paar Zungenküsse später gehen wir rüber in die Küche. Phillip in meiner Hose, warum tauschen?

Wir werden von den anderen Vieren mit Applaus und Pfiffen begrüßt.

„Na, gelangweilt habt ihr euch nicht gerade“, erklärt Mark verschmitzt.

„Wie wir gehört haben, war es recht amüsant bei euch Zweien“, kichert Struppie.

„Waren wir echt so laut?“, fragt Phillip schüchtern, während wir uns setzen.

„Wir konnten jeden Kuss hören und jeden Stoß auch“, entgegnet Tim und macht unser Stöhnen nach.

„Ich hatte schon Angst um Felix“, spricht Annabella. „Ich wusste ja gar nicht, dass mein kleiner süßer Bruder gerne oben liegt.“

Wir fangen alle an zu lachen. Auch Phillip, dem der Spruch seiner Schwester zunächst peinlich ist.

„So, meine Herren“, beendet Annabella unsere Fröhlichkeit, „wir werden uns dann wohl so langsam auf die Strümpfe machen.“ Lächelnd blickt sie auf Phillips nackte Füße.

„Ähm, ich glaube ich bleibe heute hier“, verkündet Phillip und holt sich meine nickende Zustimmung.

„Aha“, kommentiert Mark, „macht nichts, was wir nicht auch tun würden.“

„Ihr passt doch auf, ihr zwei beiden? Ich kann dir sonst noch zwei Gummis geben, Phillip“, ermahnt uns Annabella und sieht uns belustigt beim Erröten zu.

„Ich hab genug. Ich mach das ja auch nicht zum ersten Mal“, entgegne ich schnell, um die Peinlichkeit nicht einfach so stehen zu lassen.

Lachend ziehen sich Annabella und Mark an und werden von uns mit Küssen und Umarmungen verabschiedet.

Tim und Struppie verschwinden sogleich in ihrem Zimmer. „Aufräumen können wir auch morgen – äh später noch, wenn die Sonne wieder aufgegangen ist“, meint Struppie, während er Tim ins Zimmer schiebt. „Nacht, ihr Süßen!“ Die große Tür wird von innen geschlossen.

Phillip und ich schauen uns nur kurz an und drängeln uns dann Arm in Arm in mein kleines Reich. Sofort ziehen wir uns aus und legen uns auch gleich ins Bett. Ans Schlafen denken wir allerdings noch lange nicht. Phillip zeigt mir vielmehr in den nächsten zwei Stunden noch, dass er auch sehr gerne unten liegt.

Irgendwann schlafen auch wir ein. Arm in Arm, eng umschlungen.


Jemand tritt mir leicht von hinten gegen das Bein.

Jetzt höre ich es auch:

„Oh I, I just died in your arms tonight

It must've been something you said

I just died in your arms tonight

Oh I, I just died in your arms tonight

It must've been some kind of kiss”

Und nebenbei das Rauschen der Dusche.

Tim duscht und singt. Wie kann dieser Mann nur so fröhlich sein am Morgen.

Moment, wer hat mich gerade getreten? Ich liege gekrümmt auf der Seite. Hinter mir, ganz nah an mich gekuschelt spüre ich einen warmen Männerkörper. Ich schicke meine Hand auf Wanderschaft nach hinten unter die Bettdecke. Phillip, schaltet mein Geist, während der kleine Felix sich auch schon reckt und streckt.

Langsam machen sich die Gefühle der gerade vergangenen Nacht in meinem Bewusstsein breit. Ich erwache. Ich erinnere mich an diese Nacht. An diesen Sex mit diesem Kerl, der sich unschuldig an mich kuschelt und leise grunzt. Das Bettzeug muss dringen gewaschen werden, mache ich mir klar. Guter Sex ist schmutzig. Sehr schmutzig, wie ich nun weiß. Offenbar sind wir in der Nacht beide recht freigiebig mit unserem Liebessaft umgegangen.

Ich beschließe, mich sachte aus Phillips Umklammerung zu drehen. Seine Arme halten mich ganz fest. An meinem Hintern spüre ich etwas hartes. Phillip atmet schwer aus. „Geh noch nicht. Lass mich dich einfach noch ein bisschen halten“, nuschelt er noch nicht ganz wach.

Erst als ich ihm sage, dass ich mal müsse, lockert er seinen Griff ein klein wenig. So einfach will er mich nicht gehen lassen. Ich schaffe es dennoch, mich zu lösen und stehe neben dem Bett. Ich ziehe wieder Phillips Jeans an und einen der herumliegenden Pullover. Hmm, ich habe den richtigen erwischt, er riecht nach Phillip. Den küsse ich sanft auf die Stirn.

Ich trete in den Flur. Tim verlässt gerade in seinen Morgenmantel gewandet das Bad. „Perfektes Timing. Moin, Schätzchen”, singt er mir fröhlich ins Gesicht. Ich gehe derweil pinkeln.

Dann schlurfe ich in die Küche, wo Tim mir gerade frisch gebrühten Kaffee anbietet. Ich nehme dankend zwei Kaffeepötte voll entgegen und kehre damit zurück in mein Zimmer.

„Guten Morgen, mein Süßer. Hast du gut geschlafen?“, frage ich den sich gerade zu mir drehenden Phillip. Mit einem Fuß drücke ich die Tür zu.

„Haaaaaa! Das fragst du mich? Wir haben saugut miteinander geschlafen. Ich hab mich selten so gut gefühlt wie jetzt, wenn auch ein wenig leer.“

Phillip setzt sich auf und schnüffelt. Als er nach der Tasse greift, die ich ihm reiche, rutscht die Decke nach unten und legt den Blick frei auf die wohl leckerste Morgenlatte, die ich je habe stehen sehen. Es rumort in meiner Hose. Vielmehr rumort der kleine Felix in Phillips Hose. Ich setze mich zu ihm aufs Bett, wir prosten uns zu, küssen uns und schlürfen gleichzeitig an unserem dunkelbraunen Gebräu. Ich stelle meinen Pott auf das Nachtschränkchen.

„Puh, hier riecht’s wie im Raubtierkäfig“, stelle ich naserümpfend fest.

„Und du bist mein Tiger“, lächelt Phillip mich an, legt sich zurück und zieht sich die Decke über den Bauch.

Ich streife mir die Jeans ab und schlüpfe aus dem Pullover. Dann öffne ich das Fenster weit und steige zu Phillip ins Bett, wo ich uns dann die Decke bis zum Kinn hoch ziehe.

So liegen wir eine ganze Weile, bewegen uns nur, um nach den Kaffeepötten zu greifen, daraus zu trinken und sie wieder abzustellen.

„Wie hast du das vorgestern eigentlich gemeint mit meinen Muskeln? Du konntest sie doch eigentlich gar nicht richtig sehen“, breche ich unser Schweigen.

„Ich bin vor dir da gewesen. Als ich vom Klo wieder in die Umkleide kam, bist du hereingekommen. Du hast mir auf Anhieb gefallen, da habe ich dich ein wenig beobachtet. Ich habe alle deine Muskeln gesehen.“ Phillips Lächeln ruft zu einer neuen Runde Männersex auf. Vorher stehe ich allerdings auf und schließe das Fenster. Die Luft ist jetzt frisch genug im Zimmer.

Zwei Orgasmen später fragt er mich in einer Knutschpause, wie spät es sei.

„Ach, schade, ich muss mich so langsam zum Aufbruch rüsten“, mault er, nachdem ich ihm die Uhrzeit von meinem Wecker vorgelesen habe. „Kann ich schnell bei euch duschen?“

Ich überlege kurz, ob ich mit ihm unter die Dusche springe, dann hätte ich noch länger was von ihm und seinem Körper und seinem Schwanz. Ich entscheide mich dagegen, lege ihm ein frisches Handtuch um die Schulter und schicke ihn allein zur Körperpflege.

Während Phillip duscht, träume ich mir das Erlebte von gestern Abend und der letzten Nacht bis heute Vormittag noch einmal vor. Ich sitze dabei nackt auf meinem Schreibtischstuhl und spiele an meiner Erektion. Das Bild erscheint in meinem Kopf, wo ich gestern Phillip in unserer Diele habe stehen sehen, wie wir uns stundenlang angeglotzt haben, ohne irgendetwas zu begreifen. Ich sehe mich neben ihm sitzen und die wissenden Blicke der anderen am Küchentisch. Ich höre noch einmal meine Zweifel mit den Wünschen diskutieren. Dann durchdenke ich den Sex, den wir gehabt haben, höre uns laut stöhnen, ja fast schreien. Ich sehe uns von oben in allen erdenklichen Stellungen in meinem Bett miteinander schlafen, sehe, höre, rieche unsere Lust. Warum habe ich grübelnd auf dem Klodeckel gesessen? Wovor habe ich Angst gehabt? Es ist alles so schön gewesen, hat sich so gut angefühlt, so richtig und wichtig.

Ich bemerke gar nicht, wie Phillip mein Zimmer betritt. Erst das Knarren einer Bodendiele reißt mich aus meinem Traum. Fast bin ich gekommen. Aber eben nur fast. Auch bei mir ist mal eine Grenze erreicht.

Phillip lächelt mich die ganze Zeit an, während er seine Strümpfe anzieht, dann seine Unterhose und sein T-Shirt. Er zieht wie selbstverständlich meine Jeans an und schlüpft in meinen Pullover. Ich beobachte ihn lächelnd.

„Was machst du heute?“, frage ich ihn.

„Hach, Familie“, sagt er seufzend als wäre er lieber hier bei mir im Bett geblieben. „Mum und ich gehen mit zu Andreas‘ Familientreffen. Wir sollen dort allen vorgestellt werden.“

Das habe ich doch so oder so ähnlich schon einmal irgendwo gehört. Andreas heißen ja bekanntlich viele. Das ist bestimmt ein anderer.

„Ich muss heute abend auch zur Familie“, sage ich ihm leicht traurig. „Komm doch morgen einfach wieder her!“

„Wenn ich darf?“ scherzte Phillip.

„Warum sollst du denn nicht dürfen? Darum geht’s auch gar nicht. Du musst. Ich möchte da mit dir weitermachen, wo wir aufgehört haben.“

„OK, ich weiß nur noch nicht, wie ich meiner Mum erkläre, wo ich hingehe“, sagt er leicht betrübt.

„Auweia! Weiß sie etwa noch nicht, dass du schwul bist?“

„Ich habe es ihr einfach noch nicht sagen können. Nie war ein richtiger Zeitpunkt.“

„Tja, wann ist ein Zeitpunkt der richtige für ein Coming Out vor der Mutter? Hoffentlich hat es Annabella vor gestern Abend schon gewusst. Sie war sehr gefasst.“

„Doch“, lacht er, „ihr habe ich es als einziger in der Familie gesagt. Sie weiß es fast von Anfang an.“

„Dann ist es ja gut“, seufze ich.

Mit einem feuchten Zungenkuss und dem Versprechen, sich etwas einfallen zu lassen, verabschiedet sich Phillip von mir und verlässt die Wohnung, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Vorher habe ich ihm noch meine Handynummer aufgeschrieben. Sicher ist sicher.

Ich bin verliebt. Hals über Kopf.


Siebzehn Uhr, ich klingele bei Susanne. Wir haben verabredet, dass ich erst zu ihr komme und wir dann gemeinsam bei der Sippschaft aufkreuzen. Nur so habe ich ihr sicherstellen wollen, dass ich mein Vorhaben nicht vorher aufgeben würde.

„Hei, Felix, komm rein. Ich habe Tee gekocht“, begrüßt mich meine Lieblingscousine. Ich umarme sie heftig.

Sie löst sich aus der Umarmung, hält mich mit beiden Armen auf Distanz und schaut mich zweifelnd an.

„Felix“, sagt sie mit ihrem typischen Susanne-Lächeln, „was ist los mit dir? Du strahlst als wärst du verliebt.“

Ich nicke nur.

„Warte, setz dich ins Wohnzimmer, das musst du mir erzählen“, bestimmt sie.

„Tach Großer“, ruft mir Hannes zu, als ich das Wohnzimmer betrete.

Ich lasse mich in die Sofalandschaft fallen und rufe zurück: „Hallo Hannes!“

„Was höre ich da, du bist verknallt?“ fragt Hannes neugierig.

„Hannes, geh bitte in die Küche und kümmer dich um den Tee, mein Schatz, ja?“ Wer kann Susanne schon einen einzigen Wunsch abschlagen, wenn sie ihn so charmant fordert? Das erkennt auch Hannes und verschwindet in der Küche.

„So, mein Lieber, dann erzähl deiner Lieblingscousine mal einen Schwank aus deinem Liebesleben“, sagt sie und setzt sich neben mich.

Ich erzähle ihr von Phillip, wie wir uns im Fitness-Studio begegnet sind, uns dann gestern ausgerechnet bei uns wiedergesehen haben und dass wir den schönsten Sex gehabt haben, den ich mir je vorgestellt habe. Wie üblich, habe ich vor ihr keine Einzelheiten ausgebreitet. Wie sie mich anlächelt, hat sie allerdings eine gewisse Vorstellung von richtig gutem Sex. Ich gebe ihr noch eine möglichst genaue Beschreibung und gerate aus Versehen ins Schwärmen.

Zwischendurch hat Hannes uns mit Tee versorgt und sich zu uns gesetzt.

Ich berichte gerade darüber, wie ich nach der ersten Runde mit Phillip zurück in die Küche gekommen bin und sich alle eine Zigarette angezündet haben.

Susanne schlägt sich auf die Schenkel und bekommt einen Lachkrampf, dass ihr die Tränen fließen. Auch Hannes kann sich kaum halten. Was mir am Vorabend extrem peinlich gewesen ist, erscheint mir rückwirkend derart komisch, dass ich mich von dem Gelächter Susannes und Hannes‘ anstecken lasse.

Erst als Susanne sich einigermaßen beruhigt hat und sich mit einem Taschentuch erst die Augen trocknet und dann die Nase putzt, gibt Hannes den Startschuss zum Aufbruch: „So, ihr Lachgänse, lasst uns aufbrechen, damit wir noch genügend zu essen abbekommen.“

„Werdet ihr euch wiedersehen?“, fragt Susanne schniefend.

„Gleich morgen nach dem Frühstück“, berichte ich freudestrahlend.

„Felix, ich freu mich total für dich. Mach was draus.“ Susanne, ich liebe dich, das weiß ich ganz genau.

Dann ziehen wir uns warm an und brechen auf.


Die Jahresendfestivitäten unserer Sippschaft finden traditionsgemäß bei Tante Edeltraud und Onkel Alfred statt. Sie sind die ältesten in der Generation meiner Tanten und Onkel und sie haben ein großes Haus, in dem wir alle Platz finden.

Soeben werden wir von Tante Edeltraud hereingebeten: „Frohe W…“ – Oh Gott, sie hat das Unwort gesagt, bevor wir im Hause sind! Ich schaffe es gerade noch, mir die Zeigefinger in die Ohren zu stecken. – „Meine Lieben, kommt herein. Schön, dass du auch gekommen bist, Felix, komm herein.“ Dabei schaut sie mich merkwürdig zweifelnd an.

Wir werden durch den Windfang in den Garderobenraum geführt, wo wir uns unserer Mäntel und Stiefel entledigen und mit Filzschlappen ausgestattet werden.

Dann betreten wir das große Wohnzimmer daneben und werden von allen Sippenmitgliedern begrüßt, wobei ich das Gefühl habe, von einigen Tanten wie ein Außerirdischer angestarrt zu werden. Ich kann mich des Drangs kaum erwehren, mich ihnen zynisch vorzustellen.

Meine Eltern sind auch schon da. „Oh, mein Sohn gibt sich die Ehre“, bringt es mein Vater auf den Punkt und umarmt mich.

„Hallo Felix, schön, dass du gekommen bist, hättest ja wenigstens noch zum Friseur gehen können“, begrüßt mich meine liebe Mutter milde lächelnd.

„Wen haben wir denn da?“, stürmt Tante Lisa auf mich zu, knufft mich in die Seite und lässt sich die erste unvermeidbare Frage zum Lieblingsthema aller Tanten nicht nehmen: „Zum Fest der Liebe alleine? Ohne Freundin?“

Ich verdrehe die Augen und lächle sie an: „Für so was habe ich keine Zeit, schon gar nicht so kurz vor Jahresende.“

Sie gibt sich damit zufrieden, will mir gerade ein Gespräch über das Studium und überhaupt an die Backe nageln, wird allerdings vom nächsten Umarmungswilligen unterbrochen.

„Mensch Felix! Schicker Pullover“, begrüßt mich Cousine Gesine und schüttelt mir gleich beide Hände.

„Was für ein Lächeln, mein lieber Schollie! Felix, mit diesem Augenaufschlag bringst du doch die Damenwelt reihenweise um den Verstand. Komm an meine Brust, schenk deiner alten Tante Elisabeth auch ein bisschen was von diesem Lächeln. Halt mich, dass ich nicht in Ohnmacht falle!“ Meine Lieblingstante stürmt auf mich zu und drückt mich atemlos.

Dieser Film ist definitiv nicht meiner, dennoch scheine ich hier die Hauptrolle abgegriffen zu haben. Nur gut, dass meine Onkel und Cousins weniger auf Körperkontakt und unsinnige Sprüche abfahren. So bringe ich die Begrüßungs- und Herzlichkeitsrunde in doppelter Geschwindigkeit hinter mich.

Zwischendurch tauchen immer mehr Verwandte auf. Mann, sind wir fruchtbar und zahlreich.

Dann wird die Unruhe im Raum schlagartig noch unruhiger.

„Jetzt kommt Andreas“, höre ich jemanden bedeutungsschwanger ausrufen.

Und tatsächlich steht mit einem Mal mein Onkel Andreas mit einer elegant gekleideten blonden Frau in der Tür. Für einen kurzen Moment atmen alle gleichzeitig ein. Andreas nutzt die Stille und verkündet: „Guten Abend, liebe Familie. Von drauß‘ vom Walde komm‘ ich her. Ich habe euch jemand mitgebracht: Diese junge Dame ist Katharina und irgendwo hinter uns quält sich Paul noch aus seinen Stiefeln.“

Die beiden lächeln, während sie von der Sippschaft eingehend beäugt werden. Aus dem Windfang höre ich nur die Geräusche, die jemand macht, der sich umständlich die Stiefel und seine Jacke auszieht.

„Mensch Paul, komm endlich rein, die werden dich schon nicht beißen!“, ruft Katharina in den Windfang.

Neugierig, wie ich nun einmal bin, stehe ich mit der versammelten Familie im Wohnzimmer und erwarte die vollzählige Ankunft und Begrüßung von Onkel Andreas‘ Errungenschaften. Geschmack hat er jedenfalls. Katharina ist eine äußerst hübsche große Frau mit einem ausgezeichneten Kleidergeschmack. Sie ist in ein elegantes, dabei nicht übergestyltes Kostüm gekleidet und trägt Pumps, deren Absatz gerade nicht zu hoch wirken. Immerhin kann sie mit den Teilen ordentlich gehen. Ihr Gesicht ist offen und freundlich. Ihr Lächeln ist ansteckend. Ihre grünen Augen ziehen mich in ihren Bann. Dazu ihre blonden Haare, leicht wellig und nett frisiert.

Gerade driften meine Gedanken ab zu den Erlebnissen der letzten Nacht. Ich sehe noch einmal deutlich, wie ein schlaksiger Junge durch die Wohnungstür schreitet, sehe kunstvoll verwuschelte blonde Haare.

Moment mal! Ich glaube ich habe ein Déjà-vu. Ich kralle mich an Susannes Ärmel fest, damit ich nicht umfalle. Phillip! Was macht der denn hier? Ich werde liebeskrank, sehe überall nur noch Phillip. Das kann nicht wahr sein. Er hingegen steht da und schaut mit seinen grünen Augen wortlos in meine Richtung.

„Was ist denn nun, Paul?“, fragt seine Mutter ungeduldig.

Ich fühle die Blicke aller anwesenden Familienmitglieder auf mich gerichtet und bemerke, wie sie daraufhin Phillip anstarren, dann wieder mich und so weiter. Susanne knufft mich in die Seite und raunt mir zu: „Benimm dich, Felix. Du frisst ihn noch auf mit deinen Augen.“

Das nehme ich mir auch fest vor, mich zu benehmen, nicht aus der Rolle zu fallen. Paul-Phillip wendet endlich seinen Blick von mir und schaut sich die anderen auch einmal schüchtern an.

Jetzt drehe ich mich zu Susanne und flüstere ihr ins Ohr: „Das ist er.“

„Wer?“, flüstert sie zurück.

Ich grinse sie nur an.

„Nein, sag, dass das nicht wahr ist“, seufzt sie und zieht mich weg von den umstehenden Onkeln, Tanten und meinen Eltern aus der Schusslinie.

Ich lasse mich von ihr in die Küche zerren, wo wir für den Augenblick alleine sind.

„Doch“, sage ich leise, „das ist genau meine Affäre der letzten Nacht!“

Susanne ringt nach Fassung: „Ich verstehe das nicht, hast du nicht vorhin gesagt, der hieß Phillip?“

„Das begreife ich ja selber nicht.“ Ich bin verwirrt. Wenn Paul nicht Phillip ist, bin ich reif für die Klapse. „Was mache ich denn nun?“

„Erst mal ruhig bleiben. Es nützt nichts, wenn du die Nerven verlierst“, rät Susanne.

Toll, als hätte ich das im Griff. Sie hat recht, ruhigbleiben hilft. Ich werde erst einmal so tun, als ob nichts sei, wenn es auch schwerfällt. Ich nehme mir allerdings vor, ihn mir nach dem Essen mal zu krallen und ihn auszufragen, den Paul!

Dann wird auch schon zum großen Fressen ins Esszimmer gerufen. Die Sippschaft strömt zusammen. Jeder bekommt ein Glas Sekt in die Hand gedrückt und wir stoßen alle und jeder mit jedem an, wobei ich mehrfach nach kleinen Freundinnen und Studienzielen gefragt werde und ich mehrfach etwas von fehlender Zeit für Mädchen erkläre und von Vorlesungen und Seminaren rede. Tante Elisabeth hakt mich unter, stößt mit ihrem Glas an meines: „Hach, fühle ich mich wohl, wenn ich mit einem so hübschen Mann einmal anstoßen darf.“

Am großen Tisch bin ich zwischen Susanne und meiner Mutter platziert. Mir schräg gegenüber sitzen Andreas, Katharina und mein geheimnisvoller Schwarm. Ich gebe mir Mühe, ihn nicht die ganze Zeit anzustarren. Ich muss ihn immer wieder anstarren. Ihm geht es wohl ähnlich. Paul. Phillip.

Soeben haben einige Tanten und Cousinen große dampfende Schüsseln auf dem Tisch verteilt: Rotkohl, Grünkohl, Kartoffeln, Klöße, Platten mit Gänsekeulen und –brüsten, Saucieren mit Bratensoße. Ein merkwürdiger Geruch wabert in meine Nase. Es riecht nach Verwesung mit Bratensoße. Ich greife zur Rotweinflasche und fülle mein Glas und Susannes und das meiner Mutter. Dann nehme ich erst einmal einen Schluck.

Es heißt das Fest der Liebe, was offenbar nicht für das arme Federvieh gelten soll, insbesondere nicht für fette Gänse. Mein Fest der Liebe sitzt so nah und doch so weit. Der Rotwein schmeckt mir.

Während die Schüsseln und Platten von einem zum anderen gereicht werden, schaue ich ganz bewusst nicht in Phillips Richtung. Mein Blick wandert durch ein üppig mit allem möglichen Zeug dekoriertes riesiges Esszimmer. Alles erstrahlt irgendwie in rot, weiß, silbrig golden und grün … Ich schaue Phillip ins Gesicht, er weicht meinem Blick aus, wendet sich zur Seite und spricht mit Onkel Andreas. Mein Glas ist leer.

Meine Augen verharren noch ein wenig bei ihm, dann wandern sie wieder über all das Zeug, dass mich als kleiner Junge immer so fasziniert hat und das ich jetzt mit ganzem Herzen verabscheue. Wieder treffen sich unsere Blicke kurz. So geht das nicht weiter. Ich fülle mein Weinglas und nehme einen großen Schluck.

Inzwischen ist mein Teller wie von Geisterhand mit Klößen, Rotkohl und einer Gänsekeule gefüllt worden. Wo darf ich mich jetzt mal übergeben? Susanne piekst mich in die Seite und raunt mir zu, während sie unsere Teller tauscht: „Nicht träumen, mein Süßer.“

Was für ein lieber Scherz meiner Lieblingscousine. Mir ist trotz Klößen mit Rotkohl der Appetit auf Essen vergangen. Ich will … und darf nicht. Susanne stößt ihr Glas gegen meins. Wir prosten uns zu.

Ein bisschen Hunger habe ich dann doch und esse Rotkohl und einen Kloß. Ich schiele zu Phillip hinüber. Der schaut weg. Ich trinke einen großen Schluck aus meinem Rotweinglas.

Von den Tischgesprächen bekomme ich nur wenig mit. Meine Mutter will nur die üblichen Quengeleien loswerden, die ich alle einsilbig kommentiere. Meine Ohren sind gespitzt in Richtung schräg gegenüber. Meine Finger umschließen das Weinglas.

Onkel Andreas erzählt gerade, wie er Katharina in seinem letzten Osterurlaub kennengelernt hat, wie sie wochenlang auf Nachrichten des jeweils anderen gewartet und wie sie über Umwege dann doch zueinander gefunden haben. Alles in allem eine schöne Romanze, über die sich Frau Pilcher sicherlich freuen würde. Ich nehme den letzten Schluck Wein.

Unaufgefordert wird mein Rotweinglas wieder aufgefüllt. Ein köstlicher Tropfen. Ich fühle mich insgesamt lockerer als noch zuvor. Nebenbei erhasche ich einen verstohlenen Blick von Phillip.

Meine Blase drückt. Ich stehe langsam auf. Vier Gläser Rotwein fordern ihren Tribut. Umständlich löse ich mich von Tisch und Stuhl und wanke leicht in Richtung Klo.

Ich sitze auf der Schüssel, erlöse mich von dem Blasendruck und denke nach. Was macht Phillip hier? Warum wird er von seiner Mutter Paul genannt und mir hat er sich als Phillip vorgestellt? Was ist das für ein Typ? Wer oder was auch immer er ist, er ist hübsch, ein Traum von einem Jungen. Er ist zart und weiß sowohl mit seinen Händen als auch mit seinen Lippen umzugehen, mit seiner Männlichkeit sowieso. Wer oder was er auch sein mag, er kann ganze Sätze sprechen, hat Humor und ein bezauberndes Lächeln. Ich habe mich in ihn verliebt. In ihn, seine blonden Wuschelhaare und diese grünen Augen.

Ich spüle, ordne meine Kleidung, wasche mir die Hände und öffne die Tür. Gleich werde ich von Phillip, der sich hektisch nach allen Seiten umsieht, ob er auch unbeobachtet sei, zurück in den kleinen WC-Raum geschoben. Ich glotze ihn verdutzt an und will ihn gerade fragen, ob er sie noch alle habe. Er legt seinen Zeigefinger auf meine Lippen: „Hschsch. Ich halte das hier nicht mehr aus.“

„Jetzt bin ich aber gespannt“, entgegne ich leise. „Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass du heute ausgerechnet hier auftauchst?“

„Ich wusste es doch auch nicht. Woher sollte ich wissen, dass Andreas dein Onkel ist?“ Er guckt mich mit diesen grünen Augen an. Ich lehne mich ans Waschbecken.

„Wieso Paul? Mir hast du gesagt, dein Name sei Phillip.“

Er lacht laut auf: „Phillip ist mein zweiter Vorname und der meines Vaters. Ich kann den Namen Paul nicht leiden, deswegen nenne ich mich privat immer nur so. Mum mag nicht, dass ich mich Phillip nenne. Das erinnert sie zu sehr an meinen verstorbenen Vater. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er ist kurz vor meiner Geburt gestorben.“ Grüne Augen können soooo traurig schauen.

Ich gebe ihm einen kurzen Kuss und schaue ihn nur an. Wir stehen uns gegenüber und schweigen, ich ans Waschbecken gelehnt, er ganz dicht vor mir.

„Meine Schwester heißt Katharina mit zweitem Namen, nach Mum“, sagt er dann lächelnd, lässt sich nach vorne fallen, umarmt mich und drückt seine Lippen auf meine. Wie lange wir unsere Zungen miteinander ringen lassen, weiß ich nicht. Zeit und Raum sind uns gerade jetzt und hier egal. Wir knutschen und streicheln uns wie zwei Verdurstende. Um uns herum ist nichts, nur Leere.

Zwischendurch nutzt er eine Knutschpause und flüstert mir ins Ohr: „Ich liebe dich.“

Ich nicke und säusele: „Ich dich auch.“

Dann schlecken wir uns weiter ab.

Schließlich lässt er von mir ab und fragt mich leise: „Was machen wir nun?“

„Wir müssen erst mal sehen, wie wir hier unentdeckt wieder rauskommen. Dann sehen wir weiter, was geschieht“, meine ich.

„Bitte lass es uns all den anderen noch nicht sagen, auch nicht meiner Mum oder Andreas. Das muss unter uns bleiben“, flüstert er.

Ich küsse ihn und nicke. Dann drehe ich langsam den Riegel der Klotür und drücke noch langsamer die Türklinke herunter. In Zeitlupe öffne ich die Tür und versuche, die Umgebung abzuchecken. In dem Moment, als wir beide vorsichtig den Raum verlassen und nach links weggehen wollen, vernehme ich die sonore Stimme meines Vaters: „Felix, wo steckst du denn die ganze Zeit? Was machst du mit …“

„Pappappa“, stottere ich und wage es nicht, ihn anzusehen. Er lässt mich nicht weiterreden und wirft mir vor, meine schmutzigen Finger wohl nicht einmal von der eigenen Familie lassen zu können. Was mir denn einfiele. Ich solle mich schämen.

Durch seine lauten Vorwürfe angelockt erscheinen meine Mutter und Tante Elisabeth. Mama versucht, ihren Mann zu beruhigen, er möge nicht so schreien. Die ganze Familie könne es sonst hören und was mitbekommen. Mit mäßigem Erfolg. Er wird nur noch lauter.

„Was ist denn los?“, fragt Tante Elisabeth.

„Ich habe sie erwischt!“, ruft mein Vater aus.

„Wobei hast du die beiden erwischt?“, fragt sie ungläubig. „Aus dem Alter gemeinsamer Onanie sind sie ja wohl raus mittlerweile.“

„Mach du dich nicht darüber lustig, dass mein Herr Sohn seine schmutzigen sexuellen Phantasien ausgerechnet hier und mit der eigenen Familie ausleben muss!“, wütet er sich in Rage.

Mittlerweile sind fast alle anderen herbei geströmt. Katharina steht plötzlich hinter ihrem Sohn und fasst ihn an den Schultern.

„Ach Jungs, ihr hättet wenigstens die Tür abschließen müssen“, wirft uns Tante Elisabeth vor und zwinkert mich lächelnd an.

„Die Tür war zu“, wage ich mit dünner Stimme zu sagen.

„Na, also“, ruft sie aus. „Was hast du gesehen? Wobei hast du sie erwischt, Gregor?“, zischt sie meinen Vater an. Ich starre meine unscheinbare alte Tante Elisabeth mit großen Augen an. Dann sehe ich zu Phillip hinüber, der sich gerade ein paar Tränen aus seinen Augen wischt. Katharina steht noch immer hinter ihm und hält ihren Sohn fest. Feuchte grüne Augen blicken mich ängstlich an.

„Eben, Gregor“, mischt sich meine Mutter ein, „es ist nichts passiert.“

Typisch. Es ist nichts passiert. Friede, Freude und so weiter. Wo man kein Problem will, ist auch keins. Uns hilft es gerade aus der Patsche. Die Auseinandersetzung ist beendet. Die Sippschaft verstreut sich wieder im ganzen Haus.

Zurück bleiben mein grimmig dreinschauender Vater, Tante Elisabeth, Katharina, meine Mutter, ich und Phillip.

„Sie waren beide zusammen da drin“, nörgelt mein Vater noch und deutet mit dem Zeigefinger auf die Klotür.

„Na und?“, bricht Katharina ihr Schweigen. „Was ist jetzt so schlimm?“

Nichts. Keiner sagt etwas. Tante Elisabeth lächelt mich und Phillip an. Sie erstaunt mich heute. Habe ich etwa eine Verbündete in dieser schrecklich netten Familie?

Sie hält mir eine Hand hin und die andere in Richtung Phillip. Der wird von Katharina losgelassen und greift zu. Tante Elisabeth zieht uns zu einem kleineren Tisch im Wohnzimmer und setzt sich auf einen von drei Stühlen. Mit den Augen fordert sie uns auf, es ihr nachzumachen. Auf dem Tisch stehen mehrere Sektgläser und ein Sektkühler mit zwei Flaschen. Sie fischt eine heraus, öffnet sie geschickt mit lautem Plopp und gießt drei Gläser voll. Zwei gibt sie uns, eins umfaßt sie selbst.

„Na dann, ihr zwei Hübschen. Auf die Liebe!“ Unsere drei Gläser klingen zusammen. Wir trinken.

Ich schaue in Phillips feuchte grüne Augen, ergreife unter dem Tisch seine Hand. Dann schaue ich fragend meine alte Tante an.

„Ach, Felix, wo du mich schon fragst. Ich hab es schon lange geahnt. Ich bin zwar alt, aber ich hab sie noch alle beisammen und ich kann noch gucken. Du bist einfach zu hübsch für die Frauenwelt. Du lächelst zu lieb.“

„Tante E …“, will ich protestieren.

„Schsch. Ich bin wahrscheinlich die einzige, die es bemerkt hat. Den anderen kannst du etwas vormachen, aber nicht deiner alten Tante Elisabeth! – Und nun zu dir, mein Lieber“, spricht sie Phillip direkt an. „Du wirst es bemerkt haben. Dieser junge Mann ist mein Lieblingsneffe. Er ist klug. Er ist charmant. Er ist verletzlich. Er ist mein Schatz. Leider hat er einen schwachsinnigen Vater und eine meiner Cousinen zur Mutter. Behandle ihn gut, sonst lernst du deine Tante Elisabeth kennen!“

Deine Tante Elisabeth. – Phillip bewegt den Mund, als wolle er etwas sagen. Es kommt aber kein einziger Ton heraus.

„Glotzt mich nicht so an. Ich sitze hier mit den beiden hübschesten Männern dieser Familie an einem Tisch. Lasst uns Spaß haben. Wer weiß, wie oft ich das noch kann. – Jetzt erzählt aber mal, was euch geritten hat. Immerhin seid ihr verwandt.“

„Wir sind uns vorgestern begegnet. Da wussten wir von unserer Verwandtschaft noch gar nichts“, beginne ich zu berichten.

Phillip und ich erzählen ihr dann jeder aus seiner Sicht unsere ganze kurze Geschichte. Unser Zusammentreffen im Fitness-Studio. Die kleine Fête in meiner Wohngemeinschaft. Wir sitzen stundenlang und trinken auch die zweite Flasche Sekt aus, reden die ganze Zeit und lachen. Besonderes Gelächter ruft der Teil der Geschichte mit den Namen Phillip und Paul bei Elisabeth hervor. Bis kurz nach Mitternacht haben wir drei uns massenhaft zu erzählen. Ich lerne dabei eine mir völlig unbekannte, verständnisvolle und kluge Tante Elisabeth kennen.

Schließlich kommen Katharina und Andreas an unseren Tisch und erklären Phillip, er möge sich anziehen, sie möchten dann gehen. Er nickt und als die beiden weg sind, stehen wir drei auf und umarmen uns im Kreis.

„Du hast wunderschöne Augen, Paul, weißt du das?“, erklärt Elisabeth und löst sich von uns.

Wir beide stehen noch einen kurzen Augenblick schweigend da, bis Phillip sich von mir freimacht und lächelnd „Wir sehen uns dann morgen“ verspricht. Ich deute einen Kuss an. Er dreht sich um und verschwindet.

Ich bleibe stehen und schaue ihm nach. Diese grünen Augen. Dieser unbeschreibliche Körper. Diese Wärme. Dieser Kerl.

„Was ist denn vorhin hier hinten losgewesen?“, unterbricht Susanne meinen Traum. Sie und Hannes kommen herbeigeschlendert.

Ich erzähle ihr, dass ich mit Phillip im Klo geknutscht habe und dass uns mein Vater beim Rauskommen gesehen und ein Riesenfass aufgemacht hat.

Susanne lächelt mich an und streicht mit ihrem Zeigefinger über meine Wange.

„Ach nein, wie süß. Muss Liebe schön sein. Hannes, wollen wir uns auch noch mal verlieben?“, dreht sie sich zu ihrem Mann um.

„In dich jederzeit, Hase!“, erklärt er ohne Zögern.

Dann brechen auch wir nach den üblichen artigen Verabschiedungen auf. Meine Mutter umarmt mich, nörgelt mir etwas wie „Das wäre doch nun wirklich nicht nötig gewesen“ ins Ohr und küsst mich auf die Wange. Meinen Vater kann ich nirgends entdecken. Auch gut. Pech gehabt.

Susanne und Hannes setzen mich bei mir zu Hause ab. Wegen des ganzen Weins und Sekts will ich mein Auto morgen bei ihnen abholen.


Mühsam erklimme ich die Treppen. Schon vor der Tür höre ich Musik aus unserer Wohnung.

„The day's too long

The day's too bright

Love me, love me to the end

this man pursues you

a dagger in his hands”

Basslastige Klänge dringen durch Markus’ Zimmertür in den Flur.

Liebe mich, liebe mich bis zum Ende. – Hach ja. Ich bin bereit. Meinetwegen braucht’s den Dolch aus dem Liedtext nicht, um mich von meiner Verliebtheit zu überzeugen.

Umständlich entledige ich mich meiner Stiefel und des Mantels, als sich die hintere Zimmertür öffnet und Markus mit seinem blassen Gesicht und diesem Busch schwarzer Zuckerwatte in den Flur tritt.

„N’Abend, Phönix. So spät noch auf der Pirsch?“, ruft er mir zu. Er darf mich so nennen. Auch dann, wenn ich mich so fühle, wie kurz vor der Auferstehung aus der Asche. Rotwein und Sekt sind zusammen keine gute Wahl, wenn man die Stunden nach deren Genuss betrachtet.

„Hallo Fledermaus. Du hier und nicht unterwegs, um harmlose Leute zu erschrecken?“, antworte ich ihm, leicht mit der Beweglichkeit meiner Zunge kämpfend.

„Ich habe Besuch“, spricht er salbungsvoll und verschwindet in der Küche. Ich folge ihm, brauche jetzt einen Schluck Süßes und vielleicht noch eine Tafel Schokolade.

Er kramt in einer Schublade und murmelt: „Mist, weißt du, wo das Feuerzeug ist?“

„Nein“, antworte ich, „ich rauche nicht.“

Er stellt sich hinter mich und schnüffelt an meinen Haaren. „Hmmm, du riechst nach Fleisch, nach frischem Fleisch.“ Dann beißt er mir in die Halsbeuge.

„Hey, mein Blut brauche ich selbst. Saug deinen Besucher aus“, lache ich und gehe auf Abstand.

Er findet das Feuerzeug und verzieht sich lächelnd in sein Zimmer.

„Fall down by my side

down in my arms

this night forever

no morning will come

Love me, love me to the end”, ertönt es aus seiner Gruft, während er die Tür hinter sich schließt.

Mit einer Flasche Limonade und einer Zweihundertgramm-Tafel Mandelschokolade schlendere ich in mein Zimmer.

Was war das für ein Tag! Da taucht mein blonder Traumprinz bei unserem Familientreffen auf und stellt sich als mein neuer, angeheirateter Cousin heraus. Wir werden von meinem Vater erwischt, als wir nach einer Knutschorgie gemeinsam das Gäste-WC verlassen. Der macht ein Fass auf, dass es auch ja jeder mitbekommt. Dabei will er doch eigentlich immer, dass ich mich vor der Sippschaft zurückhalte. Er will doch immer, dass ich einen wichtigen Teil meines Lebens vor allen anderen geheim halte. Und dann brüllt der so rum.

Gut, alle haben es wohl nicht mitbekommen vorhin. Nur meine Mama hat es mitbekommen, und Onkel Andreas, Tante Elisabeth und Phillips Mutter. Die anderen haben hoffentlich nicht so viel bemerkt, sie sind ja auch schnell wieder verschwunden gewesen.

Erstaunt hat mich danach unser Gespräch zu dritt mit Tante Elisabeth. Ich habe vorher gar nicht gewusst, was für eine liebe und nette Tante sie ist. Sie taucht allerdings recht selten auf solchen Familienfesten auf, so dass wir uns selten begegnen. Sie hat wohl ihre Gründe, die meinen nicht unähnlich sind.

Phillips Mutter hat sich übrigens gar nichts anmerken lassen. Sie ist aus dem Nichts erschienen, hat sich buchstäblich hinter ihren Sohn gestellt und ihn festgehalten. Eine tolle Mutter!


Am Vormittag klingelt mein Mobiltelefon. Schlaftrunken nehme ich das Gespräch an.

„Ach, Felix“, beginnt meine Mutter einen Monolog aus wohlmeinenden Vorwürfen und unterschwelligen Ratschlägen. Ich werde dabei langsam wach und maule ins Telefon: „Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, liebe Mama. Hast du auch so gut geschlafen?“

Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln und ob wir alle gut nach Hause gekommen seien, wobei sie alle Wörter, die ich für die Feiertage zu Unwörtern erklärt habe, benutzt, druckst sie ein wenig herum. Irgendetwas liegt ihr auf der Seele. Ich wähle den direkten Weg, es herauszufinden und frage sie, warum sie so stottere, was denn los sei.

„Ach, Felix“, seufzt sie ins Telefon, „dein Vater hat es nicht so gemeint. Er will sich bei dir entschuldigen.“

„Und warum macht er das nicht?“, frage ich leicht genervt.

Typisch, erst macht er ein Fass auf, dann schickt er Mama vor, die es dann wieder geraderücken darf.

Das mütterliche Telefonat endet mit den besten Wünschen ergebnislos.

Ich liege auf dem Rücken unter meiner Bettdecke. Das Handy liegt vor mir oben drauf. Eigentlich ist es zu früh, um wach zu sein. Weiterschlafen mag ich jetzt irgendwie auch nicht. Wenn doch jetzt Phillip neben mir liegen würde. Wenn ich ihn doch nur beim Schlafen noch ein wenig beobachten und ihn ansehen könnte, wenn sich diese grünen Augen öffnen.

Der kleine Felix erwacht und stellt sich auf bei den Bildern, die mir vor den Augen erscheinen. Ein leichtes Kribbeln und eine wohlige Wärme konzentrieren sich in meiner Körpermitte. Sie können sich nicht zwischen meinem Bauch und meinem harten Schwanz entscheiden. Um ein wenig Ordnung in mein Gefühlschaos zu bringen, reibe ich ganz langsam mit einer Hand meine feuchte Eichel. Ich liege einfach da und genieße diesen Reiz. Meine Gefühle konzentrieren sich an einer ganz bestimmten Stelle in meiner Körpermitte. Alles dort zieht sich zusammen. Die Gefühle werden zu einem, das sich verhärtet. Die Schwelle ist erreicht, es nicht mehr auszuhalten. Ich stöhne laut auf, dann breitet sich auch schon die warme, sämige Flüssigkeit über meine Finger und meinen Bauch aus und läuft mir zwischen die Beine. Ich beruhige mich nur langsam.

Schöne Sauerei. Ich setze mich langsam auf, wische mir die Hand und den Bauch mit einem herumliegenden T-Shirt ab und erhebe mich gemächlich. Nur in ein Handtuch gewickelt gehe ich leise zum Bad hinüber. Die Wohnung ist still. Die anderen schlafen wohl noch oder sind noch gar nicht zu Hause. Ich dusche heute gründlich und kämpfe wie üblich mit meinen Haaren. Vielleicht ist ein Friseurbesuch tatsächlich dringend angesagt.

Dann ziehe ich mir eine Schlabberhose und ein Sweatshirt an, gehe in die Küche und koche mir eine halbe Kanne Kaffee. Hunger habe ich noch keinen. Für den Augenblick wird mir der Rest der gestrigen Schokolade genügen.

Mit einem Kaffeepott, einer Schachtel Milch und der Kaffeekanne betrete ich gerade mein Zimmer, als mein Handy klingelt. Ich greife mit einer Hand danach und halte es mir ans Ohr.

„Hier ich, wer da?“, murmele ich das Gerät an.

„Guten Morgen Felix“, werde ich mit der süßesten Stimme begrüßt, die ich mir an einem solchen Morgen vor dem ersten Kaffee wünschen kann. Ich stelle das Tablett mit dem Minimalfrühstück neben das Bett und setze mich in meinen kalten Bauern.

„Ihgitt!“, entfleucht es mir.

„Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören“, lacht Phillip. „Ich frage jetzt besser nicht, was gerade passiert ist.“

„Guten Morgen Paul“, kichere ich.

„Phillip! Nenn mich bitte Phillip!”, zetert er süßlich.

„Naaa, gut nach Hause gekommen, heute Nacht?“

„Oh ja, und wir haben noch die ganze Nacht zusammengesessen und gequatscht.“

„Gequatscht? Worüber?“, will ich aufgeregt wissen.

„Worüber wohl! Über mich und über uns.“

Wir schweigen. Er ist gut drauf, hört sich an, als sei alles in bester Ordnung.

„Ich habe mich heute Nacht vor Mum und Andreas geoutet“, sagt er erleichtert.

„Oh“, ist alles, was mir spontan einfällt.

„Naja, das war jetzt nicht wirklich schwer. Sie haben ja alles lautstark mitbekommen. Tante Elisabeth ist echt ‘ne tolle Frau. Die würde ich gern öfter sehen.“

„Das kannste haben, ich weiß, wo sie wohnt. Jetzt erzähl aber mal. Was war noch?“ Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen.

„Eigentlich war ich ja ziemlich müde und reichlich besoffen von dem ganzen Sekt. Ich trinke doch sonst gar nichts. Aber Mum wollte unbedingt noch mit mir reden. So haben wir uns beide an den Küchentisch gesetzt. Das ist auch früher in der alten Wohnung immer unser Ort gewesen zum Reden.“ Phillip holt tief Luft.

Dann sprudelt es aus ihm heraus: „Wir haben also an unserem runden Tisch gesessen. ‚So mein Junge, was war das denn vorhin für ein Aufstand mit Felix und seinem Vater?‘, hat sie mich gefragt.

Ich habe ihr erklärt, dass er uns gesehen habe, wie wir aus dem Klo gekommen sind.

‚Was habt ihr denn da zusammen gemacht?‘, wollte sie natürlich wissen.

Mann, ist mir das peinlich gewesen. Ich glaube, ich bin voll rot geworden. Auf jeden Fall konnte ich sie nicht angucken. Sie hat mich aber die ganze Zeit angesehen. Dann habe ich ihr erzählt, dass wir einfach ein paar Minuten alleine sein wollten.

Sie hat dazu nichts gesagt, mich nur irgendwie komisch angelächelt und ihren Arm quer über den Tisch gelegt. Ich habe dann ihre Hand gegriffen und erst mal nichts gesagt. Erst als sie meine Hand gedrückt hat, habe ich ihr zugeflüstert, dass wir uns geküsst haben. Die ganze Zeit hat sie mich angelächelt. Das war echt merkwürdig. Ich weiß gar nicht, wovor ich die ganze Zeit Angst gehabt habe, es ihr zu sagen.

Dann fragte sie: ‚Liebst du ihn?‘ und ich habe einfach nur ‚ja‘ gesagt und die Nase hochgezogen.“ Phillip schweigt.

„Und Onkel Andreas?“, frage ich.

„Andreas? Der hat die ganze Zeit stumm irgendwo in der Küche gestanden und uns zugehört. Der hat mir dann ein Taschentuch für meine Nase gegeben“, sagt er zögerlich.

„Dann habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen“, fährt er fort, “und habe zu ihr gesagt ‚Mum, ich bin verliebt und ich bin schwul.‘

Sie drückt wieder meine Hand und sagt: ‚Paul, das weiß ich doch schon lange.‘

‚Woher‘, wollte ich von ihr wissen. ‚Hat meine Schwester was gesagt?‘

‚Ach, die weiß es wohl auch schon? Nein, mein Sohn, ich weiß es einfach.‘

Dann sind wir beide aufgestanden und haben uns umarmt. Ich glaube ich habe einfach so losgeheult.“ Phillip zieht die Nase hoch.

„Du hast echt eine tolle Mutter, weißt du das? Wie sie sich hinter dich gestellt hat und einfach nur für dich da war“, meine ich bewegt.

„Ich weiß“, gibt er zu. „Ist dein Vater eigentlich immer so laut?“, will er schließlich schüchtern wissen.

„Keine Angst, erst schreit er und dann schweigt er meistens.“ Ich erzähle ihm kurz von dem Anruf meiner Mutter. Wir lachen beide.

Im Hintergrund höre ich Katharinas Stimme.

„Felix?“, setzt Phillip an.

„Ja?“, fordere ich ihn auf.

„Felix, meine Mum möchte gern, dass du zu uns kommst und mit uns Mittag isst. Kann auch später werden, es ist ja schließlich schon fast zwölf. Hast du Lust?“

„Gerne“, rufe ich aus, „ich trinke nur noch meinen Kaffee aus und mache einen ordentlichen Menschen aus mir. Dann komme ich gerne. Gib mir mal eure Adresse.“ Ich freue mich außerordentlich, Phillip wiedersehen zu können. Er sagt mir die Adresse und wir beenden das Telefonat mit einem gleichzeitigen lauten Knutschgeräusch.

Hach, ich fühle mich pudelwohl. Ich möchte laut singend durch mein Zimmer hüpfen, nein, durch die ganze Wohnung.

Ich habe mir vorhin einen runtergeholt und dabei an Phillip gedacht.

Ich habe geduscht und mir vorgestellt, dass Phillip mich einseift.

Ich habe mit Phillip telefoniert und mit ihm gelacht.

Ich trinke meinen Kaffee und stelle mir vor, wie es sei, wenn Phillip jetzt neben mir säße und dasselbe täte.

Kurz: Ich bin gerade der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Ich bin verliebt. Und wie!


Nachdem ich mich ordentlich angezogen und frisiert habe, verlasse ich die Wohnung mit einer Flasche guten Rotweins, die ich noch schnell in eine quietschbunte Flaschentüte gesteckt habe. Zuerst fahre ich mit dem Bus, um mein Auto abzuholen, das noch vor Susannes Wohnhaus steht. Phillip wohnt nicht weit entfernt. Ich brauche insgesamt mehr Zeit, einen neuen Parkplatz zu finden als ich benötigt habe, um hierhin zu fahren.

Erwartungsfroh drücke ich den Klingelknopf. Es summt, ich drücke die Tür auf und folge meinem vorwegeilenden Herzen im Laufschritt die Treppe hoch.

Mein Onkel Andreas steht in der geöffneten Wohnungstür und bittet mich lächelnd herein: „Schön, dass du kommen konntest, du Schlimmer, du. Deine Eltern sind auch schon da.“

Ich erstarre zur Salzsäule. Was sagt er da? Sämtliches Blut verlässt mein Gesicht. Wer ist schon da? Ich möchte auf der Stelle unsichtbar werden.

Er lacht: „Quatsch, komm rein, wir sind nur zu viert.“

Ich atme tief ein und wieder aus. Das Leben kehrt langsam zu mir zurück und übernimmt wieder meine Körperfunktionen.

„Ach Andreas, du und deine Scherze. Du verunsicherst den armen Jungen doch nur. Er hätte fast den guten Wein fallenlassen“, vernehme ich Katharinas Stimme. Sie kommt aus dem hinteren Wohnungsteil in den Flur auf mich zu und erklärt mir: „Zieh dir erst einmal den Mantel und die Stiefel aus. Ich bin ganz gespannt, meinen neuen Schwiegersohn kennenzulernen. Gestern hatten wir ja keine Gelegenheit.“

Ich befreie mich also von den Winterklamotten und werde augenblicklich von Katharina in den Arm genommen. Andreas grinst immer noch über seinen kleinen Scherz und umarmt mich ebenfalls kurz.

Dann erscheint Phillip im Flur. Ich stehe da und starre ihn an. Ich bin zu keiner Regung fähig. Er bleibt dicht vor mir stehen und sagt: „Hallo Felix.“

Mehr als „Hallo Phillip“ bekomme ich nicht heraus.

„Ist das eine Begrüßung unter frisch Verliebten?“, vernehme ich Katharinas Stimme aus weiter Ferne. „Mindestens einen Kuss will ich jetzt sehen. Ihr wisst doch, wie das geht?“

Da ich immer noch wie angewurzelt stehe, küsst mich Phillip. Nicht nur schnell so mal eben, sondern richtig lange. Einen Tanz unserer Zunge trauen wir uns dann doch nicht unter der Beobachtung seiner Mutter und meines Onkels. Ich werde schließlich wieder wach und folge Phillip ins Esszimmer. Der Raum ist nur spärlich mit jahreszeitlich üblichem Tand geschmückt. Zumindest steht hier nicht so ein behängter und beleuchteter Teil eines Nadelwaldes rum, was mich sehr beruhigt.

Katharina und Phillip setzen sich an den Tisch, während Andreas in der Küche verschwindet. Ich frage noch, ob ich helfen könne, werde aber von Katharina aufgefordert, mich zwischen sie und Phillip zu setzen. Kaum sitze ich, greift Phillip nach meiner Hand. Wir halten uns fest. Wir gehören einfach zusammen.

„Ich hoffe, du magst Nudeln“, sagt Katharina unvermittelt, als Andreas mit vier großen Tellern den Raum betritt. „Ich habe zwei Soßen gemacht, eine mit Filetstückchen und einen Pesto. Paul hat mir gesagt, dass du kein Fleisch magst.“

Ich nicke: „Ja gerne, ich liebe Nudeln.“

Andreas bringt Besteck, zwei Schüsseln mit Soße und die Nudeln herein. Dann setzt er sich zu uns.

„Felix“, beginnt er, „ich kenne dich, seit du ein kleiner Hosenscheißer warst. Ich kenne dich als einen meiner Neffen. Ich war mit zu deiner Einschulung. Was gestern geschehen ist, hat mich verblüfft. Sei dir sicher, ich bin froh, dass Paul an dich geraten ist.“

„Nun ist aber gut, lasst uns essen“, unterbricht ihn Katharina.

Während des Essens unterhalten wir uns über alles mögliche. Katharina will alles über mich wissen. Ihr gelingt es, mich restlos auszufragen. Endlich mal jemand, dem ich nicht nur sage, dass ich Vorlesungen und Seminare besuche und Punkte sammele. Katharina zeigt wirkliches Interesse an mir und meinem Studium. Sie hat selbst studiert, wie sie mir erklärt.

Nach den Nudeln gibt es riesige Portionen Mousse au Chocolat. Woher weiß sie nur, dass ich mich für Schokolade strafbar machen würde? Mütterlicher Instinkt wahrscheinlich. Am Ende bin ich völlig satt. Ich fühle mich hier wohl: links der Junge, den ich liebe, rechts die wohl beste Mutter der Welt und mir gegenüber mein Onkel Andreas, der immer für einen Scherz zu haben ist.

„Felix“, erklärt Katharina, „ich bin sehr glücklich, dass ich dich näher kennenlernen durfte. Ich bin sehr glücklich, dass ihr beide, Paul und du, zusammengefunden habt. Ich werde noch viel glücklicher, wenn ich weiß, dass ihr zwei immer für einander da seid, euch beisteht, wann immer es notwendig ist. Wenn ihr mal nicht mehr weiter wisst, wisst ihr jedenfalls, wo ihr hinkommen könnt: zu uns. Ich habe Paul schon aus manchen Situationen wieder rausgeholfen. Das werde ich auch künftig so halten. Und das gilt jetzt auch für dich, Felix.“

Ich bekomme ganz feuchte Augen.

„Aber über eines sei dir von vornherein im klaren, mein Lieber“, droht sie mir fast. „Ich liebe meinen Sohn über alles. Nichts aber auch gar nichts kann dieser Liebe je etwas anhaben. Ich gewähre ihm sämtliche Freiheiten, die er braucht, damit ein anständiger Mann aus ihm wird. Ich habe ihn geboren und habe ihn alleine groß bekommen. Ich habe ihm beigebracht, selbst zu denken und für alles, was er tut, die Verantwortung zu übernehmen. Ich möchte einfach sichergehen, dass er sein Leben im Griff hat, dass er erkennt, wo es langgeht und dass er für das kämpft, was ihm wichtig ist. Ich glaube, das weiß er auch.

Ich kann aber auch zu einer wahren Klucke werden, wenn ich merke, dass ihm einer was antun will.“ Andreas nickt wissend. „Wer meinem Paul weh tut, tut mir weh. Und wer mir weh tut, lernt mich kennen. Das meine ich ernst!“ Phillip errötet leicht.

„Bevor ich mich hier in Rage rede, Andreas, holst du mal bitte den Sekt. Den guten für ganz besondere Anlässe.“

Was für eine Frau.

Eh die Stille unangenehm wird, kommt Andreas mit vier gefüllten Sektgläsern herein, drückt uns jedem eins in die Hand und sagt: „Auf die Liebe, auf euch und auf uns.“

„Auf die Liebe“, ruft Katharina.

„Auf die Liebe“, sagen Phillip und ich zugleich.

„Auf uns“, rufen wir, während wir unsere Gläser zusammenstoßen.

„Was habt ihr zwei Hübschen heute noch vor?“, will Katharina wissen.

„Eigentlich haben wir uns gar nichts weiter vorgenommen“, antworte ich, was glatt gelogen ist. Mütter müssen nicht in jede Einzelheit eingeweiht werden. „Vielleicht fahren wir mal zum Schloss und schauen, ob die Buden noch aufgebaut sind. Die haben da leckeren Glühwein dieses Jahr.“

Phillip lächelt mich nickend an: „Auja. Und ich kaufe dir ein Herz mit Ich liebe dich drauf!“

Lachend kneife ich ihn in den Po.

„Dann wollten wir zu mir nach Hause in die WG“, schlage ich vor. Phillip schaut mich lüstern an.

„Okay, dich werden wir dann heute wohl nicht mehr sehen, Paul“, errät Katharina unseren Plan und zwinkert uns zu. „Ihr seid beide alt genug. Ich gehe davon aus, dass ihr wisst, was ihr tut und besser was ihr bleiben lasst.

Ich bitte euch nur als treusorgende Mutter: Passt auf euch auf. Felix, du weißt bestimmt, was ich meine.“

Mein Gesicht wird heiß und färbt sich zur Tomate. Phillip geht es nicht anders.

„Oh“, lacht Katharina laut auf, während sie uns anschaut, „daran habe ich jetzt gar nicht gedacht. Ich meinte eigentlich, dass du nicht so viel Glühwein trinken sollst, wenn du dann noch Auto fährst.“

Erwischt! Wir brechen alle in ein befreiendes Gelächter aus.

Danach reden wir noch eine ganze Weile über dieses und jenes. Phillip beginnt irgendwann, unruhig auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er will wohl gehen.

Wir verabschieden uns also zügig von Andreas und Katharina und fahren ohne Umweg direkt zu mir. Nach den kulinarischen Genüssen steht uns beiden nun der Sinn nach etwas handfestem.


„In the midnight hour, she cried more, more, more

With a rebel yell, she cried more, more, more

In the midnight hour, babe, more, more, more

With a rebel yell, more, more, more”

Gitarrenriffs brüllen uns entgegen, als ich die Wohnungstür zur WG aufschließe. Wir ziehen unsere Mäntel und Stiefel aus und gehen in die Küche.

Dort sitzen Tim und Markus am Tisch und sind gerade dabei, sich ordentlich die Kante zu geben. Zwei Flaschen Rum liegen schon leer auf dem Boden, in einer dritten Flasche auf dem Tisch fehlt auch schon die Hälfte.

„Hey, ihr süßn Zuckaschnutn“, lallt Tim und winkt uns heran, „Kommtreinuntrinktmituns.“

„With a rebel yell, he cried more, more, more, more, more, more!”, grölt Markus ebenso laut wie falsch.

„Aha, so weit sind wir also schon“, stelle ich fest, „unsere Fledermaus singt. Was gibt’s zu feiern?“

„Uns“, ruft Tim, „wirfffeiern unsundie Liiiiebe.“ Er fuchtelt dabei gefährlich mit seinem halbvollen Glas. „Samma Schätzschn. Was hassu uns dnnda fürein Früschtschn mittebracht?“ Dabei deutet er so ziemlich in Phillips Richtung. „Isdasnich der kleine Brudavonabella?“

Markus dreht eine Tüte. Er versucht es zumindest. Am Ende landet genauso viel Gras auf dem Boden wie im Papier: „Wollt ihr mitfeiern?“ Seine Aussprache lässt nichts an Klarheit vermissen. Entweder hat er kaum was von dem Rum getrunken oder er hat einfach seinen Wohlfühlpegel erreicht. Ich denke, eher letzteres, sonst würde Tim sicherlich nicht mehr atmen.

Phillip schaut mich unsicher an. Ich entgegne: „Nee lasst mal, wir nehmen uns ein bisschen was zu trinken und verschwinden in meinem Zimmer.“

„Rischtisch, mein Lieba! Ihrseid nochjungun nüschten. Wir krieng heute bestümpkeimehrein, hoch, meinich. Undüber Sex redn ist wiejüba Atomfü siktanzn. Sachmein Oppa.“ Tim hat seine Zunge definitiv nicht mehr im Griff. Er und Markus brüllen vor Lachen. Phillip und ich verziehen uns besser.

In meinem Zimmer angekommen, kann ich gerade noch die Getränke und die Gläser irgendwo abstellen, weil Phillip mir sofort um den Hals fällt und mir seine Zunge zwischen die Lippe schiebt. Ich weiß erst gar nicht, wie mir geschieht, steige jedoch mit ein.

Wir stehen mitten im Raum und knutschen. Unsere Hände gehen wieder auf Wanderschaft. Ich taste jeden Quadratzentimeter von Phillips Haut ab und spüre seine warmen Hände überall auf meinem Rücken, meinem Bauch, meinen Hüften.

Kaum schaffen wir es, uns voneinander zu lösen, um uns die Pullover von den Leibern zu zerren. Als schließlich unsere beiden Hosen runterrutschen, stolpern wir direkt ins Bett. Mit den Füßen strampeln wir uns gegenseitig die Jeans von den Füßen. Wir denken nicht einmal daran, unsere Lippen und Zungen voneinander zu lösen.

Nackt wälzen wir uns über- und untereinander durch mein Bett. Wie gut, dass ich es heute Vormittag nicht neu bezogen habe. Das wäre jetzt eh sinnlos. Wir haben Sex. Wilden, ungezügelten, heftigen Sex. Keine Körperregion des anderen bleibt von unseren Fingern, Lippen und Zungen unberührt.

Wir lassen uns treiben, durch die Wellen unserer Gefühle und von einem Orgasmus zum nächsten. Wir geben erst atemlos auf, als vier benutzte Kondome im Zimmer verteilt liegen und unsere Körper völlig verklebt sind von einer Mischung aus Schweiß und Sperma.

Wir liegen eine Weile stumm auf dem Rücken nebeneinander. Aus der Küche dröhnt noch immer laute Rockmusik. Das habe ich bis eben gar nicht mehr wahrgenommen.

Jetzt beschließe ich, nach meinen beiden volltrunkenen Mitbewohnern zu sehen. Ich ziehe mir nicht einmal was über, sondern gehe einfach so in die Küche. Dort sitzt Tim gefährlich schräg auf seinem Stuhl. Seinen Kopf hat er vornüber gebeugt und ihn auf seine verschränkten Arme gelegt. Er schläft wohl.

Markus scheint es irgendwie geschafft zu haben, die Küche zu verlassen. Ich sehe in seinem Zimmer nach. Dort liegt er auf dem schwarzen Teppich auf dem Rücken und schnarcht gleichmäßig. Ich schließe leise seine Zimmertür, kehre zurück in die Küche, schalte den CD-Spieler aus und hole aus meinem Kühlschrankfach eine Tafel Nuss-Nougat-Schokolade. Damit kehre ich zurück in mein Zimmer.

„Na, alles klar?“, will Phillip wissen. „Wie spät ist es eigentlich? Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren.“

„Es ist kurz nach zehn“, erkläre ich und lege mich zu ihm ins Bett. „Schau, was ich uns Süßen mitgebracht habe.“ Ich schwenke die Schokolade vor seinen Augen hin und her.

„Die letzte Nacht war kurz. Ich bin müde“, säuselt er mir ins Ohr.

Ich packe die Schokolade aus, breche einen Streifen von der Tafel ab und stecke ihn mir in den Mund, so dass zwei Drittel noch herausragen. So wende ich mein Gesicht seinem zu und schiebe ihm die Süßigkeit zwischen seine Lippen hindurch in seinen Mund. Er schließt die Augen. Wir küssen uns, während wir die Schokolade zerkauen. Wir knutschen noch ein bisschen länger und kuscheln uns aneinander. Ich drapiere meine große Decke über uns. An Phillips gleichmäßigem Atem erkenne ich schließlich, dass er eingeschlafen ist. Ich küsse noch seine Stirn und flüstere „Gute Nacht, mein Schatz.“ Dann schalte ich die Nachttischlampe aus und schlafe ebenfalls langsam ein.

Irgendwann werde ich von einem Poltern wach, höre Struppies Stimme schimpfen und Tims lamentieren. Ich mache das Licht an. Dann vernehme ich ein deutliches Röcheln und das Geräusch, wie sich jemand in die Kloschüssel übergibt. Aha, Struppie ist heimgekehrt und entsorgt gerade seine Lieblingsschnapsleiche.

Ich drehe mich zu Phillip um. Der liegt auf der Seite eingerollt mit dem Gesicht zu mir. Er sabbert ein bisschen und lächelt dabei mit geschlossenen Augen. Er träumt bestimmt. Vielleicht von mir? Er sieht so süß aus beim Schlafen, dass ich ihn noch eine Weile beobachte, bevor ich das Licht wieder ausmache und mit dem Bild meines träumenden Prinzen im Sinn weiterschlafe.

Das Gefühl ist unbeschreiblich, zu zweit verliebt in einem Bett zu schlafen.


Noch besser fühlt es sich an, wenn du wach wirst und bevor du die Augen öffnest, spürst, dass dich jemand beobachtet.

„Sieh mich nicht so an, wenn ich schlafe“, murmele ich, „küss mich lieber wach.“

Ich fühle seine Lippen auf meiner Stirn, dann auf einer Wange, auf der Nase und schließlich auf dem Mund.

„Du bist so süß, wenn du schläfst“, flüstert Phillip mir ins Ohr.

„Ach was“, sage ich scharf und ich öffne schnell die Augen, „und wenn ich nicht schlafe?“

Phillip erstickt meinen Protest mit einem langen Kuss. Ist der lieb so früh am Morgen! Ich seufze.

„Hast du gut geschlafen?“, will er wissen.

„Oh, ja, das habe ich.“ Ich kuschele mich an ihn heran.

„Du hast im Schlaf gesprochen heute Nacht“, verrät er mir.

„So? Was habe ich dir denn erzählt?“, tue ich unwissend. Er ist nicht der erste, der mir das sagt.

„Leider nichts sinnvolles. Es muss aber komisch gewesen sein, so wie du gekichert hast.“

Diesmal bringe ich ihn mit einem Kuss zum Schweigen.

„Ich will jetzt unbedingt duschen, kommst du mit?“, frage ich Phillip.

„Eine gute Idee, ich rieche wie ein Puma“, stimmt er mir zu.

Wir stehen auf, ich gebe ihm zwei große Handtücher aus meinem Schrank heraus und tatsche mit der flachen Hand auf seinen nackten Po, auf dass er das Zimmer Richtung Bad verlassen möge.

Im Bad steige ich gleich in die Duschkabine und drehe das Wasser auf. Als ich die Temperatur für angenehm halte, winke ich Phillip zu mir. Er steigt mit unter das wärmende Wasser. Oh Gott, der kleine Phillip ist gar nicht mehr so klein und steht leicht schräg nach oben ab. Wir duschen nicht einfach nur, um sauber zu werden. Nein, wir entledigen uns auch unseres Drucks in der Lendengegend. Duschgel glitscht so schön. Dadurch dauert der Spaß länger als geplant, wir verplempern mehr Wasser, als uns lieb ist. Das ist uns allerdings egal. Wir haben Spaß und duften gut danach.

Wir wickeln uns nur die Handtücher um die Hüften und verlassen das dampfende Badezimmer. Die Lüftung hat heute mal wieder viel zu tun.

In der Küche treffen wir auf Struppie. Er sitzt am Tisch in seinem bunten Bademantel und krallt sich an einem halbvollen Kaffeepott fest. Er stiert unglücklich vor sich hin.

„Moin Struppie, was ist denn mit dir?“, frage ich besorgt.

„Guten Morgen, ihr Süßen“, begrüßt er uns, ohne aufzusehen. „Ach, ich war gestern bei meinen Eltern. Gänsebraten essen. Ohne Tim. Ich weiß auch nicht, warum ich jedes Jahr wieder hingehe, obwohl ich Tim nicht mitbringen darf. Sie haben es immer noch nicht akzeptiert. Und ich lasse mich jedes mal breitschlagen, am ersten Feiertag bei ihnen aufzuschlagen. - Aber lasst euch von mir nicht die gute Laune verderben.“

Ich befülle die Kaffeemaschine und schalte sie ein. Dann setze ich mich neben Struppie und lege meinen Arm um seine Schultern.

„Wie geht es Timmi?“, will ich wissen. „Ich habe euch heute Nacht gehört.“

„Herrjeh, war der voll“, seufzt er. „Er hat sich die Seele aus dem Leib gekotzt, der Arme. Ich hatte Mühe, ihn über der Schüssel zu halten. Er ist ständig weggenickt beim Kotzen. Ich hätte ihn nicht alleine lassen sollen. Markus kann nicht gut auf ihn aufpassen. Er schläft wie ein Brett diagonal im Bett.“

„Mach dir keinen Schädel. Timmi ist robust. Ein paar Kopfschmerzpillen und es geht ihm wieder gut, wenn er wach ist“, versuche ich Struppie zu beruhigen.

„Ich geh jetzt wieder ins Zimmer. Habt viel Spaß mit euch“, spricht er, erhebt sich und schlurft mit hängendem Kopf aus der Küche.

Die Kaffeemaschine rülpst und prustet. Der Kaffee ist durch. Ich entnehme dem Kühlschrank alles geeignete für ein Frühstück, stapele es auf einem großen Tablett. Dann drücke ich Phillip, der geduldig neben mir steht und wartet, Besteck, zwei Teller und zwei Kaffeepötte in die Hand und scheuche ihn lieb in mein Zimmer. Ich trage das Tablett mit dem Frühstück und die Kaffeekanne hinterher.

Wir stellen alles auf der Bettdecke ab, werfen die Handtücher von uns und setzen uns nebeneinander vor unser erstes richtiges gemeinsames Frühstück.

„Ich liebe dich“, flüstert mir Phillip ins Ohr und knabbert leicht daran.

„Ich liebe dich auch“, erwidere ich und küsse seine Halsbeuge.

Er schnurrt und wir beginnen zu frühstücken. Als wir fertig sind, bringen wir nur schnell die Reste und das Geschirr zurück in die Küche und lümmeln uns dann wieder zusammen unter meine Bettdecke.

Wir beschließen, das Bett heute auf keinen Fall vor dem Abendbrot zu verlassen. Wir kuscheln stundenlang. Wir schmusen stundenlang. Wir knutschen. Wir haben Sex.

Zwischendurch ruft Phillip seine Mutter an, um sie zu informieren, dass er auch heute nicht nach Hause käme. Dann beschäftigen wir uns wieder mit uns.

Am Abend beschließen wir, irgendwo etwas essen zu gehen.

Die Nacht verbringen wir wie die vorige. Nicht ganz, mein Kondomvorrat ist erschöpft. Wir versuchen es daraufhin erfolglos mit reden und landen schnell wieder übereinander und ineinander verhakt.

Am nächsten Morgen wache ich zuerst auf. Phillip liegt neben mir und schnarcht leise. Er ist verliebt und ich bin es auch, bis über alle vier Ohren.

So endet unser Fest der Liebe. Es geht auch ohne dieses Jahresendgedöns und ohne, dass man unnütze Wörter darüber verschwendet. Wörter sind Schall und Rauch. Bettwäsche kann man waschen.


verwendete Auszüge aus folgenden Liedtexten:

Gloria Gaynor: „I Am What I Am“ (Owen, Mark, EMI Music Publishing)

Wham!: „Last Christmas” (Kooreneef, Michael, Wham Music Limited)

Cutting Crew: „(I Just) Died in Your Arms Tonight” (Eede, Vallance, Sony/ATV Music Publishing (UK) Limited, Almo Music Corp., Testatyme Music)

Deine Lakaien: „Love Me To The End” (Horn, Veljanov, Chrom Records)

Billy Idol: „Rebel Yell” (Stevens, Idol, Warner/Chappell Music, Inc., BMG Rights Management US, LLC)

Lesemodus deaktivieren (?)