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Hürdenlauf

7. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

Nur langsam bricht der Schmerz in meinem Steißbein zu mir durch. Ich muss mich sammeln. Wo bin ich, was ist passiert? Zwei Arme umklammern fest von hinten meine Taille, jemand drückt sich an meinen Rücken.

„Was machst du denn?“, wimmert eine Stimme leise an meinem Ohr. „Was machst du denn?“ Wie, was mache ich denn? Was ist denn überhaupt los?

„Joni, was machst du denn?“, wiederholt die Stimme und wird immer weinerlicher. „Was zum Teufel machst du denn...“ Jetzt höre ich nur noch ein Schluchzen, die Arme umschlingen mich immer stärker. Ganz seicht streiche ich über die feinen dunklen Härchen auf den Armen, die sich gegen meinen Bauch drücken.

„Dani“, bringe ich hervor. Ich klinge ungewohnt schwach, meine Unterlippe zittert.

Lange sitzen mein Freund und ich so da, er kann sich gar nicht mehr beruhigen, und ich weiß nicht, wie ich ihn trösten soll. So richtig erinnern kann ich mich nicht an das, was gerade passiert ist. Das einzig deutliche ist gerade bloß der Schmerz, der sich bis hoch in meinen Rücken und über meinen kompletten Hintern ausbreitet.

„Wolltest du da runterspringen?“ Dani hat Kaffee gekocht. Ich sitze auf der Couch, meinen Becher in der Hand, und sehe in seine rot geweinten Augen. „Warum bist du da hochgeklettert?“

Ich will antworten. „Nein“, will ich sagen, „nein, ich wollte bloß fliegen, frei sein!“ Doch mein Mund will sich nicht öffnen. Stattdessen starre ich weiter in die blauen Augen meines Freundes, die sich schon wieder mit Tränen füllen.

„Du kannst mich doch nicht allein lassen“, weint er, wischt sich mit der Hand die Tränen weg. Einen Moment sitzt er da, die Hand vor die Augen gelegt, und atmet konzentriert. Ob ich aufstehen soll, um ihn in den Arm zu nehmen? Ja, das würde ihm sicher helfen.

Aber ich kann nicht aufstehen. Ich kann nur dasitzen, den warmen Kaffeebecher mit beiden Händen halten und Dani betrachten.

„Ich bring dich zu einem Arzt“, sagt Dani plötzlich mit einer befremdlichen Feste in der Stimme. „Vielleicht hast du dir was getan, als ich dich da runtergezogen hab.“

Zu einem Arzt? Aber mir fehlt doch nichts!

„Jonathan, jetzt sag doch was!“

„Es geht mir gut“, ist das einzige, was mir über die Lippen geht.

„Okay.“ Dani steht auf, nimmt mir den Kaffee aus den Händen, stellt ihn auf den Tisch. „Komm, steh auf, ich bring dich ins Bett.“ Er zieht mich von der Couch, bringt mich in sein Schlafzimmer und dirigiert mich sanft aufs Bett. „Mach ein bisschen die Augen zu. Das tut dir sicher gut. Wenn du was brauchst, ich bin im Wohnzimmer.“

Ich lege mich auf die Seite. Die Schmerzen in meinem Steißbein sind zu groß. Kater Philip kommt ins Zimmer und leistet mir Gesellschaft, indem er sich in meinen Kniekehlen zusammenrollt. Meine Gedanken werden klarer. Seltsam klar. Ich sehe mich, wie ich auf der Balkonbrüstung stehe, der warme Sommerwind weht mir durch die Haare. Unter mir, auf der Straße, fahren Autos, Passanten in kurzer Kleidung genießen den angenehmen Abend und schlendern, statt wie sonst in einer Großstadt wie dieser hastig zu eilen. Über mir, am Himmel, kreisen die Vögel. Ob ich auch so fliegen kann? Klar kann ich! Arme ausbreiten und dann...

„JONATHAN!!!“

Irgendwas reißt mich nach hinten und ich lande unsanft auf dem Hintern.

Hat Dani mir das Leben gerettet? Er muss sich furchtbar erschrocken haben... Ich kann nicht einfach weglaufen!

Plötzlich bin ich furchtbar erschöpft und mir ist kalt. Ich verschränke meine Arme fest vor der Brust, vergrabe meinen Kopf darin. Einsamkeit macht sich in mir breit; ich sehne mich nach meinem eigenen Bett, meinen beiden Frettchen, starken Armen, die mich festhalten und beschützen.

Nebenan im Wohnzimmer höre ich Dani reden. Mit wem er wohl spricht? Ich hoffe, er holt keinen Arzt. So was könnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. So einen Psychospinner, der mir noch mehr Medikamente verpasst, damit ich mich nicht vom Balkon stürzen will? Nein danke. Und meinem Rücken ist doch auch nichts passiert. Lediglich mein Steißbein ist angeschlagen, aber das wird sich in ein paar Tagen wieder beruhigt haben.

Die Tür geht auf und mein Freund kommt in den Raum. Ich merke, wie er sich zu mir aufs Bett setzt. Seine große, warme Hand legt sich auf meine Schulter und streichelt sie sanft.

„Willst du reden?“, fragt er fast flüsternd.

Mein Kopf kommt wieder aus meinen Armen zum Vorschein; mit großen Augen sehe ich Dani an.

„Ich weiß nicht“, antworte ich wahrheitsgemäß und klinge beinahe so leise wie Dani. „Es tut mir Leid...“

„Ich weiß.“ Seine Hand gleitet über meinen Arm. „Mach das bitte nie wieder...“

In dieser Nacht hält er mich fester als je zuvor.

Kaffee

Ich hab verschlafen. Als ich die Augen öffne, weiß ich genau, was die großen schwarzen Ziffern auf meinem Radiowecker mir sagen werden: „Jonathan, du wirst zu spät kommen, wenn du nicht sofort aufstehst!“

Hastig schlage ich die Bettdecke zur Seite und eile ins Bad. Für eine lange Dusche ist jetzt keine Zeit; nur kurz springe ich unter lauwarmes Wasser, um wach zu werden und den Schweiß der letzten Nacht von der Haut zu waschen. Auch meine Haare style ich nicht. Die Kunden werden es überleben, wenn meine Haare mal langweilig nach unten hängen, statt mit Gel, Schaumfestiger und Haarspray zu einer Frisur geformt zu sein.

Ich springe in meine schwarze Anzughose, knöpfe flink die Knöpfe meines Oberhemds zu, stopfe es in die Hose. Wo ist bloß meine rote Krawatte? Da ist die blaue, die schwarze, die cremefarbene... ah, da über dem Stuhl!

Irgendwie will mir der Krawattenknoten nicht gelingen. Das breite Ende ist zu lang, der Knoten ist schief... Aber ich hab jetzt keine Zeit. Das Ding kann ich auch noch im Auto zurechtrücken. Schnell das Jackett drüber, die Aktentasche gegriffen, für die Frettchen ein bisschen Futter und Wasser in die Näpfe. Im Vorbeigehen greife ich meine Pillendose mit der Chemieration für diesen Morgen. Und wo hab ich die vermaledeiten Autoschlüssel wieder hingelegt? Egal, zum Suchen hab ich jetzt keine Zeit. Dann muss es eben heute die U-Bahn tun. Mit der Aktentasche unter dem Arm renne ich zur U-Bahnstation, die Treppe hinunter. Glück gehabt! Die Bahn rollt gerade ein. Außer Atem quetsche ich mich hinein, dränge meinen Arm an verschwitzten Körpern vorbei, um eine der Haltestangen zu fassen zu kriegen. Vielleicht hätte ich doch besser die Autoschlüssel gesucht... Eine beleibte Frau steht mit dem Absatz ihres Stöckelflippflops direkt auf meinem schwarzen Lederdesignerschuh, ein kleiner Junge presst seinen viel zu großen Schulranzen in meine Hüfte, und der Mann vor mir verströmt einen penetranten Schweißgeruch. Ich hätte im Bett bleiben sollen!

Aus der Bahn herauszukommen erweist sich als noch schwieriger, als in die Bahn hineinzukommen. Natürlich bin ich heute der einzige, der hier aussteigen muss, und die anderen Fahrgäste scheinen auf ihren Plätzen festgeklebt zu sein. Nur mit Mühe kann ich mich durch die Menschen winden, bis endlich ein kühler Lufthauch an meine Nase dringt. Jetzt noch das Bein und dann... draußen!

Einen Augenblick brauche ich, um mich zu erholen, streiche mein Jackett glatt und muss mich dann orientieren, in welche Richtung ich überhaupt laufen muss. Dieses Gedränge hat Chaos in meinem Hirn verursacht. Ein schneller Blick auf die Uhr verrät mir: In 10 Minuten muss ich auf der Arbeit sein. Und ich hab noch nicht mal einen Kaffee gehabt! Aber den brauche ich, gerade heute, um richtig wach zu werden. Vielleicht schaffe ich es noch kurz in den Coffeeshop, um mir wenigstens dieses kleine Frühstück zu gönnen? Egal, ich brauch jetzt einen Kaffee, und wenn ich zu spät komme!

Der kleine Coffeeshop ist nicht sehr voll. Nur zwei Leute stehen vor mir. Ich ziehe fünf Euro aus meinem Portmonee, schiebe sie auf die Glastheke.

„Kaffee, groß, stark, schwarz, ohne Milch und Zucker bitte. Und am besten schnell, ich hab’s ziemlich eilig.“

Nervös schaue ich aus dem Fenster. Noch 5 Minuten. Das wird knapp.

„Deine Krawatte ist schief.“

„Was?“

Verdutzt sehe ich den Barista hinter der Theke an. Erst jetzt merke ich, dass er männlich ist. Unter der farblich zum Poloshirt passenden Schirmmütze mit Firmenlogo strahlen mich zwei blaue Augen an, die schmalen Lippen sind zu einem verschmitzten Lächeln geformt. Eigentlich sollte ich empört sein. Da kommt so ein blöder Kaffeekocher daher, quatscht mich einfach dumm an, anstatt mir meinen Kaffee zu bringen und duzt mich auch noch? Aber diese Augen in Kombination mit dem süßesten Lächeln der Welt nehmen mir den Wind aus den Segeln. Bisher kenn ich bloß einen Menschen auf diesem Planeten, der so süß gucken kann... mein Blick wandert hinunter zu dem kleinen Namensschild an seiner Brust...

„Oliver?“

„Das hat aber lange gedauert!“ Oliver zwinkert mir zu. Ich merke, wie ich rot werde, zupfe nervös meine Krawatte zurecht. Was ist denn mit mir los?

„Sorry, ist nicht ganz mein Tag, ich hab verschlafen“, stammle ich eine Entschuldigung. Warum muss ich mich eigentlich rechtfertigen? Ich hab Oliver eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.

„So so, eine lange Nacht gehabt?“

Wenn dieses verschmitzte Grinsen mich nicht so furchtbar anmachen würde, hätte ich ihm sicher schon längst eine geklebt. Was erlaubt er sich da eigentlich?

„Kann man sagen, ich hab meinen Freund zu einem Versöhnungsabend eingeladen, weil ich Samstag Mist gebaut hab“, höre ich mich sagen. Was? Das geht Oliver doch überhaupt nichts an! Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Und Montag ist einfach nicht mein Tag.“

„Na dann hier erstmal dein Kaffe. Vielleicht wirst du dann ja wach.“ Er stellt mir den großen Pappbecher vor die Nase.

„Wie lange arbeitest du?“, will ich wissen, als ich das Wechselgeld in mein Portmonee räume.

„Heute bis zwei. Und du?“

„Bis sechs.“ Die Brieftasche wandert in meine Gesäßtasche. „Und dann darf ich mich wieder mit der Sardinendose nach Hause begeben.“

„Sardinendose?“

„Mit der U-Bahn.“

„Ach so!“ Oliver lacht. Ein anderes Lachen als Dani.

„Weißt du was, ich hab da eine Idee.“ Mit der rechten Hand öffne ich meine Aktentasche und hole einen Kugelschreiber hervor. Dann nehme ich mir eine Serviette von dem Stapel, der auf der Theke liegt. „Ich lass dir mal meine Nummer da.“ Schön ordentlich male ich meine Handynummer auf das weiche Papier. „Und wenn du mal Lust hast, was zu unternehmen, rufst du einfach an.“ Was mach ich denn da? Ich kann ihm doch nicht einfach meine Nummer geben! Ich hab doch einen Freund! Hallo, Jonathan, alles in Ordnung mit dir? Scheinbar hab ich wirklich einen psychischen Knacks bekommen am Samstag und hätte mich mal besser von Dani in die Klinik fahren lassen sollen.

Olivers Gesichtsausdruck verändert sich von einem verschmitzten Grinsen zu einem schüchternen Lächeln.

„Danke“, bedankt er sich artig und steckt die Serviette in seine Hosentasche. „Hat dein Freund nichts dagegen?“

„Der muss doch nicht alles wissen, was ich mache“, gebe ich zurück. Jetzt reicht’s aber! Ich muss hier raus, bevor ich noch mehr Unsinn zusammenrede. „Und jetzt muss ich los. Vielleicht bis bald, ja? Tschüs!“ Schnell drehe ich mich um und will gehen, doch Olivers weiche Stimme hält mich zurück: „Ähm, dein Kaffee!“

Peinlich... Hastig greife ich den Becher und stürme ohne ein weiteres Wort aus dem Laden.

Oliver und ich lernten uns vor ein paar Jahren im Internet kennen. Außerdem ist er kein Unbekannter in der Berliner Schwulenszene, weswegen wir uns auch da schon das ein oder andere Mal über den Weg liefen. Viel hatten wir nicht miteinander zutun. Er hatte für schnellen Sex nichts übrig, während ich auf der Suche nach genau dem war. Aber schon damals fand ich sein freches, verschmitztes Grinsen und seine strahlend blauen Augen wahnsinnig anziehend. Fast schon zu schade für nur eine Nacht.

Durstig?

Ich beeile mich, nach der Arbeit nach Hause zu kommen. Zu Abend esse ich einen Salat, den ich in einer Fertigpackung im Supermarkt gekauft habe. Das Dressing aus dem kleinen Plastiktütchen schmeckt künstlich, aber es ist immer noch besser, als nichts im Magen zu haben.

Dann schnalle ich meinen Frettchen ihre Leinen um und mache mich mit ihnen auf den Weg zum Tiergarten. Lange laufen wir nicht herum. Mein Kopf ist zu voll und ich bin zu müde, um große Spaziergänge zu machen. Ich setze mich auf eine Wiese, lasse mich auf den Rücken fallen und schaue in den Himmel. Mein Steißbein tut nur noch wenig weh, ich kann ganz gut auf dem nicht ganz weichen Boden liegen. Ich platziere mein Handy auf meinem Bauch. Wenn Oliver anruft, will ich es auf jeden Fall mitbekommen.

Wenn Oliver anruft? Wenn Dani anruft, meine ich natürlich.

Es ist keine Wolke in Sicht. Schon seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Die Stadt braucht ein Gewitter, sonst werden bald alle Grünflächen in Flammen stehen. Vielleicht brauche ich auch so was, ein Gewitter. Ein großes Donnerwetter, das meiner Beziehung neues Leben spendet und mich einmal richtig durchrüttelt. Aber es streift nur ein seichter Wind über meinen Körper, der Oliver in meine Gedanken treibt und das zerstörerische Feuer nur noch mehr schürt.

Warum mache ich mir überhaupt so einen Kopf? Ein hübscher Kerl wie Oliver wird nicht solo sein. Außerdem bin ich auch nicht solo. Und somit schließen sich jegliche erotischen Abenteuer aus. Was sollte auch Oliver von mir wollen? Er wollte früher nicht mit mir ins Bett, das wird sich jetzt nicht geändert haben. Will ich ihn überhaupt ins Bett? Wofür hab ich ihm meine Nummer gegeben?

Ich brauche wirklich langsam Urlaub, das Durcheinander in meinem Schädel bereitet mir Kopfschmerzen. Aber dann würde ich wieder weglaufen. Ich muss endlich anfangen, mich meinen Problemen zu stellen! Und vor allem: Ich darf Oliver nicht zu einem Problem werden lassen. Doch wieso sollte er auch? Bisher ist ja nichts passiert. Nicht mal angerufen hat er. Wir haben uns ganz harmlos nett unterhalten, und er hat mir einen Kaffee verkauft. Allerdings hat er so anziehend ausgesehen, mit der Schirmmütze, dem Poloshirt und der Schürze...

Ich seufze tief, schließe die Augen. Meine beiden Frettchen spielen friedlich auf der Wiese, ich spüre, wie sie an ihren Leinen zerren. Natürlich würden sie gerne frei herumlaufen, doch dann würde ich sie nicht mehr eingefangen bekommen. Ob die beiden auch solche Sorgen haben? Nein... Sicher nicht. Die müssen nur fressen, toben und schlafen, und das jeden Tag. Nicht mal um eine Beziehung müssen sie sich Gedanken machen oder gar um Kinder. Dafür hat der Tierarzt schon vor zwei Jahren mit einem kleinen Schnitt gesorgt.

Ob ich Dani anrufe? Besser nicht. Wie sollte ich mit ihm über meine Begegnung mit Oliver reden? Aber ich bin mir sicher, dass er längst gemerkt hat, dass etwas mit mir nicht stimmt. Dass ich unZlücklich bin. Und ich kann nicht mal genau sagen, warum. Mein Freund ist lieb zu mir, wir haben guten Sex, er sieht toll aus und wir können gut miteinander reden. Vielleicht bin ich noch nicht bereit für eine Beziehung... Vielleicht werde ich nie bereit sein?

So geht das nicht weiter! Ich brauche jetzt jemanden zum reden, und das schnell!

Einen Anruf und eine halbe Stunde später sitzt André neben mir. Er hat eine Decke mitgebracht, die wir auf der Wiese ausgebreitet und es uns darauf bequem gemacht haben, und eine Flasche stilles, kaltes Wasser. Geduldig hört er sich an, was ich zu sagen habe. Von meinen Gefühlen Dani gegenüber, von meiner Begegnung mit Oli heute Morgen – und von meiner dummen Aktion bei Dani auf dem Balkon.

„Ich weiß.“ André legt seine Hand auf mein Knie. „Daniel hat mich angerufen, nachdem er dich ins Bett gebracht hat. Er hat gefragt, was er machen soll, ob er einen Arzt rufen oder dich ins Krankenhaus bringen soll. Und ich habe ihm geraten, sich zu dir zu legen und dich in den Arm zu nehmen. Ich weiß, dass du das ab und an gut gebrauchen kannst.“

Er hat es mal wieder auf den Punkt gebracht. Und dabei bin ich mit meinen Ausführungen noch gar nicht am Ende.

„Ich hab doch gemerkt, dass dir was fehlt. Wir haben nichts mehr unternommen, du hast nur noch auf Daniel geklebt, und der Loki, den ich kenne, findet Klettenbeziehungen furchtbar ätzend.“

„Hast du mir deswegen den Flyer von der RAZZMATAZZ-Eröffnungsparty vorbeigebracht?“ Nicht nur er durchschaut mich, auch er kann manchmal ziemlich durchsichtig sein.

„Ja“, antwortet er. „Damit du mal wieder raus kommst. Aber lange warst du nicht da, Alex und ich haben dich gesucht, wo warst du?“

„Ich hab Nummer 437 über den Haufen gerannt, und danach war mir nicht mehr nach Party...“

„Ach Scheiße...“

André nimmt mich in den Arm, drückt mich fest an sich. Ich merke, wie dir Tränen aufsteigen, ein Kloß bildet sich in meinem Hals, der immer dicker wird. Ich kneife die Augen zusammen. Nicht heulen, nein, nicht jetzt, nicht hier, und schon gar nicht wegen Nummer 437!

Doch ich kann mich nicht wehren. Die Tränen kommen einfach, unaufhaltsam. Es tut weh, es tut so furchtbar weh, warum kann mir keiner diesen Schmerz nehmen? Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, warum ist gerade mir so was passiert? Ich will keine Pillen mehr schlucken, ich will nicht mehr zum Arzt müssen, um meine Blutwerte testen zu lassen, ich will nicht mehr Angst haben müssen, dass ich jemanden anstecken könnte. Und vor allem will ich ihn nie wieder sehen!

Es war ein Donnerstag, als ich André anrief.

„Wir müssen reden“, sagte ich, und er war verwundert darüber. Außer für unsere gemeinsamen Clubtouren hatten wir uns selten mal unter der Woche getroffen. Aber ich wusste, wenn es jemanden in meinem Bekanntenkreis gab, der mir zuhören und mich verstehen würde, dann André.

Wir trafen uns in einem Café. Draußen war es eiskalter Februar, und ich war froh, als ich endlich einen großen, heißen Kaffee vor mir stehen hatte.

„Was ist denn los?“, fragte André. Er setzte seine Brille ab, die er nur selten trug, legte sie vor sich auf den Tisch und nahm meine Hände in seine, sah mir besorgt in die Augen. So vertraut hatten wir noch nie beieinander gesessen.

„Ich... war doch krank“, hörte ich mich stammeln. Ich war gar nicht richtig bei mir, schwebte irgendwo im Raum und sah auf mich selbst herab. Mein Hals war wie zugeschnürt, das Schlucken fiel mir schwer. Und ich hatte alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich wollte nicht weinen. Nicht in der Öffentlichkeit, mit all den Leuten um uns herum, und auch nicht vor André. Ich war nicht gut im Gefühle zeigen, ließ nicht gern Leute an mich heran. Was in mir vorging war meine Sache, da hatte sich keiner einzumischen!

Aber Andrés Blick traf mich mitten ins Herz. Tagelang hatte ich überlegt, wie ich es ihm sagen würde. Hatte mir meinen Text überlegt, mir ausgemalt, wie er reagieren würde. Doch als ich ihm gegenübersaß, war das alles nicht mehr wichtig. Ich schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten, doch wie von selbst kullerten die ersten Tropfen über meine Wangen.

„Hey“, sagte André irgendwo weit entfernt und legte eine Hand auf mein Gesicht. Es fühlte sich dumpf an, unwirklich, aber die Wärme tat gut.

‚Halt mich fest!’, flehte ich in Gedanken. ‚Halt mich fest, sonst breche ich zusammen!’

„Ich bin positiv“, heulte ich, dann sank ich in mich zusammen, schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte, vergrub ihn tief in meinen Armen und heulte.

„Ach Scheiße...“ André setzte sich neben mich, legte den Arm um mich, drückte mich fest an sich und seinen Kopf an meine Schulter. „Wir schaffen das, ja?“, hörte ich dumpf, und Tränen mischten sich unter seine Stimme.

So langsam beruhige ich mich wieder. André streichelt meinen Rücken, reicht mir ein Taschentuch. Was der immer alles mit sich herumschleppt...

„Geht’s wieder?“, will er wissen, ich nicke, schnäuze mir die Nase, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und trinke einen großen Schluck Wasser. Mäxchen und Moritz tollen wild miteinander herum und haben sich völlig in ihren Leinen verheddert. Aber darum kümmere ich mich nachher.

„Danke, dass du gekommen bist...“

André lacht.

„Dafür musst du dich doch nicht bedanken. Kennst mich doch!“

Ja, ich kenne ihn. Seit er weiß, dass ich HIV positiv bin, muss ich nur mit dem Finger schnippen und er steht auf der Matte. Oder eben im Tiergarten.

„Ich weiß nicht, ob das mit Dani wirklich was wird“, seufze ich und lehne mich an André an. „Es ist schön mit ihm... Aber es fühlt sich nicht richtig an. Kann ich nicht erklären...“

„Rede mit ihm darüber“, schlägt André vor. „Eine Beziehung kann nur funktionieren, wenn man auch miteinander redet. Alex und ich haben auch unsere Probleme, aber wir sprechen darüber, und dann klärt sich oft alles wie von allein.“

Bei André hört sich das alles immer so leicht an. Warum fällt es mir nur so schwer, das umzusetzen? Aber ich werde es wohl probieren müssen. Ich will nicht länger so unglücklich sein, ich will eine glückliche Beziehung führen, in der sich beide Partner wohl fühlen.

Doch erstmal hab ich jetzt irgendwie Lust auf einen Cocktail.

„Ich hätte Lust auf einen Cocktail.“ Ich setze mich auf, ziehe das Frettchenknäuel zu mir heran und löse meine Tierchen aus ihren Fesseln. „Kommst du mit?“

„Tut mir Leid, aber Alex und ich sind noch zum Spieleabend eingeladen, mit Cocktail wird das heute nichts.“

Na gut, dann eben nicht...

Wir sammeln unsere Sachen zusammen und machen uns gemeinsam auf den Heimweg. André begleitet mich den ganzen Weg über, bis vor die Haustür. Dort nimmt er mich in den Arm, drückt mir einen Kuss auf die Stirn und klopft mir dann gegen die Schulter.

„Kopf hoch, ihr schafft das schon“, lächelt er. „Ruf mich an, wenn ihr geredet habt. Lass dich nicht unterkriegen!“

Als er aus meinem Blickfeld verschwunden ist, gehe ich ins Haus, setze mich im Flur auf die Treppe und nehme meinen weißen Moritz auf den Schoß. Ich bin erschöpft, habe keine Lust, all die Stufen bis zu meiner Wohnung hinaufzusteigen. Jetzt was schönes, kaltes zu trinken und dazu leckeres, frisches Bruschetta, das wär toll... Ob ich Dani anrufen und zum Essen einladen soll?

Gerade lehne ich mich zurück und lege mich quer über die Treppe, als es plötzlich in meiner Hosen-tasche vibriert. Was ist denn jetzt los? Hat André irgendwas vergessen?

Nein, die Nummer, die mir angezeigt wird, kenne ich gar nicht.

„Jonathan Möller, hallo?“

Stille am anderen Ende der Leitung. Will mich da einer verarschen?

„Hallo, wer ist denn da?“

Immer noch keine Antwort. Einmal frage ich noch: „Hallo?“

Wieder höre ich nur ein leises Rauschen. Und dann eine mir unbekannte, männliche Stimme: „Hallo Jonathan.“ Ach, da ist ja doch jemand! „Durstig?“

Interessant. Herr Unbekannt kann Gedanken lesen...

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