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Post Fabula - Die Wahrheit ist ein Märchen

Eine Serie

Folge 2 - Erste Gefahr

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Informationen

 

Gerade mal noch vor einem Monat und wenigen Tagen waren wir eine ganz normale Wohngemeinschaft junger Leute gewesen. Da war Nina, die hochbegabte Studentin mit einem Intelligenzquotienten von über 150 Punkten, Tom, der eine Ausbildung zum Schlosser machte und ich, Alex, der seine Brötchen mit kleineren Schreibarbeiten verdiente. Das Haus in dem wir wohnten war mein Eigentum. Ich hatte es von meinen Eltern geerbt, die bei einem Autounfall leider viel zu früh ums Leben gekommen waren. Nachdem ich einige Zeit alleine gelebt hatte, kam ich auf die Idee, mir Mitbewohner zu suchen und eine WG zu gründen. Nicht nur aus finanzieller Sicht war das einer meiner besseren Einfälle. Meine beiden Mitbewohner und ich ergänzten uns nämlich auf so perfekte Weise, dass in den zwei Jahren unseres Zusammenlebens eine tiefe Freundschaft zwischen uns entstanden ist. Nina war in unserer kleinen Wahl-Familie, die besonnene, analytisch denkende Wissenschaftlerin, Tom war – nicht nur durch die handwerkliche Ausbildung, die er machte – der praktische Typ, und ich selbst, war sozusagen der Kitt, der alles zusammenhielt. Auf jeden Fall, stellte ich ja immerhin das Haus, in dem wir lebten zur Verfügung. Und außerdem war ich es, der uns drei überhaupt erst zusammengeführt hatte. Das ist ein Beitrag zu unserer Gemeinschaft, den man – wie ich finde – auf keinen Fall unterbewerten sollte.

Wie gesagt, hat sich vor etwas mehr als dreißig Tagen unser beschauliches und ruhiges WG-Leben abrupt geändert. Denn damals schleppte ich diesen Kokon ins Haus, aus dem wenig später Paul, ein echter, lebendiger Wichtel, geschlüpft war. Nach einer kurzen Beratung hatten Nina, Tom und ich beschlossen, Paul, der sein Gedächtnis teilweise verloren hatte, bei uns aufzunehmen.

Paul war tatsächlich ein Wichtel, wie man ihn aus Märchen, Sagen und alten Erzählungen kannte. Das knapp einen Meter große und von Kopf bis Fuß behaarte Männlein machte uns deutlich, dass neben der Welt, wie wir sie kannten, eine geheime und verborgene zweite Welt bestand. Nämlich die der Magie und Zauberei, der Mystik und des scheinbar Unerklärlichen. Eine Welt mit Hexen, Feen, Elfen, Wichteln und noch vielen anderen Wesen mehr. Alles dies konnte uns Paul ganz genau erklären, weil er ein Bestandteil dieser Welt war. Nur über sich selbst konnte er uns nichts erzählen. Auf unerklärliche Weise hatte er während seines Aufenthalts im Kokon jede Erinnerung an persönliches verloren. Noch nicht einmal seinen Namen wusste er, als er zu uns kam. Weil wir nicht immer Du Ding oder hey Du zu ihm sagen wollten, nannten wir ihn einfach Paul.

Meine anfänglichen Zweifel unserem neuen Mitbewohner gegenüber zerstreuten sich recht schnell. Nach einer ersten, fast schlaflosen Nacht, in der ich mit einem Auge immer zu meiner Schlafzimmertür gestarrt hatte, weil ich befürchtete, dass Paul jeden Moment hereinstürmte um mir seine Zähne in den Hals zu rammen und mir den Kehlkopf heraus zu reißen, überraschte er mich beim Frühstück am nächsten Morgen damit, dass er Vegetarier war. Ich ärgerte mich über meine Dummheit und meine Ängstlichkeit und ließ meine Wut an den Baconstreifen aus, die Nina zur Feier des Tages für uns gebraten hatte. Auch sonst entpuppte sich Paul – mal abgesehen von seinem Äußeren – als sehr angenehmer Mitbewohner. Er konnte ohne weiteres den Fernseher, den Computer und auch andere technische Geräte bedienen, gebrauchte zur Zubereitung und zum Verzehr seiner Mahlzeiten Besteck und benutzte ebenso die Toilette, anstatt sich in die Kübel der Zimmerpflanzen zu entleeren. Ich weiß nicht, wie es Nina und Tom erging, aber zumindest ich musste mich bereits in den ersten Tagen von einigen grundlegenden Vorurteilen verabschieden, die ich Paul gegenüber alleine wegen seiner Herkunft und seines Aussehens gehabt hatte.

In der nächsten Zeit erfuhren wir noch einige weitere Dinge mehr über die geheime Welt, der Paul entstammte. Dabei stellten wir fest, dass er viel mehr über uns wusste, als umgekehrt. Vieles von dem was wir bisher aus Filmen, Büchern oder Spielen kannten, war tatsächlich nur erdichtet, und so mussten wir uns schon wieder von einer Reihe Vorurteilen und falschen Tatsachen verabschieden.

Warum Paul und wir drei zusammengebracht wurden – wir gingen inzwischen fest davon aus, dass der Fund des Kokons, Pauls Erwachen bei uns und sein Gedächtnisverlust kein Zufall sein konnten, sondern jemand dahintersteckte, der damit irgendeinen Plan verfolgte – konnten wir bisher jedoch noch nicht ergründen.

Paul war an einem Samstag zu uns gekommen. Wir hatten das Wochenende, um uns zu beschnuppern und etwas besser kennen zu lernen. Auch den folgenden Montag schwänzten Nina und Tom die Uni und die Arbeit, damit wir uns weiter bekannt machen konnten. Doch bereits ab Dienstag war ich tagsüber die meiste Zeit mit Paul alleine.

Irgendwann einmal, ich war gerade dabei Essen zu kochen und Paul las in der Tageszeitung (ja, unser Wichtel konnte tatsächlich lesen), fragte er mich: „Wie ist das hier eigentlich bei euch so geregelt?“

„Was meinst du damit?“

„Naja, zwei Jungs und ein Mädchen in einer Wohngemeinschaft! Kann das denn gut gehen?“

„Ach so“, ich musste etwas lachen. „Ja, da gibt es keine Probleme. Wir haben das … wie du schon sagst, geregelt.“

„Aber Tom und du, ihr seid Männchen im besten Alter“, manchmal drückte Paul sich etwas seltsam aus, „habt ihr denn kein Verlangen nach Nina? Bekommt ihr da nicht manchmal Streit?“

Die mystische Welt war, im Gegensatz zu unserer, viel mehr durch Instinkte, ererbte Verhaltensweisen und natürliche Triebe bestimmt. Und dazu gehörte wohl auch der Sexualtrieb. So erklärte ich mir zumindest Pauls Frage und seine Wortwahl dabei.

„Nein, wir streiten nicht. Zumindest nicht um Nina. Und ich glaube auch nicht, dass Tom irgendwelche Absichten bei Nina hat. Auf jeden Fall habe ich davon noch nichts bemerkt. Und was Nina in Bezug auf Tom betrifft, ist es auch nicht anders.“ Dann machte ich eine dramaturgische Pause, bevor ich fortfuhr.

„Und wenn es Streit geben würde, dann höchstens zwischen Nina und mir.“

Paul dachte einen Moment nach, dann schaute er mich an, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, zwirbelte die Haare an seinem Ohr, öffnete nochmals seinen Mund und sagte schließlich: „Ohhhh, du meinst … also du … wie ist das Wort, das ihr dafür habt?“

„Schwul“, half ich dem Wichtel auf die Sprünge.

„Ja genau, das war's. Du bist also schwul?“

„Richtig. Ich stehe auf Männchen.“ Wir beide mussten lächeln.

„Gibt es bei euch keine Homosexualität?“, wollte ich von ihm wissen.

„Doch, die gibt es. Und entschuldige bitte mein Stottern. Ich wollte damit nichts aussagen.“

„So habe ich das auch gar nicht verstanden.“

„Danke. Also es gibt Schwule und Lesben und noch ein paar andere Formen der Sexualität, die ihr Menschen gar nicht kennt. Aber das liegt wohl hauptsächlich daran, dass ihr die dazugehörigen Lebensformen auch nicht kennt. Ich könnte dir sehr unangenehme Geschichten über eine Art des Plattwurms aus dem Amazonas erzählen … Aber lassen wir das lieber“, sagte Paul, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, den ich unweigerlich bei seiner Ankündigung gemacht hatte.

„Das Problem ist nur, dass wir weniger sind als ihr. Auch bei uns gibt es natürlich Liebe und die Sexualität ihrer selbst Willen, aber wir müssen eben auch sehen, dass der Fortbestand unserer Arten gesichert bleibt. Wahrscheinlich deshalb ist die gleichgeschlechtliche Liebe bei uns nicht so verbreitet wie bei euch.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber du hast natürlich Recht.“

„Was meinst du? Womit habe ich Recht?“

„Mit Tom“, Paul grinste breit. „Er ist ein nettes Bürschchen.“

„Moment mal“, hakte ich einigermaßen besorgt nach, „willst du damit sagen, dass du auch auf das gleiche Geschlecht stehst?“

„Nein, überhaupt nicht“, lachte Paul los. „Du, Nina oder Tom, ihr seid ja noch nicht einmal von der gleichen Rasse wie ich. Nein, du musst dir keine Sorgen machen, dass ich in deinem Revier auf Pirsch gehen werde“, winkte Paul ab.

„Na da bin ich aber froh“, sagte ich.

„Aber natürlich könnte es auch sein, dass ich dir nicht die Wahrheit sage, denn, mal ehrlich, selbst wenn ich auf Männchen stehen würde, ich könnte mich ja doch nicht daran erinnern“, griente Paul mich neckisch an. Und in einem gedämpften Tonfall fügte er hinzu: „Aber diese Tatsache und unser Gespräch überhaupt bringen mich gerade auf einen ganz anderen Gedanken.“

„Und der wäre?“

„Wie ist das eigentlich bei mir? Gibt es eine Frau Wichtel? Habe ich vielleicht Nachkommen, die gerade irgendwo sitzen und sich Sorgen um mich machen? Gibt es jemanden, der darauf wartet, dass ich zurück komme?“

Paul machte einen traurigen Eindruck. Ich konnte mir vorstellen, dass der teilweise Gedächtnisverlust alleine ihn schon genug belastete. Doch die offenen Fragen die dadurch aufgeworfen wurden, mussten den Wichtel erst richtig fertig machen. Und wieder bekam ich eine sehr tiefe Ahnung davon, was es bedeuten musste, nichts über sich zu wissen; nicht wer man war, wo man herkam und schon gar nicht darüber, wen oder was man zurück gelassen hatte.

„Naja, so ist es halt und wir können im Moment nichts daran ändern“, stellte Paul mit einem Ruck fest, der ihn aus seinen trüben Gedanken riss. „Zuerst einmal müssen wir herausfinden, warum ich gerade hier bei euch gelandet bin. Vielleicht ergibt sich der ganze Rest dann von alleine.“

 

Eines Abends, es war ein ganz normaler Donnerstag, verspürte ich den Wunsch, mal wieder vor die Tür zu gehen und um die Häuser zu ziehen. Wir vier hatten den ganzen Nachmittag lang über unsere beiden Welten geredet, hatten spekuliert, Thesen aufgestellt und verworfen, Ideen formuliert und wieder fallen gelassen. Im Grunde war das in den letzten paar Wochen unsere tägliche Beschäftigung gewesen und mir ging diese Eintönigkeit langsam auf die Nerven. Auch Paul schien es ähnlich zu ergehen, denn er hatte sich schon vor etwa einer Stunde zurückgezogen und irgendwo verkrochen. Ich fand, dass ich mal wieder raus müsste, bevor mir die Decke auf den Kopf fiel. So beschloss ich kurzerhand, in die Nachbarstadt zu fahren, in der es unter anderem ein paar schwule Lokale gab. Das war ein Freizeitangebot, das den Weg bis zu uns in unseren kleinen Ort noch nicht gefunden hatte. Aber da die Fahrt zur nächst größeren Stadt nicht besonders lang war, gab es keinen Grund für mich, mich darüber zu beklagen. Ich war seit einiger Zeit nicht mehr in der Szene unterwegs gewesen und dachte daher, dass dieser Abstecher im Moment genau das richtige für mich war. Dabei wollte ich nicht etwa jemanden aufreißen oder mich auf ein schnelles Abenteuer einlassen. Nein, meine Absichten waren redlich und beschränkten sich darauf, lediglich ein oder zwei Getränke in einer Bar oder einem Club zu haben, in dem Schwule verkehrten. Ich wollte nur mal eben etwas trinken, mich eventuell nett unterhalten und dann auch schon wieder nach Hause verschwinden. Alleine, versteht sich. Nachdem ich geduscht und mich ausgehfertig angezogen hatte, schnorrte ich das Auto von Nina und fuhr los. Zuerst führte mich mein Weg in eine Art Bar der einsamen Herzen. Dort gab es tatsächlich Telefone auf den Tischen, von denen aus man die anderen Gäste in diesem Laden anrufen konnte. Das Lokal war gut gefüllt und ich ergatterte mit etwas Mühe noch einen Platz an der Theke. Früher war ich gerne und oft hier gewesen. Doch heute wusste ich wirklich nicht mehr, was mich daran mal begeistert hatte. Zur Hälfte saßen offensichtliche Strichjungen an den Tischen. Die andere Hälfte bestand vorwiegend aus Herren gehobeneren Alters, die bewertend und musternd in die Runde blickten, bevor sie schließlich zum Telefonhörer griffen und versuchten, sich an den Mann zu bringen. Wahrscheinlich prahlten sie dazu – in Ermangelung anderer Vorzüge – mit ihren dicken Brieftaschen. Ich kippte meine Cola runter und machte mich bald wieder auf den Weg. Ich hatte zwar Ablenkung gesucht, aber diese Fleischbeschau war dann doch nichts für mich. Nachdem ich ein paar Straßen weitergefahren war, hielt ich an einem Club, den ich ebenfalls schon von früher her kannte. Soweit ich mich erinnerte, war die Musik hier einigermaßen erträglich und das Publikum bunt gemischt. Die besten Voraussetzungen also nicht wieder so eine Enttäuschung zu erleben wie gerade eben. Als ich den Laden betrat, schien es, als würden meine Erwartungen diesmal nicht enttäuscht werden. Zwar wurde ich – das ist ja auch ganz normal – beim hereinkommen von einigen Augenpaaren taxiert, doch hielt das nicht lange an und die Gäste, die geschaut hatten, wendeten sich schon bald wieder ihren Gesprächspartnern oder den Getränken zu. (Jetzt wo ich das so erzähle, bin ich schon ein wenig enttäuschst darüber, dass ich damals nicht mehr Aufsehen erregt habe. Es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, wenn ich erwartet hätte, dass sich alle gleich in einem Pulk auf mich stürzten und nach Autogrammen von mir auf ihrer Unterwäsche verlangt hätten; aber etwas mehr Bauchpinselei in Form von längerem Blickkontakt hätte auch mir gut getan.) Auch ich selbst schaute mich beim Eintreten um und stieß dabei mit einem Jungen, der etwa mein Alter hatte und nahe beim Eingang stand, zusammen. Ich entschuldigte mich kurz, und machte mich dann auf den Weg zur Bar. Dieser Club hatte eine kleine Tanzfläche, auf der sich einige der Gäste zu elektronischer Musik bewegten. Daneben gab es ein paar Tische und eben die Bar, die mein Ziel war. Dort setzte ich mich auf einen Hocker und wurde kurz darauf schon von der Thekenbedienung angesprochen.

„Hi Alex. Sieht man dich auch mal wieder.“

Ich war erstaunt, beim Namen genannt zu werden und schaute, wer dort so vertraut mit mir war. Hinter der Theke stand Dirk, ein alter Bekannter aus meiner wilden Zeit. Wir waren uns das eine oder andere Mal in den diversen Lokalen begegnet und haben manchmal zusammen rumgehangen, gefeiert und gesoffen. Sexuell gelaufen ist zwischen uns allerdings nie etwas. Ja, auch wir Homos können schwule Freunde und Bekannte haben, ohne gleich nach dem zweiten Bier mit ihnen in die Kiste zu springen. Ernsthaft erfreut darüber, ihn wieder zu sehen, begrüßte ich Dirk und er erzählte mir, dass er seit einem halben Jahr in diesem Club hier jobbte. Wir tauschten uns ein wenig über die alten Zeiten aus und Dirk servierte mir die Cola, die ich bei ihm bestellt hatte. Danach schaute ich mich im Lokal um und genoss es richtig, mal wieder unter Leuten zu sein. Wahrscheinlich grinste ich dabei wie ein Honigkuchenpferd, so unbeschwert fühlte ich mich im Moment. Die Atmosphäre, die Musik, die Lichter und sogar der Geruch hier in diesem Laden, ließen mich aufleben. Paul und seine Geschichten über die mystische Welt vergaß ich dadurch ganz und gar. Ich fühlte mich einige Jahre zurückversetzt in die Zeit, als ich auch noch jedes Wochenende durch die Discos und Clubs zog, weil es mir zu Hause unter den Nägeln brannte und ich das Gefühl hatte, etwas zu verpassen. Diesen Druck gab es erfreulicherweise an diesem Abend nicht mehr. Dennoch fühlte ich mich sehr gut, beschwingt und glücklich als ich dort saß. Gerade als ich das zweite Glas Cola von Dirk erhalten hatte, bemerkte ich, dass sich jemand neben mich an die Bar stellte. Neugierig wie immer, schielte ich vorsichtig zur Seite und erkannte aus dem Augenwinkel heraus, dass es der junge Kerl war, den ich am Eingang angerempelt hatte. Interessiert schaute ich etwas genauer hin. Der Kerl trug ein T-Shirt, eine Jeans und dazu Sneakers. Nichts Ungewöhnliches also. Nur, dass die Sachen ihm sehr gut standen und genau an den richtigen Stellen seinen schlanken, unaufdringlich trainierten Körper betonten. Seine Haare hatten einen leichten rötlichen Schimmer und hingen ihm etwas in die Stirn was zugegebenermaßen sehr geil aussah. Darunter zeigte sich ein schmales Gesicht mit einem einladenden Lächeln. Tja, und diese Einladung nahm ich sogleich wörtlich und sprach den Jungen einfach mal an. Klar, wollte ich hier niemanden aufreißen, oder mit jemandem etwas starten. Aber eine unverfängliche Unterhaltung an der Bar, dagegen war ja wohl nichts einzuwenden.

„Hi“, ging ich den Versuch einer Gesprächsaufnahme an. „Entschuldige bitte nochmals für das Rempeln vorhin. Ich hoffe, ich bin dir dabei nicht auf den Fuß getreten oder so.“

„Kein Thema“, sagte der von mir angesprochene, „es ist ja nichts passiert.“

„Na da bin ich aber froh. Ich hatte schon Angst, du glaubtest ich sei besoffen oder so was“, lachte ich.

„Nee, wie gesagt, alles in Ordnung. Und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich dich dadurch sogar ein bisschen im Auge behalten und – tja, nun stehe ich hier und wir unterhalten uns.“ Wieder zeigte er sein einnehmendes Lächeln.

Also hatte ich doch noch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Gott sei Dank! Wenigstens bei einem der anderen Gäste in diesem Lokal. Das war Balsam auf meine geschundene Seele. Und wenn ich in der letzten Zeit nicht alles verlernt hatte, sondern noch ein klein wenig von sozialem Verhalten verstand, dann flirtete mich der Kerl außerdem gerade an. Und das sogar auf eine ziemlich angenehme, zurückhaltende und gar nicht plumpe Art und Weise. Ich beschloss, darauf einzugehen und ein wenig mit zu spielen. Gegen so ein bisschen unverfängliches Flirten konnte kaum jemand etwas haben. Dagegen war ja wohl nichts einzuwenden.

Im folgenden Gespräch erfuhr ich, dass er Marc hieß und ein Jahr jünger war als ich. Auch er war nicht der typische Szenegänger und irgendwie aus Zufall heute Abend hier gelandet. Normalerweise mied er Lokale mit nur, oder überwiegend, schwulen Besuchern. Das war eine Einstellung, die ich durchaus teilen konnte, denn mit den Schwulen ist es ganz und gar nicht anders als mit allen anderen Menschen. Einzeln oder in kleinen Gruppen sind sie aufgeschlossen, nett und umgänglich. Treten sie in der Masse auf, ändert sich das allerdings schlagartig ins Gegenteil. Marc und ich unterhielten uns eine Weile, entdeckten noch einige weitere Gemeinsamkeiten und lachten sehr viel. Im Laufe der Unterhaltung bemerkte ich, wie Marc mich, anfangs wie zufällig und ungewollt, immer mal wieder berührte. Zum Beispiel mit seinen Fingern an meinem Ellenbogen oder er drückte seinen Arm gegen meinen. Dann wurde er etwas mutiger und legte mir die Hand auf die Schulter, um sie beim Herunternehmen extra lange über den Rücken streifen zu lassen. Und was soll ich sagen? Ich genoss diese kleinen Berührungen jedes Mal. Insgeheim sehnte ich mich schon nach der nächsten, wenn er seine Finger mal einige Minuten bei sich behielt. So verwundert es nicht, dass ich ebenfalls dazu überging, Marc zu berühren. Das hatte gar nichts zu bedeuten. Noch immer wollte ich nichts anderes, als etwas trinken und mich nett unterhalten. Und wenn es dabei zu leichtem und unverfänglichem Körperkontakt kam – man berührt sich halt manchmal, wenn man miteinander redet – dann war dagegen ja wohl nichts einzuwenden.

Dass auch ich mit meinen Händen nicht mehr nur mein Glas umklammerte, sondern sie ebenso auf Marcs Körper einsetzte, tat dem Fortgang unseres Gesprächs keinen Abbruch. Wir rutschten bald schon näher zusammen, hielten uns gegenseitig umarmt und steckten die Köpfe zusammen wie zwei sehr vertraute Personen, die sich schon lange kannten. Es war sehr schön für mich, diese körperliche Nähe zu spüren. Die Wärme, die Marc ausstrahlte und sein Geruch, der mir in die Nase stieg, waren ein Genuss für mich. Es schien, als hätte ich in Marc einen Seelenverwandten getroffen, so viele Gemeinsamkeiten und gleiche Ansichten hatten wir. Die Zeit verging wie im Flug und unser Gespräch wurde dabei nie langweilig oder musste sich etwa über peinliche Pausen hinweg schleppen. Wir unterhielten uns anhaltend gut und wir hielten ebenso gut unsere Hände vorwiegend beim anderen. Als wir gerade wieder über irgendetwas ausgiebig gelacht hatten, folgte einer von diesen Momenten, wo man sich einander ins Gesicht schaut und plötzlich mit dem Blick dort hängen bleibt. Wie eingefroren starrten wir uns gegenseitig tief in die Augen, vergaßen alles um uns herum und versanken jeweils im Blick des anderen. Jeder von euch, dem das auch schon mal passiert ist, kennt diese Situation genau: wenn nun keiner der Beteiligten verlegen woanders hinschaut oder sonst eine Dummheit begeht, dann könnte dieser Augenblick der Anfang einer interessanten Nacht werden. Marc und ich hielten jedenfalls unseren Blicken stand. Wie ferngesteuert fanden auch unsere Hände erneut auf der Theke zueinander. Diesmal spürte ich eine intensive Wärme und ein erfüllendes Kribbeln an der Stelle, an der Marc mich berührte. Langsam, wie in Zeitlupe, neigten wir die Köpfe zueinander. Schon konnte ich Marcs Atem auf meinem Gesicht spüren und öffnete daraufhin leicht die Lippen, während ich die Augen schloss. (Ja, tief in meinem Inneren bin ich halt ein hoffnungsloser Romantiker.)

„Darf's hier noch was sein?“, Dirk hätte keinen bescheuerteren Moment für seine Frage finden können. Marc und ich jedenfalls zuckten zusammen, blickten halb erschreckt, halb ärgerlich zu dem Störenfried hinüber und bestellten schließlich resigniert unsere nächste Runde. Der sinnliche, romantische Augenblick war damit aber erst mal dahin. Danke Dirk!

Aber nein, eigentlich kann und will ich Dirk gar keinen Vorwurf machen. Im Grunde genommen kam seine Frage genau zur richtigen Zeit. Schließlich war ich lediglich hier, um etwas zu trinken und mich ein bisschen zu unterhalten. Die Zeiten, zu denen ich schnelle Abenteuer in Lokalen wie diesem gesucht hatte, waren längst vorbei. Marc allerdings schien das etwas anders zu sehen. Er versuchte sogleich die knisternde Spannung zwischen uns beiden wieder aufzubauen, daran anzuknüpfen und fortzuführen. Als ich darauf nicht im selben Maße ansprang wie vorhin, fragte er schließlich: „Hey, wollen wir irgendwohin gehen, wo es etwas ruhiger ist und wir vielleicht ungestörter sind? Die Musik hier ist doch schon ziemlich laut und wir können uns dabei so schlecht unterhalten.“ Natürlich garnierte er dieses Angebot erneut mit seinem unverwechselbaren Lächeln, das ich in der letzten Stunde so liebgewonnen hatte.

Wahrscheinlich machte er den Vorschlag, dass wir woanders hingehen sollten, weil er dachte, ich sei schüchtern oder prüde und würde eine erneute Unterbrechung wie gerade eben scheuen. Seine Idee war also nett gemeint und sollte mir dabei helfen wieder in Stimmung zu kommen. Da ich Marc nicht vor den Kopf stoßen wollte, antwortete ich: „Ja, lass uns nach draußen gehen. Ich habe ein Auto um die Ecke stehen. Da können wir es uns bequem machen und etwa besser unterhalten.“

Das war tatsächlich so gemeint, wie ich es gesagt hatte. Ohne Hintergedanken oder zweideutige Absichten. Ich wollte mich einfach nur weiterhin mit Marc unterhalten. Und ob wir das nun in einer Kneipe oder im Auto taten, das war ja wohl egal. Gegen unseren Ortswechsel war also nichts einzuwenden.

Wir tranken schnell aus, bezahlten, ich verabschiedete mich von Dirk, und dann verließen Marc und ich den Club. Nicht lange und wir hatten mein Auto erreicht. Es war inzwischen Nacht geworden und das Auto stand in einer dunklen Nische. Nachdem wir uns in den Wagen gesetzt hatten, schaute Marc sich etwas im Innenraum um. Mit einem Blick auf die türkisfarbenen und mit kleinen Bärchen bedruckten Schonbezüge sagte er: „Nicht schlecht. Einen tollen Geschmack hast du.“ Diese Worte, das konnte ich gar nicht missverstehen, trieften vor Ironie. Sogleich erklärte ich dem Rothaarigen, dass dies nicht mein Auto war, sondern das von einer Freundin.

Danach brauchten wir nicht mehr lange und verfielen wieder in eine ebenso angenehme Unterhaltung wie vorhin im Club. Und natürlich gingen auch unsere Hände erneut auf Wanderschaft und versuchten auszutesten, wozu der andere jeweils bereit war. Und dann kam tatsächlich auch wieder dieser Moment mit dem starren Blick. Ein kurzer Kuss, so überlegte ich nun, konnte nicht schlimm sein. Ständig geben sich die Leute auf Festen, auf der Kirmes oder zur Begrüßung Bussis, ohne dass sie etwas bedeuteten. Gegen eine ebenso unverfängliche Berührung unserer Lippen war ja wohl nichts einzu... Ach scheiße! Was rede ich hier eigentlich? Wem will ich mit meinem Geplappere etwas weismachen? Die Wahrheit ist, dass ich Marc wollte! Ich wollte ihn richtig in den Arm nehmen, wollte ihn richtig spüren, ihn streicheln und vor allem wollte ich ihn küssen. Richtig küssen. Lange und richtig ausgiebig. Wild, heiß und innig. Und genau so passierte es dann auch. Unsere Zungen erforschten die Mundhöhle des anderen ebenso eingehend, wie nun auch unsere Hände weitaus intimere Zonen erforschten als nur die Schultern oder die Arme. Ich war heiß gelaufen. Marc ging es nicht anders, wie ich an seinem schneller werdenden Atem und der Heftigkeit seiner Berührungen bemerkte. Schon längst waren wir beide schwer erregt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns gegenseitig die ersten Kleidungsstücke öffnen würden. Etwas umständlich kniete ich mich nun, mit meinem Mund keine Sekunde von Marcs Lippen ablassend, auf den Fahrersitz. Durch diese Position war ich nicht nur größer als Marc, ich bot ihm auf diese Weise auch meine Körpermitte zur besseren Erforschung an. Im Sitzen ist ja alles irgendwie gequetscht und beengt. Jetzt im Knien, konnte Marc ohne weiteres ins Volle greifen. Diese Stellung hatte ich in der Vergangenheit schon mehr als einmal erfolgreich erprobt. Meistens führte es dann dazu, dass schon bald darauf das markante Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses ertönte. Meine guten Vorsätze, nur ein paar Gläser zu trinken und dann wieder zu verschwinden waren längst vergessen. Ich war rattenscharf und alles, was ich jetzt noch wollte, war Marc. Der ließ sich auch nicht mehr lange bitten und griff beherzt zu. Durch die weit geschnittene Cargohose, die ich trug, konnte er mein bestes Stück gut ertasten und knetete ausgiebig daran herum. Oh man, wie sehr ich dieses Gefühl in der letzten Zeit vermisst hatte, bemerkte ich erst jetzt wieder. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass ich so geil war wie schon lange nicht mehr. Voller Lust stöhnte ich auf, legte den Kopf erst in den Nacken, um ihn kurz darauf dann auf die Lehne von Marcs Sitz fallen zu lassen. Mein Blick streifte den Fußraum im Fond des Wagens und ich bemerkte, dass mich von dort zwei sehr große und schwarze Augen ansahen, in denen sich das Licht der Straßenlaterne spiegelte. In diesem Augenblick wurden meine Augen wahrscheinlich genau so groß, wie die, die von dort unten zu mir herauf sahen. Es war Paul, der da im Halbdunkel des Autos hockte und mich beobachtete. Mir entfuhr ein seltsamer und für Männer wahrscheinlich sehr untypischer Ton bei Pauls Anblick. Marc, der denken musste, ich reagierte mit diesem Laut auf seine Berührung, hielt inne und sah mich fragend an.

„Äh … t'schuldigung … äh“, nuschelte ich vor mich hin und sank wieder auf meinen Sitz zurück. Was sollte ich jetzt tun? Der Abend hätte so schön werden können doch plötzlich tauchte Paul im Fond des Wagens auf. Vorsichtig und heimlich schielte ich noch einmal nach hinten. Der Wichtel war tatsächlich da, ich hatte mir das also nicht nur eingebildet. Paul lugte zwischen den Sitzen hervor und winkte mir verlegen zu.

„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte Marc kleinlaut.

Meine unvorhergesehene Aktion musste ihn überrascht, wenn nicht sogar erschreckt haben. Doch konnte ich ihn leider nicht trösten, denn mir wurde nun klar, dass ich Marc loswerden musste. Mein Aufriss durfte dieses mystische Wesen auf keinen Fall sehen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass ich ihm Paul als Hund, Katze oder sonst ein Haustier verkaufen konnte. So eine plumpe Lüge würde Marc beim Anblick des Wichtels sofort durchschauen. Wie ich es drehte und wendete, es blieb dabei: Ich musste Marc loswerden. Im Grunde – so versuchte ich mich in Gedanken zu beruhigen – war das inzwischen auch nicht mehr so schlimm, denn meine Erektion und die knisternde Erregung waren längst verschwunden. Und bei dem Gedanken an das haarige Wesen auf der Rückbank würde ich bestimmt auch keinen mehr hoch bekommen.

„Nein, du hast nichts verkehrt gemacht.“ Ich versuchte ein Lächeln raus zu quetschen. „Es ist nur … Na ja, weil ...“ - ja, was eigentlich? Mir fiel keine Ausrede ein. So leid es mir tat, und heute immer noch tut, wählte ich also die einzige Möglichkeit, die mir im Moment einfiel. Ich wurde dreist und unverschämt.

„Nein, es ist nichts. Ich will nur nicht weitermachen.“

In Marcs Gesicht stand ein Fragezeichen gebrannt. „Wie …?“

„Na ja, ich habe halt keinen Bock. Das ist alles.“ Die nächsten Worte kamen mir unglaublich schwer über die Lippen und es tat mir unermesslich weh, sie aus zu sprechen.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst!“

Unbeweglich starrte ich durch Windschutzscheibe hinaus die dunkle Straße entlang. Den Mut, Marc in die Augen zu schauen, konnte ich nicht aufbringen. Keine Ahnung, was mich damals wütender machte; einerseits, dass Paul aufgetaucht war, oder dass ich so ein Arschloch gegenüber Marc sein musste. Dass ich mein Geld normalerweise damit verdiente kreativ mit Wörtern umzugehen, mir in diesem Moment aber nichts in den Sinn kommen wollte, was ich sagen könnte, machte es auch nicht gerade einfacher für mich. Mir fiel wirklich nichts anderes als dieser dreiste, freche und unentschuldbare Weg ein.

„Bitte, geh jetzt einfach.“ Mit dem Kopf machte ich eine angedeutete Bewegung in Richtung Beifahrertür. Dabei versuchte ich natürlich immer noch Marcs Blicken auszuweichen. „Ich habe keine Lust mehr.“

Vielleicht ist es so, dass wir für uns unangenehme Dinge auch einfach verdrängen und vergessen, damit wir besser leben können. Ich weiß heute jedenfalls nicht mehr, was Marc mir daraufhin antwortete. Aber ich bin sicher, dass er mir einiges an Kopf warf, als er schließlich aus dem Auto stieg. Wahrscheinlich waren es ohnehin nur Sachen, die ich hier aus Scham sowieso nicht wiedergeben würde. Als er gegangen war und die Tür laut wieder zugeschmissen hatte, ließ ich den Kopf auf das Lenkrad sinken. Natürlich war Marc kein enger Freund von mir, ich hatte ihn eben gerade erst im Club kennen gelernt, aber trotzdem kam ich mir beschissen damit vor, wie ich ihn gerade behandelt hatte.

Nachdem Paul mich einige Sekunden lang meine ersten Gedanken hatte ordnen lassen sagte er kleinlaut: „Hallo Alex.“

„Was um Himmelswillen machst du hier?“, schrie ich ihn an.

„Nachdem wir uns heute Abend unterhalten hatten, wollte ich etwas alleine sein. Also ging ich in Ninas Auto. Das habe ich schon öfter getan. Das ist ein Ort, an den selten einer von euch kommt“, erklärte Paul.

„Dann bin ich eingeschlafen. Ziemlich fest, wie mir scheint. Jedenfalls bin ich erst wieder aufgewacht, als du und der andere zusammen ins Auto gestiegen seid.“

Als der Wichtel nun wieder Marc erwähnte, fühlte ich erneut einen stechenden Schmerz der Schuld.

„Du kannst dir vorstellen, dass ich beinah selbst vor Schreck alle meine Haare verloren hätte, als ich erkannte, dass ich nicht mehr bei euch zu Hause in der Garage war.“

„Frag mal, wie es mir ging, als ich dich da hinten gesehen habe. Herrgott, ich hätte sterben können vor Schreck!“

„Es war ja keine Absicht. Und es tut mir leid.“

„Und stell dir erst mal vor, Marc und ich wären schon weiter gewesen mit dem, was wir vorhatten, bevor ich dich entdeckt hätte. Dann hättest du mich ja nackt ge...“, mir blieb die Sprache weg und erneut musst das Lenkrad für mich als Kopfkissenersatz herhalten.

„Wie kann man auch nur so einen festen Schlaf haben, dass man nichts davon mitbekommt, wenn man kilometerweit durch die Gegend kutschiert wird? Das gibt es doch gar nicht.“ Ich sprach mehr zu mir selbst als mit Paul. Der merkte das und gab nur ein kurzes Grunzen von sich. Dann fuhr ich fort: „Wenn wir gerade bei der Sache gewesen wären, Marc und ich, wenn er mir zum Beispiel gerade einen geblasen hätte, und du dann erst plötzlich aufgetaucht wärst. Er hätte wahrscheinlich so einen Schrecken bekommen, dass er mir mein Ding abgebissen hätte!“

Paul schaffte es tatsächlich sich noch ein paar Sekunden zu beherrschen, bevor er anfing zu lachen. Erst nur leise, dann aber immer lauter. Ich fand die Sache allerdings gar nicht so lustig wie er und blickte ihn zuerst streng an. Doch schon bald steckte mich sein Lachen über meine letzte Äußerung an und ich musste mir ebenso ein breites Grinsen verkneifen.

„Und was meinst du jetzt, was wäre schlimmer?“, fragte ich. „Wenn du deine Haare verlierst, oder ich meinen Schwanz?“

„Da meine Haare wieder nachwachsen, denke ich – du wärst der Gewinner!“

Wir lachten noch eine Weile ausgelassen, kamen dann aber schließlich irgendwann wieder zur Ruhe. Ich forderte Paul auf, nach vorne auf den Beifahrersitz zu kommen, und der Wichtel kletterte zwischen den Lehnen hindurch. Mit meinen Gedanken wieder bei dem mir eben entgangenen sexuellen Abenteuer sagte ich: „Trotz allem tut es mir wirklich leid um Marc. Der schien sehr nett zu sein. Und ich wollte einfach mal wieder … Aber was berede ich das hier eigentlich mit dir!“

Paul tat mir den Gefallen, darauf nicht näher einzugehen und stattdessen nur verständnisvoll mit dem Kopf zu nicken. Selbstverständlich war ich immer noch davon mitgenommen, dass ich das erotische Stelldichein mit Marc nicht richtig beenden konnte und vor allem davon, wie ich ihn rausgeworfen hatte. Aber mein unerschütterliches Gemüt gewann schon wieder die Überhand. Wenn man mich nicht kannte, hätte man diesen Charakterzug als oberflächlich und wenig einfühlsam bezeichnen können. Doch wäre das nicht ganz richtig. Auch wenn ich einen leichten und unbeschwerten Eindruck machte, wusste ich sehr gut, dass es meistens ganz und gar nicht leicht und unbeschwert in der Welt zuging.

Plötzlich wurde ich dadurch aufgeschreckt, dass Pauls kleine Hand nach meinem Arm griff. Bei seiner Berührung spürte ich, dass der Wichtel am ganzen Körper zitterte. Besorgt schaute ich zu ihm hinüber. Paul war, das konnte ich an den nicht von Haaren bedeckten Stellen seines Gesichts erkennen, leichenblass und fixierte irgendetwas, das sich vor uns in der Dunkelheit befand. Ich schaute sofort in die gleiche Richtung, konnte aber rein gar nichts erkennen.

„Was hast du?“, fragte ich Paul.

„Da im Dunkeln, hinter diesen Mülltonnen. Siehst du es denn nicht?“

Wieder spähte ich in die Nacht, hatte dabei allerdings schon Mühe, die von Paul erwähnten Mülltonen zu erkennen. Die menschlichen Augen waren denen der Wichtel eindeutig unterlegen, wie ich feststellte.

„Oh nein. Es hat uns tatsächlich gesehen. Es kommt auf uns zu.“ Pauls Worte klangen angsterfüllt und fast panisch.

Da ich noch immer nichts erkennen konnte, wusste nicht genau wie ich mich verhalten sollte. Erst langsam meinte ich schließlich, zwei rötliche Punkte draußen vor dem Auto ausmachen zu können. Die Punkte tanzten leicht auf und ab und verschwammen immer wieder in der Schwärze der Nacht, sodass ich sie aus den Augen verlor. Nach ein paar Augenblicken wurden sie endlich deutlicher für mich. Ich begriff, dass sie sich auf uns zu bewegen mussten. Jetzt waren sie so nah, dass ich sogar erkennen konnte, dass die Punkte eher zwei längliche Gebilde waren, die an den Enden jeweils spitz zuliefen. Paul wurde immer nervöser und beschwor mich mehr als einmal, endlich den Wagen zu starten und schnellstmöglich los zu fahren. Die roten Gebilde kamen währenddessen immer dichter an uns heran. Dann verstand ich endlich, was diese roten Tupfen waren. Ihre Form war jetzt eindeutig für mich zu erkennen. Das waren Augen, die dort langsam auf uns zu schlichen. Rot glühende Augen, die sich gespenstisch aus der tiefschwarzen Dunkelheit abhoben. Da Augen sich normalerweise nicht alleine bewegten, kombinierte ich messerscharf, dass zu den beiden Exemplaren da vor uns auch noch ein Körper gehören musste. Die Nacht war finster und ohne Mond. Das Licht der Laterne, das sich vorhin in Pauls großen Augen gespiegelt hatte, wurde von einer Häuserecke abgedeckt, so dass ich die Kreatur, die zu den roten Augen vor unserem Auto gehörte, immer noch nicht sehen konnte. Daher drehte ich den Wagenschlüssel im Schloss, bis die Kontrolllämpchen aufblinkten. Dann griff ich zum Bedienhebel für die Scheinwerfer und betätigte die Lichthupe. Zwar erkannte ich in dem grellen und plötzlich aufflammenden Lichtkegel nicht sofort etwas – meine Augen mussten sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen – doch nach schon wenigen Sekunden sah ich nun den Körper in dem die Augen steckten. Das war genau der Moment in dem ich mir wünschte, ich hätte die Lichthupe besser nicht gebraucht.

„Was zum Teufel ist das für ein Ding?“, fragte ich fassungslos.

„Das ist ein Mantikor“, erwiderte Paul ehrfürchtig und tief verängstigt zugleich.

 

Ein Mantikor ist ein Mischwesen, das ursprünglich aus der persisch-griechischen Mythologie stammte. Es wird dort als ein Geschöpf mit dem Körper eines Löwen und dem Schwanz eines Skorpions oder Drachens beschrieben. Sein entfernt an einen Menschen erinnerndes Gesicht wird entstellt durch einen sehr breiten, mit einer dreifachen Reihe spitzer Reißzähne bewehrten Mund. Unser Mantikor hatte tatsächlich etwas von einem Löwen oder einer Raubkatze. Er war komplett mit einem kurzhaarigen grauen Fell bedeckt. Darunter konnten wir große Muskelpakete ausmachen, die dieser Kreatur eine enorme Kraft verleihen mussten. Die vier Beine endeten in Tatzen mit langen Krallen und sein Schwanz war schuppig und erinnerte mich an den einer Klapperschlange. Der schlimmste Anblick war für mich jedoch tatsächlich sein Gebiss. In drei hintereinander liegenden Reihen spiegelte sich dort eine scheinbar unendliche Anzahl von Reißzähnen, die zwar nicht sehr lang, dafür aber äußerst spitz waren.

Paul brauchte mir nichts weiter zu erklären. Seine Körpersprache, und auch die Körpersprache des Monsters dort draußen, verrieten mir, dass es gefährlich und bösartig, und uns beiden im Auto alles andere als wohlgesonnen war. In den rotglühenden Augen des Wesens meinte ich so etwas wie Zorn und großen Blutdurst zu erkennen. Und zu Recht befürchtete ich, dass es ihm nach Pauls und meinem Blut dürstete. Durch das plötzliche Aufleuchten der grellen Scheinwerfer war der Mantikor kurz abgelenkt. Meine vorhin beschriebene Leichtfüßigkeit im Leben half mir wahrscheinlich in dieser Situation ziemlich schnell wieder einen einigermaßen klaren Kopf zu bekommen und dadurch besonnener zu handeln, als manch anderer. Jedenfalls nutze ich die Gelegenheit als der Mantikor eben seinen Kopf abwendete, und drehte den Autoschlüssel nun bis zum Anschlag durch. Zum Glück sprang der Motor sofort an, ich legte einen Gang ein und raste mit quietschenden Reifen los. Nur knapp manövrierte ich Ninas Wagen an dem Ungeheuer vorbei und auf die Straße. Dann fegte ich, den Blick fast mehr auf den Rückspiegel als nach vorne gerichtet, durch die Nacht davon.

„Ist das ein Freund von dir?“, wollte ich von Paul wissen. „Ein Kumpel aus der mystischen Welt?“

„Mantikore kennen so etwas wie Freundschaft oder Zuneigung nicht. Sie werden nur von einer Sache geleitet und gesteuert: dem Wunsch zu töten. Mantikore sind so etwas wie die Aliens unserer Welt. Kaum einer, der schon mal so einem Monster begegnet war, konnte hinterher davon berichten. Denn normalerweise töten Mantikore sehr sicher und effektiv.“

Der Abend und die Nacht hatten sich bisher ganz anders für mich entwickelt, als ich es eigentlich geplant hatte. Anstatt genau in diesem Moment eine schöne Zeit mit einem geilen Jungen zu verbringen, war ich nur knapp dem Angriff eines mordlüsternen Monsters entkommen. Das Schicksal meinte wohl, da ich damals schon eine gewisse Zeit enthaltsam gelebt hatte, würde es auf ein paar Tage mehr ohne Sex für mich auch nicht mehr ankommen. Das Schicksal hat aber auch gut reden. Wahrscheinlich ist dieses verschissene Schicksal eh asexuell und hat überhaupt keine Ahnung!

Während ich weiter die Straße entlang bretterte, sah ich im Rückspiegel so etwas wie kleine Sterne auf der Straße aufblinken. Da ich im Spiegel nicht genau sehen konnte was das war, drehte ich mich kurz um. Gerade als ich nach hinten schaute, lief der Mantikor unter einer Straßenlaterne hindurch. Es war unglaublich, aber das Vieh verfolgte uns. Ich fuhr mindestens 60 km/h doch der Mantikor kam immer näher. Das, was ich für Sterne gehalten hatte, waren Funken, die seine Krallen während des Laufens auf dem Asphalt schlugen. Eine Schmusekatze konnte man dieses Monstrum nun wirklich nicht nennen. Paul, den ich auf meine Entdeckung aufmerksam gemacht hatte, übernahm sofort die Beobachtung unseres Verfolgers, während ich noch mehr Gas gab und mich voll und ganz auf die Straße konzentrierte.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Paul, „die Mantikore sind eigentlich ausgestorben. Wir haben sie gejagt bis zum letzten Exemplar.“

„Das erklärt, warum der da hinter uns so sauer ist. Er will sich an dir rächen.“

„Nein, nicht ich persönlich habe sie gejagt – glaube ich jedenfalls.“ Das ist schon vor etlichen Jahrtausenden geschehen. Die mystischen Bewohner der Erde respektieren normalerweise jedes Geschöpf. Aber der Mantikor wurde eine Bedrohung. Und das sogar für unsere gemeinsame Welt, also auch für euch Menschen. Obwohl der Mantikor als ziemlich intelligent und sogar sprachbegabt gilt, ist ihm nicht mit Argumenten oder schönen Worten bei zu kommen. Man kann ihn nicht bestechen oder abrichten. Er schert sich nicht um Ruhm, Erfolg oder Anerkennung. Der Mantikor ist nur an einem interessiert, nämlich daran, zu töten. In seiner Mordlust kennt er kein Feind und Freund. Jedes Lebewesen, das sich in seiner Nähe aufhält wird angefallen. In einer der letzten großen Allianzen zwischen Menschen und mystischen Wesen, wurde der Mantikor gejagt und vernichtet. Wir alle haben uns damals nicht gerade mit Ruhm bekleckert und es wurde sehr viel Blut vergossen. Man sagt sogar, dass lebendige Opfer zum Anlocken der Mantikore genutzt wurden. Das ist ein Kapitel in unserer Geschichte, das noch heute die Gemüter zum Überkochen bringt. Auf jeden Fall wurden die Mantikore damals ausgerottet. Dachten wir jedenfalls.“

„Vielleicht sollten wir das dem Ding da hinter uns auch mal erzählen. Es könnte ja sein, dass es dann einfach tot umfällt“, kalauerte ich.

Vor uns machte die Straße eine scharfe Kurve nach links. Um mit dem Wagen nicht von der Fahrbahn abzukommen, musste ich abbremsen. Das Monster hinter uns hatte hingegen eine wesentlich bessere Bodenhaftung. Seine Krallen schienen sich bei jedem Schritt in den Asphalt zu bohren. Mit fast unverminderter Geschwindigkeit schoss der Mantikor um die Ecke und hinter uns her. Wir hatten gerade mit dem Auto den Scheitelpunkt der Kurve erreicht und ich trat das Gaspedal wieder ganz durch, als unser Kleinwagen von einem heftigen Schlag erschüttert wurde. Ein schneller Blick in den Rückspiegel zeigte mir, dass der Mantikor sich an das Heck des Autos geklammert hatte. Ich sah dem Biest direkt in seine roten Augen.

„Du solltest mir doch sagen, wenn er näher kommt“, tadelte ich Paul.

„Es ging alles so schnell. Als wir um die Ecke bogen, habe ich ihn kurz aus den Augen verloren. Und als er wieder auftauchte, schlug er auch schon seine Krallen in das Auto.“

Das Biest hing wie ein Rucksack am Heck und versuchte, sich durch die Scheibe zu beißen. Es schien so, als würde das Ding Glas nicht kennen, denn es unternahm mehrere, natürlich vergebliche Versuche, durch die Heckscheibe zu kommen. Seine Zähne waren im Grunde genau so angeordnet wie bei einem Menschen. Wer schon mal versucht hat, in eine ebene und glatte Oberfläche zu beißen – etwa eine Scheibe – weiß, dass das nicht geht. Da er ungefähr fünf Versuche brauchte, bis auch der Mantikor das begriff, nahm ich an, dass er zum ersten Mal so etwas wie Glas vor sich hatte. Als er merkte, dass diesem durchsichtigen etwas vor sich mit seinem enormen Gebiss nicht bei zu kommen war, versuchte er nun, den Kopf durch die Scheibe zu schlagen. Da er sich aber auch noch am Auto festkrallen musste, hatte er nicht ausreichend Weg zur Verfügung, um genug Schwung für einen Durchbruch zu holen. Die Scheibe quietschte und knarrte zwar in ihrer Verankerung, hielt aber dennoch Stand. Bisher zumindest. Scheinbar sehr wütend über dieses unbekannte Material, das ihm so erbittert Widerstand leistete, ließ der Mantikor schließlich mit den Vorderbeinen das Auto los, stemmte sich etwas nach hinten und holte mit beiden Pranken zu einem Schlag aus, dem die Scheibe unmöglich überstanden hätte. Auf genau diesen Augenblick hatte ich gewartet und fuhr sofort Schlangenlinien mit dem Auto. Die Reifen quietschten und Paul wurde in seinem Sitz hin und her geschleudert. Er war zu klein, als dass der Gurt ihn ausreichend sicherte. Die Fliehkräfte, die durch meine Fahrweise entstanden, waren enorm. Ich hatte Schwierigkeiten, das Auto immer wieder unter Kontrolle zu bringen. Noch mehr Probleme hatte allerdings der Mantikor. Da er sich nur noch mit den Hinterbeinen festkrallte, wackelte sein gesamter Körper unkontrolliert von rechts nach links. Deutlich konnte ich bei jeder Lenkbewegung hören, wie er mit dem Kopf oder einem anderen Körperteil gegen die Karosserie schlug. Er sah aus, wie ein viel zu groß geratener Wackeldackel, als er so durch die Gegend schwankte. Schließlich wurde es selbst diesem Ungetüm zu viel und die Krallen seiner Hinterbeine wurden aus dem Blech gerissen. Mit mehreren Überschlägen rollte das Biest über die Straße und wurde ziemlich unsanft von einer Laterne gestoppt. Der Aufprall war so heftig, dass der Laternenmast in Schieflage geriet und das Licht erlosch. Ich konnte das Monster in der Dunkelheit nun nicht mehr sehen. Paul sagte mir, dass der Mantikor sich zwar bewegte, aber bisher erst mal liegen bleiben würde. Er fügte jedoch auch hinzu, dass so ein kleiner Stoß dieses Ding nicht lange aufhalten würde, und dass er schon bald wieder unsere Verfolgung aufnähme. Ohne ihm darauf zu antworten trat ich das Gaspedal bis zum Anschlag.

Es war wohl Glück, dass ich an einem Donnerstag auf die Idee gekommen war, etwas trinken zu gehen. Ebenso, wie es wohl Glück war, dass es inzwischen spät nachts war. Seit ich mit Marc den Club verlassen hatte, hatte ich keine Menschenseele mehr gesehen. Auch während unserer Verfolgungsjagd waren wir niemandem begegnet. Es wäre nicht auszudenken gewesen, was der Mantikor angestellt hätte, wenn andere Passanten oder Autofahrer ihn von uns abgelenkt hätten. Die Laterne um die das Monster im Moment gewickelt war, stand bereits etwas außerhalb der Stadt. Es war also unwahrscheinlich, dass dort jemand vorbei kam. Mir war zwar nicht wohl bei dem Gedanken daran, dass das Biest wieder hinter uns her setzen würde, wenn es sich etwas ausgeruht hatte, doch allemal war mir das lieber, als dass es sich hinter jemand völlig unbeteiligten hermachte. Nicht jeder Mensch hatte schließlich einen Wichtel neben sich auf dem Beifahrersitz hocken, der ihn mit Insider-Informationen über dieses Ding versorgen konnte. Außerdem hatte ich irgendwie das Gefühl, verantwortlich für das Auftauchen des Mantikors zu sein. Schließlich war ich es auch gewesen, der den Kokon mit Paul darin gefunden hatte; und ich war überzeugt davon, dass beide Sachen irgendwie miteinander zusammen hingen. Ich konnte und wollte also nicht zulassen, dass die Bestie von Paul und mir ablassen und ihre Mordlust an irgendjemand anderem auslassen würde. Der Trumpf, in meiner Hand war tatsächlich mein haariger Freund – so hoffte ich wenigstens. Da der Wichtel, wie auch der Mantikor, aus der gleichen mystischen Welt stammten, wusste er wahrscheinlich, wie man das Monster stoppen konnte. Um unseren Vorsprung also nicht zu groß werden zu lassen, so dass der Manitkor uns am Ende noch verlor, wurde ich wieder etwas langsamer.

„Was tust du?“, fragte Paul.

„Ich kann nicht zulassen, dass dieses Ungeheuer andere Menschen gefährdet. Ich will etwas langsamer fahren, damit er gleich wieder unsere Spur aufnehmen kann.“

„Aber damit lässt du zu, dass dieses Ungeheuer mich gefährdet!“

„Ja. Aber da du im Moment der einzige bist, der eine Idee haben könnte, wie man das Ding besiegt, hast du keine Wahl. Willkommen im Team.“

„Also Mut hast du. Und dein Mitgefühl für andere ehrt dich. Keine Frage“, lobte Paul mich. „Aber das hilft uns alles nicht weiter, weil ich überhaupt nichts davon weiß, wie man einen Mantikor besiegt.“

Na das lief ja mal wieder hervorragend. Erst das verpatzte Date mit Marc und nun stellte sich mein einziger Stich im Kampf gegen den Mantikor auch noch als Bluff heraus. Aber dennoch war ich mir nach wie vor sicher damit, dass wir das Ding unmöglich frei herumlaufen lassen konnten.

„Jetzt überlege halt!“, sagte ich zu Paul. „Irgendetwas muss dir doch einfallen. Bestimmt hast du schon mal etwas über Mantikore gelesen oder gehört, das uns hier helfen könnte.“

Paul kramte in den Ecken seines Hirns alles zusammen, was er über die Kampfmaschine wusste, die hinter uns her war. Er erklärte mir, dass der Mantikor eine extrem harte Haut hat, die kaum eine Waffe durchdringt, seine Zähne sind vergiftet und wachsen sofort wieder nach, wenn einer verloren geht, seine Krallen sind hart wie Diamanten und scharf wie Glasdolche. Selbst mit Feuer war dem Mantikor nicht beizukommen, da er in seinem inneren selbst eine enorme Hitze entwickelte, die ihn dagegen immun machte.

„Aber du hast gesagt, dass ihr vor Uhrzeiten diese Viecher gejagt und ausgerottet habt. Es muss also eine Möglichkeit geben, sie zu töten.“

„Das ist richtig. Allerdings ging mit der Ausrottung der Mantikore auch das Wissen darüber verloren, wie man sie tötet. Es wurde halt einfach nicht mehr gebraucht. Wir gingen schließlich davon aus, dass es sie nicht mehr gibt. Und warum soll man sich merken, wie man etwas tötet, das es gar nicht gibt?“

Es war gerade nicht der Moment, um mit Paul darüber zu diskutieren, ob diese Einstellung klug war oder nicht. Wir brauchten jetzt eine Lösung und keine Schuldzuweisungen.

„Es gibt einige Sagen und Märchen, in denen die Rede von einer legendären Elbenwaffe ist. Da es sich dabei aber nur um ein Märchen handelt, sehe ich nicht, wie uns das hier weiter helfen könnte.“

Da musste ich Paul Recht geben. Wenn wir dem Mantikor gegenüber traten, mussten wir uns ganz sicher sein. Das Monster würde bestimmt nicht stillhalten und uns so lange herum probieren lassen, bis wir einen Weg gefunden hatten, wie man es tötet. Wir brauchten eine zuverlässige Lösung für unser Problem, und wir brauchten sie jetzt.

Über die Freisprecheinrichtung des Autos wählte ich Ninas Nummer. Nach nur dreimal Klingeln meldete sich meine Mitbewohnerin. In kurzen Worten versuchte ich, ihr die Lage zu erklären. Es ist erstaunlich, dass sie mich ernst nahm und das Ganze nicht nur für einen dummen Scherz hielt. Aber seit Pauls Erscheinen bei uns in der WG waren wir alle halt aufgeschlossener gegenüber phantastischen Geschichten geworden. Nina war noch während des Gesprächs auf dem Weg zum Computer. Ihr fiel erst mal auch nichts Besseres ein, als nach Mantikoren zu googeln und zu hoffen, dass sie dort einen Hinweis darauf fand, wie man gegen sie kämpfte. Während sie vor dem Rechner saß, gab sie das Telefon an Tom weiter. Mit ihm verabredete ich, dass Paul und ich nach Hause kommen würden – mit dem Mantikor im Schlepptau. Tom sollte die Garage öffnen, damit ich gleich hineinfahren konnte. Wir vertrauten einfach erst mal auf die leider wenig wahrscheinliche Möglichkeit, dass Nina in der Zwischenzeit etwas Brauchbares finden würde.

Paul spähte wieder durch die Heckscheibe in die Nacht. Nachdem ich das Gespräch mit Tom und Nina beendet hatte, sagte er, dass der Mantikor wieder hinter uns her sei. Der erste Teil meines Plans hatte also schon mal funktioniert. (Na toll!) Das Monster konzentrierte sich weiterhin auf uns, anstatt auf unschuldige Menschen loszugehen. Jetzt blieb halt nur die Frage, wie wir weiter vorgehen sollten. Zuerst einmal beschloss ich, dass es eine gute Idee sei, das Auto wieder zu beschleunigen. Paul meinte, dass der Mantikor inzwischen wieder ziemlich aufgeholt hatte, und zu einfach wollte ich es ihm dann doch nicht machen, uns zu erwischen. In halsbrecherischem Tempo raste ich über die Landstraße. Keine Ahnung, ob das Auto hier auf offener Fahrbahn einfach zu schnell für unseren Verfolger war, oder ob er beim Zusammenprall mit der Laterne doch einen leichten Schaden genommen hatte, jedenfalls schaffte ich es, den Abstand zwischen uns und ihm bei zu behalten und sogar ganz langsam zu vergrößern. Das Ding kam erst mal nicht näher an uns heran. Damit ihm die Lust an der Jagd nicht doch noch verging, spielte ich etwas mit dem Gas, wurde mal langsamer und dann wieder schneller. Ich machte es so wie mit dem Esel, dem man eine Mohrrübe an der Angel vor die Schnauze hält, während man auf ihm sitzt. Der Esel versucht dann zu der Karotte zu gelangen, ohne eine Chance sie jemals zu erreichen. Mein Stolz auf diesen geschickten Plan bestätigte mich darin, weiterhin den Lockvogel für ein blutrünstiges Monster zu spielen, und hielt mich davon ab, das Gaspedal doch wieder zur Gänze durchzudrücken und einfach zu fahren, bis der Tank leer war. Wenn ich das Monster auf diese Weise hinhalten konnte, würde uns sicherlich auch noch etwas einfallen, wie wir es töten konnten. (Oh man! Noch vor wenigen Wochen war ich ein ganz normaler Schwuler, für den die größte Sorge war, ob das blaue T-Shirt auch wirklich zur grünen Hose passte. Und jetzt dachte ich ernsthaft darüber nach, wie ich ein Monster umbringen könnte, das ganz wild darauf war, mich in Stücke zu reißen. Wo sollte das noch alles hinführen?)

Schließlich erreichten wir die ersten Gebäude unseres Ortes. Auch hier war zum Glück alles verlassen und leer. Wir bogen gerade in die Straße ein, in der mein Haus stand, als das Telefon klingelte. Es war Tom, der sich erkundigte, wie die Lage war. Ich sagte ihm, dass wir jeden Augenblick auf die Auffahrt kommen würden und er bestätigte mir, dass die Garage geöffnet sei und er am Tor bereit stünde, um es hinter uns gleich wieder zu schließen. Leider erwähnte er auch noch, dass Nina bei ihren Recherchen bisher nichts Brauchbares gefunden hatte. Das verwunderte mich allerdings nicht sehr. Denn wenn schon Paul keinen Weg wusste, wie man sich eines Mantikors entledigte, wie sollte dann etwas darüber im Internet zu finden sein? Mit quietschenden Reifen – ich würde Nina nach diesem Ausflug vier neue besorgen müssen – bog ich in meine Auffahrt. Tom stand dort wie versprochen bereit und winkte uns zu. Mit einer Geschwindigkeit bei der ich hoffte, dass die Bremsen gut genug waren um das Auto zum Halten zu bringen, bevor wir das Ende der Garage erreichten, fuhr ich durch das Tor. Wieder quietschte es und ein stinkender Qualm entwickelte sich, als ich mit beiden Füssen das Pedal trat und mit aller Kraft in die Eisen ging. Sogar die Handbremse zog ich an, um einem Aufprall mit der Wand zu entgehen. Nur wenige Millimeter vor der Mauer kam der Wagen tatsächlich zum stehen. Paul und ich nahmen uns danach noch nicht mal die paar Sekunden um tief durch zu atmen, sondern sprangen sofort aus dem Auto. Ich hechtete zu Tom, und half ihm, das Garagentor zu schließen. Es war ein Schwingtor aus Metall. Da ich jedoch gesehen hatte, wie leicht die Krallen des Mantikors sich in das Blech von Ninas Auto gebohrt hatten, war ich mir sicher, dass das Tor uns nicht lange Schutz bieten konnte. Gerade hatten wir den Griff umgelegt und die Garage verriegelt, als das Monster auch schon dagegen prallte. Das Tor hatte nun eine sehr dicke Beule und hing auch schon etwas schief, hielt diesem ersten Ansturm jedoch erst mal Stand. Sogleich bearbeitete es der Mantikor mit seinen Tatzen. Wir konnten deutlich sehen, wie die Krallen durch das Blech schnitten, als wäre es warme Butter. Nach wenigen Sekunden waren nur noch Fetzen vom Tor übrig. Tom, Paul und ich rannten zur Tür, die von der Garage ins Haus führte. Als wir gerade dort angelangten, gab das Tor seinen Widerstand ganz auf und mit einem letzten Ruck wurde es aus der Verankerung gerissen. Sofort sprang der Mantikor herein und stürzte sich, ohne viel Zeit zu verschwenden, auf Ninas Auto. Scheinbar dachte das Monster, dass wir noch immer darin waren. Das Biest tat seine Arbeit so gründlich, dass neue Reifen für den Wagen nun auch nicht mehr nötig waren. Den kurzen Augenblick, in dem das Auto zerlegt wurde, nutzten wir dazu, die Garage zu verlassen. Ich schob Paul vor mir her durch die Tür und schrie Tom zu, er solle sich beeilen. Der Mantikor ließ bei meinem Schrei vom Auto ab und stürzte in unsere Richtung. Paul und ich waren bereits durch die Tür und Tom konnte sich so gerade eben noch hindurch retten, bevor das Monster ihn packte. Wir schlugen die Tür zu und verriegelten Sie. Es war eine dicke Brandschutztür aus Metall an deren Innenseite Diebstahlsicherungen angebracht waren, die auf jeden Fall mehr aushielten als das dünne Garagentor. Bei der immensen Wut, mit der der Mantikor inzwischen vorging, würde ihn diese Barriere jedoch auch nicht länger als ein paar Minuten aufhalten.

Nina erwartete uns im Haus. Sie schaute verwirrt von uns zu der Tür, die bereits so sehr in den Angeln wackelte, dass der Putz bröckelte, und dann wieder zu uns. Tom hielt sich den Arm und zog ein schmerzverzerrtes Gesicht.

„Was hast du?“, fragte Nina ihn.

„Keine Ahnung. Es tut höllisch weh. Fast so, als hätte ich mich verbrannt.“

Tom zeigte uns seinen roten Arm. An einigen Stellen bildeten sich kleine Brandblasen.

„Das ist der Atem des Mantikors“, meinte Paul. „Ich habe dir doch erzählt, dass er eine enorme Hitze in sich trägt. Die ist so groß, dass sein Hauch alles in direkter Nähe verbrennt.“

„Also du solltest dir wirklich vorher überlegen, wen du alles zu uns nach Hause mitschleppst“, sagte Tom. „Als du Paul hierher gebracht hast, war das ja noch in Ordnung. Aber dieses Ding da“, Tom deutete mit dem Kinn auf die Tür, hinter der immer noch der Mantikor wütete, „das geht eindeutig zu weit.“

Für unseren sonst eigentlich stets ernsten und verschwiegenen Schlosserlehrling war das eine erstaunliche Aussage. Zusätzlich lenkte uns seine Bemerkung in dem nötigen Maß von dem Monster ab, das uns bedrohte, damit wir nicht in Panik verfielen. Auch wenn die Lage sich bisher noch überhaupt nicht zu unseren Gunsten verändert hatte, mussten wir dennoch versuchen, einen klaren Kopf zu bewahren. Wenn wir einigermaßen heil aus dieser Sache heraus kommen wollten, war das unsere einzige Möglichkeit.

„Los, wir gehen erst mal in mein Zimmer“, schlug Tom vor. „Wenn uns dann nichts Besseres einfällt, können wir dort aus dem Fenster klettern.“

Das Zimmer von Tom war das nächste für uns. Sein Vorschlag schien also der richtige zu sein, und wir vier rannten los. Nachdem wir alle dort waren, schlossen wir dir Tür und schoben eine Anrichte als zusätzlichen Ballast davor. Wir glaubten zwar nicht, dass sie uns wirklichen Schutz bot, doch es beruhigte immerhin unsere Nerven. Ich schaute mich bei Tom im Zimmer um und entdeckte einen Baseballschläger der neben einigen Fußballpokalen auf einer weiteren Kommode lag. Gerade als ich mir den Schläger griff, konnten wir hören, wie die Tür zur Garage mit einem lauten Krachen aus den Angeln flog. Der Mantikor musste sie komplett mit den Diebstahlsicherungen aus der Wand gerissen haben. Danach wurde es erst einmal still. Wahrscheinlich wollte sich das Ungeheuer orientieren und unsere Spur wieder aufnehmen. Wir vier standen in Toms Zimmer, starrten die Tür an und erwarteten das Unvermeidliche. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Untier auch hier einbrach. Die Minuten des Wartens waren grauenvoll und beängstigend. Meine Hände umklammerten den Griff des Baseballschlägers und schwitzen ungemein. Wo war dieses Monster nur? Wieso war es plötzlich so ruhig geworden? Hatte es das Haus verlassen und war nun selbst auf dem Weg zum Fenster, das wir zu unserem Fluchtweg auserkoren hatten? Oder hatte es etwa ganz von uns abgelassen und suchte sich bereits neue Opfer? Keiner von uns wagte sich zu rühren oder nur ein Wort zu sagen. Nach uns unendlich erscheinenden Minuten bemerkten wir schließlich, wie sich ein Fleck auf der ansonsten weißen Tür bräunlich verfärbte. Der Fleck wurde immer größer und dunkler. Der Lack bekam Risse und es stieg feiner Rauch auf, der sich bald verdichtete. Als sich zuerst eine feine Glut zeigte und danach offene Flammen auf dem Türblatt tanzten, war klar, was passierte: Der Mantikor brannte sich mit seinem heißen Atem durch das Holz. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, diese Tür ebenfalls einzudrücken um zu uns zu gelangen. Doch genau so wie ich während der Verfolgungsjagd mit ihm, spielte nun der Mantikor mit uns. Das Unheil in Form einer langsam immer größer werdenden Öffnung auf uns zukommen zu sehen, war schlimmer, als ein schneller Durchbruch. Diese Taktik zur Mürbemachung beherrschte scheinbar auch unser Angreifer.

Nina war bereits auf dem Weg zum Fenster, als das erste kleine Loch in der Tür zu erkennen war. Tom hingegen sprintete plötzlich zu der Anrichte, von der ich den Baseballschläger genommen hatte und lud sich die Arme mit seinen Pokalen voll. Danach rannte er zurück zur Tür, nahm eine der Trophäen in die Hand und hielt sie vor den immer größer werdenden Brandfleck. Als das Loch im Holz so groß wie der Kopf eines Kindes war, konnten wir dort hindurch direkt in den Rachen des Monsters blicken. Tom musste sein Gesicht abwenden, so groß war die Hitze, die ihm entgegen schlug. Doch war das auch genau der Moment, auf den er anscheinend gewartet hatte. Blitzschnell und nacheinander warf er seine Pokale in den Schlund des Untiers und brachte sich dann wieder neben uns in Sicherheit. Einige Sekunden lang geschah nicht viel. Doch dann konnten wir durch das Loch erkennen, wie der Mantikor sein Maul schloss und sich zurück zog. Danach hörten wir eine Art Würgen und ein wildes Krachen und Rumpeln, als würde er wie von der Wespe gestochen durch das Haus toben. Tom ging vorsichtig zum Loch in der Tür und spähte hindurch. Als ihm nicht sofort der Kopf abgerissen wurde, gesellten wir anderen uns zu ihm. Es bot sich uns ein unglaubliches Bild. Offensichtlich voller Panik und in großer Todesangst, sprang der Mantikor herum. Dabei senkte er immer wieder den Kopf und es sah aus, als versuchte er zu Husten oder zu Würgen. Mit seinen Vorderbeinen fuhr er sich zusätzlich ständig über die Kehle. Nach einiger Zeit brach er dann zusammen und wand sich noch ein paarmal auf dem Boden, bevor er schließlich still auf dem Rücken liegen blieb. Ein letztes Mal zuckte seine linke hintere Pfote, danach schlossen sich seine Augen und der Kopf fiel zur Seite. Wir beobachteten das nun reglos am Boden liegende Wesen noch einige Minuten. Als sich nichts tat, schoben wir die Anrichte zur Seite und öffneten die Tür. Sehr vorsichtig und immer noch damit rechnend, dass sich das Monster jeden Moment wieder aufrichten und auf uns stürzen würde, näherten wir uns. Etwa zwei Meter vor ihm blieben die anderen zurück und ich ging, den Baseballschläger wie ein Schwert vor mir her tragend, alleine weiter. Als ich nah genug herangekommen war, berührte ich eine der Pfoten mit dem Schläger. Keine Reaktion. Ich ging noch einen Schritt näher und drückte das Ende des Schlägers nun in die Seite des Monsters. Wieder keine Reaktion. Den Blick aus Angst davor, es könnte sich doch um einen hinterlistigen Trick, eine weitere Spielerei handeln, nicht von dem Mantikor abwendend sagte ich: „Ich glaube, dass er tot ist.“

Nun traute sich auch Paul näher heran. Sehr vorsichtig und jederzeit zur Flucht bereit streckte er seine Hand aus und legte sie auf die Brust des Monsters um dessen Herzschlag zu fühlen. Dann drehte er sich zu uns um und sagte: „Ich kann es nicht glauben. Der Mantikor ist tatsächlich tot.“

Gleichzeitig wandten sich nun Nina, Paul und ich in Toms Richtung und verlangten stumm eine Erklärung dafür, was wir hier gerade erlebt hatten. Tom ließ sich auf einen Stuhl hinter sich fallen, der erstaunlicher Weise den Todeskampf des Mantikors unbeschadet überdauert hatte und sagte: „Wir standen in meinem Zimmer und der Schmerz der Verbrennung an meinem Arm nahm gerade wieder zu, als ich eine Idee bekam. Wenn der Atem dieses Dings so heiß war, dass er bei mir in kürzester Zeit zu solchen Verbrennungen führte und sich durch eine massive Holztür fressen konnte, dann könnte er vielleicht auch Metall schmelzen, dachte ich. Ich bräuchte nur etwas mit einem niedrigen Schmelzpunkt. Natürlich kam ich zuerst auf Blei, doch wusste ich auch, dass ich keines in meinem Zimmer hatte. Dann fielen mir meine Pokale ein, die aus Zinn waren, das ebenfalls nicht viel Hitze benötigt, um es flüssig werden zu lassen. Ich dachte, einen Versuch sei es auf jeden Fall wert und schmiss dem Ding die Pokale in den Rachen. Dort müssen sie geschmolzen sein und haben auf diese Weise wahrscheinlich dazu geführt, dass es erstickte.“ Mit einem überlegenen Lächeln fügte er hinzu: „Ein Schlosserlehrling kennt sich halt mit Metallen aus.“

 

Wir jubelten und spendeten Tom sogar Beifall für seine geniale Idee und den heldenmütigen Einsatz. Danach gingen wir alle ins Wohnzimmer, das von dem ganzen Chaos zum Glück unbehelligt geblieben war. Tom, Paul und ich räkelten uns bereits auf dem Sofa, als Nina noch mal in die Küche lief. Sie kam mit unserer Hausapotheke in der Hand zurück und setzte sich neben unseren Retter. „Lass mal sehen!“, sagte sie und meinte damit Toms verbrannten Arm. „Das sieht nicht gut aus. Hier kann ich dir nur ein kühlendes Tuch auflegen. Aber wir müssen damit auf jeden Fall ins Krankenhaus fahren. Das muss behandelt werden.“

Als Nina „fahren“ sagte, fiel mir ein, dass sie noch gar nicht wusste, dass ihr Auto nur noch ein Haufen Schrott war, in dem Sie mit Sicherheit nirgendwohin mehr fahren würde. Etwas stammelnd begann ich, ihr davon zu erzählen. Zum Glück unterstützten mich Paul und sogar Tom, die der Meinung waren, dass ich überhaupt nichts dafür konnte, was dem Wagen zugestoßen war. Zuerst war Nina entsetzt und wahrscheinlich auch etwas sauer, doch dann hellte sich ihr Blick wieder auf und sie sagte: „Ach, das Auto ist egal. Hauptsache ist doch, dass uns nichts passiert ist.“

„Fast nichts passiert ist“, korrigierte Tom und hielt zum Beweis seinen Arm in die Höhe. Nina reagierte sofort und legte ihm ein steriles Tuch auf die verbrannte Stelle. Die kühlende Wirkung tat Tom sehr gut, wie wir alle deutlich an seinem Gesichtsausdruck sehen konnten.

„Was machen wir jetzt eigentlich mit dem Mantikor?“, fragte ich. „Wir können ihn ja schlecht bei uns im Flur verfaulen lassen.“

„Das beste ist wohl, wenn wir ihn im Garten vergraben“, schlug Paul vor.

„Vorher würde ich ihn zu gerne noch etwas untersuchen“, warf Nina ein.

Damit war ich nun wieder ganz und gar nicht einverstanden. Paul hatte mir erzählt, dass der Mantikor vergiftete Zähne hat. Wer wusste schon, was er noch alles für Überraschungen bereit hielt, wenn man ihn erst untersuchte und vielleicht sogar noch aufschnitt.

„Dein Forscherdrang in allen Ehren“, sagte ich daher, „aber es ist zu riskant. Selbst tot könnte er noch giftig sein. Paul hat mir erzählt, dass ...“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, kümmern wir uns um den toten Mantikor“, unterbrach mich eine tiefe und uns unbekannte Stimme von hinten. Wie ein Mann sprangen wir auf und ich schwang wieder den Baseballschläger, den ich immer noch bei mir trug, während Nina mit dem Verbandskasten in der Hand drohte. Die Person, zu der die unbekannte Stimme gehörte, schien wenig beeindruckt von unserer Abwehr. Es war ein Mann, der mindestens zwei Köpfe größer als ich war. Sein Haar war lang und fast weiß. Sein Gesicht durchzogen viele Falten und aus seiner großen Nase standen einige Haare hervor. Die schmalen Lippen und das spitze Kinn wirkten, genau wie seine gesamte Körpersprache, herablassend und überheblich. Er trug einen elegant geschnittenen dunklen Anzug mit einer Anstecknadel am Revers. Der Eindringling musterte uns vier und mein ganzes Haus von oben herab und ich meinte zu erkennen, wie er hier und dort die Mundwinkel verbog oder eine Augenbraue hoch zog. Neben ihm standen drei weitere Personen, die ihm nicht ganz unähnlich waren, jedoch seine Körpergröße bei weitem nicht erreichten.

„Mein Name ist Bandarian van Heesen“, sprach er uns schließlich wieder an. Als er seinen Namen erwähnte, bemerkte ich, wie Paul den Kopf leicht senkte, so als ob er ihn begrüßte.

„Ich bin der Marschall des Vorsitzenden des Weißen Rates und nur ihm unterstellt. Ihr neuer Begleiter“, dabei deutete der Marschall mit einem wohl eher als verächtlich zu bezeichnenden Blick auf Paul, „hat Ihnen sicherlich vom weißen Rat berichtet.“

Nein, hatte er nicht. Das musste Paul wohl vergessen haben. Später würden wir darüber zu reden haben, doch nun wollten wir alle erst mal wissen, wie dieser van Heesen und seine Leute hierher gekommen waren, und was sie von uns wollten.

Zu meinem Erstaunen ergriff Paul nun das Wort: „Bitte tretet näher Marschall und setzt euch“, bot er dem hochgewachsenen an.

„Wenn Sie erlauben, möchte ich lieber stehen bleiben.“

„Wer sind sie?“, stellte ich nun die nächste Frage.

„Ich dachte, ich hätte mich eben vorgestellt“, kam es herablassend vom Marschall.

„Ja, natürlich haben Sie das. Wenigstens haben Sie uns Ihren Namen und Ihren Rang genannt. Bis auf Paul hier können wir anderen aber leider wenig damit anfangen. Wir möchten also gerne wissen, was Sie hier wollen, was Sie von uns wollen.“ Langsam machte mich dieser Lackaffe etwas wütend. Wie ich an Toms Blick und vor allem an der kleinen Falte knapp über seinen verengten Augen erkennen konnte, ging es ihm nicht viel anders.

„Nun ja, wenn Sie Ihre Frage direkt so gestellt hätten, dann …“, er tat einen leichten Seufzer, der wohl so etwas wie Verzweiflung ausdrücken sollte. Anschließend fuhr er fort: „Wie gesagt, bin ich der Marschall des Vorsitzenden des Weißen Rates. Der Weiße Rat ist so etwas wie das oberste Gericht in unserer Welt, die Sie Menschen wenig treffend als die mystische Welt bezeichnen. Der Rat erlässt die Gesetzte und Regeln und kümmert sich darum, dass sie eingehalten werden. Was, wie Sie sich bestimmt vorstellen können, nicht immer ganz einfach ist, da es sich bei unserer Bevölkerung um Lebewesen verschiedenster Gattungen handelt, die zudem noch die meiste Zeit über verborgen vor den Menschen leben müssen.“ Hier klang so etwas wie Kritik oder sogar Wut an den bestehenden Verhältnissen mit. Nach einer kurzen Pause führte der Marschall weiter aus: „Natürlich ist dem Weißen Rat das Auftauchen eines Mantikors, oder etwas, das einem Mantikor sehr ähnlich ist, nicht verborgen geblieben. Ihre Begegnung mit diesem Lebewesen wurde aufmerksam beobachtet. Schließlich beschloss der Vorsitzende des Rates, mich zu Ihnen zu schicken, um mit Ihnen zu reden. - Leider.“

Dieses letzte Wort des Bedauerns hätte der eingebildete Marschall besser nicht so deutlich ausgesprochen, denn nun platzte Tom endgültig der Kragen und sagte in barschem Ton:

„Ihre Leute haben uns die ganze Zeit beobachtet und es ist Ihnen dabei nie in den Sinn gekommen, dass wir etwas Hilfe gebraucht haben könnten? Erst jetzt wo die Gefahr vorüber ist, kommen Sie hier her und behandeln uns derart herablassend.“

Paul blickte bei Toms Worten ziemlich besorgt drein und versuchte ihm mit der Hand unauffällig zu bedeuten, dass er sich etwas zurückhalten sollte.

„Was wollen Sie nun also von uns?“, fügte Tom brummend hinzu.

„Zuerst einmal lässt der Vorsitzende Ihnen seine Anerkennung für den Kampf gegen die Kreatur übermitteln.“ Es schien, als kämen diese lobenden Worte dem Marschall nicht leicht über die Lippen. „Es wurde übrigens beschlossen, den Tod an diesem Wesen nicht weiter zu untersuchen und keinerlei Ermittlungen gegen Sie durchzuführen.“

„Der Weiße Rat mag bei Ihnen das Maß aller Dinge sein“, mischte sich nun auch Nina ein, „wir unterliegen jedoch der menschlichen Gerichtsbarkeit. Da zwischen unseren Welten so etwas wie diplomatische Beziehungen bestehen, müssen Sie das anerkennen. Ermittlungen gegen uns, die Sie durchführen, wären also keinesfalls gerechtfertigt. Mal ganz abgesehen davon, dass es sich hier eindeutig um einen Fall von Selbstverteidigung handelt. Und nicht zuletzt haben wir mit unserer Tat schließlich auch ein Mitglied Ihrer Welt geschützt.“

„Wie auch immer“, wiegelte der Marschall Ninas Plädoyer wie beiläufig ab, „der Vorsitzende hat mich beauftragt, die Überreste dieses Wesens zu bergen.“ Van Heesen meinte damit den Mantikor.

„Wenn Sie gestatten, werde ich mich nun wieder zurück ziehen. Meine Anwesenheit ist hier nicht länger von Nöten.“ Unseren Einwänden und Fragen vorgreifend fügte er schnell hinzu: „Mein Adjutant hier wird Ihnen weiterhin zur Verfügung stehen und sich um alles weitere kümmern. Er genießt mein volles Vertrauen.“

Ohne ein weiteres Wort von uns zuzulassen, machte der großkotzige Marschall auf dem Absatz kehrt und ging schnellen Schrittes auf den riesigen Wandspiegel zu, der schon seit ich denken konnte bei uns im Wohnzimmer hing. Zwei der Begleiter des Marschalls verschwanden in den Flur, kamen kurz darauf mit dem geschulterten Kadaver des Mantikors zurück und liefen ebenfalls zum Spiegel. Als Sie Ihren Vorgesetzten erreicht hatten, machte der eine kurze Bewegung mit der Hand, woraufhin sich die Oberfläche des Spiegels in flüssiges Licht zu verwandeln schien. Der Marschall ging sogleich durch das Licht hindurch und verschwand, ohne sich zu verabschieden, einfach vor unseren Augen. Als auch seine beiden Leute ihm gefolgt waren, verblasste das Licht im Spiegel wieder und wir konnten uns selbst darin sehen, wie wir mit offenen Mündern und vielen, ebenso offenen Fragen im Zimmer standen.

 

„Hallo erst mal“, riss uns die Stimme des Adjutanten aus unserer Verwunderung. „Mein Name ist Hexelius Berg. Wie der Marschall bereits erwähnt hat, bin ich sein Adjutant. Wenn Sie Fragen haben, werde ich sie Ihnen gerne beantworten.“

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