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Post Fabula - Die Wahrheit ist ein Märchen

Eine Serie

Folge 3 - Reparaturen, Streit und ein Besuch in der Bücherei

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Informationen

 

„Wohin sind der Marschall und die beiden anderen Typen verschwunden?“

„Was ist mit dem Spiegel?“

„Was passiert nun mit uns?“

„Wer ist der Vorsitzende des Weißen Rats?“

„Wieso werden wir beobachtet?“

„Gibt es hier noch mehr von euch?“

„Kann es sein, dass dieser van Heesen Menschen nicht besonders mag?“

„Wie geht es nun weiter?“

„Woher kam der Mantikor?“

„Was sind Sie? Sie sind kein Mensch!“

„Werden uns noch andere Bestien überraschen?“

„Werden Sie uns etwas antun?“

 

Natürlich hatten wir Fragen und die stellten wir alle auf einmal und alle durcheinander. Nina, Tom und ich überschlugen uns fast dabei. Wir plapperten einfach drauf los und sagten das, was uns gerade in den Sinn kam. Es war egal, ob einer von uns diese Frage vorher schon gestellt hatte, oder ob wir uns die Antwort auch selbst hätten geben können. Wir sollten ihn fragen, also fragten wir.

Der Adjutant, Hexelius Berg, hatte allerdings gar keine Möglichkeit nur eine Antwort zu geben. Wie sollte er auch? Wir ließen ihn ja nicht zu Wort kommen, da wir ununterbrochen redeten. (Wenn man zu dritt ist und sich abwechselt, klappt das wirklich ganz hervorragend. (Das ist übrigens eine Gesprächstaktik, die jedes Gegenüber in kürzester Zeit mürbe machen kann.) Hexelius Berg holte ein- oder zweimal Luft, um auf uns einzugehen, schaffte es aber noch nicht einmal, unserem Redeschwall nur eine einzige Silbe entgegen zu setzen. Er bedeutete uns, dass wir ruhig sein sollten, damit er die Möglichkeit hätte zu erklären, was wir wissen wollten. Doch bedingt durch die Aufregung von gerade eben floss noch immer pures Adrenalin in unseren Adern und hielt uns auf Trab. Wir waren wie Kleinkinder, die heimlich den Jahresvorrat an Energydrinks ihrer Eltern ausgetrunken hatten. Hexelius Berg erkannte, dass er nichts tun konnte als abzuwarten und setzte sich deshalb mit einem Seufzer in einen Sessel der Couchgarnitur. Er hatte kapituliert und musste sich gedulden, bis wir von alleine wieder zur Ruhe gekommen waren.

 

Nach dem Abenteuer, das hinter uns lag, war das zur Ruhe kommen allerdings nur schwer möglich. Inzwischen liefen wir zwar nicht mehr ganz so auf Hochtouren und es bestand – nach unserer Einschätzung – auch keine direkte Gefahr mehr, aber wenn man sich bei uns im Haus umsah, konnte man die sehr eindeutigen Spuren der außergewöhnlichen Vorkommnisse dieser Nacht gut erkennen. Ein Umfeld also, das zum Entspannen nicht gerade einlud.

Es hatte alles damit angefangen, dass ich in der Nachbarstadt gewesen war, um dort in einem schwulen Lokal etwas zu trinken. Durch Zufall hatte ich in einem Club Marc kennengelernt, mit dem ich in meinem Auto ein kleines sexuelles Abenteuer starten wollte. Wir kamen jedoch nicht dazu, denn plötzlich bemerkte ich, dass Paul, der Wichtel, ebenfalls mit von der Partie war. Nachdem ich Marc unter einem bescheuerten Vorwand abgewimmelt hatte, sah Paul durch die Dunkelheit einen Mantikor auf uns zukommen. Diese blutrünstige Bestie hatte es scheinbar auf uns abgesehen und wollte uns anfallen. Nach einer wilden Verfolgungsjagd erreichten wir mein Haus, in dem Nina und Tom, die ich vorher telefonisch verständigt hatte, auf uns warteten. Wir verschanzten uns in Toms Zimmer und nur durch den Mut und Einsatz unseres jüngsten WG-Mitglieds gelang es uns schließlich, den Mantikor zu überwältigen und zu töten. Tom hatte sich während des Kampfes mit dem Monster schlimme Verbrennungen am Arm zugezogen, die von Nina provisorisch versorgt worden waren. Wir hatten gerade gedacht, dass das genug Überraschungen für einen Abend gewesen waren, als wie aus dem Nichts Bandarian van Heesen mit seinem Adjutanten Hexelius Berg und zwei weiteren seiner Männer aufgetaucht war. Der Marschall des Vorsitzenden des Weißen Rates der Mystischen Welt gewann uns in dem knappen Gespräch, das wir miteinander führten, nicht gerade als seine Fans, sondern machte sich, durch seine Überheblichkeit und die herablassende Art in der uns behandelte, im Gegenteil sogar sehr unbeliebt. Als er und zwei seiner Männer mit dem leblosen Körper des Mantikors durch den Wohnzimmerspiegel wieder verschwunden waren, blieb nur Hexelius Berg zurück, der uns zu voreilig versprochen hatte, alle unsere Fragen zu beantworten. Das war ein Angebot, das er in der Zwischenzeit wahrscheinlich bitterlich bereute.

 

Irgendwann ging jedoch auch Nina, Tom und mir die Puste aus. Wir wurden ruhiger und ließen das Bombardement von Fragen sein. Diese Gelegenheit nutzte Hexelius Berg sofort, um das Wort zu ergreifen.

„Wenn Sie jetzt zuhören wollen, will ich gerne versuchen, Ihre Neugier zu stillen, so weit ich das kann“, begann er seine Ausführungen. „Zuerst einmal lassen Sie mich erwähnen, dass Sie nun in Sicherheit sind und Ihnen keine Gefahr mehr droht. Der Mantikor ist tot und wird keinen Schaden mehr anrichten.“ Zu Tom gewandt sagte er: „Das mit den Pokalen und Trophäen war übrigens eine glänzende Idee. Noch nie habe ich davon gehört, dass jemand einen Mantikor ohne magische Unterstützung besiegt hat. Alleine damit haben Sie sich einen Namen in der mystischen Welt gemacht.“

Tom wurde etwas verlegen, nuschelte unverständliches Zeug und errötete leicht. Anfangs hatte er den Sieg über das Monster zwar auch voll und ganz ausgekostet, doch nun, wo wieder etwas Ruhe eingekehrt war, waren ihm solche Lobreden unangenehm. Tom war schon immer ziemlich bescheiden und mochte es gar nicht, wenn sich alles nur um ihn drehte. Um etwas vom Thema abzulenken sagte er daher: „Mein Name ist Tom. Bitte duzen Sie mich einfach. Sonst glaube ich ständig, dass Sie mit jemand anderem reden.“

Hexelius Berg stimmte dieser Aufforderung gerne zu, bestand seinerseits aber darauf, dass wir ihn ebenfalls duzten. Wir sollten seinen Vornamen einfach abkürzen und ihn Hex nennen, da das ohnehin alle seine Freunde und Bekannten so taten. Danach begann er, einige unserer Fragen zu beantworten. So erklärte er, dass der Marschall, die beiden anderen Personen und er selbst, durch den Wohnzimmerspiegel zu uns gelangt sind. Dabei handelte es sich nämlich in Wirklichkeit um eine Art Portal oder Schleuse, so etwas wie einen magischen Teleporter. Wir hörten, dass diese Art Zauberspiegel an einigen Orten zu finden waren und ein Netz zur schnellen Reise darstellten. Zu erfahren, dass der große Spiegel, der schon immer bei mir im Wohnzimmer hing, der Zugang zu einer anderen Welt war, erstaunte mich nicht schlecht. Ich nahm mir vor, später noch näher darauf einzugehen. Hex erklärte weiterhin, dass man unsere WG schon seit Pauls Eintreffen bei uns beobachtet hatte. Der Weiße Rat war, das hatte uns bereits der Marschall gesagt, eine Art Gericht in der mystischen Welt, das für Recht und Ordnung sorgte. Pauls Auftauchen bei uns blieb von diesem Rat also scheinbar nicht unbemerkt und man hatte beschlossen, uns erst einmal zu überwachen und abzuwarten, was passierte. (Im Grunde konnten wir dagegen nichts sagen, denn wir drei hatten uns genau so entschieden, als wir den Wichtel bei uns aufnahmen, um so vielleicht dahinter zu kommen, warum er gerade zu uns gekommen war.) Dass der Weiße Rat aber vom Mantikor und davon, dass er uns verfolgte, erfuhr, war eigentlich nur ein Zufall, wie Hex uns nun berichtete. Es war nämlich so, dass es in dem Club, in dem ich Marc kennengelernt hatte, ein Mitglied aus der mystischen Welt gab.

„Wie? Was für ein Mitglied? Mir ist da niemand besonders aufgefallen“, warf ich ein.

„Das glaube ich gerne“, erwiderte Hex. „Die Person, die ich meine, ist äußerlich ein Mensch. Doch in Wirklichkeit handelt es sich bei ihr um einen Therianthropen.“

Unverständlich schaute ich Hex an und überlegte, was er mir sagen wollte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon er gerade sprach und war daher froh, als Nina nachhakte.

„Du meinst also, in diesem Club war jemand, der sich in ein Tier verwandeln kann?“

„Natürlich“, antwortete Hex, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt. „Er kann wahlweise die Gestalt eines Menschen oder eines löwenartigen Wesens annehmen.“

„Wer war es?“, wollte ich nun wissen.

„Du hast dich sogar mit ihm unterhalten“, antwortete Hex. „Es ist Dirk, der Barmann.“

Tom und ich mussten weiterhin ein unverständliches Gesicht gemacht haben, denn Nina erklärte uns nun, dass der Begriff Therianthropie aus dem Griechischen stammt und die Verwandlung eines Menschen in ein Tier oder ein einem Tier sehr ähnliches Wesen beschreibt. Hex fügte Ninas Erläuterungen hinzu, dass es unterschiedliche Therianthropen gäbe. Dirk zum Beispiel konnte sich in eine aufrecht stehende Gestalt verwandeln, die am ehesten mit einer Mischung aus Mensch und Löwe zu vergleichen war. Andere Therianthropen nahmen Wolfs- oder Bärenformen an und es gab sogar Mischwesen aus Mensch und Vogel. Eine andere Form dieser Gestaltwandler waren diejenigen, die sich vollständig in ein Tier verwandelten, wenn Sie es wollten. Auf jeden Fall erfuhren wir, dass zum Beispiel unsere Sagen und Erzählungen, die von Werwölfen handelten, ihren Ursprung in diesen Wesen hatten. Im übrigen seien diese Leute aber völlig harmlos und nicht im geringsten die Bestien, als die sie uns bisher immer beschrieben wurden. Meine Erfahrungen mit Dirk bestätigten diese Aussage voll und ganz. Zusätzlich sagte ich mir, dass seine spezielle Fähigkeit auch Dirks ziemlich ausgeprägte Körperbehaarung erklärte.

„Kurz nachdem du und Marc die Bar verlassen hatten, spürte Dirk die Anwesenheit eines weiteren Bewohners der mystischen Welt“, fuhr Hex fort.

„Wer ist Marc?“, hakte Tom sehr interessiert nach, der diesen Namen zum ersten Mal hörte.

„Nur irgendjemand, den ich in dieser Bar kennengelernt habe“, erläuterte ich und drängte gleichzeitig darauf, dass Hex weiter erzählte. Tom machte mir allerdings den Eindruck, dass er mit meiner knappen Antwort noch nicht ganz zufrieden war.

„Dirk bemerkte eine außergewöhnlich starke Präsenz und beschloss daher nachzusehen. Als er aus der Bar kam, wart ihr gerade im Auto losgefahren und der Mantikor setzte hinter euch her. Dirk verständigte sofort den Weißen Rat über diesen Vorfall“, berichtete Hex weiter.

Der Rat ließ uns daraufhin von seinen Mental-Magiern beobachten. Dabei erkannte man, dass es tatsächlich ein Mantikor war, der uns verfolgte. Diese Erkenntnis war auch für den Weißen Rat nicht einfach hinzunehmen, da man dort ja davon ausging, diese Wesen seien ausgerottet worden. Als sich herausstellte, dass wir versuchten zu meinem Haus zu flüchten, wurden der Marschall van Heesen und seine drei Leute zu uns geschickt. Dass es bei mir einen Zauberspiegel gab, war dem Rat wohl schon länger bekannt und so konnte man hoffen, noch rechtzeitig einzutreffen, um uns zu helfen und das Monster zu bekämpfen. Wie sich jedoch zeigte waren wir – oder vielmehr Tom – bereits alleine mit der Bedrohung fertig geworden.

 

Inzwischen saßen wir alle im Wohnzimmer und unterhielten uns angeregt. Hex stellte sich als das genaue Gegenteil seines Vorgesetzten, des Marschalls van Heesen, heraus. Er war nett und höflich und bei ihm waren keinerlei Vorbehalte uns Menschen gegenüber zu spüren. Unser anfänglicher Argwohn gegen den Adjutanten löste sich bald in Wohlgefallen auf. Wahrscheinlich war es ohnehin nur die Abneigung, die wir gegen van Heesen hegten und die wir nun auf seinen Untergebenen projizierten. Je länger wir uns mit Hex unterhielten, desto sympathischer wurde er uns. Hier und da konnten wir aus seinen Worten hören, dass auch er nicht immer von der Art seines Vorgesetzten überzeugt war. Scheinbar behandelte der Marschall nicht nur uns so herablassend. Auch seinen Leuten gegenüber war er nicht gerade freundlich. Hex bekleidete keinen sehr hohen Rang. Ein Adjutant war nicht mehr als ein besserer Laufbursche zu. Van Heesen ließ Hex das offenbar immer wieder gerne spüren. So war es auch keinesfalls als Auszeichnung gedacht, als er ihn hier bei uns gelassen hatte. In seinen Augen war das eine undankbare und minderwertige Aufgabe. Genau das richtige also für seinen kleinen Adjutanten. Die Worte des Marschalls, dass er Hex als Person voll und ganz vertraute, galten über dies auch nicht als Anerkennung ihm gegenüber, sondern sollten vielmehr klarstellen, dass er uns Menschen noch viel weniger Vertrauen entgegenbrachte. Abgesehen von diesen charakterlichen Schwächen war van Heesen allerdings ein erfahrener Soldat, der sich schon mehrfach um die mystische Welt verdient gemacht hatte. Sein Leumund war tadellos und er genoss ein hohes Ansehen beim Weißen Rat.

Hex erklärte uns, dass wir nicht rund um die Uhr unter Beobachtung gestanden hätten. So eine Aktion, wie den Angriff durch den Mantikor konnte niemand vom Weißen Rat im Geringsten voraussehen oder nur ahnen. Sonst wäre man – das versicherte Hex uns mehrfach – natürlich viel wachsamer gewesen. Stattdessen hatte man lediglich in unterschiedlichen Abständen immer mal wieder bei uns vorbeigeschaut, um sich ab und zu auf den neuesten Stand zu bringen. Pauls Einzug in unsere WG wurde also registriert, bisher aber nicht als wichtigster Punkt auf der Tagesordnung geführt. (Das hatte sich mit den Ereignissen des heutigen Tages wahrscheinlich grundlegend geändert.) Wir drei Menschen und auch Paul sahen ein, dass der Rat alles getan hatte, uns zu helfen, nachdem man schließlich die tödliche Gefahr von heute Abend erkannt hatte, und waren dadurch wieder einigermaßen versöhnt.

„Wie geht es nun aber weiter?“, fragte Tom schließlich.

„Das genaue Vorgehen wird noch beraten“, antwortete Hex.

Es war schön zu hören, dass die Politiker der mystischen Welt offenbar genau so wenig entscheidungsfreudig waren, wie unsere menschlichen Politiker.

„Diese Situation ist, das müsst ihr verstehen, alles andere als normal. Ihr wurdet von einem Wesen bedroht, das es eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Das wird noch für einige Aufregung bei uns sorgen.“

„Dass das alles nicht normal ist, sehe ich schon, wenn ich mir die Verwüstung hier im Haus und meine Verletzung ansehe“, sagte Tom, der sich immer noch den Arm mit dem provisorischen Verband hielt.

„Oh, natürlich. Das habe ich ja fast vergessen“, Hex kramte in einer Tasche seiner Jacke und brachte eine kleine Ampulle mit einer grünlichen Flüssigkeit (die Farbe erinnerte mich an die im Mixer zerkleinerten Kiwis, die Paul manchmal unter sein Müsli rührte) zum Vorschein. Er stand auf und ging zu Tom hinüber.

„Ich wollte dich ja noch verarzten“, sagte Hex und öffnete den Verschluss der Ampulle.

Tom wusste nicht genau wie er reagieren sollte und versank daher erst mal etwas tiefer in den Polstern der Sitzgarnitur. Die Vorstellung, mit einer unbekannten Flüssigkeit behandelt zu werden, gefiel ihm offensichtlich gar nicht. Verunsichert schaute er zwischen uns hin und her und blieb dann schließlich bei Paul hängen. Der Wichtel nickte vertrauensvoll und sagte: „Lass ihn nur machen. Er will dir wirklich helfen. Das ist eine Medizin, die deine Verbrennungen sofort heilen wird. Nur keine Angst.“

Paul war nun schon einige Zeit bei uns und wir hatten inzwischen so weit Vertrauen zu ihm aufgebaut, dass wir seinem Urteilsvermögen in dieser Sache Glauben schenkten. Daher entspannte sich Tom nach den beruhigenden Worten des Wichtels sichtlich und ließ Hex schließlich an den Verband. Vorsichtig und darauf achtend, dass er Tom keine unnötigen Schmerzen zufügte, nahm der Adjutant den Verband ab. Der Arm sah inzwischen sehr schlimm aus. Es waren noch mehr Blasen entstanden, die teilweise auch schon wieder aufgeplatzt waren und ihren ekelhaften Inhalt über die Wunde verteilten. An einigen Stellen konnte ich sogar bloßes Fleisch erkennen und mir wurde klar, dass Tom Höllenqualen vor Schmerz gelitten haben musste. Im Stillen bewunderte ich ihn für sein Durchhaltevermögen. Hex hatte den Arm inzwischen ganz freigelegt und ließ die Medizin aus der Ampulle über die Wunde laufen. Es war eine dicke, zähe Flüssigkeit, die sich langsam über den verbrannten Bereich verteilte. Nach einigen Augenblicken war die Arznei vollständig eingezogen. Die wunden Stellen verfärbten sich nun ebenso grünlich, wie der Inhalt der Ampulle und Tom schaute ängstlich auf die für einen menschlichen Arm ungewöhnliche Farbe. Kurz darauf veränderte sich der Ton jedoch zu einem strahlenden Gold. Ein Schimmern legte sich über die behandelte Fläche und als es bald darauf wieder verblasste, war Toms Arm (Tadadadaaa) völlig in Ordnung. Nur eine leichte Rötung war noch zu erkennen; Ansonsten waren die schlimmen Verbrennungen und die Blasen völlig zurückgegangen und das rohe Fleisch war von neuer Haut bedeckt. Noch etwas zögerlich und misstrauisch berührte Tom den Arm mit seiner Hand. Als er feststellte, dass er keine Schmerzen mehr hatte, griff er fester zu, strahlte Hex ergeben an und sagte: „Danke sehr!“

„Schon gut. Das ist keine große Sache für uns. Das war eine Mixtur aus Kräutern, Wurzeln und einigem anderem. Bei uns kann jedes Kind so etwas zusammenbrauen.“

Erneut griff Hex danach in eine Tasche und wir waren gespannt, was er nun daraus hervor holen würde. Kurz darauf schmiss er ein Bündel mit Geldscheinen auf den Wohnzimmertisch.

„Der Weiße Rat kommt natürlich für den Schaden hier auf“, Hex deutete auf die Zerstörungen, die der Mantikor während seines kurzen aber intensiven Besuchs hinterlassen hatte.

„Dem Rat ist wichtig, dass die mystische Welt für die meisten Leute verborgen bleibt. Er weiß, dass die Schäden hier zu unangenehmen Fragen führen würden. Daher ist er daran interessiert, dass alles so schnell wie möglich aus der Welt geschafft wird.“

Wir drei Menschen und sogar Paul der Wichtel starrten ungläubig auf das Bündel. Es war eine Menge Geld. Weit mehr als die Reparatur des Hauses wahrscheinlich kosten würde, wie vermutlich nicht nur ich auf die Schnelle überschlug.

„Seht den Rest als eine Art Miete für Paul an, der bei euch wohnt. Und ein neues Auto braucht ihr natürlich auch“, fügte Hex lächelnd hinzu.

„Natürlich!“, bestätigte ich sofort. „Und wo wir schon dabei sind: ich wünsche mir seit langem einen Whirpool im Bad.“ (Hey. Man kann es doch mal versuchen, oder nicht! Als kleiner Schreiberling verdiene ich nicht gerade ein Vermögen. Da ist es halt sehr verführend, wenn jemand mit einem Packen Geld vor dir winkt.)

„Dafür wird es wohl nicht mehr reichen. Aber um das noch mal deutlich zu sagen, irgendetwas geht hier bei euch vor. Wir bitten euch, Paul bei euch wohnen zu lassen, bis wir etwas Licht ins Dunkel bringen können. Wenn ich es richtig verstanden habe, war das ja auch euer ursprünglicher Plan. Der Rat rätselt noch, was es genau mit allem auf sich hat. Aber er wird euch bis dahin in jeder Lage unterstützen. Und damit ist nicht nur das Geld hier gemeint.“

Nun griff Hex ein drittes Mal in seine Tasche und zeigte uns ein Mobiltelefon. „Damit erreicht ihr mich jederzeit. Ich bin als eure Verbindungsperson abkommandiert. Der Weiße Rat bittet euch, bei der Aufklärung der Vorfälle behilflich zu sein und uns ebenfalls zu unterstützten.“

 

Die Neugierde unserer WG war schon durch Pauls Einzug bei uns geweckt worden. Klar hatte der Angriff des Mantikors von heute das Ganze auf eine neue Ebene gehoben, aber schließlich hatten wir das Biest am Ende ja doch noch überwältigt. (Und das sogar, obwohl kein Fachmann der mystischen Welt das jemals für möglich gehalten hätte.) Scheinbar war durch das geheimnisvolle Zutun eines bisher unbekannten Strippenziehers nicht nur Paul zu uns gestoßen, nun hatte uns irgendjemand auch noch ein Monster auf den Hals gehetzt. Die Annahme, dass beide Ereignisse von ein und derselben Person arrangiert worden waren, lag auf der Hand. Wie gesagt, wir waren bereits neugierig und brannten nun sogar förmlich darauf, zu erfahren, wer da mit uns spielte. Hatten uns die Ereignisse der jüngsten Zeit denn nicht besorgt oder sogar beängstigt? Nun ja, seht es doch mal so: wenn ein eigentlich unbesiegbares Monster wie dieser Mantikor mit ein paar billigen Fußballpokalen aus der Kreisliga auszuschalten war, dann konnte das, was immer da noch auf uns zukommen würde, doch auch nicht so gefährlich sein. Der Blick auf meine Mitbewohner zeigte mir, dass sie darüber ähnlich dachten wie ich. Nachdem wir drei uns durch gemeinsames Nicken unserer gegenseitigen Zustimmung vergewissert hatten, sagte Tom: „Wir werden euch helfen. Allerdings nur unter einer Bedingung.“

Hex hatte sich über Toms Antwort gefreut, war nun aber gespannt auf die Forderung, die er stellen würde.

„Keine Geheimnisse mehr“, sagte Tom bestimmt. „Keine verdeckten Aktionen oder heimlichen Absprachen. Wir wollen, dass mit offenen Karten gespielt wird. Wir erzählen euch, was wir erfahren, und ihr haltet uns ebenso so auf dem Laufenden mit dem was ihr herausfindet. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist der Weiße Rat genau so schlau wie wir. Und wir wissen rein gar nichts, haben keine Idee dazu, was hier gespielt wird. Wenn wir eine Allianz bilden, dann gibt es dabei also keinen Unterlegenen oder Befehlsempfänger, sondern einzig und allein zwei gleichberechtigte Partner. Das ist unsere einzige Auflage. Aber wenn die nicht erfüllt wird, dann gibt es auch keine Kooperation!“

Tom machte durch seinen Tonfall klar, dass es über diese Bedingung keine Diskussion geben würde. Doch das hatte Hex offenbar auch nicht vor und stimmte sofort zu. Das Mobiltelefon wechselte von seiner in Toms Hand und symbolisierte damit so etwas wie eine neue Allianz zwischen den Menschen und der mystischen Welt. Mir ging kurz durch den Kopf, ob wir uns da nicht auf eine Sache einließen, die einige Nummern zu groß für uns war, doch verscheuchte ich diese Gedanken, mit Hilfe meines bekanntermaßen fast unerschütterlichen Gemüts, schnell wieder. Von nun an sah ich unsere WG, mit Paul als offiziellem neuen Mitglied, als so etwas wie die letzte Bastion zum Schutz der Menschheit vor dem heraufziehenden Grauen eines noch unbekannten Feindes. Wir waren nun die Retter, die im Verborgenen wachten und sich bereitwillig in den Kampf stürzten, wenn es dazu kommen würde. (Vielleicht sollte ich den Konsum von billigen Fantasy Fernsehserien und Hollywoodfilmen doch mal einschränken. Zum Teil neige ich dadurch scheinbar zu einer etwas verträumten Blickweise.)

„Sag mal, was hat es eigentlich mit dem Spiegel auf sich“, stellte ich nun die Frage, die mich schon länger beschäftigte.

„Oh ja. Das ist ein sehr alter Zauberspiegel“, flüsterte Hex fast erhaben. „Es gibt davon nicht mehr sehr viele. Der Weiße Rat hat natürlich ständigen Zugang zu einem – so sind wir heute auch zu euch gekommen – und darüber hinaus gibt es wohl noch zehn, höchstens fünfzehn, die auf der ganzen Welt verteilt sind. Es handelt sich dabei um uralte und wertvolle Relikte mit großer Zauberkraft. Wie dieser eine Spiegel hier zu euch ins Haus gekommen ist, können wir uns auch noch nicht erklären.“

„Und das bedeutet also, jeder der auch so einen Spiegel hat, kann nun bei uns ein- und ausgehen? Dann können dadurch ja immer neue Monster zu uns geschickt werden“, fasste Nina unsere Besorgnis in Worte.

„Jeder, der so einen Zauberspiegel hat und die nötigen Worte zur Beschwörung kennt könnte das. Aber ich kann euch beruhigen. So mächtig der Zauber auch ist, der in diesen Spiegeln wirkt, man kann sie dennoch auf ziemlich einfache Weise verschließen.“

Wir erwarteten nun, dass Hex uns einen Zauberspruch oder ein Ritual zur Beschwörung verriet, zumindest aber dachten wir, dass wir ein magisches Werkzeug erhalten würden, mit dem wir den Spiegel versperren könnten. Stattdessen sagte Hex einfach: „Hängt eine Decke, ein Laken oder ähnliches davor und keiner kann mehr euer Haus betreten.“

Wieder blickten wir unseren Gast ungläubig und unverständlich an. Leicht amüsiert über unsere verwunderten Gesichter sagte Hex: „Der Spiegel an sich transportiert Lebewesen und Gegenstände durch den Raum. Wird er aktiviert bewirkt seine Kraft, dass alles, was sich direkt davor befindet in seine Energieform aufgelöst und ins Innere des Spiegels gesogen wird. Danach wird diese Energie zu dem Zielspiegel transportiert und am Ankunftsort, allerdings erneut vor dem Spiegel, zu seiner festen Form transformiert. Wenn dafür kein Platz vorhanden ist – zum Beispiel, weil ein Tuch vor dem Zielspiegel hängt – wird der Reisende wieder zurück zum Absender geschickt. Ihr seht also, im Grunde ist es ganz einfach.“

Warum kompliziert, wenn es auch ganz einfach geht? Genau so war Tom ja auch mit dem Mantikor verfahren. Auf diesem Umweg versuchten wir uns Hex' Logik zu erschließen. Dass wir überdies ohnehin keine andere Wahl hatten, als dem Adjutanten in dieser Angelegenheit zu vertrauen, kam noch hinzu. Auf jeden Fall beruhigte uns die Erklärung erst mal.

„Gibt es denn schon Pläne oder Ideen, wie wir weiter vorgehen wollen?“, fragte Tom.

„Da wir im Moment so gut wie nichts wissen, ist es schwierig Pläne zu schmieden. Im Augenblick sieht es so aus, als bliebe uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.“

Das war nicht das, was wir hören wollten. Untätig herum sitzen und auf den nächsten Schritt unseres Gegners warten zu müssen, war etwas, das uns allen gegen den Strich ging. Doch wenn man es mal realistisch betrachtete, hatten wir tatsächlich nichts, das uns weiterhelfen könnte. Außer auf offene Fragen und ungeklärte Rätsel, konnten wir auf nichts zurückgreifen. Da war zum Beispiel Paul, der Wichtel. Aber wer hatte ihn in den Kokon verfrachtet und wie und warum war er zu uns gekommen? Und dann der Mantikor. Wo kam das eigentlich längst ausgestorbene Monster her, wer hatte es auf uns gehetzt und vor allem warum? Und selbst der Spiegel bot ein ungelöstes Geheimnis. Er hing zwar schon seit etlichen Jahren bei uns im Wohnzimmer, doch mit Blick auf die jüngsten Vorkommnisse, stellte sich natürlich die Frage, ob es ein Zufall sein konnte, dass gerade hier bei uns einer dieser sehr seltenen Zaubergegenstände vorhanden war. So gerne wir alle uns auch mit Geheimnissen, Rätseln und kniffligen Aufgaben befassten, der eine oder andere hilfreiche Hinweis wäre uns jetzt sehr gelegen gekommen.

 

„Es gibt da jemanden, mit dem ihr sprechen solltet“, schlug Hex schließlich vor.

„Und wer soll das sein?“, wollte Nina wissen.

„Es ist der Bibliothekar“, sagte Hex.

„Wir sollen in eine Bücherei gehen?“, stöhnte ich wenig begeistert auf. Als moderner Mensch bevorzugte ich eher die neumodischen Wege, um an Informationen zu gelangen. Das Internet, das Fernsehen und von mir aus auch Zeitungen ließ ich mir gefallen. Aber eine staubige Bibliothek vollgestopft mit Büchern, die schon durch hunderte Hände gegangen waren, (Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viele Keime, Bakterien und Viren so ein Leihbuch beherbergt) riss mich nicht gerade von den Socken.

„Nein. - Oder doch, ja. Ihr sollt in eine Bibliothek gehen. Vor allem aber sollt ihr dort mit dem Bibliothekar sprechen.“ Hex‘ hintergründiges Grinsen ließ vermuten, dass er nicht von irgendeiner x-beliebigen Bücherei, sondern von einer ganz besonderen Einrichtung dieser Art sprach.

„Ich würde für euch gerne eine Verabredung mit dem Bibliothekar der Hadriansbibliothek vereinbaren.“

„Hah“, meldete sich unsere superschlaue Nina zu Wort, „die Hadriansbibliothek in Athen wurde im Jahr 132 nach Christus von Kaiser Hadrian gegründet. Sie wurde mehrfach mit Kapellen und Kirchen überbaut. Die Bibliothek an sich gibt es also seit Jahrtausenden schon nicht mehr. Soweit ich weiß, werden momentan Ausgrabungen durchgeführt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass uns ein paar alte Säulen weiterhelfen könnten.“

„Du hast Recht mit allem, was du sagst“, wurde Nina von Hex angegrinst. „Was du aber nicht wissen kannst, ist, dass Hadrian nicht nur die euch bekannte Bibliothek gegründet hat, sondern auch eine mit mystischen Inhalten. Hadrian war enger Vertrauter des Weißen Rates seiner Zeit. Die Menschen und wir arbeiteten Seite an Seite. Der Kaiser wollte, dass das Wissen um Zauberer, Hexen, Fabelwesen und die mystische Welt nicht verloren ginge und gründete daher, mit Unterstützung des Weißen Rates, die Bibliotheka Mirabili in Athen. Dies war mehr als eine Sammlung von Schriften, Büchern und Dokumenten. Die Bibliothek war lange Zeit Treffpunkt für Menschen und mystische Wesen. Sie war ein neutraler, friedvoller Ort an dem man sich austauschte, forschte und philosophierte. Erst etwa anderthalb Jahrhunderte später, als beschlossen wurde, die mystische Welt vor den Menschen zu verbergen, wurde die Bibliothek für die Öffentlichkeit geschlossen. Sie wurde aber in all den Jahren weiterhin betrieben und besteht noch heute.“

„Dann ist ja gut“, sagte ich. „Ich sage schnell dem Piloten Bescheid, dass er unseren Privatjet warmlaufen lässt.“

Hex konnte mit meiner Ironie wenig anfangen und schaute verwundert in die Runde.

„Was Alex meint ist, dass wir ziemlich weit von Athen entfernt sind. Wie sollen wir denn dort hin gelangen? Außerdem müssen wir alle arbeiten oder zur Uni gehen. Wir können nicht so einfach ein paar Tage Urlaub nehmen und eine Reise antreten“, erklärte Nina meine Aussage.

Nachdem wir alle sehen konnten, wie bei Hex der Groschen gefallen war, setzte er wieder sein überlegenes Lächeln auf. Er sah damit aus wie ein Erwachsener, der einem kleinen Kind das Leben erklärt und sich darüber an der Unbedarftheit und Naivität des Kindes erheitert. Und dieser Vergleich ist noch nicht einmal so weit hergeholt. Nina, Tom und ich – zu einem Teil sogar Paul – waren wirklich wie kleine Kinder, die in die große, weite und vor allen Dingen unbekannte Welt traten. Alles was wir hörten, sahen und auch erlebten, war neu und ungewohnt für uns. Wir waren wie Teenager bei ihrem ersten Besuch in einem Vergnügungspark, wie Welpen, die zum allerersten Mal mit ihrer Mutter den Bau verließen, wir waren Entdecker an unbekannten Gestaden.

Hex verstand, dass es nicht so leicht für uns war, nun in zwei Welten denken zu müssen. Das meiste von dem, was wir hörten, überprüften wir immer noch anhand der Lebenserfahrung, der Regeln und der Gesetzte aus der Menschenwelt. Das Problem war nur, dass wir hier und jetzt von Dingen hörten, die sich diesen Regeln nicht unterwarfen. Es war also schwierig für uns, diese Sachen einzuordnen. Im dem Moment als Hex vorschlug, dass wir nach Athen reisen sollten um den Bibliothekar zu treffen, dachten wir nur an die Entfernung und den Zeitaufwand. Hex lenkte unsere Aufmerksamkeit daher wieder auf den magischen Spiegel und sagte, dass es in der Bibliotheka Mirabili natürlich auch solch ein magisches Portal gab und wir auf diese Weise dorthin gelangen würden. (Natürlich! Da hätten wir auch wirklich selber drauf kommen können. Wie einfältig von uns. – Aber zu unserer Ehrenrettung muss ich gleich sagen, dass wir uns insgesamt verhältnismäßig schnell an die neuen Umstände gewöhnten. Nur an diesem Abend schienen wir halt noch etwas auf dem Schlauch zu stehen.) Hex kramte ein weiteres Mobiltelefon hervor und rief in der Bibliothek an, wie wir aus dem schlossen, was wir mithörten. (Ja, auch in der mystischen Welt kann man nicht einfach so überall herein poltern. Selbst dann nicht, wenn man knapp zwei Stunden zuvor noch von einem wütenden Mantikor gejagt wurde. Auch in dieser Gesellschaft musste man Termine vereinbaren und Verabredungen treffen. Übrigens war die andere Welt, auch wenn sie an vielen Traditionen und Riten längst vergangener Zeiten festhielt, unserer technisch nicht unterlegen. Warum auch? Die Zeit war ja nicht stehen geblieben für die Leute vom Weißen Rat und ihren Schützlingen. Neben den Mobiltelefonen waren natürlich auch andere moderne Errungenschaften wie das Internet, Fernsehen, E-Mails, Flugzeuge und vieles mehr in der mystischen Welt bekannt. Und all diese Dinge wurden von diesen Leuten ebenso genutzt und gebraucht, wie von uns. Dort hatte man überdies noch den Vorteil, dass man das jeweils Beste beider Welten für sich aussuchen und wählen konnte. So kam es, dass zum Beispiel neben den Zauberspiegeln technische Geräte wie Mobiltelefone oder Datenpads ihren Einsatz fanden. Das war eine vorteilhafte Mischung beider Kulturen, der wir uns ab jetzt auch bedienen durften. Das würde bestimmt – so fieberte ich im Geheimen – hier und da ein Riesenspaß werden. Wer von meinen Kumpels und Freunden konnte von sich denn schon behaupten, mal mit einem Zauberspiegel gereist zu sein?)

Hex konnte eine Verabredung mit dem Bibliothekar für uns vereinbaren. Da er allerdings zur Zeit noch auf einer Reise war, wurde das Treffen erst für die kommende Woche beschlossen. In der Zwischenzeit könnten wir versuchen, uns noch etwas an all das Neue zu gewöhnen, das auf uns einschlug. Außerdem beschlossen wir, die sieben Tage sinnvoll zu nutzen und die Schäden im Haus beseitigen zu lassen.

„Sag mal“, stellte Tom während einer kurzen Gesprächspause seine nächste Frage, „was bist du eigentlich, Hex? Ich meine, du hast menschliche Züge, aber wenn man dich genau mustert, dann sieht man, dass du keiner von uns bist.“

„Ja, das ist richtig. Der Marschall, die anderen und ich, wir sind …“ Hex zögerte etwas, seinen Satz zu beenden, „… Feen.“

„Feen?“, riefen Nina, Tom und ich fast gleichzeitig aus.

„Du meinst diese niedlichen kleinen Geschöpfe in rosa Kleidchen und mit einem Zauberstab? Diese fliegenden Barbiepuppen, die Wünsche erfüllen können?“

„Das ist das Bild, das ihr Menschen von uns Feen habt.“

Und nach einer Pause fügte Hex hinzu: „Es ist immer das Gleiche, wenn ich einem Menschen erzähle zu welcher Spezies ich gehöre. Ihr seid so verbohrt und habt so viele Vorurteile. Ja, ich bin eine Fee, und ich bin stolz darauf. Und überhaupt ist das auch gut so. Ihr habt nun schon so viel für euch neues und unglaubliches gehört und gesehen. Ihr müsstet inzwischen gelernt haben, dass die Realität nicht das ist, für das ihr sie immer gehalten habt, und die Bilder, die ihr von der mystischen Welt habt, völlig falsch sind. Und trotzdem reagiert ihr immer gleich, wenn ihr hört, dass ich eine Fee bin.“

Wie es schien war Hex damit schon öfter auf Unverständnis gestoßen, und hatte deshalb wohl auch den ein oder anderen schlechten Witz über sich ergehen lassen müssen. Aber so sind wir Menschen nun mal. Wir versuchen immer alles in Schubladen zu stecken. Ständig sind wir bemüht, andere Leute einzuordnen, zuzuteilen und mit Schablonen zu versehen. Dass vieles von dem, was wir dabei zur Kategorisierung verwenden, auf Vorurteilen beruht, übersehen wir dabei gerne. Der Drang etwas neues, uns unbekanntes, in eine vertraute Verpackung zu stecken ist einfach zu groß. Gerade ich als Homosexueller hätte es dabei doch viel besser wissen müssen. Auch mir war dieses Schubladendenken schon abertausendmal begegnet. Und immer wieder regte ich mich darüber auf, wenn ich jemandem erzählte, dass ich schwul war, und er mich für sich gleich als Mensch mit Federboa und bauchfreiem T-Shirt abstempelte.

„Entschuldige bitte“, versuchte ich die Wogen zu glätten. „Es war nicht böse von uns gemeint. Aber wenn wir Fee hören, denken wir halt zuerst einmal an Tinkerbell von Disney.“

„Ja, schon gut. Ihr könnt ja wirklich nichts dafür. Seit die mystische Welt im Verborgenen lebt, hat sich bei euch Menschen halt dieses Bild von uns Feen verfestigt“, lenkte nun auch Hex ein. „Dabei handelt es sich bei uns aber um eine ganz normale Spezies mit weiblichen und männlichen Vertretern. Einige der Dinge, die ihr über uns wisst, sind Quatsch; zum Beispiel die Sache mit den rosa Kleidchen oder dem Zauberstab. Andere Dinge wiederum sind durchaus wahr. Wie zum Beispiel die Flügel.“

Um seine Worte zu beweisen, streckte Hex nun die Flügel aus. Dazu drehte er uns den Rücken zu, spannte die Schultern und versetzte uns mit dem was daraufhin geschah wieder einmal in großes Erstaunen. Durch geschickt verborgene Öffnungen in der Kleidung auf seinem Rücken schoben sich nun seine Flügel heraus. Zuerst sahen wir so etwas wie zwei nackte Arme aus der Jacke fahren. Doch dann breitete Hex die Flügel aus und wurde auf beiden Seiten von diesen wirklich beeindruckenden Schwingen eingerahmt. Langsam drehte er uns wieder sein Gesicht zu und wartete auf unsere Reaktion. Wir waren allerdings lediglich in der Lage stumm zu staunen. Hex' Flügel waren nicht – wie wir es erwartet hatten – durchsichtig und schimmernd wie die einer Libelle. Sie waren aber auch nicht die nackten Hautlappen wie man sie von Fledermäusen kennt. Sie waren irgendetwas – dazwischen. Es ist schwer für mich zu beschreiben, wie Hex' Flügel genau aussahen, oder woraus sie bestanden. Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares gesehen, und den Blicken von Nina und Tom nach zu schließen, ging es den beiden nicht anders. Am ehesten lassen sich die Schwingen wohl als eine Mischung aus Haut, Federn und der pergamentenen Struktur von Insektenflügeln beschreiben. Vielleicht waren die Federn aber auch eher eine Art Schuppen, so wie man es bei einem Drachen erwarten konnte. Auf jeden Fall war der Anblick so ungewöhnlich wie faszinierend zugleich. Wohl um uns noch etwas mehr zu beeindrucken stellte Hex die Flügel ein weiteres Mal auf, bevor er sie dann wie einen Umhang an seinen Rücken legte.

„Wow!“, urteilten wir einhellig.

„Kannst du damit auch fliegen oder sind die Flügel nur Zierde?“, fragte Tom.

„Nein, sie sind voll funktionstüchtig. Ich kann damit sehr gut fliegen. Nur hier drin“, Hex schaute sich bei uns im Wohnzimmer um, „ist es etwas zu eng, um euch das vorzuführen. Obwohl, für eine kleine Schwebeeinlage sollte es schon reichen.“

Tja, und dann hob Hex, die Fee, langsam ab und schwebte vor unseren Augen einige Zentimeter über dem Boden. Es schien, als würde er von einem Luftkissen getragen werden. Die Flügel musste er dafür nicht ausbreiten. Es genügte, dass er seine Federn, oder Schuppen, oder was auch immer diese Dinger waren, in Vibration versetzte. Die Bewegung war so schnell, dass die ganzen Flügel vor unseren Augen verschwammen und wir die Ränder nicht mehr klar erkennen konnten. Es war, als würden wir durch einen Nebel oder eine Flüssigkeit hindurch auf Hex' Flügel schauen. Besonders erstaunlich war, dass dieses Manöver keinerlei Geräusche verursachte und auch die Anstrengung für Hex sich in Grenzen hielt. Wahrscheinlich hätte er noch die ganze Nacht vor uns schweben können, doch schließlich beendete Hex die Vorführung und versteckte die Flügel wieder unter sein Kleidung. Wir alle ließen uns nach dieser Vorführung wieder in die Sitzgarnitur fallen. Da wir drei Menschen sprachlos und überwältigt von Hex‘ Übung waren, fragte er schließlich: „Gibt es noch etwas, das ihr mich fragen möchtet?“

„Ja, ich habe noch eine Frage“, meldete sich Paul etwas verlegen zu Wort. „Du hast davon gehört, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wer ich bin, wo ich herkomme oder ob ich Familie habe. Hast du vielleicht schon mal etwas von mir gehört? Weißt du, wer ich bin?“

Hex‘ Mine versteinerte sich. Wir konnten erkennen, dass es ihm schwerfiel zu antworten. Nachdem er einige Sekunden lang überlegt und wohl nach den richtigen Worten gesucht hatte, sagte er schließlich: „Es tut mir leid.“

Paul ließ betrübt den Kopf sinken.

„Wir haben uns auch gefragt, wer du bist. Aber wir konnten keine Spur zu deiner Identität finden. Es scheint fast …als hättest du vor deiner Zeit in diesem Kokon nicht gelebt.“

Uns allen war klar, dass Paul gehofft hatte von Hex etwas mehr über sich zu erfahren. Immerhin war er ein weiterer Vertreter der mystischen Welt und zudem noch Bediensteter des Weißen Rates. Paul hatte die Frage nach seiner Identität mit Absicht herausgezögert. Denn wenn er – verständlicher Weise – auch ziemlich neugierig war, so musste ihm dennoch klar sein, dass im entferntesten die Möglichkeit bestand, dass selbst Hex nichts über ihn wusste. Die Enttäuschung war groß, als der Adjutant dies nun bestätigen musste.

„Wir haben in alten Archiven gesucht und andere Wichtel befragt. Wir haben nach vermissten Personen geforscht und versucht, deinen Weg zurück zu verfolgen. Doch alle Mühen blieben bisher ohne Ergebnis. Es gibt keine Spur und keinen Hinweis darauf, wer du bist oder woher du kommst. Es tut mir wirklich sehr leid.“

Wir alle waren durch Hex' Worte bedrückt. Doch Paul als einzigen von uns mussten sie tatsächlich erdrücken. Es erschien ihm, als wäre ihm seine letzte Chance durch die Finger geronnen, etwas über seine Herkunft zu erfahren. Wenn selbst der Weiße Rat, der so etwas wie die Regierung der Mystischen Welt war, nichts über ihn wusste oder herausfinden konnte, wer konnte es denn dann noch? Eine Weile lang sagte niemand von uns ein Wort und Nina tat das einzig Richtige, indem sie ihre Hand auf Pauls Schulter legte, um ihm so zu zeigen, dass er nicht alleine war, dies alles nicht alleine durchstehen musste.

Wir schwiegen eine Weile, bis Hex schließlich sagte: „Ich muss nun langsam zurück.“

Er erinnerte uns zuerst aber noch einmal an das bevorstehende Treffen mit dem Bibliothekar. Wenn es so weit war, würde er sich per Telefon melden und uns dann durch den Spiegel begleiten. Dann sagte er nochmals, dass wir nicht vergessen sollten das Portal zu verschließen, um so zu verhindern, dass wir unerwarteten Besuch erhielten. Anschließend verabschiedete er sich von uns, indem er jedem die Hand schüttelte. Dann ging er auf den magischen Spiegel zu, murmelte die Beschwörungsformel und verschwand im selben Augenblick vor unseren Augen.

Nach diesem sehr aufregenden und ereignisreichen Tag waren wir nun endlich wieder alleine und hofften, dass jetzt wirklich keine neuen Überraschungen mehr folgten. Ich ließ den Blick durchs Wohnzimmer in den angrenzenden Flur schweifen. Dort sah ich das Chaos und die Zerstörung und konnte kaum glauben, was sich hier vor einigen Stunden noch abgespielt hatte. Jetzt, wo wieder Ruhe eingekehrt war, schien mir alles so fremd und irreal, als hätte ich es nur geträumt. Dabei wusste ich nur zu gut, dass dem nicht so war. Und das nicht nur, weil lediglich einen Meter von mir entfernt ein Wichtel in meinem Wohnzimmer stand.

 

Das Dringlichste schien mir nun tatsächlich zu sein, den Zugang zu unserem Haus zu versperren. Ich wollte keine Zeit mehr verlieren und so eventuell noch irgendeinem blöden Monster die Möglichkeit geben, bei uns vorzusprechen. Also schnappte ich mir eine der Kuscheldecken vom Sofa und klemmte sie oben hinter den Rahmen des Spiegels, sodass sie herabhängen konnte und die komplette Vorderfront des magischen Portals verdeckte. Nina und Tom hatten sich aufgemacht, im Flur für etwas Ordnung zu sorgen. Paul brauchte wohl noch ein paar Minuten für sich und verzog sich daher in die Küche.

„Wie sind wir nur da reingeschlittert?“, fragte ich meine beiden Mitbewohner als ich zu ihnen in den Flur ging.

„Oh, das ist ganz einfach zu beantworten“, meinte Nina und blickte mich streng an. „Wir sind da reingeschlittert, weil irgendjemand einen seltsamen Kokon von seinem Spaziergang mit nach Hause bringen musste.“

„Nein, das glaube ich nicht“, sprang Tom mir zur Seite. „Ich denke vielmehr, dass irgendwer das alles tatsächlich bezweckt und für uns geplant hat. Wir hatten gar keine Wahl. Auch wenn Alex den Kokon nicht angeschleppt hätte, bin ich davon überzeugt, dass wir heute trotzdem hier zwischen den Trümmern stehen würden. Irgendjemand spielt mit uns.“

„Aber wer ist es?“, wollte Nina wissen. „Und warum?“

„Keine Ahnung. Das kann ich auch nicht beantworten.“ Tom zog die Schultern hoch. „Aber vielleicht bringt das Gespräch mit diesem Bibliothekar etwas Licht ins Dunkel.“

„Nun kommt schon“, versuchte ich die Atmosphäre aufzuheitern, während ich den Kleiderständer vom Boden aufhob, „na klar ist das hier alles total verrückt, abgedreht und auch gefährlich, wie man gut erkennt, wenn man sich hier umsieht. Aber mal ganz im Ernst, ihr seid doch auch neugierig, zu erfahren, was hier vorgeht. Ich bin doch nicht der Einzige, der gespannt ist, wie die Geschichte sich weiter entwickelt.“

„Natürlich, für dich ist das alles nur wieder ein lustiges Spiel“, blaffte Nina mich an.

„Nein. Ganz und gar nicht. Als Spiel fasse ich das hier bestimmt nicht auf. Ich weiß, wie gefährlich das alles sein kann, und dass wir heute um ein Haar als Betthupferl für den Mantikor geendet hätten. Auch wenn ich meine Witze darüber mache, ist mir dennoch klar, dass es gar nicht lustig ist. Und gerade deshalb versuche ich, mir den Blick nicht davon trüben zu lassen, dass ich die ganze Zeit bedauere und klage und wehleidig bin. Denn einen klaren Kopf zu behalten, das ist von jetzt an wirklich wichtig für uns.“

Nina seufzte und ließ sich auf einen Stuhl neben der Tür fallen. „Ich weiß ja schon, wie du mit den Dingen umgehst. Und auch wenn dir selber das womöglich noch nicht mal so klar ist, dann weiß ich auch, dass du mit deiner Art nur versuchst uns zu helfen. Meistens nützt das auch, manchmal nervt es aber ungemein. Und heute ist das alles im Großen und Ganzen etwas zu viel für mich gewesen. Bitte entschuldige, dass ich dich so angefahren habe.“

Nach diesen netten Worten ging ich schnurstracks auf Nina zu, hob sie vom Stuhl hoch und drückte sie fest und ausgiebig. Die Studentin ließ diese Prozedur sehr gerne über sich ergehen und winkte sogar Tom herbei, damit er sich uns anschließt. So veranstalteten wir eine Runde Gruppenkuscheln zwischen den Trümmern in unserem Flur.

Völlig unerwartet in dieser Situation begann Nina etwas zu murmeln. Zuerst verstand ich kein Wort, doch dann gewöhnten sich meine Ohren an ihre undeutliche Aussprache und ich hörte sie Dinge sagen wie: „Er muss Hohlknochen wie die Vögel haben.“ „Und weil er Gewicht sparen muss um überhaupt Fliegen zu können, ist er so schlank.“ Unbeirrt brummelte sie weiter: „Diese Flügel sind wirklich sehr interessant. Ich muss ihn das nächste Mal fragen, ob er sie mir nochmal zeigt.“

Aus Nina sprach endlich wieder die Vollblutwissenschaftlerin, die versuchte, hinter ein Geheimnis zu kommen, das vor ihr lag. Das war eine beruhigende Entwicklung. Wenn sie schon dabei war, sich über Aerodynamik, Physik und solche Sachen Gedanken zu machen, war sie auch wieder in Ordnung. Der kleine emotionale Ausbruch von eben war für sie schon längst wieder vergessen. Tom und ich grinsten uns an, dann machten wir uns erneut daran, den Flur in Ordnung zu bringen. Wir hoben weitere Möbel auf und räumten den Schutt und Sperrmüll auf einen großen Haufen. Als wir mit unserer Arbeit fertig waren, gingen wir gemeinsam zurück ins Wohnzimmer, wo Paul bereits auf uns wartete. Der Wichtel hatte für jeden von uns etwas zu trinken geholt und wir nahmen die Abkühlung gerne an. Auch unser haariger Mitbewohner schien inzwischen einigermaßen darüber hinweg gekommen zu sein, dass Hex ihm nichts näheres über seine Identität erzählen konnte, denn er versuchte schon wieder mich aufzuziehen.

„Das mit deinem Date heute Abend war wohl nichts. Du hättest dir sicherlich besseres Vorstellen können, als mich plötzlich auf der Rückbank im Auto zu entdecken, oder?“

„Oh ja, das ist Richtig“, grinste ich. „Und das vor allem deshalb, weil Marc und ich über das was wir uns bloß vorstellen konnten schon hinaus waren. Wir waren bereits dabei, unsere Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen. – Und dann tauchst du plötzlich auf.“ Ich verzog gespielt enttäuscht die Mundwinkel bei diesen Worten.

„Ach ja, genau, das wollte ich ja schon die ganze Zeit fragen“, mischte sich Tom ein, „wer ist dieser Marc eigentlich?“

„Keine Ahnung. Den habe ich heute Abend in einem Club kennengelernt.“

„Und wie kamt ihr dann ins Auto?“

Hätte ich genau hingehört, wäre mir der ungewöhnliche Unterton in Toms Stimme wohl nicht entgangen, und ich wäre gewarnt gewesen. Da ich für solche Kleinigkeiten aber an diesem Abend kein Ohr mehr hatte, plapperte ich einfach weiter.

„Na ja, wie das eben so geht. Man lernt sich kennen, trinkt etwas zusammen, lacht, hat Spaß und irgendwann verschwindet man dann ins Auto.“

„So ist das eben? Macht man das so, oder machst nur du das so?“

„Was ist denn jetzt los? Du weißt doch, dass ich schwul bin. Was wirfst du mir jetzt eigentlich vor?“, So langsam wurde selbst mir klar, dass Tom mit seinen Fragen auf irgendetwas hinaus wollte. Nur konnte ich noch nicht ergründen, was das genau war.

„Wie käme ich denn dazu dir etwas vorzuwerfen? Ich stelle nur ganz neutral ein paar Fragen.“

„Eben, wie kämst du dazu mir etwas vorzuwerfen! Wir sind ja kein Paar, wir wohnen nur zusammen in einer WG.“

„Ach so siehst du das also. Wir sind nur Mitbewohner. Mehr nicht. Das ist ja interessant.“

Tom war nun sichtlich aufgebracht und schien fast schon wütend. Ich wusste wirklich nicht, was das bedeuten sollte oder womit ich dieses Verhalten verursacht hatte. Aber ich fühlte mich unberechtigt angegriffen und verteidigte mich daher.

„Was ist denn mit dir los? Jetzt verdreh mir doch nicht die Worte im Mund.“

„Ich verdrehe hier gar nichts. Ich stelle lediglich fest, dass wir nur deine Mitbewohner sind, mit denen du offenbar keinen Spaß haben kannst, und dir daher die erstbesten Typen aus irgendwelchen Bars ins Auto einlädst.“

„Wen ich mir wann ins Auto einlade ist ja wohl ganz alleine meine Sache“, sagte ich trotzig. „Und was soll das Gerede von wegen Spaß haben und so? Wolltest du etwa an Marcs Stelle sein?“

Dieser Schlag unter die Gürtellinie war von mir beabsichtigt. Ich wollte Tom mit der nicht ganz fairen Frage in Verlegenheit bringen und so die Diskussion für mich entscheiden. Und womit bringt man einen Heterosexuellen besser in Verlegenheit und Rage, als mit der Unterstellung, dass er heimliche schwule Bedürfnisse hat? Die Reaktion des Schlossers auf meine Worte war allerdings noch heftiger als ich erwartet hatte. Tom sprang wütend auf und blökte mich an: „Jetzt spinne hier mal nicht herum. Natürlich will ich nicht an der Stelle dieses Callboys sein. Aber das ändert ja nichts daran, dass du … ach, lass mich doch in Ruhe!“

Mit der Hand abwinkend flüchtete er aus dem Wohnzimmer, verzog sich in seinen Raum und schmiss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Nina, Paul und ich blieben mit offenen Mündern zurück, und schauten noch lange in die Richtung, in der Tom eben verschwunden war.

„Was ist hier gerade passiert?“, fragte Paul, der zum ersten Mal einen Streit zwischen uns miterlebt hatte.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete ich wahrheitsgemäß. So sehr ich auch danach suchte, ich konnte mir an dem, was hier gerade passiert war, keine Schuld geben. Natürlich hatte ich Tom mit meiner schwulen Anspielung ärgern wollen, aber unser Gespräch begann schon weit vorher aus dem Ruder zu laufen. Und das lag keinesfalls an mir.

„Also wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, dass Tom … eifersüchtig ist“, meinte Nina zweifelnd.

 

In den nächsten Tagen sprachen Tom und ich kein Wort zu viel miteinander. Dass wir überhaupt redeten lag wohl auch nur daran, dass wir seinen Ausbildungsbetrieb beauftragt hatten, das neue Tor und die Tür in der Garage einzubauen. Er musste also gezwungenermaßen mit mir die nötigen Arbeiten und Termine absprechen. Da Nina tagsüber zur Schule und Tom zur Arbeit ging, war ich für die Koordination der Firmen in unserem Haus zuständig. Ein Schreiner kümmerte sich um Toms Zimmertür und ein kleiner Bautrupp erledigte die Verputzarbeiten im Flur. Viel hatte ich allerdings nicht zu beaufsichtigen, denn die Arbeiter wussten natürlich genau, was sie taten. Sie erledigten ihre Aufträge schnell und anstandslos. Um nicht ganz nutzlos herum zu sitzen, besorgte ich eine lange Stange im Baumarkt und befestigte sie über dem Spiegel. Daran hängte ich einen Vorhang, der nun das Portal verdeckte und so unerwünschte Eindringlinge daran hinderte, uns zu überraschen. Die Lösung mit der Stange und dem Vorhang war eleganter und sah wesentlich besser aus, als der Notbehelf mit der eingeklemmten Kuscheldecke. Eines anderen Nachmittags, nachdem Nina aus der Uni gekommen war, zog sie mit mir los, um ein neues Auto zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir auch kurz über Tom, konnten aber noch immer keine Erklärung für sein seltsames Verhalten finden. Wir besuchten einige Autohäuser und entschlossen uns endlich für ein etwas größeres Gefährt, als den vom Mantikor zerstörten Kleinwagen. Unsere WG hatte ja schließlich Zuwachs bekommen, der jetzt natürlich auch im Auto untergebracht werden wollte.

Paul, der sich die meiste Zeit im Hintergrund halten musste, da die Handwerker bei uns ein- und ausgingen, entwickelte inzwischen eine Vorliebe für menschliche Kleidung. Obwohl er immer wieder betonte, dass Wichtel normalerweise keine Textilien trugen, probierte er diverse Sachen von uns an. Er meinte, da er schon bei drei Menschen wohnte, wäre es nur logisch, dass er sich auch entsprechend anziehen würde. Sein neu erwachter Klamottentick hatte aber auch einen Vorteil: Wenn er Hose, Schuhe und eine Jacke trug und sich dazu noch ein Cappy aufsetzte, konnte er – wenigstens in den Abendstunden – das Haus verlassen, ohne dass er besonders auffiel. Natürlich würden wir niemals in ein Restaurant oder einen Laden mit ihm gehen können, wenn er sich vorher nicht mindestens für eine Ganzkörperrasur entschieden hatte, aber für einen Spaziergang durch unser Viertel oder in den Wald, reichte es allemal. Dass ihm Ninas Anziehsachen am besten passten, störte ihn dabei überhaupt nicht. (Die Klamotten passten ihm natürlich nicht wirklich. Eine Hose zum Beispiel, die Nina gerade mal bis knapp über die Knie reichte, musste Paul bereits einmal umschlagen, damit er nicht darauf trat. Und die Jacken und Hemden, die er anprobierte, hatten natürlich alle viel zu lange Ärmel, die er ebenfalls hochkrempeln musste. Auf der Suche nach den Sachen, die ihm am besten passten, konnten wir daher nicht auch noch auf die korrekte Farbzusammenstellung achten. Wenn wir dann mit ihm einen Spaziergang unternahmen, war ich doch ziemlich froh darüber, dass das nur im Dunkeln geschehen konnte. Denn mit den für ihn eindeutig zu großen und wild zusammengewürfelten Stücken, sah Paul schon ziemlich schlunzig und heruntergekommen aus. Als bekennender Schwuler achtete ich natürlich darauf, wie die Leute in meiner Gesellschaft sich kleideten. Und Pauls Aussehen entsprach leider gar nicht meinen eigentlich sehr strengen Kriterien. Wir würden nicht darum herum kommen, etwas passenderes – und vor allen Dingen – eleganteres für ihn zu kaufen, wenn wir unsere Verabredung mit dem Bibliothekar hinter uns gebracht hatten.)

 

Bevor diese ganzen Ereignisse über uns hereingebrochen waren, hatten wir drei WG-Bewohner unsere Abende meist gemeinsam im Wohnzimmer verbracht. Entweder daddelten wir auf der Spielkonsole, schauten Fernsehen oder hingen einfach so zusammen herum und quatschten über Gott und die Welt. Dadurch, dass bei Tom und mir im Moment jedoch Funkstille herrschte, blieb nun lieber jeder auf seinem Zimmer hocken. Die kalte und drückende Stimmung, die zwischen uns beiden bestand, färbte auch auf Nina und Paul ab. Dieses eingeschlafene und wenig abwechslungsreiche WG-Leben lockerte die langweilige Wartezeit bis zu unserem Treffen in Athen nicht gerade auf. Nina saß nächtelang vor ihrem Rechner und durchstöberte das Internet auf der Suche nach Dingen, die uns irgendwie weiterhelfen konnten. Aber außer mitunter sehr phantasievoll gestalteten privaten Seiten und dem sonst üblichen Märchen und Sagen, konnte sie nichts Brauchbares finden. Sie musste sich eingestehen, dass es die Mitglieder der mystischen Welt tatsächlich sehr gut schafften, sich vor uns Menschen zu verbergen. Es gab zwar einige Blogs und Foren zum Thema, doch dort war es wie auf allen anderen dieser Seiten im Internet auch. Die Leute, die sich zu Wort meldeten, taten dies offenbar nur deshalb, weil sie es gerne sahen, wenn ihre Meinungen und Ideen in die Öffentlichkeit getragen wurden; Und das völlig unabhängig davon, ob sie denn überhaupt etwas zu sagen hatten oder nicht. Die goldene Regel in diesen Medien schien zu lauten: Hauptsache man gibt seinen Senf dazu. Dass eigentlich alle diese Einträge also quasi absolut sinnlos waren, interessierte den Verfasser dabei recht wenig.

Irgendwann Mitte der Woche kamen Paul und ich von einem ausgedehnten Spaziergang zurück. Wir waren allein unterwegs gewesen, da Nina noch etwas für die Uni zu tun hatte und Tom sich mit Hanteltraining in seinem Zimmer beschäftigen wollte. Paul und mir hatte der kleine Fußmarsch sehr gut getan und wir waren fröhlich und ausgelassen davon zurückgekehrt. Paul war in sein Zimmer gegangen, um sich einige der Kleidungsstücke auszuziehen, die er gegen allzu neugierige Blicke in der Öffentlichkeit trug; Ich ging direkt ins Wohnzimmer, wo ich, sehr zu meinem Erstaunen, Nina und Tom zusammen auf dem Sofa sitzen sah. Das war ein in den letzten paar Tagen leider sehr seltener Anblick geworden. Noch etwas unsicher darüber, was mich nun erwarten würde, begrüßte ich Nina und Tom mit einem kurzen Hallo.

„Setz dich bitte für einen Moment zu uns“, forderte Tom mich auf. Ohne Widerstand folgte ich der Anweisung und sah die beiden fragend an. Nina schien recht gut gelaunt zu sein. Nur Tom war irgendwie verlegen und nervös.

„In den letzten paar Tagen haben wir nicht viel miteinander gesprochen“, sagte er. „Ich weiß nicht, was mit mir los war, als ich dich so angefahren habe. Der Überfall des Mantikors, der Besuch von van Heesen und Hex und das alles hat mich wohl mehr mitgenommen, als ich mir zuerst eingestehen wollte. Warum ich mich dann an dieser Kleinigkeit so hochgezogen habe, kann ich wirklich nicht sagen.“

Mit der Kleinigkeit meinte Tom natürlich mein verpatztes Abenteuer mit Marc. Bemerkenswert fand ich nur, dass Tom in seiner Entschuldigung kein einziges Mal Marcs Namen erwähnte. Und überhaupt schien mir auch, als würde er irgendwie um eine für ihn unangenehme Sache herumreden, ohne wirklich auf den Punkt zu kommen. Aber natürlich konnte es auch sein, dass ich mir das alles nur einredete und in der ganzen Angelegenheit – und vor allem, wie es dazu gekommen war – mehr sehen wollte, als tatsächlich vorhanden war.

„Auf jeden Fall möchte ich dich um Entschuldigung bitten“, schloss Tom seine Ausführung.

So ganz war ich immer noch nicht davon überzeugt, dass Toms Ausrutscher wirklich nur an der Aufregung des Abends gelegen hatte. Aber da ich seine Freundschaft sehr schätzte und vor allem wollte, dass es zwischen uns endlich wieder normal zuging, schob ich meine Grübeleien nach hinten und sagt: „Es besteht kein Grund für eine Entschuldigung. Du und ich, wir haben beide Unsinn geredet. Wenn also irgendjemand Schuld an etwas hat, dann sind wir beide es gewesen. Wir sind quitt und ich schlage vor, dass wir den Abend einfach vergessen.“

Ob Tom merkte, dass ich ihm seine Geschichte nicht so ganz abkaufte, weiß ich nicht. Immerhin konnte ich sehen, wie erleichtert er war, dass ich ihn so einfach aus der Sache herausließ. Insgeheim befürchtete ich aber dennoch, dass uns – was immer es auch genau war – das alles noch mal irgendwann beschäftigen sollte.

Inzwischen war auch Paul wieder zu uns gestoßen und da wir uns nun nicht mehr aus dem Weg gehen mussten, verbrachten wir vier den Abend – nach langer Zeit mal wieder – gemeinsam. Wir alberten viel herum, spielten einige Spiele, kochten und aßen zusammen und waren so ausgelassen und gut gelaunt, wie schon lange nicht mehr. Unser neuer Mitbewohner, der Wichtel, fügte sich mittlerweile so gut in unsere Gemeinschaft, dass es mir schwerfiel, mich an die Zeit zu erinnern, bevor er bei uns eingezogen war. Wir waren schon eine prächtige Gemeinschaft, die sich hervorragend ergänzte und perfekt zueinander passte.

Über das heitere Zusammensitzen vergaßen wir voll und ganz die Zeit und wurden zu schon weit vorgerückter Stunde vom Klingeln des Telefons aufgeschreckt, das Hex bei uns gelassen hatte. Tom ergriff den Apparat und nahm das Gespräch an. Natürlich war der Feenmann am anderen Ende der Leitung, der glücklich war zu hören, dass er uns nicht geweckt hatte. Schnell ließ er sich von unserer guten Stimmung anstecken. Tom hatte das Telefon auf Lautsprecher gestellt und wir alle redeten durcheinander und alberten herum. Schließlich versuchte Hex wieder etwas ernster zu werden, als er uns erklärte, dass der Bibliothekar früher als erwartet von seiner Reise zurückgekehrt sei, und er sich gerne am nächsten Tag mit uns treffen wollte. Wir vereinbarten also, dass der Adjutant uns morgen gegen elf Uhr noch einmal anrufen würde, damit wir den Zauberspiegel für ihn öffnen könnten. Dann würde er mit uns gemeinsam durch das Portal nach Athen reisen, wo wir den Leiter der Bibliotheka Mirabili treffen würden. Tom hatte am nächsten Tag sowieso frei und Nina würde die Uni schwänzen müssen. Aber diesen Preis wollte sie gerne bezahlen, um diese geheimnisvolle Bibliothek zu besuchen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ihr Bücher mehr bedeuteten als Menschen. (Na ja, nicht wirklich. Aber alles was irgendwie mit Schrift, Büchern, Aufzeichnungen und so zu tun hatte, nahm in Ninas Leben durchaus einen hohen Stellenwert ein. Eine uralte Bibliothek mit massenweise verstaubten Folianten, Schriftrollen und vielen anderen historischen Aufzeichnungen ließ sie sich auf keinen Fall entgehen.) Als wir alles mit Hex abgesprochen hatten, beendete Tom das Gespräch und kurz darauf zogen wir vier uns auch zur Nachtruhe in unsere Zimmer zurück.

 

An Schlaf war für mich allerdings nicht zu denken. Bisher war unsere Verabredung mit dem Bibliothekar und die damit verbundene Reise durch den Spiegel noch nicht richtig greifbar für mich gewesen. Doch seit dem Telefonat von heute Abend, in dem konkrete Verabredungen getroffen wurden, stand die Sache endgültig fest. Nicht, dass ihr mich jetzt für zimperlich oder überängstlich haltet – so habt ihr mich bisher wirklich nicht kennenlernen dürfen – aber die Aussicht darauf, von einem magischen Spiegel in meine kleinsten Einzelteile zerlegt zu werden, gemeinsam mit den anderen darin zu verschwinden, eine sehr weite Strecke zurückzulegen und am Ende wieder zusammengesetzt zu werden, versetzte mich nicht gerade in Begeisterungsstürme. Natürlich wusste ich, dass diese Spiegel seit Urzeiten zum Reisen genutzt wurden. Und ich hatte ja auch schon erlebt, wie der Marschall oder Hex hindurch gegangen waren, ohne offensichtlichen Schaden davon zu tragen. Aber was tausendmal gutgegangen war, musste ja nicht zwangsläufig auch beim tausend und ersten Mal funktionieren. Nicht vorzustellen, was wäre, wenn der Spiegel beim wieder zusammenbauen einen Fehler machen würde. Wenn er etwas vergessen würde, oder – noch schlimmer – unsere Einzelteile durcheinander bringen würde. Ich wollte wirklich nicht den Rest meiner Tage mit Pauls behaarten Beinen oder Teilen von Ninas Weiblichkeit durchs Leben gehen müssen. In der schwulen Szene wäre ich meinen Ruf als gutaussehender Sunnyboy damit auf jeden Fall los geworden. Nachdem ich mich unendlich lange im Bett herum gewälzt hatte, schlummerte ich über diese obskuren Gedanken hinweg irgendwann dennoch ein. Leider war es ab da aber nur noch eine kurze Nacht, bis mein Wecker mich wenig freundlich auch schon wieder aus dem Schlaf riss.

 

Die beiden anderen menschlichen Mitglieder unserer Wohngemeinschaft hatten in dieser Nacht offenbar ähnliche Gedanken gehabt wie ich. Uns war eine gewisse Anspannung und Aufregung anzumerken. Nur Paul, der vollkommenes Vertrauen in Magie, Zauberspiegel und das ganze Zeug hatte, war so gelassen wie immer. Nina, Tom und ich unterhielten uns während des gemeinsamen Frühstücks aber noch eine ganze Zeit über die uns bevorstehende Art zu Reisen. Und auch wenn wir unsere Späße darüber machten, lachten und scherzten, so beschlich uns nach wie vor doch ein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken daran, dass wir heute noch zerlegt werden würden. Paul zuckte als Reaktion auf unsere Diskussion nur mit den Schultern und meinte, wir seien übervorsichtig. Seiner Aussage nach war noch niemals ein Unfall beim Reisen mit den Zauberspiegeln passiert. Anstatt uns gegenseitig in Panik zu versetzen, sollten wir uns lieber auf das Erlebnis freuen. Über unser Gerede hatten wir wieder einmal die Zeit vergessen und mussten uns jetzt sehr beeilen, damit wir noch rechtzeitig mit allem fertig wurden. Wir hatten gerade erst mal gefrühstückt und mussten alle noch ins Bad, da wir dem Bibliothekar auf keinen Fall ungewaschen entgegentreten wollten. Während Tom, Paul und ich den Frühstückstisch abräumten, verschwand Nina schon mal. Paul war schon eine Stunde länger wach als wir und hatte seine Morgentoilette bereits hinter sich gebracht. Als Nina endlich fertig war – sie brauchte ungewohnt lange, weil sie ihre Haare angeblich nicht in den Griff bekommen hatte – war nur noch sehr wenig Zeit. Tom und ich beschlossen daher, uns gemeinsam frisch zu machen. Das hört sich jetzt vielleicht für euch nach keiner großen Sache an, aber nachdem wir eine Woche fast kein Wort miteinander gewechselt hatten, war es ein tolles Gefühl, nun gemeinsam im Bad zu sein. Vor wenigen Tagen war es für uns noch unvorstellbar, dass wir uns längere Zeit im gleichen Raum aufhielten und nun standen wir nebeneinander vor dem Spiegel und putzten uns die Zähne. Ich war heilfroh, dass dieser dumme Streit endlich vergessen und vergraben war. (Klaro war Toms Anblick, wie er da fast nackt, nur in engen Shorts, an meiner Seite stand, ein Highlight für mich. Ich bin ja schließlich auch nur ein Mann. Dieser Augenschmaus ließ mich sogar die bevorstehende Reise vergessen und meine Gedanken kreisten um ganz andere Dinge als noch vor einer halben Stunde. – Wie gesagt, ich bin auch nur ein Mann. Ab und zu erlaubte ich mir einen heimlichen Seitenblick und genoss das, was ich da sah, sehr. Und ein- oder zweimal hatte ich sogar das Gefühl, als würde auch Tom hin und wieder zu mir herüber schauen und mich mustern. Aber das konnte nun wirklich nicht sein. Wahrscheinlich bildete ich mir das nur wieder ein. Genährt aus meinen geheimsten Wünschen und Sehnsüchten, gaukelte ich mir etwas vor, das so gar nicht passiert war.) Nachdem wir zwei endlich fertig waren und aus dem Bad kamen, telefonierte Nina bereits mit Hex. Auf einen Wink von ihr schob ich den Vorhang zur Seite, Nina beendete das Gespräch und wir blicken alle erwartungsvoll auf die magische Haltestelle. Kurz darauf erschienen die ersten schlierigen Linien auf dem Glas. Dann verlor die Silberschicht ihre Spiegelkraft, schien sich zu verflüssigen und in leichte Bewegungen zu geraten. Danach konnten wir viele sehr kleine Lichtpunkte erkennen, die vor dem Spiegel im Raum flimmerten. Es wurden immer mehr und sie verdichteten sich zu einem Klumpen, der nach und nach die Form von Hex annahm. Ein letztes leichtes Aufblitzen und der Adjutant stand plötzlich in unserem Wohnzimmer und lächelte uns freundlich an.

„Guten Morgen“, sagte er und reichte jedem von uns die Hand.

Als er mich begrüßte, griff ich etwas fester zu als normal. Ich wollte mich damit vergewissern, ob Hex wieder fest zusammengebaut war, oder ob er vielleicht noch etwas instabil war. Meiner Einschätzung nach fühlte er sich aber genau so an, wie ein gesunder Feenmann sich anfühlen sollte. Bei ihm hatte die Reise durch den Spiegel also schon mal keine Spuren hinterlassen und ich hoffte, dass es auch bei mir nicht anders sein würde. Da wir für diesen Trip kein Gepäck, Pässe oder Geld benötigten, waren wir sehr schnell zum Aufbruch bereit. Zu fünft standen wir schließlich vor dem magischen Portal und hielten uns an den Händen. (Da wir noch nicht die Worte gelernt hatten, die zur Aktivierung des Zaubers nötig waren, mussten wir per Anhalter an Hex' Hand reisen. Spiegel gab es ungefähr seit 3000 v. Chr. – es ist immer ein Vorteil, wenn man ein wandelndes Lexikon, wie Nina es war, zur Begleitung hat. Die ersten polierten Metallscheiben, in denen sich Menschen selbst betrachteten, stammen aus dem Mesopotamien dieser Zeit. Und leider kommt der Zauberspruch für die Spiegel ebenfalls aus dieser Gegend und Zeit. Für heutige Menschen ist das eine schwer zu erlernende Sprache. Wir brauchten jedenfalls ein paar Anläufe, bis wir den Spiegel schließlich selbst aktiveren konnten. Hex meinte immer, das läge nur an unserem fürchterlichen Akzent. Ich glaube aber, damit wollte er uns nur aufziehen.) Der Feenmann murmelte die Beschwörungsformel, die Oberfläche des Spiegels veränderte sich wieder und als nächstes spürte ich ein seltsames Kribbeln im ganzen Körper, als seien alle meine Glieder auf einmal eingeschlafen. Ihr müsst es selbst erlebt haben, um zu verstehen, was für ein Gefühl die Aufspaltung eines Körpers in seine Energieform ist. Auf jeden Fall nimmt man sich dabei auf eine Art wahr, die ich bisher nicht kannte. Ich konnte mich in jedem meiner Einzelteile fühlen. Wenn man in seine Energieform zerlegt wird, ist man auf eine unbeschreibliche Weise eins mit sich selbst und gleichzeitig mit dem gesamten Universum. Unsere in ihre Bestandteile aufgelösten Körper vermischten sich miteinander und so reiste nicht jeder von uns als einzelne Wolke, sondern alle zusammen, auf einem Haufen, als ein Wesen – ja, als eine Art neue Lebensform. Wir waren jetzt Hexninatomalexpaul. Wie gesagt, ihr müsstet es selbst einmal erlebt haben, um es richtig zu verstehen. Leider reichen Worte nicht aus, um diese Empfindung zu beschreiben. Obwohl die Reise tatsächlich nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte, hatten wir das Gefühl, alle Zeit, die jemals war und alle Zeit, die jemals sein würde, zur Verfügung zu haben. Vor unseren Augen entstanden und vergingen Welten und Galaxien. Wir waren die Zeit selbst und damit an jedem Punkt, zu jeder möglichen Stunde gleichzeitig und ewig. Um es kurz und bündig zu machen: Es lässt sich einfach nicht erklären, wie es ist, auf diese magische Weise zu Reisen. Unser Gehirn und unsere Vorstellungsgabe gelangen bei dem bloßen Versuch dabei sehr schnell an ihre Grenzen. Wenn sich euch aber auch mal die Gelegenheit dazu ergeben sollte, dann tut es. Paul hatte recht damit, als er meinte, es sei ein unvergleichliches Erlebnis. Hex steuerte uns übrigens durch Gedankenkraft durch den Spiegel. Nur gut, dass er sich dabei nicht von etwas hat ablenken lassen und wir dann wer weiß wo gelandet wären.

 

Mehrere Ewigkeiten nach dem Start bei uns im Wohnzimmer und doch noch nicht mal eine Sekunde später wurden wir am Zielort wieder in unsere ursprüngliche Form zurückverwandelt. Obwohl ich mich gut fühlte und meinte, es sei bei mir alles wie vorher, tastete ich mich vorsichtshalber doch mal unauffällig ab. Natürlich konnte ich keine Fehler feststellen. Danach schaute ich mich um, wo wir hier überhaupt waren. Wir standen in einer durch Kerzen nur mäßig beleuchteten Höhle, die direkt aus dem Fels heraus geschlagen zu sein schien. Es war eine Art Halle in der wir uns befanden und die vielleicht zehn Meter breit und etwa 25 Meter lang war. An den längeren Wänden konnte ich im Dämmerlicht viele Säulen erkennen, zwischen denen jeweils eine ebenfalls aus Stein gehauene Statue stand. Meine Augen gewöhnten sich noch an die spärlichen Lichtverhältnisse, als sich eine der Figuren in unserer Nähe bewegte und langsam auf uns zu kam.

 

„Herzlich willkommen in der Bibliotheka Mirabili.“

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