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Hürdenlauf

9. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

KLIRR!

Meine Füße werden nass. Und die Stimme, die grad noch weit entfernt aus meinem Schlafzimmer gerufen hat, ist jetzt direkt hinter mir.

„Joni, was ist passiert?“

„N- nichts“, stammele ich verwirrt. Er hat das Handtuch gefunden. Irgendwas muss ich ihm dazu sagen, aber warum verdammt fällt mir jetzt gerade keine Ausrede ein! Dafür ist was anderes gefallen: Das Glas aus meiner Hand. Und ich stehe in einer Pfütze aus Wasser und Scherben. Ein falscher Schritt mit meinen nassen Füßen auf dem rutschigen PVC und ich falle entweder hin und schlage mir an der Arbeitsfläche den Kopf auf, oder ich trete in eine Scherbe, die meine Füße aufschlitzt. Oder eine Mischung aus beidem, auf jeden Fall wird Blut fließen. Und mein Blut ist gefährlich für Dani...

„Dani!“, brülle ich laut. Wieso klinge ich plötzlich so panisch? Meine Knie zittern... „Dani komm mal und hilf mir!“

„Ist ja gut, es ist doch nichts passiert.“ Schon kniet er neben mir und sammelt vorsichtig die großen Scherben beiseite. Dann holt er ein Handtuch, legt es über die große Pfütze.

„Geh mal ein Stück beiseite“, bittet er mich. „Aber pass auf, tritt dir nichts ein.“

Auf Zehenspitzen schwanke ich aus der Küche, setze mich im Korridor auf den Fußboden, winkle die Beine an und umschlinge sie mit den Armen.

„Meine Freunde sind da, los, steh auf.“ Ich hatte das Klingeln gehört. Und trotzdem wollte ich es nicht hören. Wenn meine Eltern nicht zu Hause waren und es an der Tür klingelte, waren das meistens Konnis Freunde.

„Hörst du schlecht?“, fauchte Konni mich böse an, griff meinen Arm und zog mich von meinem Bett hoch. „Steh auf und geh ins Bad!“

Mein großer Bruder lud seine seltsamen Freunde nur zu uns nach Hause ein, wenn unsere Eltern weg waren. Dann saß er mit ein paar Jungen in seinem Zimmer; sie rauchten, tranken Bier, hörten laut Musik. Das mochten meine Eltern gar nicht. Und ich auch nicht. Dabei sein durfte ich nicht. Für die war ich ja noch ein Baby. Und damit ich nicht im Weg stand oder herumschnüffelte, sperrte mein Bruder mich ins Gästebad, sobald seine Freunde bei uns aufschlugen.

„Setz dich da hin und mach keinen Stress!“ Konni schubste mich in den kleinen, weiß gefliesten Raum. Hinter ihm konnte ich einen großen breiten Kerl mit glatt rasiertem Schädel sehen, der mit einem Kasten Bier auf der Schulter unsere Wohnung betrat. Ich kauerte mich auf dem Boden zusammen, umschlang fest meine angewinkelten Beine und hielt mich fest.

„Hast du mich gar nicht lieb?“, fragte ich. Ein unangenehm großer Kloß schnürte meinen Hals zu.

„Keiner hat dich lieb“, antwortete Konni grimmig und schlug die Tür zu. Er drehte den Schlüssel im Schloss herum, die lauten Stimmen aus der Wohnung drangen nur noch dumpf durch das Holz zu mir herein.

„Ich hab mich lieb“, sagte ich leise, dann kamen die Tränen...

„Du hast mich lieb?“ Ein Arm legt sich um meine Schultern. „Ich hab dich auch lieb.“ Mir wird ein Kuss ins Haar gedrückt. „Komm, steh auf, du solltest dich ins Bett legen.“

Nur mit Mühe komme ich auf die Beine. Schnell wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, umarme Dani.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt mein Freund besorgt. „Weinst du?“

„Ich bin okay“, lüge ich. Seine Nähe tut mir gerade gut, obwohl ich am liebsten allein wäre und mich schon eine ganze Weile nicht mehr wohl mit Dani fühle. „Mach dir keine Sorgen.“

Dani schläft schnell ein. Sein Tag war wohl sehr anstrengend. Ich liege neben ihm. Meine Magenschmerzen haben nachgelassen, das Handtuch ist einfach auf dem Boden gelandet. Fragen gestellt hat Dani nicht mehr.

Disodesaster

Oli will mir nicht mehr aus dem Kopf gehen und das macht mich wahnsinnig. Der Sex mit Dani ist selten geworden, und Spaß macht er auch nicht mehr. Die Vormittage verbringe ich allein zu Hause bis Dani nach der Arbeit bei mir aufschlägt, um mich zu bemuttern. Immerhin muss ich ja unsagbar krank sein, wenn der Arzt mich so lange krankschreibt. Es stört mich nicht, dass er mich für pflegebedürftig hält. So habe ich wenigstens eine Ausrede, um nicht mit ihm schlafen zu müssen.

Am Freitag kann ich mich endlich dazu durchringen, Oli eine SMS zu schicken. Ich muss einfach mit ihm reden, und zwar, bevor ich mich bei Dani verplappere.

„Ich muss mit dir reden. Bald. Bitte... Lieber Gruß, Jonathan“, tippe ich mit schweißnassen Zitterfingern in mein Handy. Warum bin ich überhaupt bei allem, was mit Oli zutun hat, so nervös? Der hübsche, junge Mann hat meine Gefühlswelt ganz schön durcheinander gewirbelt...

Ich lege mich im Wohnzimmer auf die Couch, starre an die Decke und fange an, zu überlegen, an welchen Punkt in der Beziehung mit Dani ich aufgehört habe, glücklich zu sein. Am Anfang war ich doch so verliebt, wir haben viel zusammen unternommen, der Sex war mehr als großartig, überall hat’s gekribbelt, wenn wir uns getroffen haben oder ich an ihn gedacht habe. Und jetzt? Jetzt hängen wir viel zu viel zu Hause herum, wenn wir was unternehmen, verliert er schnell die Lust daran, wir schlafen seltener miteinander, und wenn, ist es für mich nicht viel mehr als Druckabbau; das verliebte Kribbeln ist weg, und oft ist seine Nähe nur noch anstrengend und lästig für mich. Dennoch... bei ihm im Arm zu liegen ist immer noch besser, als völlig allein zu sein.

Immer wieder schaue ich auf mein Handy, doch Oli meldet sich nicht. Die Situation kommt mir befremdlich bekannt vor... Ich sollte mir Telefonieren oder SMS und E-Mails schreiben einfach abgewöhnen, dann erspare ich mir das nervenaufreibende Warten auf Antwort. Ich schiebe mein Handy unters Sofa und befehle mir, es bis Montag nicht mehr dort hervorzuholen. Ob ich das durchhalte? Was, wenn jemand anruft oder eine SMS schickt? Oli zum Beispiel?

Ach ich bin doch ein Idiot, ich hab das Gejammere doch überhaupt nicht nötig! Entschlossen stehe ich auf, stapfe ins Schlafzimmer, reiße meinen Kleiderschrank auf, rupfe ein Oberteil aus einem Stapel, eine Jeans aus einem anderen, dazu ein paar Socken und eine frische Unterhose und trage alles ins Bad. Frisch geduscht, gestyled und umgezogen setze ich mich dann ins Auto und fahre in die Disco.

Zwei Cocktails und einen intensiven Flirt später geht es mir schon viel besser. Mir gehört die Welt! Ich bin frei von Dani, frei von Oli, und ich kann tun und lassen was ich will – zumindest für diese eine Nacht. Wie mein Gegenüber heißt, ist mir vollkommen egal. Irgendwann in unserer Unterhaltung teilt er mir seinen Namen mit, aber ich versuche gar nicht erst, ihn mir zu merken. Auch den Handynummerntausch lehne ich ab. Was soll ich mit der Nummer von einem Typen, der für mich nur eine schnelle Nummer bedeutet?

„Kommst du mit aufs Klo, oder sollen wir gleich zu dir?“, frage ich offensiv. Es ist zwar meine Nacht, aber auch die ist endlich, und so langsam verlangen meine unteren Körperregionen nach Erleichterung. Der schöne Namenlose schaut verdattert, tritt fast erschrocken einen Schritt zurück.

„Wie, zu mir?“ Seine Augen sind groß und sehen mich fragend an. Dann verändern sich seine Gesichtszüge, er wirkt fast verständnisvoll. „Nee du, lass mal, mein Freund kommt nachher noch, wir sind erst zwei Tage zusammen.“ Wie süß, er will wohl treu sein. Na das kann er mal getrost vergessen. Zu mir hat noch nie jemand nein gesagt!

„Ach was, das kriegt der nicht raus“, versuche ich, ihn zu überzeugen. „Und eine kleine geile Abwechslung zwischendurch wird dir nicht wehtun. Ich weiß, dass du das auch willst.“

Der Hübsche wird ganz schüchtern und verlegen, starrt auf den Boden, dreht sein halbvolles Glas nervös in den Händen.

„Du siehst schon... gut aus“, stammelt er. „Vielleicht will mein Freund... also... magst du’s zu dritt?“ Zaghaft hebt er den Blick. Da kommen wir der Sache doch schon näher! Ich grinse ihn an, zucke mit den Schultern, nicke.

„Ja klar, wenn dein Freund genauso heiß ist wie du.“

„Aber sicher doch!“ Er wirkt jetzt sehr viel selbstsicherer, trinkt einen großen Schluck aus seinem Glas. „Ach schau mal, da vorne ist er schon!“ Jetzt drückt er mir sein Glas in die Hand, hüpft neben mir auf und ab, wild mit den Armen wedelnd.

„Wo?“, will ich wissen und blicke in die Richtung, in die er wedelt. Nur tummeln sich dort etwa 20 potenzielle geile Kerle, die ich mir sehr gut zusammen mit dem Namenlosen in trauter Dreisamkeit in einem gemütlichen Bett vorstellen könnte.

„Na der da vorne, in dem blauen Hemd“, flötet das hyperaktive Blondchen aufgeregt. Ich scanne den nur spärlich und bunt beleuchteten Raum nach einem blauen Hemd, doch irgendwer muss mir Tomaten auf die Augen geklebt haben. Blaues Hemd?

Doch plötzlich entdecke ich jemanden. Zwischen drei nackten Oberkörpern schiebt sich ein blaues Poloshirt hervor, schreitet stetig auf uns zu. Und den Kopf, den kenne ich ganz genau.

„Was bitte, der da ist dein Freund?!“, presse ich fast hysterisch heraus und halte für einen Moment die Luft an. Das darf doch nicht wahr sein! Ich stelle das fremde Glas ab, atme ganz tief ein und kneife die Augen zusammen. Keine Tränen, nicht hier!

„Sorry, lass gut sein“, murmele ich und eile schnellen Schrittes durch die Menge Richtung Ausgang.

Frische Luft. Zigarette. Autoschlüssel. Energische Schritte auf dem Bürgersteig. Autotür auf, Loki rein, Autotür zu, Motor an, Fenster auf, Kippe raus. Und jetzt nur noch nach Hause!

„Joni!“

Was zum Teufel ist denn nun noch? Hat er mich gesehen und ist mir gefolgt? Ich will gar nicht erst nachsehen.

„Joni, warte, nimm mich mit!“

Bin ich ein Taxiunternehmen für geplatzte Träume einer HIV infizierten Großstadtschlampe? Neugierig, wie ich leider bin, werfe ich doch einen Blick in den Rückspiegel und sehe meinen Freund und seine beste Freundin Sonja auf mein Auto zurennen. Glück gehabt... Aber es hätte mich auch sehr gewundert, wenn gerade er mir gefolgt wäre. Ich stelle den Motor ab und steige wieder aus dem Auto. Außer Atem fliegt Dani mir in die Arme.

„Hallo Schatz.“ Wir küssen uns. „Was machst du hier?“

„Mir war langweilig, da wollte ich ein bisschen tanzen. War aber auch langweilig, also wollte ich jetzt wieder nach Hause.“

„Kannst du Sonja nach Hause fahren?“ Dani setzt seinen schönsten Hundeblick auf, schmiegt sich dann eng an mich und flüstert mir ins Ohr: „Ich komm auch mit zu dir und dann können wir...“ Ich höre ihn grinsen, grinse zurück.

„Schon gut, Süßer, mach ich doch gern.“ Ich küsse ihn auf die Stirn, nicke Sonja begrüßend zu und öffne ihr die Tür.

Angenehmes Schweigen im Auto. Ich rauche noch eine Zigarette und merke, wie ich mich langsam beruhige. Als Sonja aussteigt und Dani und ich sie verabschieden, kommt mir sogar ein ehrlich gemeintes Lächeln über die Lippen, und Danis Gute-Nacht-Kuss nach dem Sex schmeckt richtig gut. Erst, als er leise schnarchend neben mir liegt, kommen die schmerzlichen Gedanken wieder und lassen sich ums Verrecken nicht abstellen.

Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, suche verzweifelt Schlaf, finde aber nur mehr neue, unschöne Bilder. Leise stehe ich auf, hole meine Zigaretten, eine Flasche Wein aus der Küche und setze mich ins Wohnzimmer.

Aus

Mir ist schlecht. Und schlafen kann ich hier auch nicht. Dani liegt im Schlafzimmer, schlummert vor sich hin, träumt vielleicht von einer heilen Welt. Ich nicht. Ich sitze da, ziehe an meiner Zigarette und spüle die Tränen mit Rotwein hinunter. Heulen ist nicht angesagt, dafür bin ich zu stark! Außerdem hatte ich nie einen Anspruch auf Oliver... ich hätte wissen müssen, dass es so kommt! So gut, wie er aussieht... verdammte Eifersucht!

Warum tut es mir so weh? Sein Herz gehört mir nicht... nicht mehr? Was war da zwischen uns, in der kurzen Zeit, was mich so fesselt und fasziniert? Noch einen großen Schluck Rotwein, damit die Tränen keine Chance haben. Ich drücke meine Zigarette aus, lege mich der Länge nach aufs Sofa und starre mal wieder an die Decke. Nein, es muss aufhören. Das alles muss ein Ende haben! Zuerst muss ich mich von Dani trennen... ob ich dann eine Chance bei Oli...? Nein... der hat seinen Freund, und glücklich wird er dazu auch sein. Ich kam einfach zu einem falschen Zeitpunkt oder habe zu lange gewartet. Verdammt! Ich bin ganz allein Schuld daran, wie es ist! Warum hab ich immer so ein Talent, alles zu versauen?! Rotwein!

Meine Hand tastet nach dem Glas, das neben mir auf dem Couchtisch steht. Ich stoße gegen das Glas, das kippelt bedrohlich. Schnell versuche ich, es aufzufangen, reiße dabei jedoch die ganze offene Flasche um. Mit einem lauten Scheppern kracht sie auf die Glasplatte und der ganze Inhalt ergießt sich auf den Boden. Scheiße! Wenigstens das Glas habe ich gerettet. Ich greife es, schütte mir den Inhalt in den Hals und will gerade aufstehen, um einen Lappen zu holen, als Dani im Wohnzimmer auftaucht.

„Joni, ist alles okay bei dir?“, fragt er. Verschlafen sieht er aus, seine Haare sind zerzaust und er trägt nur dunkelgraue Retroshorts.

„Nichts ist okay“, nuschele ich. Ich merke die Wirkung des Alkohols.

„Was ist denn los?“ Besorgt klingt er. Setzt sich zu mir aufs Sofa und legt den Arm um mich.

„Lass mich bitte...“ Ich schiebe ihn weg. „Ich muss einen Lappen holen.“

Er lässt mich gehen, sieht mir zu, wie ich leicht wankend die Sauerei beseitige und spricht dabei kein Wort. Erst, als ich fertig bin und mich wieder auf die Couch fallen lasse, bricht er das Schweigen.

„Warum sitzt du nachts hier und trinkst Rotwein?“

„Ist das wichtig? Der Tag war einfach scheiße.“

„Wirklich?“

Ich hole tief Luft, schließe die Augen. Es tut mir Leid, es tut mir wirklich unendlich Leid. Und es tut mir weh. Ich weiß nicht, wie lange ich meine Tränen noch halten kann.

„Ich hab mich in Oli verliebt, aber der hat einen Freund und das macht mich fertig. Ich kann nicht mehr länger mit dir zusammensein, weil ich dich nicht mehr liebe, und das tut mir Leid! Dani... ich würde es ändern, wenn ich könnte, wirklich!“, platzt es aus mir heraus, und meine Augen werden feucht. Fassungslos starrt Dani mich an.

„Was?“, kommt fast tonlos über seine Lippen. Selbst bei diesem spärlichen Licht kann ich sehen, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht weicht. „Aber-“

„Ich kann nicht mehr, Dani...“ Aus. Vorbei. Gegen die Tränen komme ich nicht mehr an. Selbst 100 Flaschen Rotwein könnten mir jetzt nicht mehr helfen. Blind vor Tränen klammere ich mich an Dani, heule gegen seine nackte Brust, presse mich an ihn, will ihn nie wieder loslassen. Von ihm kommt keine Regung.

Am nächsten Morgen wache ich in meinem Bett auf. Allein. Dani hat die Nacht bei mir verbracht und mich getröstet, gestreichelt, Taschentücher gereicht. Aber jetzt ist er nicht hier.

Ich hab Kopfschmerzen. Am liebsten würde ich gar nicht aufstehen, aber meine Blase hat andere Pläne. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mühselig aus dem Bett zu wuchten und den Weg ins Bad anzutreten. Im Korridor angekommen, bemerke ich einen Zettel an der Wohnungstür, der mit einem Klebestreifen am Holz befestigt ist.

„Lieber Joni, danke für die schöne Zeit. Wenn du mich brauchst, ich bin immer für dich da, auch wenn du deinen Weg ohne mich an deiner Seite machen wirst. Ich liebe dich, und ich weiß, du hast mich auch geliebt. Dani“

Fest kneife ich die Augen zusammen, damit ich nicht schon wieder anfange zu heulen.

Der Neue

Mein Frühstück schmeckt mir nicht. Meinen Kaffee trinke ich nicht mal zur Hälfte, und das Wurstbrot bleibt unberührt. Für jegliche Form von Hausarbeit bin ich total unbrauchbar, und bei einem nachfrühstücklichen Spaziergang mit den Frettchen bin ich so sehr in Gedanken, dass ich mich beinahe verlaufe. Ob ich André um Rat fragen soll?

Nein, besser nicht... Der sagt mir auch nur, was ich schon weiß: Dass es meine eigene Schuld ist und es klar war, dass es so kommen würde.

In meinem Kopf herrscht Chaos. Seltsam, eigentlich sollte ich mich an diesen Zustand längst gewöhnt haben. Doch es bereitet mir Kopfschmerzen.

Draußen ist es immer noch sengend heiß. Der Sommer macht mir zu schaffen. In zwei Wochen steht der Berliner CSD an, und wenn das Wetter so heiß bleibt, verspricht das massig nackte Tatsachen auf der größten schwulen Party des Jahres. Ob ich da hingehen werde weiß ich noch nicht. Wär das gut für mich? Ich kenn mich, ich würde mich betrinken und von einem Gebüsch zum nächsten klettern. Männer für die schnelle Nummer waren da ja genug. Außerdem könnte ich so über die Trennung hinwegkommen... und Oli vergessen. Mein Handy habe ich wieder hervorgeholt, auf meine SMS hat Oli immer noch nicht geantwortet, was mich nach der Aktion letzte Nacht auch gewundert hätte. Na, hätte mich auch gewundert, wenn das je geklappt hätte. Was will der schon mit einem Positiven wie mir?

Ich beschließe, kalt zu duschen. Okay ich geb’s zu: lauwarm. Danach trinke ich einen sehr starken Kaffee mit reichlich Zucker gegen den bitteren Geschmack, rauche eine Zigarette und gehe dann raus, setze mich ins Auto, starte den Motor und drehe die Klimaanlage auf 22 Grad. Aus dem Handschuhfach pflücke ich irgendeine MP3-CD mit elektronischer Musik, lege sie ein, dann fahre ich los. Raus aus der Stadt, Landstraßen entlang, an grünen Wiesen, dichten Wäldern und glitzernden Seen vorbei. Im Wagen ist es schön kühl, draußen bewegen sich die Temperaturen jenseits der 40 Grad. Halb Berlin hat sich an die hiesigen Gewässer begeben, um Abkühlung zu bekommen. Ob ich das auch machen soll, schwimmen? Vielleicht lerne ich jemanden kennen, der für eine kleine Ablenkungsnummer zu haben ist.

Ich parke den Wagen in der Nähe des nächstbesten Sees und steige aus. Uff! Was für eine Hitze! Einen Moment muss ich bei geöffneter Tür sitzen bleiben, damit mein Kreislauf nicht kollabiert. Mit so einem plötzlichen Temperaturumschwung habe ich nicht gerechnet. Ich schließe die Augen, lehne mich zurück. Ich bin allein. Richtig allein. So allein war ich schon lange nicht mehr. Dani habe ich für immer verloren, Oli werde ich nie bekommen. Fühlt es sich so an, unglücklich verliebt zu sein? Heute Abend werde ich mich im RAZZMATAZZ austoben, bei einer Schaumparty, im altbekannten Haus B, ehemals Busche, oder vielleicht doch im Berghain? Ich werde einfach Micha anrufen und fragen, worauf er Lust hat. Ansonsten gehe ich einfach zu der Location, die am meisten Sex verspricht.

Langsam gewöhne ich mich an die Hitze, und ich mache mich zu Fuß auf zum Wasser. Schön ist es hier. Ich höre Vögel zwitschern, die Luft ist heiß, aber unter den Bäumen, die links und rechts des Weges wachsen, ist es angenehm schattig. Hier bin ich nicht nur weit weg von Berlin, hier ist es auch ganz anders als das, was ich als „mein Leben“ bezeichne. Kein Sex, keine Party, keine Beziehungen, keine Gefühle, keine laute Discomusik, keine Freunde, keine Frettchen, kein Job. Nur die Natur und ich. Ah, und ein paar laute Bälger. Frauen in Bikinis. Männer jeden Alters in Badehose – oder ohne. Knutschende Teenies. Spielende Hunde. Der ein oder andere Jogger. Ich bin am See.

Eine halbe Ewigkeit laufe ich am Wasser entlang auf der Suche nach einem geeigneten Rastplatz. Zwischen irgendwelche Wildfremden will ich mich nicht quetschen, und wenn doch, dann wenigstens zwischen wildfremde, junge Männer, vorzugsweise schwul und solo, oder wenigstens offen für alles. Ob Kondome in der Hitze schmelzen? Die zwei in meiner Hosentasche fühlen sich noch komplett an.

„Hey Loki!“

Ich schaue mich um.

„Hier drüben!“

Gut vor Fußgängern geschützt hinter einem großen Busch sitzt eine Gruppe Jungs, und einer von ihnen winkt mir rufend zu. Kenn ich den?

„Los, komm rüber und setz dich zu uns!“

Ja, warum eigentlich nicht. Ich klettere am Gebüsch vorbei auf die schöne, direkt am Wasser gelegene Sandfläche, grüße die vier Jungs mit einem Nicken. Drei von ihnen kenne ich vom Sehen aus diversen Discos, auch den winkenden, nur der vierte ist mir völlig fremd.

„Tristan“, stellt der Winker sich selbst vor, und in mir flammt eine kurze Erinnerung an einen Blowjob auf dem Klo auf. „Sandro und Julian wirst du ja auch kennen, und da hinten der Hübsche, das ist Nils, der ist erst seit einer Woche in Berlin.“

„Hi, Nils!“ Er bekommt von mir mein charmantestes Lächeln, und sofort wird er knallrot im Gesicht, starrt mir direkt in die Augen und versucht, sein Lächeln vor dem Absturz zu bewahren. Der ist doch wie geschaffen für eine kleine Ablenkung! Hellbraune Haare, grau-blaue Augen, hübsch gebräunte Haut und einen Körper zum Anbeißen.

„Ist auf deinem Handtuch noch Platz für mich, Nils?“, frage ich frech und knie mich, ohne seine Antwort abzuwarten, direkt neben ihn aufs Handtuch. Langsam aber fast beiläufig knöpfe ich mein Hemd auf, schaue dabei auf meine Hände. Doch ich kann spüren, wie Nils mich mit seinen großen Augen förmlich auszieht. Dann stehe ich kurz auf, schiebe mir meine Schuhe von den Füßen und steige aus meiner Jeans, lasse mich neben Nils nieder. Der hat mittlerweile seinen Rucksack zwischen seine Schenkel gesetzt. Hab ich etwa was bei ihm ausgelöst? Tristan, Julian und Sandro kichern.

Ich stopfe meine Socken und meine Armbanduhr in meine Schuhe, strecke mich, wende mich dann wieder dem Neuling zu.

„Also ich find’s hier ziemlich heiß.“ Nils bekommt ein freches Grinsen von mir. „Ich brauch eine Abkühlung. Wer kommt mit?“

„Später vielleicht“, kommt es zaghaft von Nils.

„Schade“, antworte ich und sehe ihm dabei sehr tief in die Augen.

„Ich komm mit dir mit.“ Tristan klopft mir auf die Schulter und zieht mich dann am Arm Richtung See. Das Wasser ist gar nicht so kalt, wie ich gedacht habe. Die Hitze der letzten Wochen hat ihn wohl ordentlich aufgewärmt. Mit einem Satz springe ich vom kniehohen ins tiefe Wasser, schwimme ein Stück, drehe mich dann zum Ufer um und winke Nils, der auf seinem Handtuch hockt, die Beine angewinkelt und fest mit den Armen umschlungen.

„Jetzt komm schon rein, Süßer!“, brülle ich ihm zu. Im Wasser ist es sicher noch einfacher, mich ihm anzunähern, als an Land, wo er sich vielleicht vor seinen Freunden schämt.

Julian setzt sich neben ihn, die beiden reden miteinander. Was die wohl reden? Plötzlich umarmt Tristan mich von hinten, hält sich an mir fest.

„Wie geht’s dir?“, fragt er, und ich spüre seine Hände an meinem nackten Bauch. Meint der etwa, ich bin so leicht zu haben?

„Gut geht’s mir.“ Ich drehe mich aus seiner Umarmung. „Wir zwei hatten schon das Vergnügen, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Das bisschen Blasen meinst du?“ Er versucht, am Saum meiner Retroshorts zu zupfen, aber ich drücke ihn weg.

„Ja, das bisschen Blasen mein ich. Ihr habt da was viel interessanteres dabei.“ Ich zwinkere ihm zu.

„Och Loki...“ Tristan verdreht die Augen. „Der arme Nils. Der kommt vom Dorf, ist 22, hatte bisher nur einen einzigen Mann und ist gerade eine Woche in der Hauptstadt. Versau ihn doch nicht gleich.“

„Ich zeig ihm nur, was Berlin zu bieten hat“, gebe ich mit einem Grinsen zurück und schwimme wieder Richtung Ufer.

„Nils, komm, das Wasser ist echt toll, und ohne dich ist es so langweilig hier drin.“ Ich lege den Kopf schief. Mittlerweile stehe ich im See, das Wasser geht mir bis zum Bauchnabel. Nils nickt, steht auf, kommt auf mich zu. Yes! Er trägt eine eng anliegende Badeshorts in blau-weiß, und jetzt, wo er steht, sieht er noch viel verführerischer aus als im Sitzen. Ich strecke ihm meine Hand entgegen, er greift sie, ich ziehe ihn nah an mich heran. Zusammen schwimmen wir ein Stückchen hinaus, dann stoppt er. Tristan ist wieder auf sein Handtuch gekrabbelt und beobachtet Nils und mich, aber das ist mir gerade scheißegal. Ich habe nur Augen für den hübschen Nils.

„Wenn du mich nur flachlegen willst, vergiss es“, raunt der mir plötzlich zu, und alles anziehend Schöne ist aus seinem Gesicht verschwunden. „Ich bin kein Mann für eine Nacht.“

„Schätzt du mich etwa so ein?“ Ich versuche, die Situation mit Charme zu retten.

„Ich kenn dich nicht. Aber meine Freunde kennen dich. Ich will keine Nummer sein, die nur herhält und dann vergessen wird.“

Zum ersten Mal in meinem Leben fällt mir die Kinnlade herunter.

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