zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Post Fabula - Die Wahrheit ist ein Märchen

Eine Serie

Folge 1 - Zwei Welten

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Folge 1 – Zwei Welten

Als ich das Ei fand, war ich gerade auf einem Spaziergang. An diesem Samstag brauchte ich etwas Ruhe vor meinen Mitbewohnern aus der WG und hatte mich daher zu Fuß auf den Weg gemacht. Seit etwa zehn Minuten war ich durch den nahen Wald gelaufen, als ich das Ei inmitten einer kleinen natürlichen Lichtung liegen sah – einfach so. Es war kein unerklärlicher Nebel dabei, der das Ei verschwörerisch verhüllte, kein mystisches Licht, das es in seinen magischen Schein tauchte, und schon gar keine Blitze, die es umspielten, ohne dass man erahnen konnte, woher diese elektrischen Entladungen eigentlich stammten. Es gab genau so wenig einen Trommelwirbel, oder geheimnisvolle Vorahnungen wie unheilvolle Stimmen, die aus dem Nichts zu mir sprachen. Das Ganze lief völlig ohne Ramabzamba ab. Ich spazierte durch den Wald und das Ei lag einfach so da. (Wenn man bedenkt, welche unglaublichen Überraschungen dieses Ding für mich bereit hielt, und was für ein Wesen daraus schlüpfte, ist es verständlich, dass ich das Auffinden des Eis im Nachhinein als etwas unspektakulär in Erinnerung habe, und mir daher eine imposantere Kulisse dafür wünschte.) Das Ei war groß. Zu groß für ein Hühner- oder Gänseei. Also nahm ich an, dass es sich dabei um ein Straußenei handelte. Natürlich lag ich damit – wie sich bald herausstellen sollte – mehr als falsch. Ohnehin war das Ei selbst für ein Straußenei zu groß. Aber woher sollte ich das wissen? Ich hatte zuvor noch nie ein Straußenei gesehen. Ganz zu schweigen von einem ausgewachsenen Strauß. Ich wusste lediglich, dass es sich dabei um einen großen Vogel handelte, der – meiner Meinung nach – durchaus in der Lage war, so ein Ei aus sich heraus zu pressen.

Ich blickte um mich herum, ob jemand oder etwas in der Nähe war, der oder das zu diesem Ei gehörte. Welcher Vogel dieses Ei auch immer gelegt haben mochte, bei der Größe dieses Dinges wollte ich seiner wütenden Mutter nicht unbedingt begegnen. Als ich mich vergewissert hatte, dass ich alleine war, ging ich näher an das Gebilde heran. Ohne Scheu kniete ich mich neben das Ei ins Gras und streckte langsam die Hand danach aus. Als ich die Oberfläche mit den Fingern berührte, spürte ich, dass es warm war. Obwohl es ein prächtiger Sommertag war, lag das Ei auf der kleinen Lichtung im Schatten. Die Wärme musste also aus seinem Inneren, von ihm selbst, kommen. Als nach der ersten zaghaften Berührung nichts geschah, legte ich erst eine und dann beide Hände auf die Schale. Dabei spürte ich nicht nur die Wärme, sondern auch eine leichte Vibration. Ein Dröhnen, das sich von innen heraus über das gesamte Objekt verteilte. Jetzt bestand kein Zweifel mehr: In dieser Hülle musste etwas leben. Nachdem ich kurz die Optionen abgewägt hatte – natürlich hatte ich gehört, dass man Vögel die aus dem Nest gefallen sind, und Tierkinder überhaupt, die man irgendwo findet, nicht berühren sollte, da es sonst sein könnte, dass ihre Mütter sie nicht mehr annehmen, doch konnte ich wohl davon ausgehen, dass dieses Ei mutterlos war. Dafür sprachen einige Punkte: ein Tier, das ein Ei dieser Größe legte, gab es in unseren Breiten nicht. Von einer Straußenfarm hier in der Nähe wusste ich nichts, und dass ein Zirkus in der Stadt sei, davon hatte ich auch nichts gehört. Aus einem Gehege ausgebrochene Reptilien schloss ich ebenfalls aus. Als einzige plausible Erklärung fiel mir nur ein, dass es sich bei meinem Fund um ein Dinosaurierei handelte. Wie es hierher gekommen sein sollte, wie es nach den Jahrtausenden noch Leben enthalten konnte, oder warum es von sich aus Wärme produzierte, darüber machte ich mir keine Gedanken. – Nachdem ich also diese Optionen abgewägt hatte, beruhigte mich die Annahme, niemand lebendigem seine Nachkommenschaft zu rauben. Denn, dass die Mutter dieses Dinosauriers schon tot und ihre Überreste längst zu Erdöl geworden waren, davon ging ich aus. Und so hob ich das Ei schließlich auf. Seine Oberfläche war sehr angenehm zu berühren. Sie war braun mit blassen, grünen Tupfern gefärbt und von einem Netz kleiner Adern oder Kanäle durchzogen. Ich schaute mir das ovale Ding noch einmal an, hielt es dann mit beiden Händen vor meinen Bauch und machte mich schließlich auf den Weg nach Hause, um die Entdeckung meinen beiden Mitbewohnern zu präsentieren.

 

Als ich nach kurzem Fußmarsch wieder bei mir zu Hause war, fand ich meine WG-Partner vor, wie ich sie verlassen hatte. Sie saßen beide auf dem Sofa im Wohnzimmer, hatten jeder einen Controller in der Hand und waren nach wie vor fest in ein Konsolen-Spiel vertieft.

Ich war in einem kleinen verschlafenen Ort aufgewachsen und hatte, nachdem meine Eltern kurz nach meinem 18 Geburtstag bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, das Haus geerbt. Das bisschen Erspartes, das Sie mir ebenfalls hinterlassen hatten, half mir über die ersten Jahre, nahm jedoch – zwar sehr langsam aber immerhin – immer etwas mehr ab. Um mein Elternhaus nicht irgendwann zu verlieren, und damit ich in dem für mich alleine viel zu großen Haus nicht vereinsamte, hatte ich schließlich eine Wohngemeinschaft gegründet. Die Miete meiner Mitbewohner nutzte ich, um die laufenden Kosten des Hauses zu bestreiten. Ich konnte sogar etwas davon zurücklegen und für Reparaturen oder Instandsetzungen sparen. Das, was ich sonst zum Leben brauchte, verdiente ich mir als Texter. Ich war freier Mitarbeiter für einige Werbeagenturen oder TV-Produktionsfirmen. Außerdem unterhielt ich ein Schreibbüro, in dem ich Texte für alle möglichen Leute abtippte und Geburtstags-, Hochzeits- oder Jubiläumsreden verfasste. Man konnte meine Dienstleistung unter anderem über das Internet buchen und auf Wunsch schrieb ich sogar Gedichte. (Wie ich fand, waren die zwar nicht so gut, doch schien es, als legten einige Leute den Maßstab für gute Verse nicht so hoch an wie ich. Denn tatsächlich bestellte immer mal wieder jemand etwas gereimtes bei mir.) Alles in allem wurde ich davon nicht reich, konnte aber davon leben, ohne mich von anderen durchfüttern lassen zu müssen. Ich war mit meinen 25 Jahren zufrieden mit dem was ich erreicht hatte. Hier im Ort sahen das einige Leute zwar etwas anders und bedachten mich ob meines Lebensstils anfangs mit einem schiefen oder sogar tadelnden Blick, doch ich war jung und scherte mich wenig um diese Meinungen. Es dauerte auch nicht lange und die anfängliche Aufregung war vergessen. Nur noch selten sprach mich jemand mit den sorgenvollen Worten: „Alexander, wie geht es dir denn? Kommst du zurecht?“, an.

 

Meine beiden Mitbewohner stammten nicht aus dem gleichen Ort wie ich, sondern waren erst hierher gezogen, als wir die WG gründeten. Einer dieser Mitbewohner, die gerade ein Boxmatch auf dem TV-Bildschirm austrugen, war die 24jährige Nina. Die junge Frau war mit einem bestätigten IQ von 159 Punkten hochbegabt und studierte im Nachbarort Architektur, Soziologie und Kosmologie. Neben diesen drei Hauptstudiengängen ließ sie es sich nicht nehmen zur – wie sie manchmal spaßhaft erwähnte – Erholung Lehrgänge, Workshops oder Vorlesungen in Physik, Mathematik, Biologie, Philosophie und einigen weiteren Fächern zu besuchen, deren Namen ich bis dahin noch nicht einmal gehört hatte. Nina bildete sich interdisziplinär. Und das auf einem Niveau und in einem Umfang, der für fünf bis sechs andere studierende kaum zu bewältigen gewesen wäre. Sie hatte mehrere Stipendien erhalten und konnte sich unter anderem deshalb ein Auto leisten. Und erst dieses Auto ermöglichte es ihr, bei mir einzuziehen. Denn von meinem Haus aus war Ninas Universität etwa 35 Kilometer entfernt. Sie hatte unseren kleinen Ort gewählt, weil sie einen Gegensatz zu ihrem hektischen Studienleben gesucht hatte. Unsere verschlafene Stadt schien ihr dafür ideal zu sein. Wie anders als verschlafen kann man einen Ort denn auch nennen, in dem die beiden Höhepunkte des Jahres das Schützenfest im Sommer und der Weihnachtsmarkt der örtlichen Kirchengemeinde in der Winterzeit waren? Mit dem Tag, an dem ich das Ei in unser Haus brachte, war diese Ruhe natürlich zerstört. Doch davon ahnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts.

Der Mieter des anderen WG-Zimmers war der 19jährige Tom. Er war Auszubildender in einem Schlossereibetrieb bei uns im Ort. Ihn hatte ich über eine Anzeige in der Zeitung gefunden, in der er eine Wohngelegenheit in der Stadt suchte. Geboren und aufgewachsen war er dreihundert Kilometer entfernt in einer – wie er sagte – gleichfalls ätzenden Stadt wie der unseren. Allerdings hatten wir scheinbar einen Vorteil im Gegensatz zu Toms Heimat. Wir lagen am Rande einer Industrieregion, deren Einfluss sich auch bis zu uns aufs Land auswirkte. Daher waren bei uns im Ort einige kleine Handwerker ansässig. Bei einem dieser Familienbetriebe fand Tom schließlich seine Lehrstelle. Bei sich zu Hause hatte er sich mit hunderten Briefen ohne Ergebnis beworben. Als ich seine Anzeige in der Zeitung gelesen hatte, traf ich ihn. Wir waren vom Alter her nicht so weit auseinander und verstanden uns auf Anhieb gut. Seinem Einzug bei mir stand also nichts im Weg. Na gut, ich gebe zu, dass ich schwul bin, spielte auch eine gewisse Rolle dabei, dass ich mich gerade für Tom als zweiten Mitbewohner entschieden hatte. Denn er war – das konnte man nicht anders behaupten – ein Fest für die Augen. Seine strohblonden Haare waren scheinbar nicht zu bändigen und verliehen seinem ansonsten sanften Gesicht den nötigen Anteil Verwegenes. Natürlich war er schlank und gut trainiert. Nach seiner Arbeit fuhr er viel mit dem Mountainbike – er behauptete immer, dass ihm bei uns in der Gegend die Berge aus seiner Heimat fehlten. Das Fahren hier im Flachland sei doch eher etwas für Rentner – und ging ziemlich oft zum Schwimmen.

Meine Mitbewohner wussten natürlich, dass ich schwul bin. Ich hatte es ihnen von Anfang an gesagt. Die nüchtern und rationell denkende Nina hatte damit kein Problem. Tom offensichtlich auch nicht, wie er immer beteuerte. Doch meinte ich hier und da erkannt zu haben, dass ihn das Thema doch mehr beschäftigte, als er es eigentlich zugab. Ich habe Tom niemals angemacht oder bedrängt oder bin ihm sonst wie zu nahe gekommen. Aber ich hielt mich auch nicht absichtlich zurück, um etwa peinliche Situationen zu vermeiden. Das konnten zum Beispiel kleine unauffällige Berührungen sein. Oder das von mir wirklich nicht geplante Hereinplatzen ins Badezimmer, wenn Tom gerade darin war. Eben diese hunderttausend Sachen die immer wieder passieren, wenn man zusammen wohnt. In den zwei Jahren, die wir damals schon zusammen lebten, hatte Tom von seiner anfänglichen Scheu letztendlich aber auch etwas ablegen können, und inzwischen war es für ihn genau so normal nur in Boxershorts und T-Shirt vom Schlafzimmer ins Bad zu laufen, wie auch für Nina und mich.

Wir waren schon eine bunte Gemeinschaft. Die wissenschaftliche, alles analysierende und praktisch denkende Nina, der zurückhaltende, ruhige und schüchterne Tom und eben ich. Ich war der etwas ausgelassene, vielleicht sogar unvernünftig erscheinende Teil unseres Trios, der nie etwas so richtig ernst nahm. Trotz oder vielleicht gerade weil wir uns so unterschieden, hatten wir in den letzten beiden Jahren eine tolle Freundschaft gebildet und einen großen Zusammenhalt gefunden.

 

Tom und Nina hatten über ihr Spiel gar nicht bemerkt, wie ich von meinem Spaziergang zurück gekommen war. In ihren Wochenend-wohlfühl-Klamotten lungerten sie auf dem Sofa herum und versuchten jeder den anderen im Spiel zu schlagen und auf die Bretter zu schicken. Nina trug ein schlabberiges T-Shirt und eine ebenso reichlich zu weite Jogginghose. Wenn man sie zum ersten mal und in diesem Aufzug gesehen hätte, hätte man kaum für möglich gehalten, dass dieses Mädchen in nur einer halben Stunde im Bad dazu in der Lage war, sich derart aufzubrezeln, dass so manches Model bei ihrem Anblick vor Neid erblasst wäre. Nina war hübsch! Obwohl ich schwul war, wusste ich natürlich ganz genau, dass sie alle Attribute hatte, die heterosexuelle Männer den Kopf sofort abschalten, und das Blut, das eigentlich ihr Hirn versorgte, zu anderen Organen und Körperteilen umleiten ließen. Besonders beeindruckend waren ihre langen, lockigen roten Haare, die ihr bis knapp über die Schulterblätter reichten. Und mit nur ein klein wenig Schminke verstand Nina es auf nahezu professionelle Weise, ihrem Gesicht den letzten Schliff zu verleihen. Nina war nicht nur hübsch, nein, sie war eine Kanone.

Tom trug eine Basketballshorts und ein entsprechendes Oberteil dazu. Er sah, wie immer, blendend darin aus. Das erwähne ich jetzt allerdings nur aus meiner Erinnerung heraus. Denn an diesem Samstag hatte ich, fast, keine Augen dafür. Schließlich lag da ja noch dieses seltsame Ei auf dem Küchentisch, das ich während meines Spaziergangs gefunden hatte, und das ich nun unbedingt Nina und Tom zeigen wollte.

„Hey ihr zwei“, startete ich den ersten Versuch, Sie von ihrem Spiel loszureißen.

„Ich bin wieder da.“

„Toll“, sagte Nina.

„Hi Alex“, bemerkte Tom knapp und verpasste Ninas Boxer auf dem Bildschirm einen Kinnhaken.

„Ich muss euch was zeigen. Kommt doch mal her!“, versuchte ich es weiter.

Nina, die offensichtlich gerade probierte weiteren gefährlichen Treffern von Tom zu entgehen sagte: „Nicht jetzt, ich gewinne hier gerade gegen Tom im Spiel.“

„Hah, dass ich nicht lache“, kam es gewohnt knapp von ihrem Gegner.

„Aber ich habe hier etwas wirklich interessantes“, ließ ich mich nicht klein kriegen. „Ich habe ein Ei während meines Spazierganga gefunden.“ Und nach einem kurzen Zögern und einem erneuten Blick auf mein Mitbringsel fügte ich noch unsicher „Glaube ich wenigstens“ hinzu.

Damit hatte ich Ninas wissenschaftliche Seite unterbewusst angesprochen. Meine Worte brauchten zwar ein paar Sekunden um den Weg in ihr Hirn zu finden, doch schließlich sagte sie zu mir gewandt: „Du glaubst, du hast ein Ei gefunden? Wieso glaubst du das nur? Du weißt doch wohl, ob du ein Ei gefunden hast, oder nicht. Und überhaupt, wieso schleppst du ein Ei von draußen mit hierher?“

In diesem Moment erklang eine Siegesfanfare aus den Lautsprechern des Fernsehers und Tom sprang, die Arme hoch gerissen, vom Sofa auf.

„K.O.!“, rief er. „In der fünften Runde. Damit führe ich jetzt vier zu zwei. Na wie schmeckt dir deine erneute Niederlage?“

„Das ist unfair. Das zählt nicht. Alex hat mich abgelenkt.“ Nina blickte unentschlossen zwischen dem Fernseher und dem immer noch jubelnden Tom hin und her. „Den Kampf können wir nicht werten. Ich will eine Wiederholung.“

„Auf keinen Fall! Ich habe mich ja auch nicht ablenken lassen. Es ist also ganz alleine deine Schuld.“

„Du hast die Situation ausgenutzt. Das ist unfair und unsportlich. Natürlich müssen wir den Kampf wiederholen.“

„Zwei zu vier, zwei zu vier, zwei zu vier ...“, skandierte Tom einfach immer weiter.

Nina schmiss ihren Controller wütend in die Sofakissen und verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. Dann schienen ihr plötzlich wieder meine seltsamen Worte in den Sinn zu kommen und sie sah erneut in meine Richtung. Das Ei auf dem Küchentisch war durch seine Größe nicht zu übersehen und schon bald klebten ihre Blicke darauf. Langsam stand sie auf und schlurfte in ihren übergroßen Klamotten zu mir herüber. Dabei ließ sie das Ding auf dem Tisch keinen Moment aus den Augen. Nun war die Neugier in ihr vollends entbrannt und sie hatte die Niederlage im Boxkampf gegen Tom bereits vergessen. Tom, dem auffiel, dass seine Sticheleien ihr Ziel inzwischen verfehlten, schaute auch zu mir herüber und entdeckte natürlich ebenfalls sofort das Ei. Kurz darauf folgte er Nina. Zu dritt standen wir schließlich um den Küchentisch herum und betrachteten meinen Fund ausgiebig.

 

Einige Minuten lang sagte keiner von uns etwas. Dann brach ich schließlich das Schweigen.

„Es ist warm.“

„Es ist warm“, wiederholte Nina. „Unmöglich. Ein Ei kann von sich aus doch nicht warm sein.“

„So ist es aber. Und es brummt.“

„Ich höre nichts“, sagte Tom nun.

„Nein“, korrigierte ich mich, „es brummt nicht im Sinne, dass es Töne macht. Was ich meine ist, dass es vibriert.“

„Es ist warm und es vibriert.“ Das war nun wieder Nina, die sprach. Ich kannte sie gut genug, damit ich wusste, wie es nun in ihrem Kopf rotierte. Sie durchforschte ihr Wissen auf der Suche nach einer Erklärung für dieses Ding vor uns. Langsam streckte sie die Hand nach dem Ei aus.

„Vorsicht! Nicht, dass da gleich etwas … heraus springt“, mahnte Tom.

„Ich denke, wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass dieses Ding kein Alien enthält, das sich gleich in meinem Körper einnisten wird, wenn ich es berühre.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte ich Nina.

„Naja, ganz einfach. Wenn es so wäre, dann hätte das Alien schon längst dich befallen“, antwortete sie mit einem lapidaren Schulterzucken.

Der kühle, analytische Tonfall, in dem sie das sagte, ließ mich kurz erschauern. Doch eigentlich konnte ich ihrer Schlußfolgerung nur zustimmen. Nina berührte nun das Ei. Zuerst nur mit zwei Fingern, wie ich es auch getan hatte, und dann mit der ganzen Hand.

„Du hast Recht“, strahlte sie mich an. „Das Ding ist warm und ich kann deutlich das Vibrieren darin spüren.“

„Schön und gut, aber was ist es nun überhaupt?“, meldete sich Tom zu Wort. „Und vor allen Dingen, was sollen wir damit machen?“

„Wir machen damit ein Omelett. Von dem Ding können wir bestimmt noch morgen essen“, scherzte ich, bevor ich meine erste Vermutung in den Raum warf, dass es sich bei diesem Ei um ein Straußenei handelte.

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Nina bestimmt. „Straußeneier sind glänzend weiß und haben einen Durchmesser von etwa 15 Zentimetern. Und dieses Ding hier ist mindestens doppelt so groß. Außerdem glaube ich noch nicht einmal, dass es sich überhaupt um ein Ei handelt. Ich habe noch nie von einem Ei gehört, das von sich aus Wärme produziert. Wie ihr sicherlich wisst, ist es sogar genau umgekehrt. Eier müssen von ihren Eltern warm gehalten werden, damit etwas aus ihnen schlüpfen kann. Nein, ich glaube wirklich, dass wir die Möglichkeit, dass ein Ei vor uns auf dem Tisch liegt, genau so gut ausschließen können, wie die, dass sich darin ein blutrünstiger Alien-Parasit befindet.“

„Auch wenn ich euch damit langweile, was ist es denn dann?“, hakte Tom nach.

Nina – und ich schon gar nicht – hatte keine Antwort parat. Aber unsere Studentin ging sofort ans Werk, um diese Frage zu klären. Sie schickte uns los, um ein Maßband, eine Waage, eine starke Lampe und etwas zum Schreiben zu besorgen. Da Tom und ich Ninas Kompetenz in dieser Sache neidlos anerkannten, flitzen wir los, um ihre Aufträge auszuführen. Kurz darauf wurde das vermeintliche Ei gewogen und vermessen. Mit Hilfe der Lampe versuchte Nina es zu durchleuchten, was allerdings an der dafür zu schwachen Lichtquelle scheiterte.

„Im Physiklabor an der Uni haben wir eine Argon Lichtbogenlampe, damit könnte es funktionieren“, kommentierte Nina ihren missglückten Durchleuchtungsversuch. Sie verzog sich mit Block und Stift an die Arbeitsplatte der Küche und notierte ihre bisherigen Untersuchungen. Ich ging ihr nach.

„Es ist Wochenende. Da kommen wir nicht in die Uni“, sagte ich. „Hast du sonst keine Idee, was wir machen können?“

„Wir haben hier wirklich keine Lampe, die ausreichen würde, um es zu durchleuchten. Wenn du also unbedingt wissen möchtest, was in diesem Ding drin ist, müssen wir es aufmachen.“

„Aufmachen? Wie meinst du das, aufmachen?“

„Naja, wir könnten zuerst ein kleines Loch hinein bohren und vielleicht eine Probe nehmen.“

„Du willst es zerstören?“, fragte ich entsetzt. „Du hast doch noch gar keine Ahnung, was das ist. Vielleicht tötest du es, wenn du ein Loch rein machst.“

„Du hast mich nach einer Idee gefragt. Das ist sie.“

„Da hattest du aber auch schon mal hellere Geistesblitze. Ist dir schon mal in den Kopf gekommen, dass das vielleicht eine neuartige Bombe ist, und du sie zur Explosion bringst, wenn du einen Bohrer ansetzt?“, Diese Idee war mir ganz spontan gekommen. Als ich sie jetzt ausgesprochen hatte, schien sie mir auch gar nicht mal so abwegig.

„Ähhhh, Leute ...“, kam es von Tom, der noch immer am Tisch mit dem Ei stand.

„Wie soll denn eine Bombe zu uns in den Wald kommen?“, wollte Nina von mir wissen, ohne auf Tom einzugehen.

„Was weiß denn ich. Vielleicht hat ein Flugzeug sie verloren. Oder ein Spion auf der Flucht.“

„Meinst du, wenn irgendeine Regierung eine supertolle neue Bombe entwickelt, dann verliert sie die so einfach aus einem Flugzeug? Ausgerechnet bei uns hier im Wald?“

„Alex, Nina. Ihr solltet wirklich mal hier ...“, weiter kam Tom nicht, denn ich fiel ihm ins Wort und sagte zu Nina:

„Hin oder her. Du wirst dieses Ding auf keinen Fall anbohren und damit mein Haus in die Luft sprengen!“

„Jetzt mach dich doch nicht lächerlich! Die Chancen, dass es sich hierbei tatsächlich um eine Bombe handelt stehen bei 1 zu einer Million. – Natürlich nur grob überschlagen.“

„Und wenn sie 1 zu einer Milliarde stehen würden. Das reicht mir immer noch aus, dir zu verbieten, mein Haus in Schutt und Asche zu legen“, erwiderte ich aufgeregt.

Nina wollte gerade etwas sagen, als Tom sich nun sehr bestimmt zu Wort meldete.

„Hier passiert etwas seltsames“, rief er. „Hört auf da herum zu labern und schaut euch lieber das hier an!“

Der besorgte Tonfall in seiner Stimme, ließ Nina und mich in seine Richtung blicken. Wir vergaßen unseren kleinen Disput sofort, als wir sahen, worauf Tom unsere Aufmerksamkeit lenken wollte. Das Ding, dieses Ei oder was immer es auch sonst sein mochte, hatte angefangen zu leuchten, zu glimmen oder zu glühen – keine Ahnung, wie ich es beschreiben oder nennen soll. Auf jeden Fall erzeugte es eine Art von Licht, das von ihm ausstrahlte. Sein Vibrieren hatte zugenommen. Es war nun ein deutliches Zittern zu erkennen. Was mich aber wirklich besorgte, war die Tatsache, dass leichter Qualm von dem Ding auf meinem Küchentisch aufstieg. In dünnen Spiralen zwirbelten sich vier oder fünf Rauchfahnen in die Höhe. Für mich war das der eindeutige Hinweis darauf, dass es sich bei meinem Fund doch um eine Bombe handelte, die kurz vor der Detonation stand. Ich wusste nicht, was ich tun sollte; aus dem Haus stürmen und um mein Leben laufen, oder dieses Ding packen und es in den Garten schmeißen, um so die größte Katastrophe zu verhindern. Doch ich war einfach nicht in der Lage eine Entscheidung zu treffen und blieb daher einfach wie angewurzelt stehen und glotze auf meinen Küchentisch. Nina und Tom schien es nicht anders zu gehen. Auch sie standen bewegungslos und mit offenem Mund herum. Nun waren auch noch deutliche Geräusche zu hören, die aus dem Objekt stammten. Ein Gurgeln und Grummeln, wie man es manchmal von seinem eigenen Magen her kennt, bevor man eine gewaltige Flatulenz entlässt. Und so etwas ähnliches geschah bald darauf auch in meiner Küche. Wir drei standen immer noch bewegungslos staunend um den Tisch herum, als das Ding darauf in so große Bewegung geriet, dass es wortwörtlich vom Tisch hüpfte. Den Weg des Objekts vom Tisch herunter bis zu seinem Aufprall auf dem Boden nahm ich wie in Zeitlupe wahr. Nina und Tom bestätigten mir später, dass sie es genau so empfunden hatten. Die Welt schien still zu stehen, die Zeit angehalten. Unzählige Gedanken und Ideen, Bilder, Töne, Gerüche und Geräusche gingen mir durch den Kopf. Trotzdem waren meine Sinne voll und ganz auf das Schauspiel vor mir gerichtet und ich registrierte jede Veränderung daran. Während des Falles sah ich, wie aus immer mehr Stellen dieser Qualm entwich. In dem, was ich als Adern oder Kanäle bezeichnet hatte, pulsierte eindeutig eine Flüssigkeit und feine Risse bildeten sich auf der Oberfläche der Schale. Als das Ding schließlich auf dem Boden aufschlug, schien sich alles noch einmal für uns zu verlangsamen. Wir konnten erkennen, wie das Objekt durch den Aufprall gestaucht wurde. Dann empfanden wir es so, als würde einige Sekunden lang erst mal nichts passieren, bis die kleinen Risse an der Oberfläche breiter wurden und die Schale in fünf oder sechs Stücke zersprang. Eine zähflüssige Masse lief heraus und wir erkannten einen unförmigen Klumpen der dazwischen lag. Noch immer unfähig uns zu bewegen oder etwas anderes zu tun als dumm auf den Boden zu starren, warteten wir ab, was weiterhin geschehen würde. Nach kurzer Zeit bewegte sich der Klumpen und wir konnten so etwas wie einen Körper und sogar Gliedmaßen ausmachen. Und das Beste war: das Ding atmete, wie wir deutlich am Heben und Senken des Brustkorbs sehen konnten. Als es uns dann sein Gesicht zu wandte, starrten uns daraus zwei große, dunkle Augen an. So langsam kamen wir dahinter, was wir gerade eben beobachtet hatten: mitten in meiner Küche, unter dem Tisch, schlüpfte irgendeine Kreatur aus einem Ei. Ein neues Lebewesen wurde geboren. Insgeheim wartete ich darauf, dass das Ding seine kleinen Arme zu einem von uns ausstreckte und so etwas wie „Mama“ sagte. Aber natürlich geschah das nicht. Schließlich war das hier das richtige Leben und nicht irgendeine schlecht gemachte Teenagerkomödie aus dem amerikanischen Kino. Soweit wir erkennen konnten, war mit dem Lebewesen vor uns alles in Ordnung. Natürlich hatten wir nie zuvor etwas ähnliches gesehen, dennoch hatte es einen menschenähnlichen Körper mit Rumpf, Beinen, Armen und Kopf. Und nicht zuletzt aus der Tatsache, dass es atmete, sich bewegte und uns anblickte schlossen wir eben, dass es gesund war. Auf jeden Fall sah es ganz und gar nicht danach aus, dass dieses Ding im Sterben lag. Jetzt richtete es sich sogar auf und versuchte, noch etwas unbeholfen und tapsig, in eine sitzende Stellung zu gelangen. Wir hatten nun das erste Mal die Möglichkeit es richtig zu betrachten. Der Schleim aus dem Ei war größtenteils abgetropft und wir erkannten, dass die Haut dieses Wesens unserer sehr ähnlich war. Nur war es dunkler gefärbt als ein Mensch. Außerdem waren Spuren oder Zeichen auf dem Körper des Wesens auszumachen. Sie erinnerten mich an Tätowierungen wie Maori sie tragen. Es war kein Haar am ganzen Körper zu entdecken und wir konnten auch nicht feststellen, ob es sich um ein Männchen oder Weibchen handelte, da keine Geschlechtsorgane zu sehen waren. Seine Arme und Beine waren eher prall und erinnerten an die eines menschlichen Neugeborenen. Sein Kopf schien zu groß für seinen Körper. Was daran besonders auffiel, waren die großen Augen und der sehr breite Mund. Als das Ding jetzt die Lippen öffnete – dabei ran in einem Mundwinkel noch etwas Schleim herab – sah ich zu meiner Beruhigung, dass das Wesen keine Zähne hatte. Alles in allem machte das Ding einen ungefährlichen, vielleicht schon putzigen, auf jeden Fall aber sehr unbeholfenen Eindruck auf mich. Gerade als es mühsam zum sitzen gekommen war, rutschte eine der Hände, mit der es sich abgestützt hatte, weg und der kleine Körper fiel wieder nach hinten und landete auf dem Rücken. Es schien sich dabei aber nicht weh getan zu haben und unternahm gleich darauf einen weiteren Versuch, in die aufrechte Position zu gelangen. Nachdem Nina, Tom und ich also den ersten Schrecken überwunden und für uns festgestellt hatten, dass von dem Wesen keine direkte Gefahr ausging, fand ich meine Worte wieder.

„Na klasse, hoffentlich bekomme ich den ganzen Schleim irgendwie wieder vom Boden weggewischt.“

Als ich das gesagt hatte, neigte das Wesen den Kopf, sah um sich herum über die Küchenfliesen, blickte dann wieder zu mir und zog verlegen die Augenbrauen zusammen.

„Habt ihr das gesehen?“, rief Nina aufgeregt. „Es hat auf dich reagiert. Es hat den Boden angeschaut, als du darüber gesprochen hast.“

Das Ding blickte jetzt auf Nina und auf seinen Lippen erschien etwas, das man als Versuch eines Lächelns deuten konnte.

Unsere Mitbewohnerin ging langsam in die Hocke und sprach das Wesen nun direkt an: „Hallo. Du kannst mich hören, ja?“

Die Augen des Dings vergrößerten sich etwas.

„Und kannst du mich auch verstehen?“

Nun öffnete es leicht die Lippen auf einer Seite des Mundes und ein leises Quieken war zu hören. Danach nickte es langsam mit dem Kopf. Die großen Augen hatte es dabei fest auf Nina geheftet.

„Das ist unglaublich“, freute Nina sich. „Ich habe keine Ahnung, was du da gefunden hast, Alex. Aber offensichtlich versteht es unsere Sprache. Und das, obwohl es erst ein paar Minuten alt ist. Das ist unglaublich.“

„Das erwähntest du jetzt schon zwei mal,“ sagte ich. „Aber wir wissen immer noch nicht, was es ist. Jetzt, wo wir den Inhalt dieses Eies kennen, gibt es sogar eigentlich noch mehr Fragen als zuvor. Wo kommt es her, was will es, was ist es, ist es gefährlich? Ich meine, da sitzt eine unbekannte Lebensform in meiner Küche und könnte jeden Moment auf uns losgehen. Wir sollten irgendetwas unternehmen.“

„Und was schlägst du da genau vor?“, wollte Nina wissen.

„Keine Ahnung“, erwiderte ich nach kurzem Zögern. „Vielleicht sollten wir ja einen Hundefänger oder so etwas anrufen.“

Nina schaute mit einem sehr strafenden Blick zu mir herüber. „Das ist jetzt nicht dein Ernst“, sagte sie, während sie wieder aufstand.

„Ich weiß doch auch nicht. Aber irgendjemanden müssen wir doch anrufen. Wir haben keine Ahnung, womit wir es zu tun haben. Vielleicht ist es ja doch gefährlich.“ Ich blickte bei diesen Worten unwillkürlich zum Messerblock auf der Arbeitsplatte und liebäugelte sehr damit, das große Beil zu meiner Verteidigung daraus hervor zu ziehen.“

„Seine Verhaltensweisen lassen nicht im geringsten darauf schließen, dass es gefährlich oder aggressiv ist“, erklärte Nina. „Es versteht uns, es reagiert auf uns und antwortet uns sogar. Das sind soziale Merkmale, die Menschenbabys erst sehr viel später entwickeln. Und auch wenn das jetzt ziemlich unwissenschaftlich klingt: ich habe das Gefühl, dass es Angst hat, und die Situation genau so neu für dieses Ding ist, wie für uns“.

Ich holte gerade Luft, um Nina zu widersprechen, als sich Tom zu Wort meldete, der bisher geschwiegen hatte. Er sprach direkt das Ding an.

„Hallo … Kleiner“, sagte er. Das Ding reagierte sofort und blickte ihn an.

„Scheinbar kannst du mich verstehen. Also frage ich dich nun, ob du uns in irgendeiner Art gefährlich werden willst.“

Das Wesen legte den großen Kopf leicht schief als verstünde es nicht ganz, was Tom meinte.

„Willst du uns anfallen, beißen oder sonst irgendwie verletzten?“, fragte Tom etwas genauer.

Die Reaktion des Wesens war eindeutig. Es riss seine ohnehin schon großen Augen erschrocken auf und schüttelte mit dem Kopf. Dazu ertönte wieder eine Art Quieken, das wir als beruhigend gemeint deuteten.

„Gut“, sagte Tom. Dann tat er etwas, worauf ich und Nina niemals gekommen wären. Wenigstens nicht schon zu diesem Zeitpunkt. Er fragte: „Wenn du uns verstehen kannst, kannst du dann vielleicht auch sprechen?“

Es vergingen einige Sekunden in denen die großen schwarzen Augen zwischen uns dreien hin und her blickten. Endlich öffneten sich wieder die Lippen und erneut ertönte ein leises Quieken, das bald zu einer Art Grunzen wurde. Nachdem das Wesen Luft geholt hatte, startete es einen neuen Versuch und tatsächlich war jetzt ein wackliges aber dennoch eindeutiges „Ja“ zu hören.

„Das ist unglaublich“, kommentierte Nina das Geschehen erneut.

„Für einen Menschen mit deinem IQ hast du einen ziemlich eingeschränkten Wortschatz“, platze ich heraus, was mir erneut vorwurfsvolle Blicke von Nina einbrachte.

„Während ihr nur über dieses Wesen geredet habt, habe ich das nächstliegende getan und mit ihm gesprochen“, erklärte Tom uns nun. „Und nun seid ihr wieder dran!“, fuhr er direkt an Nina und mich gewandt fort.

„Äh, ja, natürlich“, stammelte ich noch immer etwas überrascht darüber, wie logisch und selbstverständlich Tom vorgegangen war.

„Also, was bist du?“, wollte ich nun wissen.

„Ich … weiß … nicht … genau“, kam nun die Antwort noch immer nicht sehr flüssig aber immerhin schon sehr gut verständlich.

„Du weißt es nicht genau?“, hakte ich nach.

„Ich kann … mich … nicht er...innern. Habe … vergessen.“

In der nächsten Viertelstunde bombardierten Nina und ich das Wesen mit weiteren Fragen. Tom hielt sich dabei eher zurück, lauschte nur stumm und beobachtete. Anfangs bekamen wir nicht viel aus unserem ungewöhnlichen Gast heraus. Immer wieder hörten wir nur, dass er dieses oder jenes nicht wisse, oder sich nicht erinnern könne. Der Fluss und die Deutlichkeit seiner Sprache verbesserten sich allerdings mit jedem Wort, das er sagte. Und mit der fließenden Sprache schienen auch einige Erinnerungen wieder zu kommen. Vielleicht hatte das Wesen nur einen Geburtsschock oder so etwas ähnliches erlitten. Auf jeden Fall konnte es uns nach ein paar Minuten endlich mehr über sich berichten. Nach meinem Geschmack erinnerte es sich sogar zu schnell, denn die Dinge, die es nun erzählte, waren völlig neuartig für uns, umwerfend und – um Ninas wissenschaftliche Ausdrucksweise beizubehalten – einfach unglaublich. Wir drei hörten aufmerksam zu und versuchten, die Dinge, die wir erfuhren, so gut es ging zu verarbeiten. Laut dem Wesen vor uns, war es zuerst mal kein Ei gewesen, aus dem es geschlüpft war, sondern eine Art Kokon. Darin hatte es so etwas wie einen Winterschlaf verbracht. Warum es in dem Kokon eingeschlossen war oder warum es gerade jetzt wieder aufgewacht war, dazu konnte es sich allerdings nicht äußern. Dafür erfuhren wir, dass es sich bei dem Wesen um ein Geschöpf handelte, das wir in unseren Märchen und Mythen als Wichtel bezeichneten. Und fast nebenbei erzählte es uns nun, dass es neben der Welt, die wir zu kennen und zu verstehen glaubten, eine andere, eine phantastische, ja mystische Welt gab. Alles was wir aus unseren Sagen und Märchen kannten, entsprach – laut dem Wesen vor uns – der Wahrheit. Zumindest größtenteils. (In einer späteren Unterhaltung mit dem Wichtel erfuhr ich, dass es so etwas wie einen Froschkönig nie gegeben hatte, und dass dieses Märchen tatsächlich nur der Phantasie der Gebrüder Grimm entsprungen war.) Neben dem Wichtel in unserer Küche gab es noch viele weitere Geschöpfe, die wir bisher immer für Phantasieprodukte gehalten hatten. Geschöpfe und Wesen, die wir aus unseren Märchen kannten und darüber hinaus noch eine ganze Menge mehr, von denen wir uns gar keine Vorstellung machten. Wir hörten, dass die Existenz dieser Wesen geheim gehalten wurde, dass aber weder unsere, noch ihre Welt ohne die andere bestehen könnte. Es gab immer mal wieder Kontakte zueinander – so wie gerade wohl eben den in meiner Küche. Es gab sogar Menschen, die eine ständige Verbindung zu der mystischen Welt hielten. Vor unendlich langer Zeit wurde jedoch beschlossen, dass der Großteil der Menschheit von dem Vorhandensein dieser Welt und seiner Wesen nichts erfahren sollte, da sie noch nicht reif für diese Erkenntnis war. Unser Wichtel erklärte uns – es handelte sich tatsächlich um ein Männchen bei ihm –, dass es in entlegenen Wäldern, in manchen abgeschlossenen Gebirgstälern oder in Gegenden, die etliche Tage entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung lagen, richtige Städte mit mystischen Bewohnern gab. Außerdem lebten einige von Ihnen unter der Erde oder waren so gut getarnt, dass sie – ähnlich wie Spinnen, Käfer oder andere Tiere, die unseren direkten Lebensraum teilten – im wahrsten Sinne des Wortes zwischen uns lebten. Außerdem gab es wohl noch Gestaltwandler, die einfach zu einem Menschen wurden, wenn Sie wollten. So jemand könnte unser Nachbar sein, ohne dass wir es jemals ahnen würden. Der größte Teil der Bewohner aus der mystischen Welt war jedoch vom Äußeren her von uns Menschen ohnehin nicht zu unterscheiden. Sie trugen das Mystische, das Phantastische, das sie zu einem Teil ihrer Welt machte, in ihrem Inneren. Entweder waren das Hexen, Zauberer, Vampire, Dämonen oder noch eine Reihe weiterer Kreaturen. Lebewesen, die wie wir Menschen, arbeiten gingen, sich Filme im Kino ansahen, zum Einkaufen ins Shopping-Center fuhren oder im Fitnessstudio am Gerät neben uns schwitzten. Mir ist klar, dass das alles sehr abwegig und phantastisch klingt, wenn ihr es nun lest. Auch Nina, Tom und mir ging es damals in meiner Küche nicht anders. Abwechselnd zweifelte ich entweder an meinem Verstand oder an meinen Augen und Ohren. Doch konnte ich es drehen, wie ich wollte, der beste Beweis für die Richtigkeit der Geschichten, die der Wichtel uns erzählte, war er selbst. Wenn ich alleine gewesen wäre, hätte ich vielleicht noch geglaubt, dass ich mir das alles nur einbildete oder, dass ich träumte. Doch Nina und Tom erlebten es genau so wie ich. (Wie ich später beim Säubern der Küche feststellen sollte, war das Ganze tatsächlich mehr als real. Als ich versuchte, die Reste des Schleims in der Toilette zu entsorgen, verursachte ich eine gewaltige Verstopfung im Abflussrohr. Aber woher sollte ich auch ahnen, dass dieses Zeug aus dem Kokon nicht wasserlöslich war? Auf Anraten des Wichtels rührte ich eine Mischung aus rohen Eiern, Zucker und und pürierten Bananen an, um die Rohre damit durch zu spülen. Das war eindeutig das erste Mal, dass mich die eben neu entdecke mystische Welt aber so was von ankotzte!)

Wir drei hockten immer noch bei mir in der Küche auf dem Boden und der Wichtel saß auch immer noch vor uns in den Resten seines Kokons, als Tom sagte: „Hier auf dem Boden wird es langsam unbequem. Was hältst du davon, wenn ich dich auf den Tisch hebe, und wir uns auf die Stühle setzen?“

„Dass du mich trägst, wird nicht nötig sein“, erwiderte der Wichtel. „Das was ihr gerade jetzt seht, ist nicht mein richtiger Körper. Die Form wurde mir nur gegeben, als ich zum Schlafen in den Kokon gelegt wurde. Aber die Wirkung des Zaubers, der dafür nötig war, lässt bereits nach und gleich werde ich wieder meinen richtigen Körper annehmen.“

Wir staunten wieder mal nicht schlecht, als wir diese Worte vernahmen, und waren mehr als gespannt auf das, was als nächstes passieren würde.

Und schon kurz darauf setzte die versprochene Rückverwandlung tatsächlich ein. Der Wichtel krampfte am ganzen Körper, begann zu zittern, kniff die Augen zusammen und jaulte vor Schmerz. Wir hörten ein paarmal ein sehr unangenehmes Knacken wie von brechenden Knochen und wünschten uns, nicht in der Haut dieses Wesens zu stecken. Dann ging es sehr schnell. Vor unseren Augen wuchs der Körper des Wichtels und verlor sein pummeliges und plumpes Aussehen. Die Gliedmaßen wurden länger, der Torso streckte sich, Muskelpakete bildeten sich und der Kopf schrumpfte. Dabei wurde er schmaler und Höher. Einzig die großen Augen veränderten sich nicht sonderlich. Auf dem neuen Körper des Wichtels bildeten sich borstige, dichte Haare, von denen er komplett bedeckt war. Seine Finger wurden länger und ähnelten nun sehr den menschlichen. Und auch die Füße des Wesens bildeten sich ihrem Zweck entsprechend um. Als die Verwandlung abgeschlossen war, stand ein am ganzen Körper behaartes, etwa einen Meter großes Männchen mit spitzen Ohren vor uns. Nur an den Händen, Füßen und im Gesicht waren die Behaarung nicht so ausgeprägt. Aus der Ferne betrachtet, hätte man bei einem nur flüchtigen Blick angenommen, dass es sich bei dem Geschöpf um einen Schimpansen handelte. Der Wichtel streckte und dehnte sich noch einmal, bevor er uns lächelnd ansah.

„So, dann wollen wir uns mal setzen“, sagte er gut gelaunt.

Wir setzten uns auf die Stühle um den Küchentisch und führten unsere Unterhaltung fort.

„Du sagtest eben, die Form, die du im Kokon hattest, wurde dir gegeben“, stellte Nina die nächste Frage. „Von wem wurde sie dir gegeben?“

„Das ist das Seltsame. Ich kann mich nicht erinnern. Der Aufenthalt in einem Kokon dient verschiedenen Gründen. Einer längeren Ruhepause etwa oder zur Genesung. Der Kokonzauber ist einer der einfachsten und wird schon von den kleinsten Kindern beherrscht. Man kann ihn ganz einfach an sich selber ausführen. Doch diesen Aufenthalt im Kokon habe ich mir nicht selbst verschrieben. Jemand hat mich dort hinein gebracht. Ich weiß allerdings nicht wann das war oder warum. Ich weiß auch nicht wer das getan hat. Ich erinnere mich einfach nicht. Das ist sehr ungewöhnlich, denn im Kokon vergisst man normalerweise nichts.“

„Vielleicht ist ja während deiner Zeit im Kokon etwas schief gegangen und du hast dadurch deine Erinnerung verloren“, tippte Nina.

„Das bezweifle. Ich erinnere mich zwar nicht, wer mich in den Kokon gezaubert hat und warum, ich erinnere mich aber sonst an alles. Ich habe nichts von der mystischen Welt vergessen. Außer ...“

Der Wichtel verstummte und machte ein verbittertes Gesicht.

„Außer was?“, hakte ich nach.

„Ich kann mich an nichts persönliches erinnern. Es ist wie verhext. Ich weiß nichts mehr von mir. Noch nicht einmal meinen Namen.“

Wir konnten dem Wichtel ansehen, dass er sehr angestrengt nachdachte. Wahrscheinlich darüber, wer er war und wie er hieß. Das muss ein schreckliches Gefühl sein, stellte ich mir vor. Unverhofft in einer fremden Umgebung aufzuwachen und sich an nichts persönliches erinnern zu können. Ich hatte schon einige spannende Filme gesehen, die auf dieser Grundlage basierten. Aber erst jetzt, als ich einen von Amnesie betroffenen direkt vor mir hatte, entwickelte ich eine Ahnung davon, wie schrecklich und beängstigend die Situation für denjenigen tatsächlich sein musste.

„Ich kann mich einfach nicht erinnern“, fuhr der Wichtel schließlich fort. „Da ist noch nicht einmal die leiseste Ahnung an persönliche Dinge. Es ist wie eine schwarze Wand. So, als hätte es mich nie gegeben. Das klingt verrückt, aber wenn ich mir meiner selbst nicht bewusst wäre, dann wäre es für mich, als hätte ich nie gelebt.“

„Gibt es keine Möglichkeit, dein Gedächtnis wieder herzustellen?“, wollte Nina wissen. „Vielleicht eine Art Gegenzauber?“

Es ist lustig, dass gerade die Vollblutwissenschaftlerin unter uns nach einer magischen Lösung suchte. Darüber hinaus war ihre Frage aber auch ein Beleg dafür, wie schnell wir die Existenz der Welt, von der uns der Wichtel eben erst erzählt hatte, bereits akzeptiert hatten. Damit ging es nicht nur Nina so. Auch ich, und bestimmt ebenso Tom, hegten keinen Zweifel daran, dass der Wichtel uns die Wahrheit gesagt hatte.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete der Wichtel schließlich auf Ninas Frage. „Ich spüre eine sehr starke Macht, die mich blockiert. Die Erinnerungen an mich selbst, an alles persönliche werden absichtlich unterdrückt. Das Unbegreifliche ist nur, dass ich niemanden kenne, der so einen mächtigen Zauber ausführen kann.“ Der Wichtel zupfte sich bei diesen Worten an den langen Haaren die an der Spitze seines linken Ohres wuchsen. Dieser Tick war mir schon vorher an ihm aufgefallen. Er machte das immer, wenn er gedanklich sehr tief in irgendetwas versunken war.

„Ich weiß ja nicht, wie ihr drei das jetzt aufnehmen werdet, aber ich habe da so eine Idee“, wandte sich das Wesen an Nina, Tom und mich.

„Was meinst du? Was für eine Idee hast du?“, fragte Nina stellvertretend für uns.

„Naja“, fasste der Wichtel seine Gedanken zusammen, „der Kokon in dem ich schlief und dass Alex mich auf der Lichtung gefunden hat, dann unser Kennenlernen und mein teilweiser Gedächtnisverlust – das kann alles kein Zufall sein.“

„Kein Zufall? Du meinst, es steckt jemand dahinter, der das alles geplant hat?“

„Ja, es sieht ganz danach aus. Ich bin der Meinung, dass irgendjemand wollte, dass wir uns begegnen und zusammen kommen.“

„Aber warum? Meinst du es ist eine Art Falle?“

„Das durchschaue ich noch nicht genau. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich von einer Falle oder solchen Dingen noch nichts erkennen. Ich glaube einfach, irgendjemand hat uns absichtlich zusammen geführt. Aus welchem Grund auch immer.“

„Und was bedeutet das jetzt? Was sollen wir machen?“

„Also was meinen Teil angeht – wir Wichtel waren immer schon eine neugierige Spezies – ich würde mich gerne darauf einlassen und versuchen heraus zu finden, warum das alles passiert.“

„Du meinst, du möchtest hier bleiben? Hier bei uns?“, fragte Tom nicht wenig skeptisch nach.

„Also, da ich ja sowieso nicht weiß, wo ich hin kann, war das meine erste Idee. Ja!“

Der Wichtel schaute uns mit seinen großen Augen der Reihe nach an und wartete darauf, wie wir reagieren würden. Schließlich sagte Tom an Nina und mich gewandt: „Mitbewohnerversammlung! Los kommt, wir gehen ins Wohnzimmer!“

Im Entenmarsch wanderten wir in den nächsten Raum. Hier fuhr Tom fort: „Bevor ihr auf mich einschlagt muss ich euch sagen, dass ich keine Ahnung habe, was ich von der ganzen Angelegenheit halten soll. Ich bin genau so erstaunt, überrascht und überwältigt, wie ihr wahrscheinlich auch. Bis vor einer halben Stunde dachte ich noch, ich wüsste einigermaßen darüber Bescheid, wie die Welt funktioniert und wie sie sich dreht. Es hat sich herausgestellt, dass das alles eine Lüge war. Plötzlich sitzt ein Wichtel bei uns in der Küche und offenbart uns, dass es Magie, magische Wesen und den ganzen Kram, den wir von früher aus den Märchenbüchern kennen, tatsächlich gibt.“

Tom schaute über seine Schulter zu dem Wichtel in die Küche, der gerade dabei war die Kaffeemaschine, die bei ihm auf dem Tisch stand genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Wie gesagt, mit einem Schlag hat sich meine Welt verändert. Was aber das Wichtigste ist, wir haben da ein intelligentes Lebewesen, dass offensichtlich in einer Notlage ist. Er weiß nicht, wer er ist oder woher er kommt. Scheißegal, ob das jemand absichtlich und mit Hintergedanken herbeigeführt hat, ich meine, wir sollten dem kleinen Kerl helfen und ihn bei uns lassen.“

Tom schaute Nina und mich erwartungsvoll an. Ich hatte bisher nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass der Schlosserlehrling eine derart soziale und hilfsbereite Einstellung hatte. In den zwei Jahren unseres Zusammenlebens hatte ich ihn zwar als höflich, nett und zuvorkommend kennengelernt, aber ich hätte auch niemals vermutet, dass er sich nun so sehr für ein Wesen wie diesen Wichtel ins Zeug legen konnte.

„Rein wissenschaftlich betrachtet kommt mir so eine Gelegenheit nie wieder ins Haus“, sagte Nina. „Wir könnten unendlich viele interessante Dinge von diesem Kerl erfahren. Er kann uns so viel beibringen, uns neues zeigen und uns die Augen öffnen. Also wenn ihr mich fragt, möchte ich mir diese Chance nicht entgehen lassen. Ich bin auch dafür, dass er hier bleiben darf.“

Natürlich war durch das Auftauchen des Wichtels die Wissenschaftlerin in Nina geweckt worden. Und natürlich war sie brennend daran interessiert, mehr von diesem Wesen und der versteckten Welt, der es entstammte, zu erfahren. Meine Mitbewohner warteten nun ungeduldig darauf, wie ich mich entscheiden würde. Ich entschloss mich dazu, die beiden etwas zappeln zu lassen.

„Also ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll“, begann ich für meine Verhältnisse ungewohnt ernst. „Da kommt so ein klein geratener Zottelbär daher und tischt uns eine Geschichte auf, als gäbe es kein Morgen mehr. Habt ihr schon mal überlegt, dass dieses ganze Zeug von der verborgenen Welt, von Magiern, Hexen, Wichteln und Zauberern auch nur ein Ablenkungsmanöver sein könnte? Na gut, ich gebe zu, dass dieses Wesen eindeutig ungewöhnlich ist. Auch ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber kann das alleine der Beweis dafür sein, dass alles was er erzählt hat, die Wahrheit ist? Was, wenn dieser Dingsbums, der Wichtel da, der gerade unsere Kaffeemaschine auseinander nimmt, sich hier einschleichen möchte, um uns im Schlaf die Köpfe abzureißen? Und das Wichtigste ist, stellt euch nur mal vor wie es sein würde, wenn der im Badezimmer war. Überall werden dann seine Haare herum liegen und im ganzen Haus die Abflüsse verstopfen. Also ich will das nicht!“

Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen verschränkte ich die Arme vor der Brust und schaute stur aus dem Fenster. Nina und Tom fielen sofort über mich her. Sie sagten, ich sollte nicht immer nur an mich denken, ich müsste auch die Möglichkeiten bedenken, die der Wichtel uns brachte. Außerdem zweifelten die beiden an meinem Urteil über die Ehrlichkeit des Wesens. Sie redeten durcheinander auf mich ein, brachten Argumente vor, appellierten an meine Vernunft, mein Mitleid und an meine Neugier. Sie drohten mir, bettelten mich an und schlugen Kompromisse vor. Zuletzt hatte ich die beiden so einig und energisch mir gegenüber erlebt, als es darum ging, ob wir uns eine Playstation oder eine X-Box anschaffen sollten.

Mitten in ihrem Redeschwall verstummte Nina plötzlich und stoppte auch Tom.

„Hast du gesagt, du wolltest ihn nicht hier haben, weil er im Bad Haare verlieren würde? Habe ich das richtig verstanden?“, Sie schaute mich mit ernstem Blick an. „Jetzt mal ehrlich! Du verarschst uns doch, oder etwa nicht?“

Ich konnte mein Lachen kaum noch unterdrücken und sagte: „Wir kennen uns nun schon so lange, und ihr fallt immer noch darauf herein. Überlegt doch mal, mit wem ihr hier sprecht! Natürlich möchte ich auch, dass der Wichtel bei uns bleibt. Hier in diesem verschlafenen Nest, ist das die erste aufregende Abwechslung, seit ich denken kann. Und ich wäre nicht Alex, wenn ich mir diesen Spass entgehen lassen würde.“

Nina und Tom fielen sichtlich zwei Steine vom Herzen. Dann brachen sie mit mir zusammen in Lachen aus. Nina knuffte mir spielerisch verärgert die Schulter und wir marschierten wieder zurück in die Küche. Der Wichtel hatte, abgelenkt von unserem Lachen, von der Kaffeemaschine abgelassen und schaute uns nun erwartungsvoll an.

„Also gut, … äh … du … Wichtel“, stammelte Nina nun herum, da sie bemerkt hatte, dass wir keine Ahnung hatten, wie wir unseren Gast eigentlich ansprechen sollten. „Wie sollen wir dich denn nun nennen?“

„Da ich mich an meinen Namen nicht erinnern kann, und da Alex mich gefunden hat, finde ich, er sollte mir einen neuen Namen geben.“

„Was weiß denn ich, welcher Name zu einem Wichtel passt“, versuchte ich, diese Verantwortung von mir zu wälzen.

„Ich habe da volles Vertrauen in dich. Trau dich nur. Du wirst schon die richtige Wahl treffen und mir einen guten Namen geben.“

Ich überlegte kurz und angestrengt. Doch ich stellte wieder mal fest, dass ich unter solchem Druck nicht die besten Ergebnisse zu Tage förderte und sagte schließlich: „Na gut, dann nennen wir dich also ab sofort Paul.“

„Spinnst du!“, sprang Nina sofort ein. „Du hast hier ein magisches Wesen sitzen. So etwas kannst du doch nicht Paul nennen! Ich bin ja schon froh, dass du nicht Fritz oder Ulf gesagt hast. Aber Paul ist ja wohl auch der Hammer.“

„Ihr wolltet doch, dass ich einen Namen finde“, verteidigte ich mich.

„Aber doch nicht so einen wie Paul. Da musst du dir doch etwas anderes einfallen lassen. Ein Name aus einer wissenschaftlichen Ableitung zum Beispiel. Oder etwas Antikes. Von mir aus auch etwas lateinisches oder griechisches, aber doch nie und nimmer einfach nur Paul. Das geht ja gar nicht!“

„Darf ich etwas dazu sagen?“, meldete sich unser Täufling, der Wichtel, zu Wort.

„Ja klar“, erwiderten Nina und ich gleichzeitig.

„Ich danke dir, dass du dich so für mich und einen guten Namen einsetzt, Nina. Aber wenn ich ehrlich bin, dann gefällt mir Paul eigentlich ganz gut. Paul der Wichtel. Ja, so möchte ich gerne heißen. Danke für deine Wahl, Alex.“

Nina gab sich geschlagen und stimmte schließlich auch zu. Das rettete sie jedoch nicht davor, dass ich sie überlegen angrinste und ein kurzes „Hah! Siehst du!“, heraus quetschte.

 

Und so kam es, dass unsere kleine WG einen vierten geheimen Mitbewohner bekam. Paul den Wichtel. Wie sehr diese Entscheidung unser aller Leben noch beeinflussen sollte und welch aufregende Zeiten ab nun auf uns zukommen sollten, das konnten wir alle damals allerdings noch nicht ahnen.

Lesemodus deaktivieren (?)