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Hürdenlauf

16. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Nicht allein

„Zieh dich an.“

„Ja ja, ist ja gut!“

„Du hast gesagt, du willst pünktlich sein, dann beeil dich auch. Ich kann nicht glauben, dass du noch nicht angezogen bist!“

„Es ging mir nicht besonders, okay? Das sind die Tabletten, und da hast du mit dran Schuld, also lass mich gefälligst selbst das Tempo bestimmen.“

Bockig zieht er einen Schmollmund, steigt in eine Jeans, deren Beine auf Kniehöhe abgeschnitten und ausgefranst sind. Seinen schlanken Oberkörper packt er in ein weißes Muscleshirt, steckt seine Füße in braune Flipflops. Vor dem Spiegel fährt er sich einmal mit der Hand durch die Haare.

„Siehst du, ich bin doch schon fertig. Nur kein Stress.“ Er greift seinen Schlüssel. Der Junge ist wirklich unglaublich locker. Vor zwei Wochen war er ein kleines Häufchen Elend, jetzt ist er viel selbstbewusster.

Mit heruntergekurbeltem Fenster fährt Dennis die Straße hinunter, unterstützt seinen geliebten Mick Jagger mit mehr oder weniger gutem Gesang. Sein Arm hängt halb aus der Tür, seine Finger trommeln im Takt gegen das Blech. Mit der rechten Hand lenkt er, ab und zu greift er neben sich nach dem Schaltknüppel, dreht den Kopf in meine Richtung, sieht an mir vorbei. Er fährt viel zu schnell, mit quietschenden Reifen biegt er in eine Seitenstraße ein, platziert sich gekonnt in einer winzigen Parklücke. Ein bisschen schief steht er, aber das stört ihn überhaupt nicht. Ohne nach links und rechts zu schauen, überquert er die Straße, ich muss fast rennen, um ihn folgen zu können. Er drückt die schwere Tür auf, springt die Treppen hinauf.

Hinter dem Tresen sitzt eine junge Frau, die ich noch nie hier gesehen habe. Auf ihrem Namensschild steht Miriam.

„Der Doc will mich sehen.“ Dennis schiebt ihr sein Plastikkärtchen entgegen. Warum sieht sie so schüchtern aus? Fast überfordert greift sie die Karte, hackt auf ihrer Computertastatur herum.

„Setz dich noch einen Augenblick“, sagt sie, ohne Dennis in die Augen zu sehen und zeigt aufs Wartezimmer. Ich nehme mir eine Zeitschrift vom Stapel und suche mir einen Stuhl am geöffneten Fenster. Mir ist warm.

Dennis hat sich einen Becher Wasser und eine Zeitung geholt und setzt sich neben mich. Im Hintergrund läuft leise Musik, Dennis wippt mit dem Fuß und summt leise mit. Ich glaube, er ist ziemlich nervös. Ich überlege einen Moment, ob ich seine Hand halten soll, verwerfe das aber wieder.

Mit uns sitzen noch drei andere Männer im Wartezimmer, Nummer vier kommt gerade zur Tür herein und platziert sich am Tresen. Er hat einen kleinen Jungen an der Hand, der höchstens 6 Jahre alt ist, er selbst ist maximal 30. Das Kind trägt einen kleinen bunten Rucksack auf dem Rücken und sieht sich gelangweilt um.

„Komm, Robbie.“ Der Mann zieht den Jungen ins Wartezimmer, hilft ihm, den Rucksack abzunehmen. „Setz dich da hin.“ Er hängt seine dünne schwarze Jacke auf einen Bügel, nimmt neben dem Jungen Platz. Robbie baumelt mit den Beinen. Wirklich spannend findet er es hier offenbar nicht, aber wozu sollte sich die Arztpraxis eines schwulen Arztes mitten im schwulen Viertel eine Kinderspielecke einrichten?

„Papa, liest du mir was vor?“, fragt der kleine Robbie, sein Vater sieht ihn an.

„Hast du denn ein Buch dabei?“

„Mh-mh...“, schüttelt er den Kopf. „Gibt es hier kein Buch?“

„Nein, mein Schatz, hier sind nur Zeitungen. Schau da.“

Der Junge rutscht vom Stuhl, durchwühlt den Stapel Zeitschriften, zieht eine Siegessäule heraus und betrachtet das Bild von Dirk Bach auf dem Titel.

„Guck mal, Papa, das ist der Pepe aus der Sesamstraße.“ Er klettert wieder auf den Stuhl, legt das Heft auf seinen Schoß. „Ist das eine Kinderzeitung?“

„Robbie, die haben hier keine Kinderzeitungen. Hast du kein Spielzeug mitgenommen?“

„Nur Malstifte...“

Der Junge geht mir auf den Senkel, aber irgendwie tut er mir auch Leid. Er kann ja nicht wissen, dass ich lieber in Ruhe hier sitzen, Musik hören und lesen würde als mir sein Klagen über seine Langeweile anzuhören.

Ich lege meine Zeitschrift zur Seite, gehe zum Tresen und beuge mich zur blonden Miriam herüber.

„Kann ich vielleicht ein bisschen Druckerpapier haben?“, frage ich freundlich, sehe ihr in die Augen und schenke ihr ein Lächeln. Sie wird ein bisschen nervös, streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, schaut wirr auf ihrem Schreibtisch herum.

„Ehm, ja, ja klar, Moment...“ Sie zieht ein paar Blatt Papier aus einer Verpackung, reicht sie mir.

„Dankeschön!“ Wieder lächle ich und beobachte amüsiert, wie sie ein bisschen rot wird.

„Hey, Kleiner, schau mal, was ich für dich hab.“ Ich halte dem kleinen Robbie das Papier unter die Nase. Unsicher schaut der Junge mich aus großen, blauen Augen an.

„Malst du was mit mir?“, fragt er, ich seufze. Mit Kindern hab ich gar keine Erfahrung.

„Klar“, antworte ich und zucke mit den Schultern. Dennis ist immer noch in seine Zeitung vertieft und beachtet mich gar nicht mehr. „Warum nicht. Ich muss hier auch warten und finde es ganz langweilig und doof.“ Ich zwinkere dem Kleinen zu, der lächelt.

„Du musst das nicht...“, sagt Robbies Vater. Gestresst sieht er aus und erschöpft.

„Nein, das ist schon okay“, lächle ich, lege mein Papier auf den Stuhl neben Robbie. „Ich bin der Jonathan. Willst du mir deine Stifte zeigen?“

Robbie nickt und leert seinen Rucksack auf dem Fußboden aus.

Ich muss an meine Nichte denken. Eigene Kinder kamen für mich nie in Frage, aber als die Nachricht kam, dass die Freundin meines Bruders schwanger ist, habe ich mich trotzdem gefreut. Zu gerne hätte ich meine kleine Nichte mal gesehen, aber meine Mutter hat vor jeden Kontakt einen Riegel geschoben. Ihrer Meinung nach ist es unverantwortlich, dass ein verseuchter Schwuler wie ich Umgang mit einem kleinen Kind hat.

Ich wäre sicher auch kein guter Vater. Ich kann mich nicht um ein anderes menschliches Wesen kümmern, mit mir selbst hab ich genug zu tun.

Nach und nach leert sich das Wartezimmer. Robbie malt mit vielen bunten Stiften Sonnen, Vögel, Blumen und ein braunes Wesen, das einen Hund darstellen soll.

„Dennis Neudorf bitte!“, ruft es vom Tresen, Dennis steht auf.

„Bis gleich“, ruft er mir im Laufen zu, ich winke ihm.

„Ist das dein Freund?“, will Robbie wissen, ich kratze mich im Nacken. Ich wurde noch nie von einem kleinen Kind gefragt, ob ich einen Freund habe. Als ich so alt war wie der kleine Robbie, habe ich nicht mal gewusst, dass es Männer gibt, die mit Männern zusammen sind. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.

„Nicht ganz“, antworte ich dann doch. „Ich hab eigentlich keinen Freund. Der Junge und ich sind bloß befreundet, aber wir sind kein Paar.“

Auf Robbies Zeichenblatt sind drei Figuren entstanden, die sich an den Händen halten. „Das ist Papas Freund“, erklärt er und zeigt auf die Figur, die er mit blonden Haaren gemalt hat. „Der Matthias. Und das ist Papa. Und das da bin ich.“ Neben die Figuren kritzelt er ein Haus.

Für mich war meine Welt immer heil. Da war Konstantin, mein Bruder, zu dem ich lange aufgeschaut habe, obwohl er mich nie mochte. Meine Eltern, die sich beide um mich kümmerten. Nach und nach ist das alles zerbrochen und jetzt stehe ich völlig alleine da.

„Arne Klindt!“

Robbies Vater gibt dem Jungen einen Kuss auf den Kopf, streicht ihm durch die Haare.

„Du wartest hier auf mich, ja? Es dauert nicht lange, du bleibst schön hier bei Jonathan, der passt auf dich auf. Das ist auch wirklich kein Problem für dich?“

„Ach was“, schüttle ich den Kopf. „Geh ruhig. Der Kleine ist doch wirklich lieb.“

„Danke... vielen Dank!“

„Setzen Sie sich schon mal in Zimmer zwei, der Arzt ist jeden Moment bei Ihnen“, wird er von Miriam angewiesen, er biegt in den Flur ein und verschwindet aus meinem Blickfeld.

„Du magst deinen Papa, hm?“ Robbie hat seinem Bild noch eine grüne Wiese und eine riesige gelbe Sonne hinzugefügt und seinen Namen quer über den Himmel geschrieben.

„Ja“, nickt Robbie. Um besser malen zu können, hat er sich vor den Stuhl auf den Boden gekniet und ist ganz in sein Kunstwerk vertieft. „Er hat versprochen, dass wir heute Tomatenspaghetti essen. Die mag ich am liebsten. Und Fischstäbchen.“

„Fischstäbchen und Tomatenspaghetti mag ich auch.“ Ich nehme eins von den weißen Blättern und einen roten Buntstift und male einen Elefanten, daneben einen Fisch und ein kleines Auto. Ich bin kein Künstler, aber Robbie gefällt’s.

„Mein Papa und ich essen nicht so oft Tomatenspaghetti“, plappert er weiter. „Meistens ess ich mit Matthias. Papa hat so ein Virus und er muss Medizin nehmen. Davon kriegt er Bauchschmerzen und dann muss er schlafen. Aber er hat versprochen, dass er heute nicht schlafen muss.“

Mir wird schlecht. Sein Vater ist HIV positiv. Mein Gott.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wahrscheinlich hat der Junge gar keine Ahnung, was das bedeutet. Er ist ja noch so klein. Aber offenbar wächst er in einer liebevollen Umgebung auf. Was wohl mit seiner Mutter ist? Ich traue mich nicht, ihn zu fragen.

„Heya!“ Dennis holt mich aus meinen Gedanken zurück. „Komm, lass uns verschwinden. Ich hasse Arztpraxen.“

Robbie hebt den Kopf, sieht mich fragend an. Ich streiche ihm über den Kopf.

„Ich hab versprochen, auf Robbie aufzupassen“, gebe ich zurück, winke ihn zu mir herunter. „Sein Vater ist auch HIV positiv“, flüstere ich ihm ins Ohr, Dennis nickt und setzt sich.

„Mach dir mal keine Sorgen, Zwerg, wir bleiben bei dir, bis dein Paps vom Onkel Doc zurück ist.“ Dennis nimmt sich einen blauen Buntstift und ein Blatt Papier. „Wir malen jetzt alle was hier drauf und das Bild hängst du dir in dein Kinderzimmer, damit du uns nicht vergisst.“

Überrascht beobachte ich, wie Dennis ganz locker mit dem Jungen umgeht und ihn beschäftigt, bis Arne wieder ins Wartezimmer kommt. Er hat ein Pflaster auf dem Arm und hält ein paar Blätter Papier in der Hand.

„Schau, da bin ich wieder.“ Er kommt direkt auf seinen Sohn zu, küsst ihn auf die Stirn. Warum hat mein Vater das nie getan? „Habt ihr euch gut amüsiert?“

„Ich hab dich und Matthias gemalt!“, verkündet Robbie stolz und präsentiert Arne das fertige Bild. „Und Dennis hat einen echten Drachen gemalt, mit Feuer! Jonathan muss auch noch was malen und das will ich über mein Bett hängen.“

Ich bekomme einen rosa Malstift in die Hand, mit dem ich etwas vor den Drachen zeichne, das ein Ritter auf einem Pferd sein soll. Glücklich räumt Robbie alles in seinen kleinen bunten Rucksack, Dennis hilft ihm.

„Danke, dass ihr aufgepasst habt, das wär nicht nötig gewesen...“ Unsicher schaut Arne zu Boden. „Normalerweise ist mein Freund zu Hause und passt auf ihn auf, wenn ich zum Arzt muss, aber ich musste früher kommen, weil wir heute Abend noch Besuch haben und dadurch ist alles völlig durcheinander geraten, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht...“ Er legt seine Hand über das Pflaster in der Armbeuge, als wolle er es vor mir verstecken. Schämt er sich etwa?

„Es hat mir wirklich nichts ausgemacht“, beruhige ich ihn, suche Blickkontakt. Er weicht mir aus. „Robbie hat mir erzählt, dass du... also... ich meine... Ich bin auch... also ich hab’s auch.“

Jetzt fixieren Arnes Augen mich erstaunt, ich sehe, wie er schluckt.

„Du... siehst noch so jung aus“, bringt er hervor.

„Ich bin 23 und weiß seit zweieinhalb Jahren, dass ich positiv bin“, nicke ich. „Und so ganz alt bist du doch auch noch nicht.“

„28. Und ich weiß es ein knappes Jahr.“

Betretenes Schweigen. Ich habe ungefähr eine Million Fragen, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Geht mich das überhaupt was an? Ich spüre, wie Dennis meine Hand nimmt. Ein Stromstoß geht durch meinen Arm.

„Komm, ich will wirklich nach Hause“, bittet Dennis. Er klingt ein bisschen genervt, fast schon zickig. Verdammt, vor lauter Robbie habe ich vergessen, ihn zu fragen, was Nico gesagt hat.

„Wir müssen gehen“, sage ich zu Arne, der nickt.

„Danke fürs Aufpassen“, wiederholt er, bringt ein ehrliches Lächeln hervor. Ich freue mich. „Und vielleicht... Also, ich bin in einer U30-Gruppe von positiven schwulen Männern und wir treffen uns einmal in der Woche ganz privat auf einen Kaffee, zum Reden und so. Wenn du Lust hast, komm doch mal vorbei. Ich schreib dir meine Nummer auf.“

Ich nehme den Zettel entgegen, lächle ihn dankend an. Zusammen verlassen wir die Praxis. Robbie winkt Dennis und mir noch eine ganze Weile, bevor er aus unserem Blickfeld verschwindet. Süßes kleines Kerlchen.

„Du gräbst auch jeden an, oder?“ Dennis stiefelt los in die Richtung, in der sein Auto steht. Schmollt er jetzt?

„Ich hab nicht gebaggert, ich war nur nett“, verteidige ich mich und hasse mich gleichzeitig dafür, dass ich es tue. Ich bin Dennis keine Rechenschaft schuldig. „Was hat Nico denn gesagt?“

Dennis verdreht die Augen, schnauft leise. „Er hat wieder tausend Fragen gestellt und mich zum Blut abzapfen geschickt. Das ist bestimmt sein perverser Fetisch, in Blut baden. Aber sonst ist alles okay. Er hat mich dafür gelobt, dass ich so regelmäßig meine Medikamente nehme. Einen Lutscher hab ich aber nicht bekommen. Den hätte ich auch dir gegeben. Was wäre ich denn ohne meinen Schatten?“

Sein Schatten? So anhänglich bin ich doch gar nicht. Ich kümmere mich bloß, weil ich glaube, dass er das gebrauchen kann. Als „Schatten“ will ich nicht bezeichnet werden.

Dennis’ Laune wird den ganzen Tag über nicht besser. Ob er eifersüchtig auf Arne ist? Was für ein Unsinn. Arne hat ein Kind und einen Freund, außerdem haben wir nur geredet. Obwohl es schon niedlich wäre, wenn Dennis eifersüchtig wäre...

Missmutig wirft er sich die Pillen ein, schiebt ein Nutellasandwich hinterher.

„Ich will nicht mehr“, verkündet er kauend und verschränkt die Arme vor der Brust. „Da hast du mir eine schöne Scheiße eingebrockt. Ich kann es nicht erwarten, dass es endlich vorbei ist.“

Als ich wenig später meine Medikamente nehme, sieht Dennis demonstrativ weg. Ob seine Stimmungsschwankungen irgendwann aufhören? Sind das Nebenwirkungen?

Spät ist es geworden und zu Hause wartet Arbeit auf mich. Frettchen, Haushalt... Ich bin müde. Dennis umarmt mich an der Wohnungstür, schmiegt seinen Kopf an meine Schulter. Erst schiebt er mich weg, plötzlich braucht er wieder so viel Nähe. Ich werde aus dem Jungen nicht mehr schlau.

„Bis morgen?“, fragt er und legt den Kopf schief. Ich muss grinsen.

„Bis morgen.“ Ich knuffe ihm gegen die Schulter, drehe mich um und mache mich auf den Heimweg.


Auch, wenn er anstrengend ist, ich genieße jede Minute mit Dennis. Wir streiten und vertragen uns, er verflucht mich, um mich danach wieder in den Arm zu nehmen und mich zu bitten, nicht zu gehen. In einem Kalender in der Küche an der Wand hakt er jeden Tag ab, den er erfolgreich mit Medikamenten überstanden hat. Den letzten Tag hat er mit grünem Buntstift komplett eingefärbt.

André meldet sich ein paar Mal bei mir, spricht mir auf den AB, was denn bei mir los sei. Aber ich bin zu müde, um ihn zurückzurufen. Oft verbringe ich den ganzen Feierabend mit Dennis, bis die Sonne untergegangen ist. Er liebt die Frettchen und unsere Spaziergänge können ihm nicht lang genug sein. Immer wieder nimmt er dabei meine Hand. Ich lasse ihn. Es fühlt sich gut an, ihn bei mir zu haben.

Alles anders

„So if you meet me have some courtesy, have some sympathy, and some taste. Whooo whooo!” Er unterbricht seinen Gesang, um einen tiefen Schluck aus dem Wasserglas zu nehmen. Langsam setzt er das Glas auf dem Tisch ab. Trotz der Musik kann ich ihn schlucken hören.

„So“, sagt er, schließt die Augen. „Das war die letzte.“ Ein sehr zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er steht auf, öffnet den Mülleimer und lässt Schachtel für Schachtel hineinfallen. Ich sehe ihm genau an, dass er diesen Moment in vollen Zügen genießt.

„Komm.“ Dennis stupst mir gegen die Schulter. „Lass uns Party machen!“

Auf dem Weg zum Club schreibe ich André eine SMS. Er soll kommen, immerhin hatten wir lange nichts mehr so groß zu feiern.

Kaum haben wir die Disco betreten, dreht Dennis auf. Während ich an der Bar sitze und nach meinem besten Freund Ausschau halte, tanzt Dennis oben ohne auf der Tanzfläche. Immer wieder bleibt mein Blick an ihm kleben. Zwischen den anderen Männern sticht er deutlich hervor, irgendwie hebt er sich vom Rest der Menge ab. Für einen kurzen Moment schleicht sich der Gedanke in meinen Kopf, dass ich ihn viel lieber hier bei mir hätte, er mich mit einem treuen Dackelblick anschaut und in den Arm nimmt. Ich schüttle mich.

„Loki!“ Jemand knufft mir so heftig in die Seite, dass ich fast von meinem Barhocker falle. Gerade will ich mich aufregen, als ich André erkenne. Im Schlepptau hat er Alex und Micha.

„Ihr seid da!“ Ich springe auf, umarme sie nacheinander. „Großartig! Was ist eine Party ohne euch?“

„Was gibt es denn zu feiern?“, will André wissen und klaut mir meinen Cocktail.

„Dennis hat seine letzte Ration Medikamente genommen“, berichte ich glücklich. „Jetzt muss er noch mal in ein paar Wochen zum Blutcheck und dann wissen wir, ob die PEP gewirkt hat...“

„PEP? Dennis? Medikamente?“ Micha stemmt die Arme in die Hüften. „Klärt mich mal jemand auf?“

„Später, Süßer!“, grinse ich. „Jetzt ist erstmal Partytime!“

Aufgedreht suche ich mir meinen Weg auf die Tanzfläche, drehe mich jubelnd im Takt der Musik. In meinem Körper prickelt es, Adrenalin schießt durch meine Adern. Ich verschmelze mit meiner Umgebung und fühle mich unendlich wohl. Hier gehöre ich hin!

Dennis tanzt mich an. Lächelnd reibt er seinen Körper an meinen, ich lächle zurück, lege meine Hände auf seine Hüften.

„Ich liebe diesen Song!“, brüllt er in meine Richtung. Fasziniert beobachte ich, wie er seinen Körper bewegt.

„Ist dir nicht warm?“ Die Stimme ist erschreckend nah an meinem Ohr, von hinten legt sich eine fremde Hand auf meinen Hintern. Ein gut gebauter, brünetter junger Mann in meinem Alter schmiegt sich an mich, seine dunklen Augen funkeln mich fordernd an. Ich ziehe mein Shirt aus, stecke es in meinem Hosenbund fest.

„Besser?“, frage ich, schenke ihm einen einzigen frechen Blick. Der Brünette stiert auf meine Hose. Sicher tropft ihm gleich der Sabber aus den Mundwinkeln.

„Sorry, aber heute nicht“, speise ich ihn ab und widme mich wieder dem hübschen Dennis. Seine Brust glänzt feucht vom Schweiß und schillert bunt im Discolicht.

„Machen wir eine Pause?“ Dennis nickt, nimmt meine Hand und zieht mich zur Bar.


Mein Kopf ist seltsam klar. Ich weiß, dass ich zu Hause in meinem Bett liege und, dass ich alleine bin. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, setze mich auf. Wirklich, ich bin allein in meinem Bett in meiner Wohnung. Am Fußende haben sich die Frettchen zusammengerollt und schlafen friedlich.

Der Frühstückskaffee schmeckt fantastisch, die Schale Müsli dazu noch viel besser. Selten habe ich mich nach einer durchfeierten Nacht so frisch gefühlt.

Nach einer ausgiebigen Dusche putze ich pfeifend meine Fenster, wische das Wohnzimmer und kümmere mich um den riesigen Berg Schmutzwäsche, der sich in der letzten Zeit angesammelt hat. Nacheinander greife ich in jede Tasche jeder Jeans, bevor ich sie in die Maschine stopfe. Kleingeld, benutzte Taschentücher, Kaugummipapier und ein Feuerzeug landen auf dem Wäschetrockner. Als die Maschine läuft, sortiere ich den Kleinkram nach Müll und noch brauchbarem Zeug. Ein Zettel mit einer Telefonnummer fällt mir in die Finger. Arne... Arne?

Ach, der Typ aus Nicos Praxis, der mit der U30-HIV-Gruppe... Solche Kontakte fehlen mir. Gerne hätte ich ein paar positive Freunde in meinem Alter. Ob Arnes Gruppe sich als hilfreich erweisen würde?

Ich hab mich von André abgenabelt, meinen eigenen Weg eingeschlagen. Mit HIV als meinen Begleiter. Das Drama mit Dennis ist fast überstanden und zum ersten Mal kann ich sagen, dass ich mein Leben in den eigenen Händen halte.

Ja, vielleicht rufe ich Arne einfach mal an.

Halt

Es ist Herbst. Die Zeit der kurzen Hosen und der freien Tage am Badesee sind vorbei, abends ist es jetzt schon deutlich kühler und ich brauche eine Jacke gegen die aufkommende Kälte.

Noch vor ein paar Wochen war es hier um diese Uhrzeit voller Leute, die die letzten Sommersonnenstrahlen genossen haben. Jetzt stehe ich allein am Wasser.

Ich schaue auf die Uhr. Gleich halb neun. Dennis hat mich also versetzt. Dabei hatte ich mir meinen Text so schön zurechtgelegt!

„Dennis, ich bin froh, dass es überstanden ist. Mit dem Ergebnis können wir leben. Du bist mir wichtig... aber ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann. Lass uns Freunde bleiben. Das ist leichter.“

Ich hebe einen Stein vom Boden auf, halte ihn einen Moment in der Hand und streichle ihn mit dem Daumen, bevor ich aushole und ihn übers Wasser titschen lasse. Viermal kommt er auf, bevor er im See versinkt.

„Vier Mal, nicht schlecht!“

Erschrocken drehe ich mich um. Hinter mir steht Dennis und grinst mich an. Mein Herz bleibt stehen. Scheiß Gefühl. Scheiß befremdlich und scheiß schön.

„Danke“, murmle ich und merke, wie ich rot werde, als er mich anlächelt. Ich fühle mich schwach. Mein ganzer schöner Text ist aus meinem Kopf verschwunden. Wie ausradiert. „Warum bist du jetzt erst hier? Was hat der Arzt gesagt?“ Meine Augen suchen auf dem sandigen Boden herum nach Halt.

„Ich musste nachdenken... sorry.“ Er kommt näher. Bitte, er darf sich nicht angesteckt haben... Vor Nervosität ist mir ganz schlecht.

„Es ist alles in Ordnung, ich hab es nicht.“

Mir fällt ein riesiger Stein vom Herzen. Erleichtert seufze ich auf, schließe für einen Moment die Augen. Er hat es nicht. Ich habe ihn nicht infiziert. Es ist alles gut gegangen. Mein Gott!

Ich wende mich wieder dem Wasser zu, starre auf den See, beobachte die feinen Wellen. Mir ist kalt.

Als hätte er es geahnt, stellt Dennis sich nah hinter mich, umarmt mich von hinten. Ich lehne mich in seine Arme, lege meine Hände auf seine.

„Danke, dass du die ganze Zeit für mich da warst, Jonathan“, höre ich ihn nah an meinem Ohr sagen.

„Hatte ich eine andere Wahl?“, erwidere ich. Meine Augen sind wieder geschlossen. Wenn ich sie jetzt aufmache, ist die warme, stützende Welt um mich bestimmt verschwunden.

„Du hättest dich nicht kümmern müssen... Du hättest es mir nicht mal sagen müssen.“

Das stimmt. Eigentlich war er ja nur ein Aufriss. Aber mittlerweile ist er Dennis... Und ich will nicht, dass er aus meinem Leben verschwindet wie ein benutztes Stück Fleisch.

„Ich hab dich wirklich gern, Jonathan.“

Wohlige Gänsehaut läuft mir über den Rücken. Ob er spürt, wie mein Herz klopft?

„Wir sollten es versuchen. Miteinander. Du und ich meine ich...“

Ich sollte mich freuen, mich umdrehen, ihn küssen und umarmen und ihn kitschig verliebt anschauen. Aber ich kann nicht. Es geht nicht. Scheiß Angst!

Ich höre das Wasser leise plätschern. Geduldig wartet Dennis meine Reaktion ab. Wochenlang hat es zwischen uns geknistert, aber er gibt mir immer noch alle Zeit der Welt, mich zu entscheiden.

„Bist du sicher, dass du mich willst? Auch, wenn ich wahrscheinlich nicht treu bin?“

„Ja.“ Ich spüre seine Lippen im Nacken. Weich und warm liegen sie auf meiner kalten Haut.

„Und wenn ich dich doch irgendwann anstecke?“

„Wir passen auf. Und wenn es passiert, passiert es halt. Es bedeutet nicht das Ende der Welt. Das hab ich von dir gelernt. Es geht immer weiter, hm? Deine Worte! Also gib doch nicht einfach auf... Glaub an das, was du sagst!“

Er hat Recht. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben muss. Die Medizin und die Forschung werden mir noch viele Jahre helfen, ich habe die besten Freunde auf der Welt und einen festen Job. Alles, was mir noch fehlt, ist ein Partner auf meinem Weg, der mir Liebe und Wärme gibt. Und sind Dennis und ich nicht in den letzten Wochen sehr eng zusammengewachsen?

Dennis hält mich noch fester, ich glaube, ich kann seinen Herzschlag in meinem Rücken spüren.

Langsam öffne ich die Augen. Meine Welt ist noch da.

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