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Hürdenlauf

6. Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

 

Ich erreiche André nicht. Ich weiß nicht, wie oft ich es jetzt versucht habe, aber er geht einfach nicht ans Telefon. Hat er da einen Filter eingebaut, der meine Anrufe nicht zu ihm durchdringen lässt? Irgendein krankes Programm zwischengeschaltet? So einem Informatiker trau ich alles zu...

Dani sitzt in der Küche, auf der Arbeitsfläche neben dem Herd, und trinkt Cola. Wahrscheinlich macht er jetzt die ganze Flasche leer, und mir bleibt an kalten Getränken bloß noch Wasser aus der Leitung oder die Flasche Prosecco, die seit Monaten von irgendeiner Party übrig geblieben in meinem Kühlschrank steht.

Ich schmeiße das Mobilteil des Telefons aufs Sofa. Es federt zurück, knallt auf dem harten Laminat auf, die Batterieklappe springt ab und ein Akku schlittert über den Boden. Na großartig.

„Was war das?“, ruft Dani aus der Küche.

„Nichts“, brummele ich zurück. Ich hab keine Lust, die Teile aufzusammeln und wieder zusammenzusetzen. Es ruft ja eh keiner an. Und wenn André eifersüchtig ist, weil ich ihn nicht mehr alle 5 Minuten anrufe, weil ich Zeit für meinen Freund haben will, ist das verdammt noch mal sein Problem. Er hat sich schließlich auch sehr selten gemeldet, als er in Amerika war. Da hat sein Alex auch die allererste Geige gespielt!

„Ist noch Cola da?“, frage ich und will gerade den Kühlschrank öffnen, als Dani antwortet: „Nein, die ist alle.“

Ich verdrehe die Augen, schnaube, seufze, stütze mich gegen den Kühlschrank.

„Geh Cola holen“, sage ich, mit dem Kopf an den Kühlschrank gelehnt und dem Rücken zu Dani gewandt.

„Was?“

Ist der blöd oder was? Rede ich chinesisch?

„Geh Cola holen!“ Ich drehe mich um, sehe ihn finster an.

„Und wo?“

Samstagnacht nach 22 Uhr wird es doch wohl möglich sein, in Berlin einen Laden zu finden, in dem man noch Cola kaufen kann?

„Lass dir was einfallen, Tankstelle, im Laden einbrechen, was weiß ich. Hier, nimm den Schlüssel, kannst bei der Gelegenheit gleich den Wagen voll tanken.“

Ich werfe ihm den Autoschlüssel zu. Dani greift danach, verfehlt ihn; mit einem ekelhaften Klirren landet der Schlüssel auf dem Ceranfeld. Hoffentlich gibt das jetzt keine Macke...

„Sei vorsichtig beim Ausparken!“, brülle ich meinem Freund noch hinterher, doch der knallt schon mit der Tür. Ob er mich noch gehört hat?

Ich genieße die plötzliche Ruhe. Meine Frettchen scheinen zu schlafen und nicht, wie sonst für sie üblich, durch die Wohnung zu toben. Ein Glas Cola hätte mir jetzt gut getan. Hätte die Prozedur versüßt. So muss ich mit einem einfachen Glas Wasser vorlieb nehmen.

Ich setze mich ins Wohnzimmer auf die Couch. Eigentlich hätte ich schon längst meine Medikamente nehmen sollen. Aber auf die paar Stunden kommt es jetzt auch nicht an.

Ganz langsam drücke ich die Pillen aus der Verpackung auf den Tisch, schiebe sie noch ein paar Mal auf der gläsernen Tischplatte hin und her.

Ob ich diese Chemie jemals loswerde? Warum ist das tägliche Schlucken der Medikamente immer noch nicht zur Nebensächlichkeit für mich geworden?

Am Anfang fiel es mir schwer, zu akzeptieren, dass von den Pillen mein Leben, meine Gesundheit abhängt. Ich fing an, zu experimentieren, kombinierte meine Medikamente mit Alkohol. Wie viel geht? Wo ist meine Grenze? Die Folgen waren heftige Nebenwirkungen, Ausschläge, Durchfälle, Bauchschmerzen, Erbrechen, Benommenheit. Das brachte mich recht schnell zur Vernunft.

Ich fühle mich krank. Spüre, wie die Tabletten durch meine Speiseröhre wandern, in meinem Magen zersetzt werden, Substanzen sich in meinem Körper verteilen. Oder bilde ich mir das nur ein? Ein großer Schluck Wasser noch hinterher.

Der Länge nach lege ich mich aufs Sofa, schließe die Augen, versuche, ruhig zu atmen.

Irgendwann kommt Dani nach Hause. Schon wieder knallt er die Tür, diesmal von der anderen Seite aus, stapft durch die Wohnung, schmeißt mir meinen Autoschlüssel auf die Brust, stellt mit einem wütenden „Hier, deine Cola“ die Plastikflasche auf den Couchtisch. Ich beachte ihn gar nicht, halte weiter die Augen geschlossen und konzentriere mich auf meine Atmung. Jetzt, wo der Schlüssel auf meinem Brustkorb liegt, kommt es mir vor, als wäre es anstrengender, tief einzuatmen. Ein kleines Gewicht lastet auf meiner Brust und drückt mich nach unten.

Dani ist plötzlich still. Er läuft nicht mehr aufgebracht umher, steht einfach nur da. Ich höre ihn bloß keuchend atmen.

„Alles okay?“, fragt er leise und klingt dabei sehr, sehr zögerlich. Ich öffne bloß die Augen, drehe ihm den Kopf zu, sehe ihn an.

„Du hast deine Tabletten genommen?“, fragt er weiter. Ich antworte mit einem Blick auf die geöffneten Schachteln auf dem Tisch, die herumliegenden Blisterverpackungen und das fast leere Wasserglas.

„Alles okay?“ Die gleiche Frage, eine andere Betonung. Diesmal schwingt Besorgnis in seiner Stimme mit. Ich nicke schwach, setze mich auf. Der Autoschlüssel rutscht mir von der Brust, wird sanft vom Sofapolster aufgefangen.

„Komm, wir gehen ins Bett.“ Er reicht mir die Hand. Ich schlage sie aus, stehe allein auf, lasse mich von ihm in den Arm nehmen. Dani bringt mich ins Schlafzimmer, wo ich mich wortlos ausziehe und ins Bett lege. Er legt sich zu mir, kuschelt sich an mich, hält mich fest. Ich kann nichts sagen. Ich weiß nicht was und ich weiß nicht wie. Eine plötzliche Müdigkeit überkommt mich. Schlafen Viren eigentlich? Bestimmt nicht. Sind ja keine wirklichen Lebewesen. Die arbeiten, den ganzen Tag, die ganze Nacht, unaufhörlich in meinem Körper, in meinem Blut, in meinen Muskeln, in meinen Organen, in meinen Schleimhäuten, in meinen...

Sonja

Die Zeit vergeht schleppend. Meine Versuche, André zu erreichen, haben sich auf einen Anruf am Tag reduziert. Alltag ist eingekehrt in meine Beziehung. Dani ist oft bei mir. Am Wochenende: DVD-Abend vor dem Fernseher. Anrufen, ob ich mitkommen möchte, um feiern zu gehen, tut keiner mehr. Sie scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass ich jetzt einen Freund habe.

„Loki ist vergeben, er hat einen Partner und ist treu geworden, der geht nicht mehr aus.“

Das macht mich krank. Ich will wieder ausgehen! Aber Dani geht nicht gern tanzen. Er fühlt sich in dem Ambiente nicht wohl, und ich möchte ihn nicht zwingen, mitzukommen. Und allein gehen will ich schon gar nicht. So viele schöne Männer, und ich soll mich zurückhalten? Es ist traurig, aber ich weiß nicht, ob ich das durchhalten kann.

Der Film ist gerade zu Ende. Weiß auf schwarz läuft der Abspann über den Bildschirm.

„Morgen Abend kommt Sonja zum Essen“, sagt Dani und schaltet den Fernseher aus. „Sie hat jetzt Ferien und fährt für zwei Wochen zu ihrer Familie. Du bist doch auch da, oder? Ihr solltet euch endlich besser kennen lernen.“

Sonja ist Danis beste Freundin. Vor zwei Jahren zog sie von Bochum nach Berlin, um hier zu studieren. Eigentlich hab ich sie nie gemocht. Vielleicht hab ich mir auch nicht sonderlich Mühe gegeben. Die Gründe sind egal, jedenfalls war ich froh, wenn sie mir nicht über den Weg lief. Aber offenbar ist sie immer noch so gut mit Dani befreundet wie damals, als ich zum ersten Mal mit ihm zusammen war.

Ich überlege eine ganze Weile, bevor ich ihm antworte. Für das Beziehungsklima ist es sicher besser, wenn ich wenigstens ein bisschen versuche, mit ihr auszukommen.

Komisch, jetzt, wo er sie anspricht, fällt mir auf, dass meine beste Freundin Mandy sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gemeldet hat...

„Ja, ich denke, das ist schon okay“, antworte ich schließlich. „Solange ich nicht mit der ins Bett muss.“

Dani knufft mich in die Seite, ich grinse ihn breit an.

„Sei nett zu ihr, sonst…“

„Sonst was?“, will ich wissen.

„Sonst gibt es Sexentzug!“, lacht er, aber ich kann ihn nicht ernst nehmen. So frech, wie er mich anschaut, ist das gar nicht möglich.

„Ach, das hältst du doch selbst nicht aus.“ Ich küsse ihn erst auf die Wange, dann auf den Mund. „Dafür bist du viel zu scharf auf mich.“

Mit diesen Worten erhebe ich mich vom Sofa, drehe ihm den Rücken zu, ziehe langsam mein T-Shirt aus und lasse es zu Boden fallen. Über meine Schulter gucke ich nach hinten, Dani direkt in die Augen. Fordernd hebe ich die Augenbrauen.

Natürlich kann er mir nicht widerstehen.

Sonja ist ein junges Mädchen von 22 Jahren. Sie hat lange, braune Haare und große, runde, dunkle Augen. Scheiß sympathisch. Und ich hatte gehofft, sie immer noch nicht zu mögen... Aber sie ist nett, fröhlich und hat ein besonderes Wesen, das sie gar nicht unangenehm erscheinen lassen kann. Dann muss ich mich eben anstrengen, wenn ich sie blöd finden will.

Zusammen mit Dani bereite ich das Abendessen vor. Sonja sitzt auf der Fensterbank, lässt die Beine herunterhängen und berichtet von ihrer letzten Projektarbeit.

„Wir hatten Probleme mit den Unterwasseraufnahmen, weil das Wasser so trüb war. Jetzt haben wir im Schwimmbad gedreht, aber es sieht noch nicht ganz echt aus.“

Sie studiert irgendetwas mit Film oder so, Dani hat mir davon erzählt. Noch ein Jahr hat sie wohl vor sich, dann wird sie ihren Bachelor haben.

Um den Hals trägt sie ein Lederbändchen, an dem ein kleiner, silberner Anhänger hängt. Während sie mich beim Gemüse putzen beobachtet, spielt sie an dieser Kette herum, wirkt fast ein bisschen nervös.

„Ich deck den Tisch.“

Sie rutscht von der Fensterbank und holt drei Teller aus dem Schrank.

„Darf ich mal?“ Sie schiebt mich mit der Hüfte zur Seite, zieht eine Schublade aus, holt für drei Personen Besteck heraus und schließt die Lade wieder. Hilfsbereit deckt sie den Tisch im Wohnzimmer ein, dann gesellt sie sich wieder zu uns in die Küche. Sie trägt Kater Philip auf dem Arm und drückt das Gesicht in sein weiches weißes Fell mit den dunklen Flecken.

„Ich habe das Gefühl, zwei Wochen werden viel zu kurz sein für das, was ich alles in Bochum vorhabe“, seufzt sie und lässt sich auf einen Küchenstuhl sinken. „Ich will alle meine Freunde treffen, und meine Familie, und ich möchte Zeit mit meinem Neffen verbringen… Außerdem ist 3 Tage hintereinander Kemnader See in Flammen, das will ich auch nicht verpassen.“

„Was ist denn das?“ Frage ich das jetzt, weil es mich wirklich interessiert, oder weil ich nett zu ihr sein will?

„Kemnader Seefest“, antwortet sie und lächelt mich an. „Da gibt es Musik und Essen und vor allem jeden Abend ein großes Feuerwerk!“

Ihre Augen leuchten vor Begeisterung. Nur der arme Philip scheint ihre Euphorie nicht zu teilen. Er versucht, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, scheitert aber kläglich. Ein wenig unglücklich hängt er in ihren Armen, sein dunkler Schwanz schwingt hin und her.

„Feuerwerk?“ Dani dreht sich zu seiner Freundin um. Die nickt und lässt den Kater auf den Boden springen. Das Tier tigert um ihre Beine herum und läuft dann aus der Küche. „Feuerwerk find ich toll.“

„Ja, ist es auch“, erzählt sie, und hat dabei wieder diesen Glanz in den Augen. „Da kann man sich auf die Wiese setzen und sich anschauen, wie der Himmel in Flammen steht!“

„Ich denke, der See steht in Flammen?“, frage ich. Vielleicht eine Spur zu ironisch, Dani kichert und Sonja wirft mir einen Blick zu, der mir sagt: „Nimm mich ernst, sonst…!“

„Das sieht so aus, als würde er in Flammen stehen, weil sich das Feuerwerk im Wasser spiegelt.“

Ich glaube, sie ist beleidigt. Ihre Augen glänzen nicht mehr, und auch die Begeisterung ist aus ihrer Stimme verschwunden. Dani schaut mich an, zeigt mit einer Kopfbewegung auf die Schale mit Erdbeeren, die neben der Spüle steht, da die Früchte noch abgewaschen werden müssen. Ich nicke, nehme eine Beere heraus, wasche sie schnell ab und halte sie Sonja unter die Nase.

„Kleine Vorspeise gefällig?“ Sie erhält mein charmantestes Lächeln, und fast fühle ich mich, als würde ich mit ihr flirten, weil ich ihr zu tief in die Augen sehe. Aber da sind Frauen und Männer sich eben doch ähnlich: Man muss sie einwickeln, um sie zu besänftigen.

Bei Sonja wirkt es jedenfalls genauso gut wie bei meinem Dani.

„Schade, dass ihr nicht mitkommen könnt. Das würde euch sicher gefallen. So ein Feuerwerk ist unendlich romantisch, das wäre doch was für euch zwei.“

Sie grinst mich mit einem so wissenden Blick an, dass ich plötzlich das Gefühl habe, sie wisse alles über mich und meine Beziehung mit Dani.

Mein Freund sagt über sie, dass sie in die Seelen anderer Menschen schauen kann. Ich will nicht, dass sie in meine Seele schaut.

Das Abendessen verläuft harmonisch. Wir sitzen noch lange zusammen, reden, hören Musik. Dann fahre ich Sonja nach Hause, setze Dani bei sich ab und begebe mich selbst auf den Heimweg. Sicher haben meine Frettchen schon Sehnsucht nach mir.

Mäxchen und Moritz haben sich auf meinem Bett zusammengerollt und schlafen eng aneinandergekuschelt. Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und lege mich zu meinen Tierchen. Mein Bett ist groß genug für uns drei, und meine Decke, auf der sie mitten drauf liegen, brauche ich bei diesen Temperaturen sowieso nicht.

Ich kann nicht schlafen. Meine Zimmertür steht offen, vom Bett aus kann ich in den Nebenraum sehen. Erst war es Andrés Arbeitszimmer, nach meinem Einzug wurde es sein Schlaf- und Arbeitszimmer, jetzt ist es mein Wohnzimmer. Früher haben wir oft meine Tür aufgelassen, wenn ich nicht schlafen konnte. Dann habe ich André beim Schlafen zugesehen oder dabei, wie er am PC an neuen Programmen bastelte.

Jetzt sehe ich bloß meine Couch, den Tisch und ein Stück vom Fernseher. Und still ist es. Nur die Küchenuhr tickt gleichmäßig.

Habe ich meine Medikamente genommen? Ich bin nicht sicher… Wenn ich meine Medikamente nicht regelmäßig nehme, sacken meine Werte ab, dann wird mein Körper schwächer, dann nimmt das Virus überhand, dann können mich alle um mich herum schwirrenden Bakterien und Viren angreifen, dann werde ich krank, kränker, schwächer, dünner, bis ich irgendwann...

Ich setzte mich auf. Mein Herz rast, meine Hände zittern. Habe ich meine Medikamente genommen?!

Panisch springe ich aus dem Bett. Suche meine Tabletten. Nachtkästchen? Nein. Schreibtisch? Nein. Irgendwo im Wohnzimmer? Nein. Küche?

Jede Schranktür, jede Schublade reiße ich auf. Wo sind meine verdammten Tabletten! Vielleicht im Auto?

Ich greife meinen Autoschlüssel, der neben der Wohnungstür auf dem Schuhschrank liegt und laufe nur in schwarzer Unterwäsche raus aus dem Haus, 100 Meter die Straße hinunter, bis zu meinem Auto. Zweimal fällt mir der Schlüssel herunter, bis ich endlich den kleinen Knopf gedrückt bekomme, der meinen Wagen entriegelt.

Im Kofferraum? Nein. In der Tasche auf dem Rücksitz? Nein. Unter den Sitzen? Nein. Im Handschuhfach? Taschentücher, Kondome, Parkscheibe, Eiskratzer – da!

Ich lasse mich auf den Beifahrersitz sinken, lehne mich zurück, hole tief Luft. Fest umklammere ich die drei Pappschachteln mit den lebenswichtigen Pillen, drücke sie an meine Brust. Meine Hände zittern, mein Puls ist auf dem Maximum, eigentlich zittere ich am ganzen Körper. Es fällt mir schwer, aufzustehen, aus dem Wagen auszusteigen und ihn abzuschließen.

Als ich Dani anrufe, sagt er, dass ich die Medikamente pünktlich um zehn genommen habe, nach dem Essen. Es ist also alles in Ordnung.

Ich habe ihn aus dem Bett geholt und es tut mir Leid. Er hört, dass ich heule und macht sich Sorgen, aber ich will nicht, dass er vorbeikommt. Ich lege auf, rolle mich auf meiner Matratze zusammen, nehme mein weißes Frettchen Moritz in den Arm, trockne meine Tränen in seinem Fell.

„Ich hab so Angst, Moritz“, schluchze ich, schmuse mich nah an den kleinen Kerl. „Ich will nicht sterben…“

Obwohl es furchtbar warm im Zimmer ist, friere ich. Ich sehne mich nach André oder Dani, nach jemandem, der mich in den Arm nimmt, mich tröstet, mir das Gefühl gibt, nicht allein zu sein.

Aber ich habe nur zwei Frettchen.

Feuerwerk

Es knallt, bunte Funken fallen wie ein goldener Regen vom Himmel. Mit großen, leuchtenden Augen steht Sonja da, blickt gebannt nach oben. Ihren Kopf hat sie an Danis Schulter gelehnt, sein Kopf liegt auf ihrem auf. Fast bin ich eifersüchtig, als ich die Vertrautheit zwischen den beiden sehe. Ich nehme seine Hand, doch er scheint mich gar nicht zu bemerken. Er und seine Freundin sind in ihrer eigenen Welt, zu der ich keinen Zutritt habe.

Warum habe ich mich überhaupt dazu überreden lassen, hierher zu kommen?

„Das ist doch praktisch, wir machen mal was Außergewöhnliches zusammen, und Sonja spart sich das Zugticket, wenn wir sie mit dem Auto mit nach Berlin nehmen“, hat Dani gesagt. Und ich konnte diesem Dackelblick nicht widerstehen.

Jetzt stehe ich hier, irgendwo im Ruhrpott an einem Staugewässer, und starre den Himmel an. Das Feuerwerk gefällt mir auch, aber es zieht mich nicht so sehr in seinen Bann, wie es das bei meinen Begleitern tut.

Sonja sieht aus wie ein kleines Mädchen, süß. In ihren großen, dunklen Augen spiegeln sich rote und grüne, silberne und goldene Punkte. Dani legt seinen Arm um sie und hält sie fest.

Enttäuscht lasse ich seine Hand los, gehe ein paar Schritte den See entlang und setze mich auf eine Mauer. Eigentlich sollte das ein hoffnungslos romantischer Augenblick sein: Die Nacht, der See, das Feuerwerk, der wundervollste Mann der Welt an meiner Seite. Aber es ist nicht schön. Nicht einmal in Ordnung. Er ist mit seiner besten Freundin in diesem explodierenden Funkenmeer versunken, und ich hocke weit weg von ihnen da und frage mich, wie wohl so ein Pyrotechniker die Farben an den Nachthimmel zaubert. Ob man das studieren kann, Pyrotechnik? Oder ist das ein Ausbildungsberuf?

Das Spektakel spiegelt sich im See wider, es knallt, knistert. Wie Blitze bei einem Gewitter erhellen die bunten Explosionen die Nacht. Dann wird es still, dunkel, die Menschen applaudieren. Nur ich nicht. Mir ist nicht nach Jubel zumute.

„Schau mal, da ist er!“ Ich drehe mich nach der vertrauten, weiblichen Stimme um. Dani und Sonja kommen mit leuchtenden Augen auf mich zu, Dani umarmt mich von hinten und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Was machst du denn hier, so alleine?“, fragt er. „Das war ein tolles Feuerwerk, nicht?“

„Es war großartig!“, schwärmt Sonja und setzt sich neben mich. „Und total romantisch. Fehlt eigentlich nur noch der richtige Mann.“

Den richtigen Mann hat sie ja bei sich gehabt. Meinen richtigen Mann.

„Ja, war ganz nett“, murmele ich.

„Was ist denn los, hat’s dir nicht gefallen?“, will Dani wissen.

Ich kann ihm nicht die Wahrheit sagen, das bringe ich nicht übers Herz.

„Ich bin kein Romantiker“, sage ich und stehe auf. „Aber ich liebe dich.“ Er bekommt einen Kuss auf den Mund. „Kommt, lasst uns fahren. Ich will vor dem Frühstück wieder zu Hause sein.“

Es läuft leise Musik. Sonja hat extra für diesen Ausflug eine CD mit mp3-Dateien zusammengestellt. Für mich ein wenig zu Rock und Pop lastig, ich stehe eher auf elektronische Musik. Aber Dani ist für ihren Mix aus Red Hot Chili Peppers und den aktuellen Top 100 eher zu begeistern gewesen als für meine Disco-Mischung, deshalb legten wir ihre Platte ein. Ich überlege, die Musik zu wechseln. Außer mir hört sowieso keiner zu. Dani sitzt neben mir, hat die Lehne des Beifahrersitzes nach hinten gestellt und schläft, Sonja hat ihre Jacke zusammengelegt, wie ein Kissen zwischen Fenster und Kopf geklemmt, und schlummert auf dem Rücksitz.

Doch Techno wirkt nur ab einer bestimmten Lautstärke, also lasse ich mich von den zarten Klängen von Jack Johnson durch die Nacht begleiten.

437

„Grand Opening RAZZMATAZZ, Einlass ab 22 Uhr, die ersten 1000 Gäste bekommen einen Begrüßungscocktail gratis“, steht auf dem bunten Flyer, der vor der Tür steht, als ich öffne. An dem Flyer hängen ein ansehnlicher Oberkörper und das dazugehörige Paar Beine. Andrés Beine.

„Keine Widerrede, du kommst dahin mit, nimm Daniel mit oder lass es sein, aber DAS findet nicht ohne dich statt“, sagt er, bevor ich irgendetwas von mir geben kann und deutet immer wieder mit dem Finger auf das bedruckte Stück Papier in seiner Hand.

„André, hallo, ich dachte, du bist sauer“

„Du hast versucht, dich zu melden, das hab ich gesehen. Und ich hab nachgedacht. Ich versteh dich ja. Ich war auch schon frisch verliebt.“

Sein plötzliches Verständnis überfordert mich. Aber auf der anderen Seite ist es nicht seine Art, mich mit Freundlichkeit zu überhäufen, wenn er etwas von mir will. Was ist los mit ihm?

„Komm erstmal rein und setz dich. Willst du was trinken?“

Kurz darauf sitzen wir mit je einer Apfelschorle auf meinem Sofa im Wohnzimmer. André hält immer noch den Flyer in der Hand und wedelt damit vor meiner Nase herum.

„Vom RAZZMATAZZ hab ich gehört, aber dass das jetzt Samstag ist, hab ich nicht gewusst...“

„Klar, du warst ja auch schon seit Wochen nicht mehr weg. Ganz Berlin redet drüber, und unser Partylöwe Loki weiß nichts davon. Was läuft verkehrt?“

Ich schnaube wütend. Er hat ja Recht! Ich habe meinem Ruf, seit ich mit Dani zusammen bin, alles andere als alle Ehre gemacht.

„Ich will da hin“, sage ich bestimmt und nehme ihm das Werbezettelchen aus der Hand. „Berlin bekommt eine stylische, neue Gaydisco und ich komme nicht zur Eröffnung? Eher friert die Hölle zu!“

„Und Daniel?“ André legt den Kopf schief und beäugt mich skeptisch.

„Der kommt mit“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Dani krieg ich schon irgendwie überredet. Und wenn nicht, egal! „Und wenn er keine Lust hat, geh ich ohne ihn!“

Mein bester Freund strahlt.

Dani ist nicht begeistert. Mehrmals liest er den mittlerweile ziemlich abgegriffenen Flyer, dreht ihn, wendet ihn, legt ihn auf den Tisch.

„Mir egal, ob du mitgehst“, sage ich. „Ich geh auch ohne dich. Alle gehen. Verstehst du, alle werden da sein. Und deswegen geh ich auch. Zur Not eben allein.“

Er senkt den Kopf, seufzt.

„Wenn es dir so viel bedeutet...“ Glücklich ist er damit nicht, das kann ich sehen. Aber für mich ist seine Meinung an dieser Stelle nicht wichtig.

„Nein“, antworte ich. „Aber die anderen würden sich auch freuen, wenn du mal mitkämst. Ich weiß, das ist nichts für dich, aber du kannst es ja wenigstens mal versuchen.“

„Du weißt, wie mein letzter Ausflug in die Disco geendet ist...“, seufzt er und verdreht die hübschen, blauen Augen.

„Ja, ich weiß, Georg hat dich abgeschleppt. Aber, schon vergessen? Du bist jetzt mit mir zusammen, dich schleppt keiner ab. Du musst nur mitkommen und schick aussehen... Meine First Lady eben.“

Okay, der Spruch war wohl zu viel. Dani wirft mir einen ziemlich beleidigten und wütenden Blick zu. Dabei hab ich das gar nicht so gemeint. Er soll sich nicht immer so haben.

„Nun sei nicht eingeschnappt. War doch nur Spaß. Und jetzt komm, wir suchen dir was Passendes zum Anziehen für Samstag.“

Die Schlange vorm RAZZMATAZZ ist endlos lang. Und mittendrin stehen André, Alex, Micha, Dani und ich. Dani in meinem neongelben Tanktop, ich zur Feier des Tages in blütenweißem, kurzärmligem Hemd mit schwarzer, locker gebundener Krawatte. Zwei angesagte DJs waren auf dem Flyer angekündigt. Das wird der heißeste Abend dieses Jahres! Micha hüpft aufgeregt hin und her, tanzt mich an. Ich lasse mich mitreißen, bewege mich mit ihm. Ich bin kribbelig wie ein kleines Kind kurz vor der Weihnachtsbescherung. Nur Dani wirkt irgendwie abwesend. Sieht sich unsicher um. Und wird kreideweiß, als Georg plötzlich neben mir steht und mich breit angrinst.

„Loki!“, grüßt er mich. „Mit dir hätte ich nicht gerechnet!“

„War ich so lange verschwunden?“ Ich lass mich nicht provozieren. Nicht heute. Nicht von ihm. Dafür bin ich viel zu gut drauf.

„Scheinst dich ja anderweitig amüsiert zu haben.“ Er grinst breit, sieht an mir vorbei und deutet mit dem Finger auf Dani. „Netter Hintern. Redet nur ein bisschen zu viel.“

Ich verdrehe die Augen, kann mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Das ist jetzt mein Hintern“, gebe ich zurück. „Und ich weiß auch, wie ich ihm das entzückende Maul stopfe.“

Georg lacht laut, zwinkert mir zu.

„Wir sehen uns drinnen“, ruft er noch und verschwindet dann irgendwo in der Schlange.

„Was wollte der?“, fragt Dani und greift meine Hand.

„Ach, nur hallo sagen“, antworte ich und drücke ihm einen Kuss auf die Stirn. „Nichts Wichtiges.“

Bis zur Eingangstür lässt Dani meine Hand nicht mehr los.

Disconächte sind für mich nie nur Tanzen gewesen. Der schnelle Sex mit völlig Fremden, auf der Toilette, im Auto, in fremden Betten oder in irgendwelchen Hinterhöfen ist einfach und gehörte bisher irgendwie immer für mich mit dazu.

Doch auch, wenn meine Freunde mich früher ab und an mit Kondomen versorgten und ich auch fast immer welche mit mir trug, blieb immer noch das „fast“. Und wenn ich kein Kondom hatte? Egal. Er war geil, ich war geil, und mir passiert doch nichts!

Meine Freunde machten sich Sorgen um mich. André sagte mal zu mir: „Wenn du nicht aufpasst, fängst du dir noch mal was ein.“

Gegen Hepatitis A und B war ich schon längst geimpft, und irgendwelche Geschlechtskrankheiten hab ich noch nie gehabt. Die Typen, mit denen ich mich vergnügte, sahen doch nie krank aus. Und wenn sie es hätten, würden sie es mir ganz sicher sagen. So was weiß man doch.

Im September vor 3 Jahren war wieder so eine Situation: Disconacht, Cocktails, Musik. Und ich mitten drin, angeheizt und rattig zwischen den ganzen, schwitzenden Körpern. Mit einem hab ich getanzt. Groß, stark, unglaublich sexy mit tiefgrünen Augen und einem frechen, verruchten Lächeln. Ohne Worte wussten wir sofort, was wir wollten. Also suchten wir uns ein Plätzchen. Kondome? Keine da.

„Tu’s einfach“, sagte ich.

Ein paar Wochen später wurde ich krank. Fieber, lag im Bett, fühlte mich wie ausgekotzt. Und mein bester Freund André saß an meinem Bett: „Hoffentlich hast du dir da mal nichts Schlimmeres geholt.“

Er machte mir Angst damit. Ohne Kondom ließ ich keinen mehr an mich ran, und ohne Kondome bekam auch keiner mehr meinen Schwanz. Im darauf folgenden Januar, an meinem 21. Geburtstag, machte ich dann den Test.

„Eine Woche, dann ist das Ergebnis da.“ War es nicht. Noch eine Woche warten.

„Kein Grund zur Sorge.“ Zweiter Test.

„Das hat noch nichts zu bedeuten.“

Das Ergebnis: Positiv.

Mein 437. One-Night-Stand hat mich mit HIV infiziert.

In meinem Körper gehen tausend kleine Feuerwerke hoch als ich den neuen Superclub betrete. Menschen. Jungs und Männer! Musik, buntes Licht, eine schicke, nagelneue Bar, chillige Sitzecken, geniale Deko... ich kann mich gar nicht satt sehen!

Mit Dani an der Hand ziehe ich durch die Menge, begrüße hier und da jemanden, drehe mich, tanze, hüpfe, stoße einen lauten Jubelruf aus. Dani grinst, versucht, mit mir zu tanzen. Traut sich aber nicht so ganz. Mir auch egal. Ich habe meinen Spaß!

Nach einer Ewigkeit hänge ich in einer gemütlichen Sofaecke, trinke Bacardi-Cola und ruhe mich aus. Ich bin nass geschwitzt und ganz hibbelig vom ganzen Adrenalin, das meinen Körper erfüllt. Dani sitzt neben mir, trinkt was Rotes durch einen schwarzen Strohhalm und sieht immer noch nicht sehr zufrieden aus.

„Gefällt’s dir hier nicht?“, frage ich ihn, lege meinen Arm um ihn und drücke ihn fest an mich. „Ist doch super geil hier!“

„Hm, ja“, murmelt Dani, so leise, dass ich ihn kaum hören kann. „Eigentlich würd ich ganz gern nach Hause.“

„Nach Hause?“ Er will gehen? Jetzt? Es ist noch nicht mal Mitternacht, und er will schon gehen? Ohne mich! „Nimm dir doch ein Taxi“, schlage ich deshalb vor, doch Dani legt den Kopf schief.

„Okay, wir fahren gleich“, seufze ich tief. Ich bin enttäuscht. „Aber erst trink ich aus und geh noch mal zum Klo.“

Die Toiletten sind nagelneu und blitzsauber. Erstaunlich! Die Wände und der Boden sind tiefblau gefliest, über einer langen Reihe von Waschbecken hängt ein riesiger Spiegel. Beim Händewaschen begutachte ich mich darin, streiche meine Haare zurrecht, öffne die oberen beiden Knöpfe meines Hemdes. Ja, so sehe ich noch lässiger aus. Wobei es auch keine Rolle mehr spielt. Dani will nach Hause, also bekommt Dani seinen Willen. Wie immer.

Ich habe das Gefühl, dass es immer voller wird. Der Weg zurück zu der Sitzecke, in der Dani auf mich wartet, entpuppt sich als richtiger Spießroutenlauf. Links ausweichen, rechts ausweichen, ein Schritt zurück, zwei vorwärts, „’tschuldigung, tut mir Leid, kannst du nicht aufpassen? Geh mal zur Seite! Hallo, darf ich mal durch?“

Gerade weiche ich erfolgreich einem Kerl mit nacktem Oberkörper aus, als ich frontal einem angezogenen in die Arme laufe.

„Entschuldigung“, brabbele ich verwirrt, während ich langsam zurücktorkle und versuche, mich zu orientieren. Ich mustere mein Gegenüber von unten nach oben. Er ist recht groß, stark, hat einen sexy Oberkörper. Er lächelt mich an, mit einem frechen, verruchten Blitzen in seinen tiefgrünen Augen. Plötzlich wird es still um mich herum, mein Herz setzt für eine Sekunde aus und ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht.

„Du?“, formen meine Lippen tonlos, meine Stimme versagt total. Tausend Dinge schießen mir durch den Kopf. Ich will was sagen, ihn so viele Dinge fragen, ihm eine runterhauen, ihn anschreien, heulen, meine ganze Wut der letzten 2 ½ Jahre an ihm auslassen. Stattdessen stehe ich nur da, starre ihn an und kann mich nicht rühren.

Ich muss meine Augen schließen, sonst breche ich zusammen. Ich lege meine Hand an meine Stirn, atme ein paar Mal tief ein. Irgendwie dreht sich gerade alles, mein Kopf dröhnt und ich fühle mich unruhig.

„Hey, alles in Ordnung?“ Jemand berührt mich an der Schulter. Nein, er ist es nicht. Die Augen, in die ich jetzt schaue, haben nicht diese durchdringend grüne Farbe. „Joni, sprich mit mir.“ Danis Hand streicht über meine Wange.

„Komm“, sage ich rasch und greife seine Hand. „Lass uns von hier verschwinden.“

Wir müssen mit der U-Bahn fahren. Dani sitzt auf meinem Schoß, sacht streichele ich mit dem Daumen über seinen Bauch, fühle seinen Bauchnabel durch den dünnen Stoff. Mein Kopf ist immer noch voll von Gedanken. Wenigstens hat mein Puls sich beruhigt, und der Schwindel ist auch weg. Aber ich muss mich ablenken, sonst drehe ich noch komplett durch.

Langsam bewege ich meinen Daumen über Danis Bauch. Ich spüre seichte Muskelrillen, nicht zu fest, nicht zu weich, die kleine, runde Vertiefung in der Mitte, noch ein Stückchen Bauch, dann erreiche ich den Saum seines Oberteils. Meines Oberteils.

Meine Finger schieben sich unter den Stoff, betasten die darunter liegende warme, weiche Haut. Meine Lippen küssen seinen Nacken, vorsichtig sauge ich mich fest. Ich zupfe an seinem Ohrläppchen, lecke seine Ohrmuschel entlang.

„Ich will deinen Arsch“, flüstere ich leise. Die negativen Gedanken in meinem Kopf lösen sich ganz langsam auf. „Ich will deinen kleinen Arsch. Deinen kleinen, geilen Arsch. Deinen kleinen, geilen, engen Arsch. Und zwar die ganze Nacht...“

Dani stöhnt auf. Behutsam schiebe ich meine zweite Hand zwischen deine Schenkel, spüre die harte Beule in seiner Jeans.

„Nicht hier...“, haucht er, lehnt seinen Kopf nach hinten, an meine Schulter.

„Sieht doch keiner“, erwidere ich und streichele über die warme Verhärtung. Zu dieser späten Stunde haben wir den Wagen ganz für uns allein. Kurz zögert Dani, doch dann gewährt er meinen Händen Einlass in seine Hose und tief unter sein Shirt.

Eine Stimme unterbricht uns: Die nächste Haltestelle wird angesagt. Dani erschrickt, verkrampft, drückt meine Hände weg von seinem Körper und versucht, mit zittrigen Fingern seine Hose zu schließen. Unnötige Hektik, es steigt niemand zu. Um ihn ein wenig zu beruhigen, küsse ich ihn in den Nacken. Er ist nervös, aber ich kann seine Erregung spüren. Das Verbotene macht ihn an.

Kaum setzt die U-Bahn sich wieder in Bewegung, steht Dani auf, nimmt rittlings auf meinem Schoß Platz und drückt sich an mich. Ich streichele ihn, wir knutschen. So geil, wie er ist, müssen wir aufpassen, dass er sich nicht plötzlich nass macht. Nur bei mir steigt die Erregung eher schleppend. Ich schließe die Augen, doch sofort habe ich wieder diese tiefgrünen Augen von mir. Die Augen von Nummer 437.

Schnell lege ich beide Hände auf Danis Hintern und greife fest zu. Mein Freund schnauft, keucht, leckt mir über die Lippen und schiebt mir dann seine Zunge in den Hals. Er ist wirklich scharf auf mich. Seine Küsse sind wild und innig, seine Bewegungen heftig und rhythmisch.

„Wir müssen gleich raus“, bemerke ich nach Luft schnappend.

„Ja“, kommt bloß von ihm, und schon ist mein Mund wieder von seinen Lippen verschlossen. Die harte Beule in seiner Hose reibt sich in meinem Schoß, seine Hände krallen sich an meinem Rücken fest. Plötzlich zuckt er heftig, presst sich an mich. Dann sinkt er in meine Arme, atmet schwer. Na großartig! So viel zu meiner erotischen Ablenkung.

Und während Dani bei mir zu Hause unter der Dusche steht, liege ich allein im Bett und heule mir die Augen aus dem Kopf.

Flugstunden

Langweilig… Dani steht in der Küche und versucht, ein Abendessen zu zaubern, während ich wie ein nasser Sack auf der Couch hänge und mich durchs Fernsehprogramm zappe. Klar, was sonst? Es ist Samstag, und der letzte Ausflug in den neuen Club hat selbst mir die Lust auf eine wilde Disconacht versaut.

„Schahatz!“, säuselt es aus der Küche. „Kommst du mal bitte?“

Tief seufzend erhebe ich mich von meinem Gammelplatz und folge dem Ruf meiner süßen Sirene.

Dani steht breit grinsend da und deutet auf die Salatschüssel.

„Nur für dich!“, strahlt er. Ich verdrehe die Augen. Kitsch komm raus…

Mit einem kleinen Ausstechförmchen hat er aus den Gurkenscheiben Herzen ausgestanzt und in den Salat getan.

„Süß!“ Mehr als das, in Kombination mit einem frechen Zwinkern, fällt mir dazu gerade nicht ein. Doch Dani lässt den Kopf hängen. Ich kann förmlich sehen, wie sein Herz in tausend Stücke bricht und zu Boden bröckelt. Wahrscheinlich hat er eine euphorischere Reaktion von mir erwartet…

Schnell nehme ich ihn in den Arm, küsse ihn auf den süßen Schmollmund. Wenn ich schon den Abend mit ihm allein zu Hause verbringen muss, will ich wenigstens, dass er gute Laune hat.

„Du bist der beste Koch der Welt“, lobe ich ihn und lege den Kopf schief. Hundeblick!

Seine Herzbrösel setzen sich wieder zusammen und schmelzen dahin.

Ich lasse ihn mit seinem Schmelzherz und seinen vor Rührung geröteten Wangen zurück und haue mich wieder auf die Couch. Irgendwie kommt mir jeder Zentimeter weiter von ihm entfernt gerade nur recht. Ich liebe ihn über alles, aber ich kann seine permanente Nähe einfach nicht mehr ertragen.

Er merkt, dass ich unzufrieden bin. Beim Essen rede ich nicht, bin nur in meinen Gedanken versunken. Ich will mein altes Leben zurück… Tanzen, Cocktails schlürfen, Männer kennen lernen, Freunde treffen, Spaß haben. Mich für so einen Abend stylen, meine besten Klamotten anziehen, meinen Körper präsentieren! So, wie letzte Woche im RAZZMATAZZ. Bloß ohne ungebetene Gäste bitte.

„Schatz?“

Seine Stimme holt mich aus meiner Traumwelt zurück.

„Alles okay mit dir? Du isst ja gar nichts, ist dir nicht gut?“

Ich will ihm nicht das Herz brechen. Nicht schon wieder an diesem Abend. Und nicht so. Ich bin unglücklich mit ihm, aber das bringe ich nicht über die Lippen.

„Lass mich einen Moment allein, ja?“

Ich stehe auf, lasse ihn am Tisch zurück, mit seinem perfekten Pärchenessen, den Herzgürkchen und den mit Liebe und Hingabe gebrutzelten Rindersteaks.

Warme, klare Luft strömt mir entgegen, als ich die Balkontür öffne. Ich betrachte die Stadt, die niemals schläft, von hier oben aus dem fünften Stock unter dem Dach. Zünde mir eine Zigarette an. Stütze mich aufs Balkongeländer. Sonja hat seine Blumenkästen bepflanzt. Stiefmütterchen in blau und gelb recken ihre Köpfchen in die goldene Abendsonne.

Von hier oben ist mein Auto unten vor der Tür nur ein kleiner, schwarzer Fleck. Ich blase Zigarettenrauch in die Luft, lehne mich gegen die Hauswand und schließe die Augen. Der Glimmstängel tut mir gut. Obwohl er Gift für mich ist. Gift für meinen geschwächten Körper. Wie ein braver Junge schlucke ich jeden Tag pünktlich meine Medikamente, gehe regelmäßig zum Arzt, achte auf mich, so gut es geht. Und reiße das alles nieder mit diesen Sargnägeln!

Wer weiß, ob die ganze Chemie, die ich nehme, überhaupt wirkt. Was, wenn alles plötzlich umschlägt?

„Stadium eins, asymptomatisch HIV positiv, der Patient ist infiziert, aber es treten keine Erkrankungszeichen auf“, murmele ich rasch mit geschlossenen Augen meinen Text herunter. Oft haben mich Freunde und Bekannte nach solchen Informationen gefragt, und ich habe erzählen müssen. „Bei einigen Patienten treten wenige Wochen nach der Infektion grippeähnliche Erscheinungen auf. Müdigkeit, Unwohlsein, Fieber, Kopfschmerzen, Schwellung der Lymphknoten. Diese Erstsymptome verschwinden nach einiger Zeit von allein. Stadium zwei, symptomatisch positiv, tritt im Schnitt 8-10 Jahre nach der Infektion auf.“ Meine Finger krampfen sich zu Fäusten zusammen. „Hohes Fieber, Durchfall, beides länger als 4 Wochen, Pilzbefall in Mund und Rachen, Gürtelrose, Nervenerkrankungen…“ Mir wird schwindelig. Die Zigarette fällt mir aus dem Mund, auf den Boden, meine Hände sind schweißnass. „Stadium drei“, fahre ich fort, mein Herz rast und ich rede immer schneller. „Vollbild Aids, starker Gewichtsverlust, extreme Müdigkeit, Husten, schwere Kopfschmerzen, Übelkeit, Krämpfe, Hirnerkrankungen, Verwirrung, Vergesslichkeit, Erblindung, Infektion mit Parasiten, Pilzen, Viren, Bakterien, Tuberkulose, Toxoplasmose, Salmonellen, Lungenentzündungen, Pilzbefall von Mund, Luftröhre, Bronchien und Lunge, Kaposi-Sarkom, Krebs, Koma…“

Angst. Panik. Meine Knie werden weich. Ich kann das nicht! So will ich nicht sterben! Es wird Dani treffen. Oder… ob es das schon hat? Ob ich ihn angesteckt habe? Angesteckt mit der tödlichen Seuche?

Vielleicht weiß ich in ein paar Monaten schon gar nicht mehr, wer ich bin. Verliere mein Augenlicht. Bekomme Krebs. Flecken überall. Nehme ab. Habe Schmerzen. Große Schmerzen. Unerträgliche Schmerzen. Und Dani muss mit ansehen, wie ich leide!

Eigentlich ist es so einfach… So leicht! Langsam torkele ich nach vorn, lehne mich über das Geländer. Fliegen… Wie bei meinem ersten Fallschirmsprung in Finnland… Fliegen und alle Probleme vergessen…

Ich fuhr nach Finnland, um nachzudenken. Auf einer Entdeckungstour durch Helsinki stieß ich auf die kleine, deutsche Reisegruppe. Fünf Männer, zwischen 25 und 35. Mit einem von ihnen, einem kleinen Kerl mit glatt rasiertem Kopf und kleinen, dunklen Augen, kam ich schnell ins Gespräch.

„Wir sind zum Fallschirm springen hier“, sagte er. „Machen wir jedes Jahr. Hier gibt es einfach super Stellen!“

Klaus hieß er. Und er machte mich neugierig. So neugierig, dass ich sein Angebot, in zwei Tagen mitzukommen und auch einmal zu springen, nicht ausschlagen konnte.

Ich bekam eine komplette Ausrüstung geliehen. Klaus war eine Art Lehrer. Er erklärte mir alle einzelnen Teile, jeden Schritt, was ich zu tun hatte. Wir würden einen Tandemsprung machen, sagte er. Alleine dürfe ich nicht springen.

Die Aufregung schaltete mein Hirn aus. Mit schweißnasser Stirn stieg ich in das kleine Flugzeug. Der Motor dröhnte laut, und trotzdem wurde der Lärm von meinem Herzklopfen übertönt. Was hatte Klaus gesagt, wie hoch wir fliegen? 4000 Meter? Und dann springen? Mir wurde ganz flau. Aber ein Zurück gab es nicht mehr, wir hoben schon ab. Eine Ewigkeit stiegen wir höher und höher.

Und dann war es soweit.

Klaus hielt mich im Arm. Als die Tür des Flugzeugs geöffnet wurde, stand er auf.

„Schön sitzen bleiben“, grinste er, ich lächelte schief. Allein rausspringen würde ich sicher nicht, auch, wenn ich zur Sicherheit meinen eigenen Fallschirm umgeschnallt hatte.

Mit einer Videokamera filmte Klaus in die Runde. Dann trat der erste Springer an die geöffnete Luke, holte einmal tief Luft und ließ sich dann nach unten fallen. Klaus deutete auf die Tür.

„Sieh mal runter!“

Vorsichtig krabbelte ich zur Luke, stellte mich hin, stützte meine Arme gegen die Verstrebung des rechten Flügels. Ich sah den bunten Fallschirm meines Vorgängers. Und unter mir erstreckte sich Finnland aus 4 Kilometern Höhe…

„Stopp!“, schrie ich, doch Klaus lachte nur.

„Es gibt nur einen Weg für dich jetzt!“, brüllte er zurück, um den lauten Flugzeugmotor zu übertönen. „Du schaffst das!“

Meine Knie waren Wackelpudding. Da runter... Aber das hatte ich mir so ausgesucht. Jetzt musste ich das auch durchziehen!

„Okay!“ Ich hielt meinen rechten Daumen hoch. „Kann losgehen!“

Ich legte meinen Fallschirm ab. Das kostete mich ein bisschen Zeit; meine Hände zitterten so sehr, dass ich die Gurte kaum gelöst bekam. Klaus hatte die Kamera ausgeschaltet und nahm mich von hinten in den Arm. Unsere Anzüge wurden mit Haken und Gurten fest miteinander verbunden.

„Vertraust du mir?“, hörte ich seine Stimme nah an meinem Ohr.

Ich nickte zaghaft.

„Okay, dann los!“

Als wir sprangen, blieb die Welt für mich stehen.

Kalter Wind blies mir ins Gesicht, durchlüftete meinen Kopf, spülte die Gedanken heraus. Ich fiel, und meine Sorgen und Ängste blieben in den Wolken hängen. Ich war frei, frei und leicht. So mussten sich die Vögel fühlen! Adrenalin füllte meinen ganzen Körper aus. Ich wollte kreischen, schreien vor Glück, aber die Faszination ließ mich verstummen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gefühlt. Es gab nur noch mich und diese unendliche Leere, diesen Frieden, diese Ruhe, die mich erfüllten und meine Adern durchfluteten.

Plötzlich: Ein Ruck. Klaus hatte den Fallschirm geöffnet. Ich hing in seinem Arm, genoss den Blick auf unzählige Seen, Inseln, kleine Städte und Dörfer. Viel zu früh landeten wir auf einer Wiese, wo ich mich, von Klaus abgeschnallt, auf den Rücken legte und in die Wolken schaute. Von da oben war ich gesprungen. Gesprungen, gefallen, nein - geflogen! Ich setzte die große Flugbrille ab und wischte mir die Freudentränen aus dem Gesicht.

Oben am Himmel, über den Dächern, fliegen die Vögel, lassen sich treiben vom Wind. Ich will auch fliegen!

Mein Herz hämmert hart in meiner Brust, und ich spüre meine Tränen aufsteigen. Ich bin stark, ich werde das schon schaffen. Mit den Medikamenten und der richtigen Ernährung werde ich alt und glücklich werden, gesund bleiben und mich wie jeder andere negative Mensch fühlen. Es ist eigentlich gar nicht so schlimm. Zweimal am Tag ein paar Pillen schlucken und schon kann man sicher sein, dass das Virus schläft.

Was für ein Schwachsinn. Ich hab eine scheiß Angst! Ich hab Angst vor Aids, Angst vor dem grausamen Tod!

Mit zittrigen Beinen klettere ich auf die Balkonbrüstung und breite die Arme aus.

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