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Hürdenlauf

8. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Smalltalk

Eigentlich fehlen mir selten die Worte. Grad ich falle gern durch mein lockeres Mundwerk auf. Aber jetzt gerade kann ich keinen Ton sagen. Meine Hand spielt mit dem leeren Aschenbecher auf dem Tisch. Und meine Augen suchen immer wieder den Kontakt zu dem hübschen Gesicht meines mir gegenübersitzenden Traums in Tanktop und Jeans.

„Ich freu mich, dass du Zeit hast. Wo Montag doch gar nicht dein Tag ist.“

Da ist es wieder, dieses verschmitze Grinsen. Warum hab ich mich überhaupt darauf eingelassen?

„Du hast im richtigen Moment angerufen“, antworte ich, und muss mich doch wirklich bemühen, locker zu klingen. „So eine Abwechslung kann ich heute wirklich gut gebrauchen.“

„Mir war langweilig, und dann fiel mir die Serviette vor die Füße.“ Er lacht, und seine Augen blitzen dabei. Ich kann nur lächeln und ihn anstarren. „Und hier ist es auf jeden Fall netter als in meinem Zimmer.“

Ja, da hat er Recht. Natürlich ist die Außenterrasse der Cocktailbar an einem so schönen Sommerabend wie heute gut gefüllt, und nur mit Glück haben wir einen Tisch ergattert, aber es ist angenehm warm, Musik spielt im Hintergrund und ich fühle mich sehr wohl.

Wir bestellen bei einem Kellner, der meiner Meinung nach viel zu viel anhat. Er schaut erst Oliver ewig lang in die Augen, lächelt, dann sieht er zu mir.

„Loki, hm?“, fragt er und grinst. „Hab ich dich nicht neulich im RAZZMATAZZ gesehen? Man erzählt sich, du seiest mit dem süßen Brünetten liiert, mit dem du da warst.“

„Der Brünette heißt Daniel, und ‚liiert’ ist das falsche Wort.“ Ich zwinkere ihm zu. „Und jetzt hopp, wir haben Durst.“

Noch ein Zwinkern, ein charmantes Lächeln, das vom Kellner erwidert wird, dann schiebt er seinen süßen Hintern Richtung Bar.

„Du flirtest auch mit jedem, oder?“, will Oliver wissen und schüttelt den Kopf.

„Nur, wenn sie süß sind“, gebe ich zurück. „So wie du.“

Ich möchte ihm in die Augen sehen, darin versinken, doch er dreht sich schnell weg, seine Wangen sind leicht gerötet.

‚Jonathan!’, brüllt eine kleine Stimme in meinem Kopf. ‚Was zur Hölle machst du hier überhaupt? Hör auf zu flirten!’

Ich flirte doch gar nicht. Ich habe meinem gut aussehenden Gegenüber bloß ein Kompliment gemacht, finde ihn wirklich nett, würde gern mehr über ihn erfahren, suche Blickkon-

Oh mein Gott, ich flirte mit ihm! Das kann so nicht weitergehen, wo soll das denn hinführen? Und warum um alles in der Welt bin ich so verkrampft? Oliver ist bei weitem nicht der erste junge Mann, mit dem ich etwas trinke und mich unterhalte.

„Na erzähl mal, was machst du so zur Zeit?“, lenke ich das Thema um und höre ihm interessiert zu, was er zu erzählen hat. Ja, wirklich, es interessiert mich. Er hat eine nette Art zu reden. Ich mag seine Stimme, stelle Fragen, damit er weiterredet. Als unsere Cocktails serviert werden, nimmt er einen Schluck, schenkt mir ein Engelslächeln und sagt:

„So, und jetzt bist du dran!“

Ich soll erzählen? Über mich? Dabei bin ich doch so langweilig...

Unschlüssig druckse ich vor mich hin. Beginne, ein wenig von der Arbeit zu berichten, von meinen Frettchen und schließlich vom RAZZMATAZZ. Natürlich nicht von meiner Begegnung der besonderen Art; ich beschreibe ihm bloß die Einrichtung und meinen leider viel zu kurzen ersten Eindruck. Dann mache ich eine Pause, stecke mir eine Zigarette an und sauge genüsslich daran. Ich beruhige mich langsam. Meine Anspannung lockert sich, spätestens, als ich meinen ersten Cocktail intus habe und merke, dass ich nicht mehr ganz nüchtern bin.

„Noch eine Runde?“, frage ich, und weiß doch ganz genau, dass ich morgen früh aufstehen muss. „Bevor die Happy Hour um ist?“

Oliver nickt, lächelt. Klingt nach einem langen Abend...

Heimweg und Wasser

Ich bin ordentlich angeheitert. Den letzten Cocktail hätte ich weglassen sollen... Ob er auch so betrunken ist? Eigentlich ist es mir auch egal. Er sitzt da und sieht einfach nur zum Anbeißen aus.

„Kommst du noch mit zu mir?“, höre ich mich sagen. Mach ich ihm da gerade etwa ein Angebot?

„Ich sollte besser nach Hause“, antwortet er, kratzt sich am Hinterkopf, rührt mit dem Strohhalm in seinem leeren Glas herum.

„Na komm schon, Süßer“, fordere ich. Er kann nicht nein sagen! Ich will ihn, am Liebsten jetzt sofort.

„Heute nicht, ja?“

„Hey, du siehst verdammt scharf aus, wenn du so nach unten guckst, weißt du das?“

Er grinst. Hat ganz kleine Glitzeraugen dabei.

„Du hast einen Freund“, sagt er, ohne mich anzusehen und kramt in seiner Hosentasche herum. Will der jetzt etwa bezahlen?

„Nix da, ich zahle.“ Ich fummele einen Schein aus meinem Portmonee, parke ihn unter meinem Glas und stehe auf. Oliver folgt mir bis zum U-Bahnhof, lässt sich neben mir auf die Metallbank fallen. 17 Minuten warten auf die nächste Bahn.

„Ist Dani ein Problem für dich?“, frage ich offen. Warum beiße ich mir nicht einfach auf die Zunge und halte für den Rest der Nacht die Klappe?

„Ich misch mich nicht in Beziehungen.“

„Tust du doch auch nicht.“

„Wenn ich was mit dir habe schon.“

„Hast du was mit mir?“

„Nein.“

Warum muss er mich so verdammt geil machen? Ich drehe mich zu ihm, klettere auf seinen Schoß, sehe ihn an.

„Jetzt schon“, hauche ich und drücke meine Lippen auf seine. Einen Moment warte ich ab. Wehrt er sich? Erwidert er irgendwas? Seine Lippen schmecken nach Orange... aber sie bewegen sich nicht. Weich und warm sind sie, ich lasse meine Zunge darüber gleiten und sauge vorsichtig an seiner Unterlippe.

Jetzt plötzlich legt er die Arme um mich, hält mich fest, streichelt mich, erwidert den Kuss, schiebt seine Zunge in meinen Mund und lässt sie mit meiner Zunge spielen. Er ist sanft, dann wieder fordernd, ich lege meine Hände auf seinen Hinterkopf, grabe meine Finger in seine Haare. Ich spüre, wie meine Hose enger wird.

Irgendwann rauscht die U-Bahn hinter meinem Rücken vorbei, die zweite, die dritte... und wir knutschen einfach weiter.

„Ich glaube, wir sind schneller mit dem Nachtbus“, nuschelt Oliver nach einer Weile in meinen Hals, an dem er herumküsst, während ich über seinen Rücken streiche.

„Bringst du mich noch nach Hause?“, frage ich. Zum Glück sieht er nicht, wie dreckig ich grinse. Oder leider?

„Liegt es auf meinem Weg?“

„Nein.“

„Gut, komm.“ Er schaut mich an, verschmitzt, frech, zuckersüß. Ich rutsche von seinem Schoß, greife seine Hand und ziehe ihn hinter mir her.

Die Straßen sind leer. Nur ab und zu fährt ein Auto vorbei. Klar, wer will schon um diese Uhrzeit noch draußen sein?

Oli hat meine Hand längst losgelassen und geht neben mir. Nicht so dicht, wie ich es mir gerade wünschen würde.

„Wir können auch zu mir laufen, das ist nicht weit“, denke ich laut und hasse mich schon wieder selbst dafür.

‚Setz dich einfach in den verdammten Bus und fahr nach Hause – allein!’, schimpft mein Gewissen, doch heute bin ich trotzig wie ein pubertierender Teenager. Ich will nicht vernünftig sein, ich will nicht an Daniel denken, ich will bloß eins: Oliver.

Als wir vor meiner Haustür stehen, sieht Oliver mich mit einem völlig ausdrucklosen Gesicht an.

„Gute Nacht, und danke fürs Heimbringen“, sage ich. Was Besseres fällt mir jetzt einfach nicht ein. „Darf ich dich anrufen?“

„Kann ich noch mit hoch, ich muss mal deine Toilette benutzen“, fragt er, statt mir eine Antwort zu geben und schiebt sich an mir vorbei durch die Haustür, die ich gerade aufgeschlossen habe. Nanu, was wird das? Aber einfach nicht drüber nachdenken, vielleicht muss er ja wirklich nur mal pinkeln.

Während er im Bad ist, ziehe ich meine Schuhe aus, gebe meinen Frettchen frisches Futter. Hoffentlich verschwindet Oliver bald, sonst drehe ich komplett durch. Ich hab mich nicht mehr richtig unter Kontrolle, würde ihn am liebsten in mein Schlafzimmer zerren, ihm die Klamotten runterreißen und dann-

Ein Geräusch reißt mich aus den Gedanken. Es plätschert im Bad. Ist das die Dusche? Wieso hat Oliver die Dusche angemacht? Oder hab ich Halluzinationen? Waren die Cocktails doch zu viel für mich?

Ich schleiche durch den Flur, lege mein Ohr an die Badezimmertür. Wirklich, da drinnen läuft die Dusche, ich höre deutlich das Wasser plätschern. Zaghaft klopfe ich an. Als keine Antwort kommt, klopfe ich energischer. Doch noch immer meldet Oliver sich nicht. Ob ich einfach reingehe und sehe, was er macht? Vielleicht braucht er meine Hilfe.

Meine Hand zittert, als ich sie auf die Türklinke lege und diese herunterdrücke. Die Tür ist nicht abgeschlossen! Was hat das alles zu bedeuten?

Ich höre das Wasser rauschen; leise betrete ich den Raum. Olivers T-Shirt, seine Hose, seine Socken und seine Unterhose liegen auf dem Wäschetrockner neben der Dusche. Oliver steht mit dem Rücken zu mir. Ich kann ihn ganz genau durch die gläserne Duschtür sehen. Wassertropfen rinnen an seinem perfekt geformten Körper hinunter, den Rücken entlang, über seinen runden Po, die Beine hinab, bis zu den Füßen, wo sie sich zu einem Strom vereinen, dessen Reise im Abfluss endet. Mit den Händen verteilt Oliver langsam weißen, weichen Schaum auf seiner makellosen, leicht gebräunten Haut.

Mir bleibt die Luft weg. Etwas so schönes habe ich noch nie gesehen!

Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Aber ich will jetzt nicht drangehen. Der Anrufbeantworter wird diese Aufgabe für mich übernehmen.

Piiiep! „Hallo, Joni. Hier ist Dani. Ruf mich doch bitte mal an, wenn du wieder zu Hause bist. Ich liebe dich!“ Piiiep!

Hab ich jetzt keine Zeit für. Ich kann mich nicht von dem Mann losreißen, der da unter meiner Dusche steht.

Ich schließe die Tür hinter mir. Oliver hat mich wohl gehört; er stellt das Wasser ab, dreht sich um. Langsam gleitet mein Blick an ihm hinunter. Die nassen, dunklen Haare, die ihm strähnig ins Gesicht hängen, die glatt rasierte, feste Brust mit süßen, kleinen Nippeln, der flache Bauch, gestutzte, dunkle Schamhaare, in denen kleine Wasserperlen hängen, sein Schwanz, zwei Beine, wohlgeformte Schenkel, seine Füße.

„Oliver.“ Mehr kann ich nicht sagen, meine Stimme versagt. Ich starre seinen nackten Körper an, an dem langsam Wassertropfen herunter laufen.

Er öffnet die Duschkabine. Wie in Trance gehe ich auf ihn zu, zu ihm in die Dusche, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Zaghaft berühre ich seine Brust, er stellt das Wasser wieder an. Warme Wasserstrahlen durchnässen mein T-Shirt, sickern in meine Jeans, kleben meine Kleidung an meiner Haut fest. Aber es interessiert mich nicht. Ich bemerke es kaum.

Tropfen rinnen über mein Gesicht, über Olis Nase und seine Lippen. Er sieht mich an. Seine Augen halten mich fest. Ich kann seinen Atem an meinem Mund spüren.

Langsam beuge ich mich vor, zitternd legen meine Lippen sich an seine. Erst reagiert er nicht, doch dann öffnet er den Mund wenige Millimeter, zupft an meiner Unterlippe, küsst mich sanft.

Mein Herz klopft wie wahnsinnig.

Oli legt seine Hand auf meine Schulter. Erschrocken zucke ich zusammen, ich spüre meinen Herzschlag bis zum Hals. Ich will mehr, aber ich traue mich nicht, meine Zunge ins Spiel zu bringen. Dabei ging das vorhin noch so leicht! Ich bin erregt, aber ich wage nicht, zu fühlen, ob es ihm genauso geht. Das Verlangen nach diesem jungen Mann zerreißt mich innerlich, und doch halte ich mich zurück. Es brennt in meinen Fingerspitzen, in den Beinen, im Bauch, im Herzen, aber mein Hirn schiebt einen Riegel vor.

Ich habe einen Freund! Eine Beziehung! Mein Herz ist vergeben, ich sollte das hier nicht –

Sanft streicht Olis Zunge über meine Lippen. Ich gewähre ihr Einlass. Scheiß auf das schlechte Gewissen!

Olis Küsse sind innig, zärtlich, sanft, werden fordernder, wilder. Meine Hände streichen über seinen nackten Rücken und seinen Po, sein Ständer drückt sich gegen meine Hüfte.

Oli schält mich aus meinem tropfnassen T-Shirt, lässt es klatschend auf den Boden der Dusche fallen. Er befühlt meinen Oberkörper, langsam aber intensiv, so wie seine Küsse.

Seine Finger tasten sich vor zu meiner Hose. Ich bin nervös, zittere, vor Erregung, vor Angst.

Geschickt öffnet er die drei Knöpfe meiner Jeans, schiebt eine Hand hinein.

Erschrocken trete ich ein Stück zurück, drücke ihn weg von mir.

„Stopp!“

Irritiert sieht er mich an.

„Wir- wir-“, stammele ich, meine Augen wandern auf dem Boden umher. „Wir haben keine Kondome…“

Oli legt den Kopf schief, fängt meinen Blick ein, lächelt.

„Die brauchen wir jetzt auch nicht“, sagt er flüsternd in den künstlichen Regen, nimmt mein Gesicht in die Hände, zieht mich zu sich heran und küsst mich.

Seine Hand schiebt sich wieder in meine Hose, greift meinen Schwanz, die andere drückt meine feuchte Jeans plus Unterhose herunter.

Er beginnt zu reiben. Ich will seinen anfassen, aber mir fehlt die Kraft. Ich lehne mich an die geflieste Wand an, überwältigt von seinen Berührungen. Millionen kleine Stromstöße zucken durch meinen Körper, jedes Mal, wenn er mich küsst, anfasst, zudrückt, reibt. Meine Augen sind geschlossen, kann kaum Luft holen.

Seine Hände sind überall und konzentrieren sich doch nur auf die eine Stelle. Ich kann nicht mal mehr seine Küsse erwidern, mein Mund steht offen, ich stütze mich an der Wand ab.

Bald ist es soweit. Aber es soll noch nicht vorbei sein! Ich will, dass er weiter macht, es soll noch nicht aufhören, weiter, weiter, nein! Aufhören, sonst, gleich, ich spüre, dass es gleich soweit ist, ich krieg keine Luft mehr, meine Beine, ich hab keinen Halt mehr, er soll aufhören, ich will noch nicht, noch nicht, stopp… weiter! Ich halt’s nicht mehr aus, weiter, ich kann nicht mehr, ich muss mich irgendwo festhalten…

Mein Körper brennt, mein Herz rast.

Plötzlich drückt Oli fester zu, ich verkrampfe, explodiere, stöhne so abrupt laut auf, dass mir für einen Moment die Luft fehlt, meine Beine knicken ein und ich rutsche an der Wand herunter, auf den Boden. Ich kann mich kaum bewegen, schnappe erschöpft nach Luft. Mein ganzer Körper wird durchflutet von einem warmen, kribbeligen Glücksgefühl, Tränen laufen meine Wangen hinunter. Mir ist schwindelig und ich kann kaum atmen, aber ich bin unglaublich glücklich. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gespürt.

Nur langsam normalisiert sich mein Zustand wieder. Vorsichtig wische ich mir das Wasser aus dem Gesicht, das die ganze Zeit auf uns niederprasselt, und öffne die Augen. Oli hockt neben mir und hat seine Hand auf meine Schulter gelegt. Komisch, ich hab gar nicht mitbekommen, dass er sie dort hingelegt hat.

Besorgt sieht er mich an.

„Alles okay?“, fragt er, hält dabei den Kopf schief.

„Ja“, lächele ich glücklich, reibe mir die letzten Tränen aus den Augen. Oli hilft mir, aufzustehen; etwas unbeholfen klettere ich aus meiner Hose und meinen Retroshorts, die mir bis zu den Knien herunterhängen.

Wenig später sitzen wir in meinem Wohnzimmer, trinken Cola; ich in meinen Bademantel gehüllt, Oliver angezogen, mit feuchter Struwwelfrisur. Eine halbe Ewigkeit schweigen wir uns an. Er starrt auf den Glastisch, als hätte der eine Antwort auf alle Fragen, die ihm gerade im Kopf herumzuschwirren scheinen.

Ich stehe auf, setze mich neben ihn. Jetzt hebt er den Blick, sieht mir direkt in die Augen. In mir zieht sich alles zusammen.

„Was wirst du Daniel sagen?“, fragt er und schaut mich an, mit einem Blick, als würde er sich schämen.

„Nichts“, antworte ich Schulter zuckend.

„Okay“, nickt er und senkt betreten den Kopf. Es scheint ihm wirklich unangenehm zu sein.

„Du hast nichts Schlimmes getan, Oli.“ Ich lege meine Hand unter sein Kinn, drücke sanft seinen Kopf hoch und lächele ihn an. „Es war wirklich sehr schön. Überwältigend schön. Und wenn du willst...“ Ich mache eine kurze Pause. Jetzt bin ich es, der den Kopf senkt. „Wenn du willst, kannst du wiederkommen. Ich will dich wiedersehen...“

„Nein.“

Ich zucke zusammen. Olis „Nein“ kam so plötzlich und bestimmt, und irgendwie tut es gerade weh, dass er mir eine Abfuhr verpasst.

„Wie, nein?“

„Ich will nicht, dass du deinen Freund mit mir betrügst. Ich misch mich nicht in andere Beziehungen ein.“

„Hat es dir denn nicht gefallen?“ Ich bemerke die Verzweiflung in meiner Stimme. Oli soll bleiben, ich will ihn wiedersehen, und er soll das auch wollen!

„Das ist doch nicht der Punkt!“ Jetzt klingt er richtig wütend. Erschrocken, traurig und enttäuscht lasse ich den Kopf hängen, rücke ein Stück weg von ihm. Ganz lange sagen wir nichts. Ich höre ihn atmen, die Uhr an der Wand ticken, meine Gedanken in meinem Kopf toben.

So etwas Schönes, so viele Gefühle, so viel Liebe, Wärme und Erotik habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gespürt. Und ich will mehr davon! Warum kann ich nicht mehr davon kriegen? Und warum ist es mit Dani nie so schön, wenn wir miteinander schlafen? Ich kann nicht in Oli verliebt sein, ich bin doch mit Dani zusammen! Und ist das überhaupt Verliebtsein, was ich für Oli empfinde? Oder ist es nur die Anziehungskraft des Verbotenen?

„Ach Scheiße!“ Olis Ruf reißt mich aus meiner Gedankenwelt, verwirrt schaue ich ihn an. Er sitzt immer noch neben mir, Cola läuft seine Hand hinunter und tropft auf den Boden.

„Warte, ich hol einen Lappen.“ Schnell stehe ich auf, hole die Rolle Küchenpapier aus der Küche und bringe sie zu Oli ins Wohnzimmer. Moritz ist gekommen und schnüffelt neugierig an der kleinen Pfütze, die sich zu Olis Füßen gebildet hat. Mit der Hand scheuche ich das weiße Frettchen zur Seite, reiche Oli ein Stück Papier für seine Hand und das Glas und wische mit einem zweiten Blatt die Pfütze auf.

„Danke“, sagt er, ich erwidere nichts. „Das ganze Shirt eingesaut...“

„Zieh es doch aus, du kannst eins von mir haben “, biete ich ihm an. „Ich hab bestimmt was, das dir-“

„Nee“, unterbricht er mich grinsend. Dieses verschmitzte in seinen Augen! Mein Herz macht einen Satz.

Pass auf, Jonathan, der wird dir gefährlich!

Halt dir Klappe, Gewissen, ich kann auf mich selbst aufpassen!

Schnell stehe ich auf, eile Richtung Bad.

„Ich bin nur schnell pinkeln“, nuschele ich im Gehen. Ich will einfach nur noch weg aus dem Zimmer, weg von diesem Mann, der so süß verschmitzt grinsen kann, mit den zwei strahlenden Augen und dieser niedlichen Nase. Ich will weg von dem Mann, der mir das wundervollste Erlebnis meines Lebens beschert hat.

Ich bleibe einen Moment im Bad stehen, setze mich auf den Badewannenrand und blicke zur Dusche. Die Wände der Kabine sind noch feucht, vereinzelt laufen Wassertropfen das Glas hinunter. Ich schließe die Augen, denke an die schönen Stunden? Minuten? Sekunden? mit Oli zurück.

„Fass mich noch einmal an“, murmele ich tonlos. „Fass mich an... mach mit mir, was du willst...“

Ich merke, wie sich langsam wieder etwas in meiner Hüftregion regt. Wenn doch bloß Oli käme, um mich zu streicheln... Aber Oli kommt nicht.

Als ich das Bad wieder verlasse, steht er schon im Korridor, hat seine Schuhe angezogen.

„Ich werde jetzt gehen“, sagt er. „Es ist wirklich spät... Bald schon wieder früh. Ich muss ins Bett.“

Nur ungern lasse ich ihn gehen, will ihn umarmen zum Abschied, aber er greift nur meine Hand, drückt sie kurz. Dann ist er weg. Und lässt mich allein zurück.

Die ganze Nacht liege ich wach, starre die Decke an, heule und schwimme in Gedanken. Das Handtuch, mit dem Oli sich abgetrocknet hat, habe ich über mein Kopfkissen gelegt und vergrabe meine Nase darin. Sauge seinen Geruch auf, denke an Oli und fange wieder an zu flennen. Wo kommt das schlechte Gewissen her? Es hat sich so gut angefühlt, warum ist da dieser bittere Nachgeschmack? Ich werde es Dani sicher verheimlichen können. Aber was, wenn Oli zu meinem Freund geht? Ich will Dani nicht verlieren. Und ich will Oli haben. Für mich, immer wieder!

Plötzlich ist mir furchtbar schlecht. Mein Magen krampft sich zusammen, und sein Inhalt kündigt sich an zum zweiten Frühstück. Alkohol und Tabletten, verdammte Scheiße!

Eine Viertelstunde später hänge ich erschöpft neben der Toilette. Mein Magen tut immer noch weh, mein Hals ist gereizt vom Erbrechen, und die Übelkeit will einfach nicht verschwinden. Zu meinem Selbstmitleid kommt jede Menge Wut und Hass auf mich selbst. Warum hab ich immer noch nicht gelernt, dass ich meine Medikamente nicht mit Alkohol nehmen sollte? Warum kann ich nicht treu sein? Warum weiß ich nicht, was ich will?

Und warum verdammt hab ich mich jemals ohne Gummi ficken lassen!!!

Ärztemarathon

„Guten Morgen, Jonathan, alles Gute zum Geburtstag!“ Mutter drückte mir meine Lunchbox für die Arbeit in die Hand. „Ich hoffe, du kommst heute pünktlich, die Familie ist um fünf zum Abendessen geladen.“

Ich nickte nur und verstaute die Lunchbox in meiner Umhängetasche.

„Bis heute Abend“, verabschiedete ich mich und verließ die Wohnung. Doch ich ging nicht wie gewohnt in Richtung U-Bahnhof, um mich auf den Weg zur Arbeit zu machen, sondern machte mich zu Fuß auf zu meinem Hausarzt. Letzte Woche hatte ich diesen Termin ausgemacht, es war der erste, den ich nach Silvester hab bekommen können. Am Telefon, als ich mit der Sprechstundenhilfe gesprochen hatte, war alles so leicht gewesen. Ich hatte ihr kurz meine Situation geschildert, und sie hatte mir den nächstmöglichen Termin genannt. Jetzt sah alles ganz anders aus. Ich war nervös, schämte mich, hatte Angst. Meine Beine waren wie aus Gummi, zitternd klammerte ich mich an meine Zigarette, an der ich immer wieder hastig zog. Meine Nerven beruhigte es nicht.

Ich erreichte die Arztpraxis viel zu schnell. Zweimal ging ich noch um den Block herum, rauchte eine weitere Zigarette, bevor ich endlich die Tür öffnen und die vielen Stufen bis zur Praxis hinaufsteigen konnte. Im Treppenhaus roch es nach Arzt, eine ältere Frau kam mir auf der Treppe entgegen.

‚Ich kann nicht zurück’, hämmerte es in meinem Kopf. ‚Warum ist André nicht bei mir? Es war schließlich seine Idee!’

„Guten Morgen“, kam es krächzend über meine Lippen, als ich endlich bei den Sprechstundenhilfen am Tresen stand und meine Krankenkassenkarte aus meinem Portmonee fischte. Drei weiße Buchstaben auf grünem Grund.

„Hallo, und frohes neues Jahr“, lächelte eine der Ladys in weiß, ich brachte nur mit Mühe ein schiefes Lächeln zustande. Mein Herz schlug bis zum Hals.

„Ich hab einen Termin um neun“, hörte ich mich sagen.

„10 Euro Praxisgebühr bekomme ich noch von Ihnen, dann können Sie gleich durchgehen ins Zimmer 2.“

Der Raum war freundlich eingerichtet. Und hatte zum Glück eine Sitzgelegenheit für mich parat, auf die ich mich sofort niederließ. Meine Gummibeine hätten mein Gewicht keine Sekunde länger tragen können.

An der Wand reihten sich zig Regale voll mit Fachbüchern. Es sah ein wenig aus wie bei meinem Vater im Arbeitszimmer, nur, dass sich dort Romane aneinanderreihten.

Meine Augen überflogen die zahlreichen Titel auf den Rücken. Ob er auch ein Buch über Ai-

„Guten Morgen, Herr Möller!“ Mein Hausarzt hatte bereits eine blonde Arzthelferin im Schlepptau, die hinter mir in einem Schrank ein paar Dinge zusammensuchte, während ich mich mit dem Doktor unterhielt.

„Machen Sie mal Ihren Arm frei.“ Mit schweißnassen Fingern fummelte ich den Knopf meines rechten Hemdärmels auf und schob den Stoff nach oben. „Sie müssen keine Angst haben, das piekt nur ganz kurz und ist schnell vorbei.“ Freundlich lächelnd streichelte die Arzthelferin mir über die Schulter, dann setzte sie die Spritze an.

„Mit dem Ergebnis können wir in sieben Tagen rechnen.“ Mein Arzt reichte mir zum Abschied die Hand. Ich war immer noch ein nervliches Wrack, und die Stelle, an der die Arzthelferin Blut abgenommen hatte, schmerzte deutlich.

„Auf Wiedersehen.“ Meine Stimme klang ungewöhnlich heiser.

Den Rest des Tages verbrachte ich in einem Café, versuchte, ein bisschen zu lesen, hing aber doch nur meinen Gedanken nach. Meine Familie durfte von dem Test nichts erfahren. Egal, wie das Ergebnis ausfallen würde, es würde mein Geheimnis bleiben.

Bevor ich mich auf den Heimweg machte, gönnte ich mir noch ein großes Stück Schokoladentorte. Happy Birthday, Jonathan.

Mein Frühstück will partout nicht in meinem Magen bleiben. Ich versuche vorsichtig ein wenig Müsli, ein Stück Banane, eine Scheibe Toastbrot, aber alles kommt mir bereits nach wenigen Minuten wieder hoch. Zum zweiten Mal an diesem Morgen muss ich meine Tabletten nehmen, da mir die erste Dosis zusammen mit dem Essen wieder hochgekommen ist. Als ich sie nach einer halben Stunde immer noch nicht wieder hoch gewürgt habe, dusche ich, ziehe mich an und fahre zu meinem HIV-Schwerpunktarzt. Ein Freund hatte mir die Praxis vor zwei Jahren empfohlen, und nach einem ersten Besuch dort war mir klar, dass das nicht nur mein Schwerpunkt-, sondern auch mein neuer Hausarzt werden würde.

Eine ganze Weile muss ich im Wartezimmer verbringen, bis ich endlich ins Sprechzimmer gerufen werde.

„Hi, Jonathan!“, grüßt der Arzt mich freundlich. „Sind schon wieder 3 Monate um?“

„Hi Nico.“ Schon am Anfang hat er mir das du angeboten. „Nein, ich bin nicht wegen der Blutabnahme hier, aber das ist auch schon wieder nächste Woche soweit. Ich hab den ganzen Morgen gekotzt, hab Magenkrämpfe und so Geschichten.“

Nico rückt seine Brille zurecht.

„Hast du das in letzter Zeit öfter?“, fragt er, ich schüttele den Kopf. „Irgendwas falsches gegessen?“

„Nichts anderes als sonst auch. Gestern Abend war ich Cocktails trinken mit einem Freund, vielleicht war der Alkohol ein bisschen viel...“

„Wann hast du deine Medikamente genommen?“

„Kurz bevor ich mich mit ihm getroffen habe...“

„Jonathan...“ Jetzt verdreht er die Augen. Ich mag es nicht, wenn er so guckt. Sofort machen sich in mir Schuldgefühle breit. „Du musst verdammt noch mal mit dem Alkohol aufpassen. Die Kombi schlägt so gut an, mach dir das doch nicht kaputt.“

„Es war so ein netter Abend, und ich hab nicht nachgedacht...“

„Es spielt keine Rolle, wie nett der Abend war. Denk doch an deine Gesundheit, sonst hast du nicht mehr viele nette Abende.“

Er hat Recht. Und irgendwie hasse ich ihn gerade dafür. Ich werde besser niemandem von der ganzen Scheiße erzählen, die ich mal wieder fabriziert habe. Ständig gesagt zu bekommen, dass man alles falsch macht, ist ganz schön zermürbend. Außerdem kann sich niemand in meinem Freundes- und Bekanntenkreis auch nur annähernd in meine Situation hineinversetzen. Was wissen die alle schon von meinem Leben und meinen Gefühlen...

„Ich pass auf mich auf...“ Ich kann nicht anders als den Kopf hängen lassen. Den vorwurfsvollen und enttäuschten Blick des Arztes ertrage ich einfach nicht.

„Das will ich hoffen.“ Nico legt seine Hand auf meine Schulter. „Brauchst du was für die Arbeit?“ Langsam nicke ich, er setzt sich an den Computer, tippt etwas, dann höre ich den Drucker, anschließend Kugelschreiber auf Papier.

„Hier.“ Er hält mir den Wisch unter die Nase, ich nehme ihn an mich. „Und dann sehen wir uns nächste Woche wieder, zum Blut abnehmen. Dass mir bis dahin keine Klagen kommen, Sorgenkind.“ Seine Hand klopft mir aufmunternd auf den Rücken. Mit den Augen fängt er meinen Blick ein und schenkt mir ein offenes Lächeln.

„Lass den Kopf nicht hängen“, sagt er, ich stehe auf. Am liebsten würde ich mich bei ihm ausheulen. Ihm erzählen, wie beschissen meine Beziehung läuft, dass ich meinen Freund betrogen habe, dass ich immer noch Probleme habe, mit meiner Infektion umzugehen, dass ich Zukunftsängste habe und mit meinem Leben nicht zu Recht komme. Doch ich drücke nur seine Hand, verabschiede mich beim Rausgehen von der Sprechstundenhilfe und stecke mir vor der Tür erstmal eine Zigarette an.

Was hat Nico mir da eigentlich ausgestellt? Wow, einen Krankenschein für den Rest der Woche! Der Arzt ist mir unheimlich. Wahrscheinlich hat er mir angesehen, wie dreckig es mir geht... Wegen dem bisschen Gekotze würde er mich nie eine Woche krankschreiben.

Zu Hause rufe ich auf der Arbeit an, melde mich krank und verkrieche ich mich dann mit einer Wärmflasche für meinen schmerzenden Magen in mein Bett. Hunger hab ich keinen, Lust, irgendwas anderes zu machen als im Bett zu liegen und nichts zu tun, hab ich keine, und so döse ich vor mich hin, bis es abends gegen fünf an der Tür klingelt. Dani.

„Ich wollte dich von der Arbeit abholen, aber du warst nicht da“, sprudelt er besorgt los, als ich öffne. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

„Bei mir ist alles okay.“ Obligatorischer Begrüßungskuss. „Bloß die üblichen Nebenwirkungen. Ich hab schlecht geschlafen und bin müde...“ Bewusst vermeide ich den Blickkontakt mit meinem Freund. Was, wenn er mir ansieht, was ich die letzte Nacht getrieben habe?

„Wirklich alles in Ordnung? Ich mach mir Sorgen.“ Dani nimmt mich in den Arm, streichelt meinen Rücken. „Kann ich dir was Gutes tun?“

„Komm mit ins Bett und nimm mich in den Arm, dann kann ich weiterschlafen.“ Seine Bemutterungen gehen mir auf den Geist. Am liebsten wäre mir, wenn er einfach ginge, aber das kann ich ihm nicht sagen. Das würde ihn sehr verletzen. „Geh schon mal ins Schlafzimmer, ich hol mir schnell ein Glas Wasser aus der Küche.“

Dani nickt, küsst mich auf die Wange und trottet dann durch den Flur. Ob ich ihm meinen Seitensprung verheimlichen kann? Eigentlich war es ja kein richtiger Seitensprung. Ein bisschen Geknutsche, und Oli hat mir einen runtergeholt. Konnte man das als fremdgehen bezeichnen? Begeistert wäre Dani trotzdem nicht, wenn er davon wüsste.

Ich hole ein Glas aus dem Küchenschrank, lasse kaltes Wasser aus dem Hahn hineinlaufen und nehme einen tiefen Schluck. Ich merke, wie müde ich eigentlich bin, mein Kopf ist ganz schwer, ich kann die Augen kaum offen halten, und nur mit Mühe schaffe ich es, dass mir das Wasserglas nicht aus der Hand rutscht. Einfach hinlegen und schlafen... Vielleicht verfliegen meine Probleme, und alles ist wieder in Ordnung, wenn ich wach werde.

Ein Ruf aus dem Schlafzimmer, und ich bin mit einem Schlag hellwach: „Du Schatz, warum liegt da ein Handtuch in deinem Bett?“

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