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Hürdenlauf

15. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

Er starrt mich an. Ich weiß genau, wie er mich anschaut. Fassungslos ist er und sucht nach Worten.

„Ist gut, André, spar dir die Predigt“, breche ich das Schweigen. Moritz zerrt an seiner Leine, ich ziehe ihn zurück. „Ich hab ihn Sonntag zu Nico gebracht. Er kriegt ’ne PEP und das wird schon wieder. Er hat mich gefickt, meine Viruslast ist seit Monaten unter der Nachweisgrenze, ich glaube nicht, dass er sich angesteckt hat. Die Chancen sind minimal gering.“

André schweigt mich immer noch an. Ich wage es, ihn anzusehen, sehe traurige Augen in einem weißen Gesicht. Warum sagt er nichts? Er geht einfach weiter, lässt mich stehen, schaut sich nicht nach mir um.

„André!“, rufe ich, laufe ihm hinterher. „Jetzt bleib doch stehen!“ Ich hole ihn ein, gehe neben ihm. „Ich muss mich für nichts entschuldigen, André. Es ist passiert, ich kann es nicht ändern, und wenn du mir einen Vorwurf machst, tut mir Leid, dann kannst du mich mal! Es ist beschissen genug, da brauchst du nicht noch nach zu treten! Deine scheiß Fürsorge geht mir manchmal echt auf den Sack!“

„Was machst du denn ohne mich?!“ Er bleibt stehen, durchbohrt mich mit vorwurfsvollem Blick. Mir wird heiß und kalt zugleich. „Wer hat dich aus den Discotheken geschleift und nach Hause gebracht, wenn du besoffen und zugedröhnt warst? Wer hat dich mit Kondomen eingedeckt, damit du dich schützt? Wer hat dich zu dem scheiß Test geschickt, weil er Angst um dich hatte? Wer opfert seit fast sechs Jahren seine ganze Energie auf, ist jederzeit auf Abruf bereit, nur, weil bei dir mal wieder was den Bach runtergeht und du Hilfe brauchst? Das bin ich! Ich zieh dich immer wieder aus der Scheiße, ich bin für dich da, weil ich mir Sorgen um dich mache! Und wenn man mal nicht hinguckt, baust du gleich die nächste Scheiße. Wann wirst du endlich erwachsen, Jonathan Möller?!“

Ich weiß nicht, was ich erwidern soll. Ich bin stinksauer, dass er mich so anfährt und gleichzeitig weiß ich aber auch, dass er mal wieder Recht hat. Ohne ihn kriege ich nichts richtig auf die Reihe. Selten hat er mich angebrüllt und streiten tun wir eigentlich nie...

„Ehrlich, Loki, ich bin einfach enttäuscht“, seufzt er. „Aber gut, du hast ihn zum Arzt gebracht. Habt ihr Kontakt?“

Ich schüttele den Kopf, lasse mich von meinen nervösen Frettchen weiterziehen. „Nicht mehr... es gab Streit, weil sein bester Freund ein Aids-Dissident ist. Der und ich sind aneinandergerasselt und Dennis, der Aufriss, hat uns rausgeworfen. Das ist jetzt eine knappe Woche her. Mir ist auch egal, was da weiter los ist...“

Ich spüre, wie André von hinten die Arme um mich legt und mich festhält. Der Kater hat meinen Kopf im Griff und macht sich wieder bemerkbar. Scheiß Alkohol...

„Mein Kämpfer...“, flüstert André, ich drehe mich um und umarme ihn. „Du kannst doch nicht immer weglaufen, wenn es Probleme gibt... Du bist so stark, wie du das alles meisterst, mit deiner Infektion, den Medikamenten. Eigentlich kenn ich dich nicht als jemanden, der so schnell den Kopf in den Sand steckt. Aber wenn mal wieder was dick kommt, findet man dich auf irgendeiner Party mit mehr Alkohol als Helferzellen im Blut...“

„Kleine Sorgen, kleine Party, große Sorgen, große Party...“, murmele ich betreten, André nickt. Er kennt mich lange genug, um mein Verhalten zu kennen und verstehen zu können.


„Wir müssen nach Hause.“ André tippte mir auf die Schulter. „Komm, Micha holt unsere Jacken.“

„Spinnst du?“ Energisch schüttelte ich den Kopf. „Ich bleib noch! Es ist noch nicht mal eins, ich hab kaum was getrunken, die Party fängt grad erst an!“

„Loki, es ist Sonntag, du musst morgen zur Schule...“

„Du klingst echt, als wärst du mein Vater. Wo ist Micha? Ich will meine Garderobennummer und dann könnt ihr von mir aus gehen.“

Ich wollte noch nicht heim. Ich war hier zu Hause. Hier fühlte ich mich geborgen. Alles um mich herum war schwul, bis auf ein paar lesbische Ausnahmen und die obligatorischen besten Freundinnen, die vereinzelt zwischen den Jungs und Männern auftauchten.

Ich nahm meinen aktuellen Tanzpartner an der Hand, damit er mir nicht verloren ging, und zog ihn zur Garderobe, wo Micha schon, beladen mit einem Berg Jacken, auf André und mich wartete.

„Micha, gib meine Jacke her.“ Ich zog meinen Anorak von seinem Arm, warf ihn auf die Theke. „Axel! Häng die bitte wieder auf, das war ein Missverständnis.“

„Dann gib mir noch mal einen Euro“, rief Axel gegen die Musik an. Ich beugte mich vor.

„Einen Euro? Spinnst du? Ich hab von dir auch keinen Euro verlangt, dafür, dass dein Arsch in den Genuss meines Pimmels gekommen ist, also häng die verdammte Jacke wieder auf und gib mir ’ne neue Marke!“

Axel schenkte mir einen bösen Blick, schnaufte genervt, als er mir die Jacke abnahm, auf einen Bügel stopfte und an die Stange hängte. Er riss eine Papiermarke von seinem Block und knallte sie mir auf den Tresen.

„Bitteschön“, maulte er.

„Danke, Süßer“, grinste ich ihn an und verstaute das Papier sorgfältig in meiner Hosentasche.

Meine Bekanntschaft und ich blieben noch einige Stunden in der Disco, vergnügten uns auf der Tanzfläche, an der Bar, anschließend intensiver auf dem Klo. Als ich den Club verließ, war draußen längst die Sonne aufgegangen. Erst jetzt merkte ich, wie müde ich eigentlich war. Vom Alkohol benebelt und müde von den ganzen körperlichen Anstrengungen schleppte ich mich zur S-Bahn, stieg um in die U-Bahn und torkelte nach Hause. Der Weg kam mir unendlich lang vor. Hoffentlich waren meine Eltern noch nicht wach... ich hasste es, wenn sie mich mit Fragen löcherten.

Leise schloss ich die Tür auf, schlich mich in mein Zimmer, drehte von innen den Schlüssel herum, damit meine Mutter mich nicht mit Familienfrühstück nerven konnte. Dieses „heile Familie“-Getue ging mir schon seit Jahren auf den Sack. Wir waren keine heile Familie. Es war zwar etwas ruhiger und harmonischer geworden, seit Konni ausgezogen war, aber „heile Welt“ sah für mich ganz anders aus. In einer heilen Welt konnte ich mich so geben, wie ich war, da konnte ich schwul sein und mit anderen Schwulen feiern, Sex haben, mich gehen lassen. In meiner Familie zählte nur das gute Ansehen gegenüber den Menschen um uns herum. Und da passte ein schwuler Sohn einfach nicht hinein.

Ich zog meine nach Zigarettenqualm und Schweiß riechenden Klamotten aus, warf mich nackt aufs Bett und stellte meinen Wecker auf halb neun. Duschen konnte ich später noch. Ein paar Stunden Zeit zum Schlafen blieben mir, bevor die Schule rufen würde. Ich konnte es kaum erwarten, dass es wieder Freitag wurde.


André drückt seine dritte Zigarette aus. Es muss wirklich in ihm arbeiten, er raucht sonst nie mehr als zwei Zigaretten hintereinander. Wenigstens ist er jetzt wieder auf dem neusten Stand.

Mittlerweile sitzen wir wieder in meiner Küche. Nein, so stimmt das nicht. Er sitzt und ich hänge wie ein Sack Kartoffeln mit dem halben Oberkörper auf dem Tisch. Mir ist kotzübel, mein Kopf bringt mich um, mein Bauch tut weh und ich fühle mich schlapp. Ja, ja, ich weiß, Medikamente und Restalkohol. Ich werde mich ganz bestimmt bessern, sobald es mir besser geht.

„Soll ich mal mit Dennis reden?“, fragt André.

„Untersteh dich!“, nuschle ich in den Tisch. Meine eigene laute Stimme schmerzt in meinem Schädel. „Lass ihn doch einfach in Ruhe... Er muss doch wissen, was er tut. Wenn er die Medikamente absetzen will, bitteschön. Dann hat er sich entweder infiziert oder nicht. Ich streiche ihn aus meinem Leben und damit ist das Problem für mich vom Tisch.“

„Trink das.“

Brav trinke ich das Wasserglas leer. Mit André zu diskutieren hat sowieso keinen Zweck. Der weiß schon, was gut für mich ist.

„Du solltest ihn vielleicht mal anrufen. Oder du fragst einen von Nicos Sprechstundenhilfen, ob er seinen Kontrolltermin wahrnimmt.“ Er streichelt meinen Rücken.

„Die dürfen mir so eine Auskunft nicht geben...“, erwidere ich, lege meine Arme um meinen Bauch. Ich glaube, ich muss mich übergeben. „Und selbst wenn. André, es ist mir echt egal... Machst du mir eine Wärmflasche? Ich hab-“ Mitten im Satz kommt mir mein Frühstück wieder hoch. André greift in den Küchenschrank, reißt eine Salatschüssel heraus und stellt sie mir hin, bevor er zwei Handtücher auf die Pfütze auf Tisch und Fußboden legt und mir beruhigend mit der Hand den Hinterkopf krault.

In mir zieht sich alles zusammen, immer wieder muss ich würgen. Tränen steigen mir in die Augen und meine Bauchschmerzen werden schlimmer. Ich huste, spucke in die Schüssel, kralle mich an ihr fest. Ich will in mein Bett...

Nur langsam erhole ich mich. Als das Würgen aufhört, beruhige ich meinen brennenden Rachen mit Wasser, wische mir mit einem feuchten Lappen übers Gesicht.

„Ich mach hier sauber, leg du dich ins Bett“, sagt André. „Ich bring dir sofort eine Wärmflasche.“

„Danke“, krächze ich, schleppe mich ins Schlafzimmer. Mein Leben ist beschissen. Ich fühle mich mal wieder, als wäre ich in einer Sackgasse angekommen, als hätte sich eine unüberwindbare Hürde in meinem Weg aufgebaut. Will ich überhaupt hier sein? Ist das der Weg, den ich gehen will?

André schiebt mir die in eine flauschige Hülle gepackte Wärmflasche unter die Decke und auf meinen nackten Bauch. Er streicht mir durch die Haare, platziert eine Flasche und ein Glas Wasser auf meinem Nachtkästchen. Er ist so fürsorglich...

„André?“, frage ich leise. „Legst du dich zu mir? Ich fühl mich allein...“

Nickend klettert er in mein Bett, nimmt mich von hinten in den Arm. Ich vertraue ihm, brauche ihn nah an meinem Körper, möchte ihn nie mehr gehen lassen. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, bei dem ich mich so aufgehoben fühle, bei dem ich mir so sicher sein kann, dass er immer für mich da ist, wenn ich ihn brauche. Den ich so sehr und aus ganzem Herzen liebe.

André hält mich, bis ich eingeschlafen bin.

Zufrieden mit mir

Rrring! Rrring!

Ich wälze mich auf den Bauch.

Rrring! Rrring!

Ich ziehe mir mein Kopfkissen über den Kopf.

RRRING! RRRING!

Ich verfluche die Erfindung der Türklingel.

Mir brummt der Kopf. Richtig ausgeschlafen fühle ich mich nicht, aber wenigstens sind die Bauchschmerzen weg. Als ich aufstehe, finde ich die lauwarme Wärmflasche unter meiner Decke. André ist nicht mehr bei mir. Wann der wohl gegangen ist?

Schlaftrunken schlurfe ich durch den Flur, werfe einen Blick auf die Uhr in der Küche. Bald 18 Uhr ist es. Ich habe den halben Tag verschlafen.

Genervt drücke ich die Tür auf. Meine Frettchen rennen wie verrückt um meine Füße, kleine Krallen kratzen an meinen nackten Beinen. Ob das André ist? Hat der seinen Schlüssel vergessen?

Aber der junge Mann, der die Treppe hinaufkommt, ist nicht André. Das ist Nils. Was will der denn hier?

„Hi, Jonathan“, lächelt er, ich verdrehe die Augen. Der hat mir jetzt noch gefehlt!

„Was machst du hier?“, frage ich, ohne seinen Gruß zu erwidern. „Woher hast du meine Adresse?“

„Alles der Reihe nach“, sagt er, streckt mir die Hand entgegen. Etwas widerwillig schüttle ich sie. „Darf ich reinkommen?“

Ich bitte ihn ins Wohnzimmer, hole meine Hose aus dem Schlafzimmer und ziehe mich an. Hoffentlich bleibt der Kerl nicht zu lange. Wenn er wieder bohren will, wo er nicht zu bohren hat, fliegt er achtkantig aus der Wohnung!

„Du hast gestern viel getrunken“, beginnt Nils. Was soll das werden? Noch eine Moralpredigt? „Wir waren auf dem Wagen, Tristan, du und ich. Ehrlich gesagt hab ich mich gefreut, dich wieder zu sehen... Ich hab oft an dich gedacht.“ Um Himmels Willen, der hat sich doch nicht etwa in mich verknallt? „Ich hab mich ein bisschen schlau gemacht über HIV und so. Ich war schon schockiert, als du’s mir gesagt hast. Ich hab es natürlich nicht weitergesagt, ist bestimmt nicht schön, wenn die ganze Stadt es weiß. Und viele haben dann bestimmt Angst und so.“

„Komm auf den Punkt.“ Ich nehme Moritz auf den Schoß, der neugierig an Nils’ Schuhen schnüffelt.

„Ja, also...“, druckst er herum, wühlt in seiner Tasche. Dann holt er etwas aus Stoff heraus. „Ich hab... Du hast... Auf dem Wagen, da hast du dein T-Shirt verloren und ich hab es mitgenommen. Als ich es dir wiedergeben wollte, warst du aber schon weg. Dein Freund André hat mir deine Adresse gegeben, er hat nach dir gesucht und Tristan gefragt, ob er dich gesehen hätte. Ich wollte André dein T-Shirt geben, aber er meinte, ich soll dir das mal persönlich bringen, du hättest eine Lektion verdient und solltest besser auf deine Sachen aufpassen oder so ähnlich... Weiß dein Freund, dass du andere Kerle aufreißt?“

„André ist mein bester Freund, nicht mein Partner“, stelle ich richtig, nehme ihm mein T-Shirt ab. Es riecht ein bisschen muffig, nach Schweiß und Zigaretten, und am linken Ärmel klebt ein Aufkleber mit dem Aufdruck „aktiv“.

„Oh... okay.“ Er kratzt sich im Nacken. „Wie machst du das mit dem Virus? Sagst du es, wenn du mit wem Sex hast? Hast du keine Angst, dass mal was passiert? Nimmst du Medikamente? Und wie kommst du damit klar, dass du es hast? Wie hast du dich infiziert und wann?“

„Hör mal!“ Er tut es schon wieder! Stellt Fragen zu Dingen, die ihn nichts angehen. Wollen mir eigentlich alle ans Bein pissen? „Warum bist du so neugierig? Geht dich das alles irgendetwas an? Bin ich dein Forschungsobjekt oder so was? Da triffst du mal einen Positiven, wow, das muss ja echt spannend sein!“

„Tut mir Leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten...“ Er wird ganz verlegen, läuft rot an. Wie war das, er kommt vom Dorf? Klar, da kennen sie so was wie HIV und Aids nicht. Ich muss für ihn wirklich faszinierend sein. Ätzend.

„Was hab ich dir letztes Mal gesagt? Du sollst nicht rumstochern. Also halt die Klappe und stell deine Fragen einem anderen.“

Ich stehe auf, rupfe den Aufkleber von meinem T-Shirt, werfe das Shirt ins Bad. Fast treffe ich die Wäschebox. Auf dem Rückweg bringe ich den dämlichen Sticker in die Küche und klebe ihn an den Kühlschrank.

„Ich interessier mich halt für Menschen...“ Er ist mir tatsächlich bis in die Küche gefolgt. Hab ich jetzt einen Stalker?

„Studierst du dann nicht das falsche?“ Ich hole die Milch aus dem Kühlschrank und nehme einen Schluck aus der Tüte. „Oder seid ihr Juristen auch so neugierige Rumpopler?“

„Für Psychologie ist mein Abi zu schlecht...“ Warum setzt er sich jetzt da hin? Er soll gefälligst seinen Arsch, den ich nicht haben kann, aus meiner Wohnung bewegen! „Außerdem interessiert mich Jura mehr. Ich würde bloß gern was... über HIV erfahren. Und deine persönlichen Erfahrungen damit. Das hat mich beschäftigt! Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist... zu wissen, dass man irgendwann an Aids stirbt.“

Ich seufze tief. Er hat wirklich keine Ahnung. Ich will ausflippen, ihn anschreien und rausschmeißen. Aber ich kann nicht.

Stattdessen setze ich mich zu ihm an den Tisch, greife mir seine Hand und schaue ihm in die Augen.

„Hör zu“, beginne ich und schließe einen Moment die Augen, um mich zu sammeln. Ich bin plötzlich seltsam ruhig. „Ich hab mich vor etwa drei Jahren infiziert, bei einem ungeschützten One-Night-Stand. Das war alles ziemlich beschissen und ich hab lange gebraucht, um das zu verarbeiten. Ich nehme Medikamente, ja. Damit komme ich klar. Die Nebenwirkungen waren ganz am Anfang schlimmer, das ist besser geworden. Es gibt Dinge, auf die ich achten muss und das ist Gewöhnungssache. Wenn ich wen aufreiße, sag ich selten, dass ich infiziert bin. Das ist vielleicht moralisch bedenklich, aber ich bin doch nicht bescheuert. Wer hat keine Angst vor Ablehnung? Nicht mehr begehrenswert sein, weil man diesen einen Makel hat... Also halte ich die Klappe. Kondome sind sicher, also passiert auch nichts. Es ist noch nie etwas passiert. Und das mit dem Aids... Niemand sagt, dass ich Aids kriegen werde. Das war früher so, bevor es die ganzen Medikamente gab. Jetzt gibt es die Medis... die tun einen guten Job für einige Jahre. Wenn die aufhören, zu kämpfen, krieg ich neue. Aids ist für mich also weit weg. Außerdem sollte man sich nicht ständig Gedanken um das machen, was passieren könnte. Dann darf ich auch nicht mehr U-Bahn fahren.“

Nils hat den Kopf gesenkt, schaut auf seine Hand in meinen Händen und nickt immer wieder.

„Hat es dich verändert?“, fragt er zaghaft, als traue er sich gar nicht, seine Frage auszusprechen. Ich überlege eine Weile.

Hat es mich verändert? Wenn ja, was hat sich verändert? Vor der Infektion war ich ein Aufreißer, eine Partyhusche, ich habe für mich und die Wochenenden gelebt, um die Welt, in der ich sonst lebte – meine Eltern, mein Arbeitsplatz, die Schule, wo ich mich als Hete geben musste – ganz weit von mir weg zu schieben und zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden. Und dann? Dann kam das Ergebnis. Positiv. Und ich habe... Party gemacht, Männer abgeschleppt, gefeiert, versucht, zu verdrängen, dass ich etwas in mir trage, was mich vielleicht irgendwann krank macht. Richtig krank macht. Eigentlich habe ich mich kein bisschen verändert.

„Ja“, sage ich trotzdem und suche nach Beweisen dafür. Mir fallen keine ein.

„Und wie?“, bohrt er nach.

„Ich... hab mich verliebt“, kratze ich ein paar Worte zusammen, die sogar ganz gut passen. „Das hab ich früher nicht zugelassen. Ich hatte meine allererste Beziehung. Außerdem nehme ich mich ganz anders wahr als früher...“ Es kommt tatsächlich etwas zusammen. Plötzlich fallen mir viele Dinge ein, die sich doch verändert haben. „Ich bin immer noch ein egoistischer Arsch, der nur an sich denkt, das kann auch das Virus nicht ändern. Aber mittlerweile bin ich in der Lage, mich um andere kümmern zu können und meine Bedürfnisse wenigstens für eine Weile zurückzunehmen. Es gab eine Menge zu verarbeiten. Ich öffne mich immer mehr für andere, so wie dir jetzt in diesem Moment. Das hilft mir, zu sehen und zu verstehen, dass man sich für HIV nicht schämen muss. Ich meine, hey, es gibt Leute, die rennen schreiend weg, wenn sie die drei Buchstaben HIV nur hören, es gibt Leute, die nehmen einen genau deswegen nicht mehr als vollständigen Menschen hin, leugnen die Existenz des Virus, wollen mich tot sehen oder sind eben neugierig und quetschen mich aus, so wie du. Damit muss ich irgendwie umgehen können, sonst kann ich mich gleich von einer Autobahnbrücke stürzen. Der Weg ist lang und voller Hürden, es gibt keine Abkürzung. Ich muss einen Schritt nach dem anderen tun, hole mir Kratzer und aufgeschlagene Knie, Blasen an den Füßen, aber ich weiß, wenn ich am Ziel angekommen bin, bin ich stärker als jeder andere, der sich vom Weg hat abbringen lassen oder auf der Strecke geblieben ist. HIV ist nicht mein größtes Problem. Nicht mehr. Und das ist gut so, sonst würde es mich bestimmen und dann verliere ich die Kontrolle. Ich bestimme mein Leben ganz allein. Dabei habe ich jetzt einen Begleiter, aber solange ich lieb zu ihm bin, ist er lieb zu mir und wir arrangieren uns schon. Wenn er fies wird, hau ich zurück, das wird der dann schon merken.“ Ich grinse und Nils schaut mich aus großen Augen beeindruckt an. Ich bin zufrieden mit mir. Und fühle mich ein ganzes Stück erleichterter.

Mein Vortrag scheint Nils endgültig die Sprache verschlagen zu haben. Er hat aufgehört, dumme oder neugierige Fragen zu stellen, lässt sich von den Frettchen an der Hand beschnuppern.

„Eigentlich bist du ja gar nicht so ein Arsch, wie Julian gemeint hat“, sagt er schließlich. „Der scheint sich Sorgen um mich zu machen oder so.“

„Vielleicht ist er verknallt in dich.“ Belustigt sehe ich zu, wie Nils rot anläuft. „Na gut, Süßer, ich will unser Gespräch nur ungern abhacken, aber ich wäre ganz gern alleine.“

„Schade...“, seufzt er, lässt den Kopf hängen. „Ich hab noch so viele Fragen!“

„Ja, das glaub ich dir sofort...“ Ich verdrehe die Augen und er wird schon wieder rot im Gesicht. Gut, dass es ihm peinlich ist, so lässt er vielleicht beim dritten Versuch die dumme Fragerei. Wenn es je zu einem solchen kommen sollte.

Als Nils endlich weg ist, werfe ich mich in die Wanne und versuche, mich zu entspannen. In mir tobt es. Nils hat schon wieder eine Spur hinterlassen, die mich zum Grübeln bringt. Zum Grübeln über mich selbst. Ich muss Dennis wieder sehen, ich muss wissen, wie es ihm geht. Ich möchte ihm die Hand halten und ihn in den Arm nehmen, ihm Frühstück und Mittagessen und Abendbrot machen, ihm zu trinken bringen, seinen Schlaf bewachen, seine Stirn halten, wenn er sich übergibt, ihn zudecken, ihm eine Wärmflasche machen, wenn ihm der Bauch wehtut, ihm mein Ohr leihen, für ihn da sein. So, wie es André für mich tut.


Drei Tage vergehen. Ab und zu ruft André an, um zu hören, wie es mir geht. Auf der Arbeit ist alles ruhig. So wie immer. Jeden Tag stehen dieselben Arbeiten an, jeden Tag führe ich die gleichen Gespräche. Alles, was sich ändert, sind die Gesprächspartner. Abends komme ich nach Hause, ziehe mich um, scheuche meine Frettchen um den Block, werfe mich vor den Fernseher und warte auf den Sonnenuntergang.

Eine schlanke Frau macht Werbung für ein Diätmüsli. Warum nehmen die eigentlich immer solche Weiber für ihre Produkte? Genau wie bei Schokolade. Ranke, schlanke Weiber teilen sich die Dickmacher und sehen alle aus wie vom letzten Modelcasting. Klar, da kommen sie ja auch alle her. Die Welt ist falsch. Ich schalte den Fernseher aus.

Vor mir auf dem Tisch liegt das Telefon. Es wäre so einfach. Bloß seine Nummer wählen, warten, bis er abhebt und dann fragen, wie es ihm geht, ob ich vorbeikommen darf, ob er was braucht. Aber es fühlt sich falsch an. Die egoistische Schlampe zeigt Interesse an einem Fick. Ha!

Eigentlich sollte ich mich mehr an das halten, was ich Nils erzählt hab. Mein Leben ist gar nicht so beschissen wie es sich manchmal anfühlt. Ich muss es nur endlich richtig in den Griff kriegen! Ich kann mich nicht ewig an André klammern und mich drauf verlassen, dass er es wieder richtet.


Dennis freut sich nicht wirklich, meine Stimme zu hören. Erst blafft er mich an, was mir einfällt, einfach so anzurufen, dann seufzt er und lädt mich auf einen Kaffee ein.

Er hat sich verändert. Seine Haare hat er pechschwarz gefärbt, seine Wohnung ist ordentlich aufgeräumt. Im Radio läuft StarFM, die Fenster sind geöffnet und lassen frische Luft in die Wohnung.

„Danke, dass ich hier sein darf“, beginne ich das Gespräch, Dennis nimmt sich einen Schokoladenkeks aus der Plastikpackung, die er auf den Tisch gestellt hat. „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“

„Du hast dir Sorgen um mich gemacht?“ Ein wenig ungläubig schaut er mich an, zieht die Augenbrauen hoch. „Wenn man Tommy so reden gehört hat, warst du auf’m CSD ziemlich gut drauf.“

„Welcher Tommy?“

„Tommy Dolek.“

„Du kennst Tommy Dolek?“

„Jeder kennt Tommy Dolek!“ Er hält mir eine Schachtel Zigaretten hin. „Auch eine?“

Erst schüttle ich den Kopf, aber als er den ersten Zug nimmt, greife ich doch zu. Die blöden Stäbchen sind einfach zu gut für meine Nerven.

„Ich hab Tommy, Markus und Pat auf dem CSD getroffen, ja. Am Nollendorfplatz. Und dann haben wir ein bisschen Party gemacht. Wirfst du mir das vor? Ich kann nicht ewig grübeln und muss auch mal an mich denken.“

„Ich werfe dir gar nichts vor.“ Er ertränkt ein paar Zuckerwürfel in seinem Kaffee, dann dreht er sich um, zieht eine Küchenschublade auf und wirft mir eine Pappschachtel vor die Nase. Ich öffne sie und finde halbleere Blisterverpackungen. „Ich hab sie weiter genommen. Ich hab mir so meine Gedanken gemacht... Weißt du eigentlich, wie gut du aussiehst? Du hast eine super Figur, bist groß, hast diese krassen blauen Augen, ein charmantes Lächeln, die blonden Strähnchen stehen dir super und dein Piercing ist heiß. Dein Gesicht ist nicht eingefallen sondern hat markante Züge, nicht zu hart, nicht zu weich. Eigentlich der totale Traumtyp. Und du schluckst diesen Mist jeden Tag und schleppst ein paar Viren spazieren. Aber man sieht es dir nicht an. Du gehst feiern, trinkst Alkohol, verdienst dein Geld wie jeder andere, du hast Freunde, Haustiere... Und wenn du das alles kannst, obwohl du dir seit Monaten jeden Tag die Chemie einwirfst, dann kann ich das ja wohl schon lange. Und bei mir sind es nur 4 Wochen.“

„Was ist mit Mario?“, will ich wissen, Dennis verzieht verächtlicht das Gesicht.

„Vergiss Mario! Das ist ein Arschloch. Nicht einmal hat er sich gemeldet. Ehrlich gesagt hatte ich auch gehofft, dass du der erste von euch beiden bist, der sich wieder bei mir meldet...“

„Hm“, nicke ich, nehme gedankenverloren einen Tiefen Zug, blase Rauch in den Raum. So ganz nehme ich ihm die Einstellung noch nicht ab und er sieht es viel zu locker. Aber ich will ihm auch nicht vorheulen, wie belastend es manchmal für mich ist, Pillen einwerfen zu müssen und auf mich zu achten. Das geht ja auch keinen was an.

„Brauchst du meine Unterstützung noch?“, frage ich, sehe ihn an. „Ich könnte ab und zu vorbeikommen oder du kommst zu mir. Wir gehen schwimmen oder spazieren, wir müssen ja nicht nur über HIV reden.“

„Wenn am Montag jemand dabei wäre, der mich zum Arzt begleitet, wär das schon schön.“ Die halbe Tasse Kaffee verschwindet in seiner Speiseröhre. „Und Gesellschaft ist nicht schlecht. Du bist... nett.“ Er senkt den Kopf, drückt seine Zigarette aus. „Und eigentlich hab ich dich ganz gerne in meiner Nähe...“, fügt er fast flüsternd hinzu.

Ich nehme seine Hand, drücke sie leicht. Er grinst.

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