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Trost 2

Kapitel 164-168

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

164

Ob Lolli mit Jiffi geredet hatte oder nicht, verpasste Kai. Denn sie waren fort, als er sich an das Einholen der Fregatte machen musste. Dazu lieh er sich von Jan die Seekuh aus, um Tini und die Tonnen Sachen für das Ding vom Flughafen zu holen. Jan wollte merkwürdigerweise nicht mitkommen, obwohl er sonst immer auf Kais Handy herumgesucht hatte, um Ultraschallbilder abzufangen und bereits Bilder vom Jogger gemacht hatte, um alles mit Holger zu besprechen.

Jan hatte sogar die Dingsachen mit Thilo besprochen, der jedoch jenseits der Prüfung die alte undurchsichtige Kühle an den Tag legte und Jan einfach, sachte uninteressiert, bat, nicht mehr von 'so einer Scheiße' zu labern. Das wirkte, wenn auch nur kurz. Aber Jans Herz schlug nur für Ding und die Möglichkeiten, das Ding cool sportlich in ihr Leben einzubauen. Sein Interesse für Ding war zum Glück nie in ein Interesse an Tini umzuwandeln.

Also schaukelte Kai allein durch den Feierabendverkehr, der dank Sommerferien deutlich lichter war, bis zum Flughafen raus. Dort war leider Ferienverkehr, so dass Kai verschwitzt war, als er endlich am Flugsteig der richtigen Gesellschaft ankam. Er fand keinen Parkplatz, bog versehentlich falsch auf die Umgehungsstraße ab und musste eine Ehrenrunde drehen, bei der ihm ein Taxifahrer mit Hupkonzert, weil er zu langsam abbog, fast eine Herzattacke bescherte.

Bei der zweiten Runde kämpfte Kai mit sich und den Preisen für Parkplätze, als er vor der Schranke zum Parkhaus stand. Aber es war derart heiß, obwohl schon Abend war, dass Kai den Wagen in das kühle Parkhaus brachte. Außerdem hätte er nicht mehr zurück gekonnt. Eine Tonne genervter Leute wollte ihr Auto auch für viel Geld unterbringen.

Es wurde sogar im Parkhaus gehupt, wenn man zu langsam einparkte, das lernte Kai ebenfalls im Rahmen einer Herzattacke. Er nahm sich vor, das nächste Mal Jan fahren zu lassen. Der hätte mit Schwung eine der ersten Buchten geentert, die Kai zu eng erschienen waren und hätte den anderen bei Stau und Stress nur grinsend zugesehen. Zugleich nahm Kai sich vor, der elenden Fregatte die Gebühr aufs Auge zu drücken. Immerhin ersparte er ihr ein Taxi.

Am Abend war bei ihnen in der Wohnung theoretisch ein Lerntreffen anberaumt, aber Kai war schon so klar, dass es ein Grillabend werden würde. Tini und er sollten auch dorthin kommen und sie sollte dann mit Holger zu ihm fahren. Auf dem Weg sollte Kai einen Kasten Bier holen und etwas Vegetarisches zum Grillen für Renate, weil Jan das vergessen hatte. Weil Renate ihn an Tinis Eltern verpfiffen hatte, nahm Kai sich aber vor, nur Würstchen zu holen und sie vollständig zu vergessen. Für die Nummer war Rache angesagt.

Jan hatte mit Holger besprochen, dass der Kinderwagen samt Karton drum herum ebenfalls erst einmal in ihrem Keller auf den Einsatz warten sollte, damit Holger in seiner Einzimmerwohnung nicht erstickte. Kai hatte den Auftrag, Tini das zu verkaufen, so dass sie ihre Beute aus Kanada auch heraus rückte.

Von Jan und Holger hatte Kai außerdem den Auftrag erhalten, die Fregatte zum Thema Wohnung an zu sprechen. Besprechen, wie eine Warze, damit das wieder weg geht, hatte Jan gesagt, denn Tini, Wunder über Wunder, wollte nicht in die Erdgeschosswohnung ziehen. Sie wollte überhaupt nicht in Jans Haus ziehen. Sie wollte auf keinen Fall, dass Jan sich in ihr Leben einmischen konnte. Gleich auf welche Weise. Erstaunlich, aber hochgradig angenehm, aus Kais Sicht.

Er fand es gut, aber zugleich fand er es sehr unlogisch. Die Erdgeschosswohnung war vermutlich etwas teuer, aber sonst machte sie Sinn. Vier Zimmer, perfekt für eine Familie. Erdgeschoss, super mit Kinderwagen. Fast am Wald gelegen, wo gleich eine Ecke weiter ein Spitzenspielplatz wartete. Außerdem wäre es für sie praktisch, da sie Kai ja gleich zwei Etagen drüber hätte. Für ihn selber wäre es auch ein wenig praktisch gewesen. Wenn er auf Ding aufpassen musste, würde Jan da sein und sich einmischen und ihm die Arbeit wohlmöglich mal abnehmen.

Und es war logisch, dass Jan sich einmischen würde. Das würde Tini in keinster Weise verhindern. Wenn das Wetter mies war und sie fuhren mit Ding mit dem Wagen, würde es Jans Auto sein. Der arschteure Jogger sah nicht nur super aus, sondern sollte auch verwendet werden. Jan hatte den gekauft und gedachte nicht, das Teil an Holger abzutreten. Sie würden mit Ding darin durch die Stadt reisen, und das Teil würde sicherlich nicht an Kais Rad angeschraubt. Oder vielmehr es würde sobald es ging, von seinem Rad wieder entfernt werden. Jan würde damit rumfahren, rumjoggen, damit angeben und sich vollkommen wohl fühlen, das war Kai auch so schon klar. Dings Kinderarzt war von Jan bereits ausgesucht worden. Ein Freund seiner Eltern hatte eine Gemeinschaftspraxis die Straße runter eingerichtet.

Ding würde ein Junge werden. Jan würde da sein und aufpassen, dass Ding Jungssachen so richtig beigebracht bekam. Fußball war da eine sehr hohe Priorität. Aber auch andere Kleinigkeiten kamen in Jans Vorstellungen schon sehr deutlich vor. Fahrrad fahren wollte er Ding beibringen, und Schwimmen, auch wenn Kai sich dachte, dass die Fregatte das sicherlich selber übernehmen würde. Und Jan wollte Ding Plattdeutsch beibringen, was Kai mit Sorge betrachtete. Zugleich fand er es lustig, dass Ding unter Umständen dann mit Jan reden konnte, ohne dass Tini es verstand.

Das Flughafengebäude war angenehm klimatisiert und Kai hatte, weil er versehentlich am falschen Gebäude geparkt hatte, durch den Weg zur Ankunftshalle ein wenig Zeit, um abzutrocknen und sich zu sammeln. Die weiten, eintönigen Verbindungsflure waren erholsam. Kurz erwog er, sich an einem der Automaten etwas zu trinken zu holen, aber verwarf die Idee gleich wieder nach Blick auf die Preise.

Nachdem er aus dem hektischen Verkehr erst einmal entkommen war, fand er das Flughafengebäude wieder sehr angenehm. Und der Gedanke an die Abfahrt war nicht schlimm, weil er durch die Ehrenrunde über die Umgehungsstraße bereits wusste, wo er lang fahren musste. Im Gebäude war es kühl und recht leer. Weite Flure, mit einer interessanten Mischung Menschen.

Gebräunte Familien vom Urlaub oder müde Anzugträger von einer Geschäftsreise kamen ihm entgegen. Eine Gruppe Sportler in Teamklamotten sammelte sich um einen Schalter für Sperrgut. Kai begutachtete die Infotafeln und stellte fest, dass dies unter Umständen dann für Tinis ganzen Ding-Kram auch der richtige Schalter sein könnte.

Tinis Flug war noch nicht gelandet, als Kai dann endlich am Ziel angekommen war. In der Wartezone hatte sich schon eine kleine Gruppe Leute versammelt. Hoffnungsvoll sah Kai sich nach Holger um, aber der war natürlich noch irgendwo auf den vollen Straßen unterwegs, vermutlich im Stau. Es gab einige Reihen wenig einladend aussehender Sitze mit Kunstleder und, strategisch dazwischen platzierte, Pflanzenkübel sowie Abfalleimer. Alles in hübsch anonymen Grautönen.

Einige Leute hockten bereits auf den Sitzen und starrten durch eine Glasscheibe auf das noch leere Kofferband. Auf der rechten Seite war die erste Reihe Sitze fast voll, alle Menschen blickten auf ihre Handys oder Computer und strahlten genervte Anspannung ab. Links war etwas mehr Platz. Kai zögerte, aber eine Mutter mit drei Kindern, von denen gerade zwei sich stritten, saß an einem Ende und so ließ er sich rasch, so weit weg wie möglich, neben einem Mädchen in zerrissenen schwarzen Sachen nieder. Sie blickte ihn kurz misstrauisch aus dick geschminkten Augen an, dann senkte sie den Blick wieder in ihr Comicbuch und wippte mit einem Fuß.

Kai blickte auf sein Handy, er war tatsächlich sogar pünktlich, die Maschine wurde bei seinem Kontrollblick auf den Bildschirm im nächsten Augenblick als gelandet angezeigt. Die Kinder auf der anderen Seite hatten Gummibärchen erhalten und hopsten mit den Tütchen in der Hand vor der Glasscheibe auf und nieder.

Kai starrte sich auf dem Kofferband fest und dachte darüber nach, wie er Tini auf Abstand bekommen konnte. Er hatte in den letzten Wochen genau eine ihrer Nachrichten beantwortet, die mit den Daten für ihren Flug. Dennoch hatte sie nie aufgehört, ihn mit Bildern, Mitteilungen und sogar einem Video zu nerven. Das Video hätte er online holen sollen, das hatte dann Jan gemacht. Tini, in super Umfangreich, beim Bergwandern. War ja klar, dass sie sogar als Kugel noch sportlich sein würde.

Matt blinzelte Kai seine Augen wieder in Fokus und warf einen kleinen Seitenblick auf den Comic in der Hand seiner Nachbarin. Er starrte, blinzelte, starrte noch einmal.

Ein Comic, in dem zwei Männer wild am Knutschen waren. Das Bild war umgeben von extrem kitschigen Blütenzweigen, alles in Farbe, sehr hochwertig aussehend. Kai starrte das Bild an und wünschte sich Jan her, der hätte damit sicherlich seinen Spaß gehabt. Dann hatte sie seine Blicke und sein dämliches Grinsen bemerkt und sich mit ihrer Lektüre abgewandt. Nicht ohne bösen Blick, der Kai dazu brachte, sich hastig noch mal seinem Handy zuzuwenden.

Das Kofferband setzte sich auf der anderen Seite der Glasscheibe gerade in Gang, als Kai Stimmen hörte, die seine Nackenhaare aufstellten. Die Stimmen von einer Frau und einem Mann, kultiviert und überaus genervt. Kai erkannte sie sofort wieder und sah sich nach ihnen um. Tinis Eltern waren da! Erschaudernd nutzte er seinen Vorteil aus und starrte sie an, während der Mann etwas entfernt Platz nahm und, wie alle Anderen, hypnotisiert das Kofferband anstarrte und die Frau zum Monitor mit den Informationen trat.

Tinis Vater war ziemlich mollig, dunkelhaarig, mit einem weichen Gesicht, das recht nahtlos in seinen Hals überzugehen schien. Er trug eine kleine, goldgerahmte Brille und sah penibel aus. Er trug ein perfekt gebügeltes Kurzarmhemd und eine lange Hose. Sie stand in einem hellblauen, ärmellosen Anzug herum, kombiniert mit einem farblich passenden Paar hochhackiger Sandalen und war zu schlank, fast schon hager. Ihr Gesicht war streng und sah wie über das Kinn und die Wangenknochen gespannt aus. Die Augen wiesen Lachfältchen auf, aber sonst sah man das Alter kaum. Ihre nackten Arme waren auf eine schon unangenehme Art trainiert, die dunklen Haare perfekt frisiert. Kai dachte überrascht, dass er Tinis Mutter tatsächlich überall erkannt hätte, auch ohne die Stimme. Sie sahen sich sehr ähnlich.

Die ersten Fluggäste erschienen und bauten sich strategisch um das Kofferband herum auf. Tini war sofort zu sehen. Sie trug eine Shorts und ein rot-geringeltes Oberteil, das ihren Bauch eng umspannte und dadurch noch hervorhob. Sie blickte einmal rüber, aber wurde im nächsten Moment von einem Mann im Overall angesprochen und trat mit ihm zu einem Sperrgepäcktresen, dann zu einem mit Zoll markierten Tresen, wo sie sich eine ganze Weile lang aufhalten musste. Dort erhielt sie, nach offensichtlich fröhlicher Unterhaltung, einen großen Karton und zwei Koffer, beides wurde ihr fürsorglich auf den Kofferwagen gestellt.

Mit dem derart vollgepackten Wagen kam sie, natürlich in Unterhaltung mit einer Frau vertieft, zum Ausgang. Erst jenseits der Glasscheibe blickte sie sich um. Sie sah Kai, der noch neben dem missmutigen Mädchen hockte und lächelte, dann kamen ihre Eltern auf sie zu und ihr Gesicht änderte sich derart abrupt, dass ihnen nun wohl klar sein dürfte, dass Tini sich nicht freute, sie auch zu sehen.

Kai seufzte abgrundtief und stand auf, um sich Runde zwei des Familiendramas zu stellen. Tinis Eltern. War ja klar, dass Holger ihn mit dieser Sache hängen ließ, dieser Feigling. Kai würde ihn noch aus dem Auto anrufen und rund machen dafür.

Gleichzeitig mit ihm stand das mürrische Mädchen auf und begann, mit einem Mal sehr fröhlich zu winken. Im nächsten Moment war Kai umringt von einer ganzen Gruppe dieser Mädchen, die sich gegenseitig im Quiekton begrüßten und sofort auf sehr niedliche Comics und Typen und Zeichnungen und Filme hinwiesen und alles 'sooooo süß' fanden und sich gegenseitig fotografierten. Sie trugen bunte T-Shirts mit Comicfiguren darauf und freuten sich auf ihre gemeinsame Convention. Kai wurde umgehend eingespannt, um Gruppenfotos zu machen. Erschaudernd brachte Kai, sobald er konnte, mehr Abstand zwischen sich und die Tanten, die noch auf die letzten Zwei der Gruppe warteten.

Durch die Mädchen hatte Kai den Anschluss an Tini verpasst und trat zu ihr, als ihre Eltern schon auf Touren waren. Und Tini, die sonst immer fröhlich, unbesorgt und vor allem selbstbewusst durchs Leben gehopst war, hatte sich zu einem Jammerlappen entwickelt. Sie stand mit leicht einwärts gedrehten Füßen da und starrte zu Boden, während ihre Eltern den Preis für den Kinderwagen in Erfahrung brachten und rumschimpften, dass sie keine Bilder und Informationen, keine neuen Flugdaten und auch keine Ding-Daten erhalten hatten und dies alles von Kai und Jan hatten erfahren müssen.

Tinis Vater sagte wenig, aber wenn, klang es zutiefst enttäuscht. Es zerrte an Kais Nerven, wie schon bei dem Telefonat. Und ihre Mutter schimpfte, dass Tini sich wie ein Kleinkind benehmen würde, bockig und dumm, ohne Blick auf die Konsequenzen. Als sie Kai gewahr wurden, legten sie allerdings eine kurze Pause ein, was ihm die Gelegenheit gab, Tini seinerseits rund zu machen.

Er starrte sie an und wies auf den großen Karton: "Sag mal, geht's noch?! Du kannst ja echt froh sein, dass ich Jans Auto hab und er nicht den Wagen von Hannah haben wollte. Wie sollen wir den ganzen Scheiß denn bitte unterkriegen?! Unser Keller ist nach den letzten vier Paketen von dir echt voll. Was ist das denn alles noch?"

Tini blinzelte ihn überrascht an, dann sah sie zu ihren Eltern und piepste: "Kai, das sind meine Eltern."

Er zog die Brauen zusammen, warf einen kurzen Seitenblick, dann versetzte er so eisig er konnte: "Ich weiß. Wir müssen los, ich bin verabredet."

Tinis Mutter baute sich auf: "Wie bitte?! Sie wollen jetzt einfach unsere Tochter...", sie blinzelte, hatte den Faden verloren, was er wohl mit ihrer Tochter wollen könnte.

Gereizt verschränkte Kai die Arme: "Ja, was? Einfach vom Flughafen abholen? Genau deswegen bin ich nämlich hier und das dürfte jetzt wohl kein Schock sein." Er sah sich böse um, durch das Gezeter hatten sie bereits Publikum. Die Mutter der vielen Kinder blickte mitleidig, während ihr Gatte, ein drahtiger Mann in grauem Anzug, seine Kinder begrüßte und mit Geschenken versorgte, zwei schleppten gemeinsam seinen Koffer davon.

Der Anblick gab Kai die Inspiration für ein rasches Entkommen. Er trat einen Schritt auf den Kofferwagen zu. "Der Parkplatz war schon teuer genug, das wird mit jeder Minute, die wir hier verschwenden, nicht besser."

"Verschwenden? Sie sind schließlich schuld, dass unsere Tochter ihr Leben ver..."

Tini rang die Hände: "Mama!" Ihre entsetzte Stimme verursachte Kai Kopfweh. Er wich einen Schritt vor ihr zurück und rangierte den Wagen einmal rückwärts, um wenden zu können.

"Agnes, bitte." Der Mann trat zu Kai und blickte ihn analytisch an, schätzte ihn ab und ein und es fühlte sich nicht gut an. Doch seine Stimme war ruhig und nervend sachlich: "Diese ganzen Sachen hier, das muss doch alles geklärt werden. Wie das Kind nun... versorgt wird. Aber wir sollten nicht hier reden." Er blickte missbilligend auf die quietschenden Mädchen mit ihren Comics.

Kai war allerdings seiner Meinung. Die Mutter mit den drei Kindern, ihr Mann, ihre Kinder, ein älteres Ehepaar und die Horde Kichermädchen starrten sie nämlich recht unverhohlen an. "Nein. Ich fahre jetzt."

"Wie bitte?!" Die Mutter drehte jetzt doch auf. "Unsere Tochter hat uns noch so einiges zu erklären und kommt jetzt mit uns!"

Tini sagte mit ätzend weinerlicher Stimme: "Ich will nicht." Fehlte noch, dass sie mit dem Fuß stampfte und sich einen Anfall nahm. Jetzt kamen doch Tränen und ihre Stimme piepte erstickt: "Alles macht ihr kaputt! Immer wollt ihr nur meckern."

"Ach, und das hast du nicht verdient? Junge Dame, du weißt genau, was ich meine. All diese Lügen der letzten Wochen, dein rücksichtsloses Verhalten bei Torben und das jetzt auch noch! Den Flug umbuchen, nur um uns zu umgehen! Schon wieder! Diese ganze Heimlichtuerei kann so nicht weiter gehen. Deine Zukunft muss jetzt vernünftig besprochen werden, und du schließt uns auf eine Art aus, die... kaum zu glauben ist! Wir mussten die Flugdaten von ihrer Mitbewohnerin..."

Kai blickte zur Uhr. Genau jetzt sprang im Parkhaus der Zähler schon wieder in die Höhe, ihm langte es. "Renate kriegt den Einlauf ihres Lebens und ich bin jetzt weg!" Die Höflichkeit, sie auszetern zu lassen, hatte er sich, wie es schien, endlich komplett abgewöhnt.

Die Mutter blinzelte von seinem Wutanfall vollkommen überrascht und zischte dann an Tini gewandt: "Mit diesem..., diesem... Menschen halte ich es nicht mehr aus. Schlimmer hätte es wirklich nicht kommen können! Du wirst jetzt sofort..."

Kai schnitt ihr das Wort ab. Er schnappte sich den überfüllten Kofferwagen, wendete ihn mit mehr Mühe als gedacht und keifte davon zusätzlich genervt: "Das passt gut. Tschüss!"

Tini starrte ihn an: "Aber Kai..., aber...".

Er fuhr zu ihr herum. "Und du hörst auf, dich so affig zu benehmen! Mir langt's. Nimm dir ein Taxi, wenn du hier fertig bist!" Wütend stampfte er davon. Im Hintergrund klatschten einige der wilden Comic-Mädchen kichernd Beifall. Es passte zeitlich, drehte sich aber zum Glück nicht um ihn. Als Kai an ihnen vorbei kam, kriegte er mit, dass sie damit jemanden begrüßten, der einen Preis gewonnen hatte.

Kai sah sich nicht nach Tini um, aber dank des vollgeladenen Kofferwagens hatte sie keine Mühe, ihn einzuholen. Ihre Eltern hatten sie komischerweise abhängen können. Sie mussten zum Glück nicht beim Sperrgepäckschalter vorbei, der große Karton war alles, was Tini noch mitgehabt hatte. Einen Versuch, ihn anzusprechen, schnitt er mit einem: "Halt die Klappe, ich bin sauer!", ab, bis sie bei der Seekuh ankamen.

Tini bezahlte die horrende Summe für das Parkhaus anstandslos und schwieg, was Kai Zeit gab, sich an die Welle zu erinnern und sich zu sammeln. Er fuhr brütend seinen Gedanken ausgesetzt aus dem Chaos um den Flughafen und durch die halbe Stadt, dann bog er in Richtung Stadtwald ab.

Tini sah sich um:"Hey, zu Holger geht es doch..."

"Wir stellen das Paket in unseren Keller, Holgers ist schon komplett voll mit deinem Scheiß vom Umzug. Unser Keller ist bald voll mit deinem Scheiß vom Ding. Wird Zeit, dass du mal mit der eigenen Wohnung voran machst! Außerdem kommt Holger später zu uns und kann dich einsammeln."

Tini seufzte und murmelte, dass sie unbedingt duschen müsse, dann sah sie zu ihm rüber: "Hör mal, Kai...".

"Nein! Und nein und nein! Verstanden?! Deine Eltern gehen gar nicht, aber du benimmst dich oberpeinlich, wenn du sie nur siehst. Da würde jeder ausrasten. Hör damit auf, mich damit rein zu ziehen! Auf so eine Nummer steh ich gar nicht." Wütend bog Kai auf den Supermarkparkplatz und stieg aus.

Tini folgte ihm schweigend, während er sich einen Wagen holte, feststellte, dass die Räder klemmten, einen anderen holte, der total nach links zog, aber wenigstens halbwegs fuhr und in der Gemüseabteilung kurz an Renate dachte, um weiter zu gehen, ohne etwas für sie zu besorgen.

"Darf ich auch etwas kaufen? Ich weiß nicht, was Holger so da hat." Tinis Stimme klang noch immer dünn und weinerlich.

Knurrig nickte Kai und suchte einen Bierkasten aus, legte Brause und Cola in den Wagen, ging noch einmal zurück in die Gemüseabteilung, um doch eine Gurke für Tzaziki zu holen und fand sich dann weit vor dem Fleischstand wieder, wo eine Schlange entstanden war, weil das Wetter einen quasi zum Grillen zwang.

In der Schlange wartend musterte er Tini einen Moment lang und meinte dann: "Gut, ich hab mich abgeregt."

Sie lächelte und spulte sofort wieder glücklich die Daten von Ding runter. Größe, Gewicht und Entwicklungszustand. Alles nur Schätzwerte, weil die nächste Untersuchung noch anstand. Zu mehr kam Tini dann nicht, Lolli rief Kai an, um mit ihm den Umzug und seine Abschiedsfeier zu bereden. Es führte dazu, dass Kai nicht nur das nächste Wochenende an Lolli mit seiner Planung verlor.

Lolli brachte mit den Mädchen zusammen Sachen von sich zu Jan in den Keller. Nur ein paar Kleinigkeiten, die er bei der nächsten Fuhre mit nach London nehmen würde. Er war augenscheinlich voll und ganz in den Plänen erstickt, hatte den Faden verloren, was er noch machen musste und was vollkommen unwichtig war und außerdem hatte er am Abend nichts vor und lud sich samt der Mädels selbst zum Grillen ein. "Das klingt supi-gut. Was braucht ihr noch, Schatz?"

"Nix. Ist alles da..., halt, vegetarisch haben wir nur eine Gurke."

"Juhuuu, nicht, dass die noch für was anderes gebraucht wird."

"Lolli!"

"Ja, wie auch immer, dann sag ich Henrike, dass sie aus dem LPP so einen Salat mitbringen soll, macht sie bestimmt. Bis gleich!"

Matt legte Kai auf und war endlich dran. Er spulte Jans Bestellung ab, fügte noch einen Wunsch von Tini an und war froh, als sie an der Kasse sagte: "Noch hab ich etwas Geld, ich lade euch als Willkommensparty ein."

Und so kam es, dass Kai kurz darauf müde und noch immer sauer in der Wohnung hockte, nachdem er die Beute und die Fregatte abgeladen hatte und darauf wartete, dass diese Fregatte aus der Dusche kam, damit er selber rein konnte. Die Grillgesellschaft stellte sich nach und nach ein und wurde immer umfangreicher. Renate und Thilo waren schon da, weil tatsächlich Lerntreffen gewesen war. Matze und Bianca nicht, jeder mit eigenem Grund. Holger hatte von unterwegs aus seinem dritten Stau schon mal angerufen, aber war noch weit entfernt.

165

Jan hatte Tinis Bauch kritisch angestarrt, aber sich dann mehr für das Fleisch, den Grill und den Preis für Weizenbier interessiert. Kai und er gönnten sich einen kleinen Streit um die Rechnung für den Bierkasten, bis Jan mitbekam, dass Tini den aus Versehen mitbezahlt hatte.

Renate hatte von Kai nur einen kleinen Einlauf bekommen, weil dieser sich an Tini und ihren Eltern bereits gründlichst abgezickt hatte. Tini hatte dafür umso mehr geschimpft und davon geredet, was sie von Renates Informationspolitik hielt. Und die Stimmung zwischen Renate und ihr war folglich ziemlich eisig, als Kai endlich in die Dusche durfte und Tini sich, mit frischen Sachen, zu den anderen an den Tisch setzte. Erst Lollis gute Laune schaffte es, als sie sich dann zum Essen um den Tisch stapelten, für Frieden zu sorgen. Lolli brachte seine Flohmarkteinkäufe für Ding aus dem Keller mit hoch, so dass sie bis zum Essen zwischen psychedelischen krakelbunten Babybodys und Mützen hockten, deren Anblick Kai Panik und Magenschmerzen bereitete.

Das Cyber-Öko-Teil, das Lolli aus Versehen gekauft hatte, stellte sich als Nachtlicht, mit an die Decke geworfenen Bildern von kleinen Szenen aus dem Weltall, heraus. Kai legte den Kopf schief und betrachtete die über ihre Wohnzimmerdecke huschenden Sternchen, Monde, Kometen und Raumschiffe. Er musste gleich an das Bambi mit seinem leuchtenden Schlafanzug denken. Es rettete seine Stimmung und deswegen brachte er die Lampe schweigend in seinem Zimmer im Kleiderschrank unter, als sie den Tisch für das Essen abräumten. Das Teil durfte bleiben, er fand es genial und überlegte gar, ob er es sich nicht selber auf den Nachttisch stellen sollte, aber laut zugeben würde er das nur unter Folter.

Dank Henrike gab es genug vegetarisches Essen, so dass Renates Strafe bei der Meckerei blieb, bis Lolli sich auf sie einzuschießen begann. Und Lolli war auf Renate auch echt nicht so gut zu sprechen, seit sie ihn nahezu täglich heimsuchte, um schon mal etwas auszumessen. Die Vorhänge, die Fenster, das Hochbett, die Wände und das Bad. Bei diesen Besuchen kamen dann auch immer mehr die Diskrepanzen zum Tragen, die sich aus seinem und ihrem Geschmack bei der Inneneinrichtung ergaben. Bei der Ernährung, bei Dekoration, bei Geschmack in Sachen Männer, Filme, Kleidung oder so ziemlich allem anderen auf der Erde.

Ihretwegen war er außerdem jetzt schon aus seinem Zimmer vertrieben worden und schlief derzeit bei Benni. Das alles zusammen allerdings seiner eigenen Geldgier wegen. Renate zahlte den Monat bereits eine halbe Miete für ihr Recht, Lolli auf den Geist gehen zu dürfen. Ihretwegen waren seine Haschpflanzen bereits bei Lena untergekommen und ihretwegen musste er seine Umzugspläne rascher vorantreiben als er gedacht hatte. Es schränkte sein Partypensum am Freitag stark ein. Das nervte ihn, und zugleich war da im Hintergrund die Unsicherheit, die er durch das schon etwas merkwürdige Verhalten von Jiffi verspürte. Dieser war für einen Besuch angekündigt. Lolli plante an einem sehr romantischen Wochenende. Übersetzt hieß das wohl, dass Jiffi und er in Bennis Bett bleiben wollten.

Wie Kai das sah, würden diese Pläne entschieden an Renate, einigen Dosen Farblack und den Flohmarktzeiten kranken. Aber er ließ seinen ehemaligen Mitbewohner lieber in dem Glauben, dass alles wundervoll werden musste, wenn man es sich so sehr herbei wünschte.

Benni selber war noch immer unterwegs und meldete sich kaum, so dass es nicht störte, wenn Lolli das Zimmer nutzte. Im Leidklagen war Lolli schon immer große Klasse gewesen und er steckte Lena und Henrike sowie Tini mit seiner Tour gegen Renate an. Sie bekam also von verschiedenen Seiten ihr Fett weg, so dass Kai sich kaum daran beteiligen musste, ihr die Stimmung zu ruinieren.

Kai wollte sich schließlich rasch in der Dusche verbarrikadieren, aber Jan mogelte sich dazu, nachdem er Thilo den Grill überlassen hatte. Nachdenklich beobachtete er Kai beim Ausziehen und der Wahl des Duschgels: "Sie will nicht, was?"

Kai war klar, worum es ging. Er stellte zwei Duschgels weg und ein Neues auf die Ablage. Jan wusste es auch so schon. Tini hatte äußerst unhöflich abgelehnt, in seine Wohnung einzuziehen. Er seufzte: "Sieh es mal so, Holger als Mieter wäre gut, aber Tini alle Tage auf der Matte wäre echt nervig, oder?"

Jan hob die Brauen, dann gab er zu: "Nervig ja, aber es wär so praktisch gewesen." Er zuckte mit den Schultern und meinte dann unbestimmt: "Ich hab dem Verwalter gesagt, dass er eine Anzeige aufgeben soll. Noch könnten die neuen Mieter den Maler sprechen und bei der Küche und im Bad mitreden. Sonst wird das wie hier bei uns gemacht." Typisch Jan nahm er Tinis Entscheidung überhaupt nicht persönlich und hakte alles sofort ab.

Kai blickte sich prüfend um. Damals war die Wohnung der absolute Traum gewesen, mit Traumlage, Traumaufteilung und einem traumhaften Jan, nur für ihn allein, darin. Nun, einige Monate später, war Kai noch immer, wenn er Jan einmal für sich hatte, derart glücklich, dass ihm der Anstrich oder die alte Wanne vollkommen egal waren.

Leider hatte er seinen Jan kaum noch für sich. Lerntreffen, Treffen mit einer durchgeknallten Tini, die dies als Lerntreffen zu tarnen versuchte, einer durchgeknallten Lena zum Tattoo besprechen, einem hysterischen Lolli und einem organisierenden Jiffi, einem renovierenden Bambi oder tausend Anderen bauten sich zwischen ihnen auf.

Die Fußballsaison startete außerdem wieder und Jan musste nicht nur selber trainieren, sondern auch als Trainer ran. An fast jedem Abend war er deswegen bald wieder für Stunden fort. Mit leiser Sehnsucht blickte Kai seinem Freund hinterher, als dieser zum Grill zurückging. Wären sie allein gewesen, hätten sie vielleicht zusammen duschen können. So wurde Jan von vorn schon wieder gerufen, als Kai gerade dabei war, die Wassertemperatur zu prüfen.

Nach seiner einsamen, unerotischen und unromantischen Dusche fühlte Kai sich den Anderen wieder gewappnet, aber er war noch nicht zufrieden. Eine ätzende Stimmung machte, dass ihn alles störte und ärgerte. Kleinigkeiten am Allermeisten. Jans Sporttasche im Flur, sein eigenes nasses Handtuch für das er keinen freien Haken im Bad mehr fand, die leicht zerknickten Seiten des Skripts in seinem Zimmer und der Kratzer auf seinen, noch recht neuen, Sandalen. Alles zog ihn runter, reizte ihn, störte und nagte.

Er starrte missmutig für eine ganze Weile in seinen Kleiderschrank. Er hasste die Unordnung darin, hasste sich selber dafür, dass er so schlampig war und zog sich endlich ein beliebiges frisches T-Shirt und eine seiner älteren Shorts an. Mies drauf tappte er barfuß auf die Dachterrasse, wo Lena die Skizzen von Tanja herum zeigte.

Kai musste seine Meinung sagen, fühlte sich immer noch ätzend gestimmt und berichtete erst einmal, dass er Lena von der totalen Kitschbombe abgehalten hatte. Sie kommentierte das nicht, aber ließ die Mundwinkel hängen. Diese Tattooidee schien ihr mittlerweile von derart vielen Menschen ausgeredet worden zu sein, dass Kai fast annahm, Tanja könnte auf ihrer neuen Skizze ebenfalls sitzen bleiben. Henrike war jedenfalls nicht dafür und sagte dies deutlicher als nötig.

Kai war dankbar, dass er aus dem Schussfeld der Leute geraten war und half Renate beim Tischdecken, ohne mit ihr zu reden, weil er noch immer auf sie sauer war. Er war auch noch sauer auf Tini und setzte sich extra weit von ihr weg auf die Bank. Er hielt den Platz neben sich für Jan frei, der aber leider nicht auftauchte, sondern mit Thilo draußen am Grill aß und ihn vollquatschte. Eifersüchtig starrte Kai sich auf Jans altem T-Shirt fest. Eigentlich war der Tag doch wieder im Lot, aber Kais Laune ließ sich nicht retten.

Er aß wenig, hatte keinen rechten Appetit. Zum Ausgleich konnte er Jan angaffen, weil er sich dafür günstig gesetzt hatte. Und so betrachtete er dösig wie die schrägen Sonnenstrahlen den gebräunten Nacken von Jan berührten, wo die Haare sich unmöglich wüst abstehend vergeblich um die Aufmerksamkeit eines Friseurs bemühten. Die sommerbraune Haut und die ausgebleichten Haare, hier und dort fast goldblond, waren genauso wie am ersten Tag, als Kai seinen Jan kennen gelernt hatte. Im Herbst, gleich nach der ersten Vorlesung. Die leicht zerschrammten Unterarme, die kräftige Muskulatur der Schultern, was ihn von weitem kompakter wirken ließ, als er eigentlich war, und der strahlende Blick, als Jan sich einmal zu ihnen umdrehte und Tini einen dummen Spruch zuwarf. Alles genau wie an diesem Tag.

Kai versank in romantisch gefärbten Träumen, die ihn zugleich melancholisch werden ließen, weil Jan, der Jan von damals jedenfalls, mit einem Mal unerreichbar schien. Alles war so kompliziert und anstrengend geworden, keine Träumerei mehr, sondern Realität und zwar eine, die Kai so nicht hatte haben wollen.

Er überließ Lolli die Unterhaltung am Tisch mit Leid klagen und Renate mit Vorhaltungen und träumte sich weg an die allerersten Tage, in denen er Jan in der Uni immer mal wieder getroffen hatte, in denen alles noch gut gewesen war. In denen sein Traummann auch wirklich nur Traummann war. Das Leben war so leicht gewesen. Er hatte den Studienplatz, hatte mit seinen Eltern ausgerechnet, dass er es sich würde leisten können mit Arbeit nebenher. Er hatte sich dann eine Wohnung gesucht, die diesen Wunsch fast wieder ins Wanken brachte, weil sie doch deutlich teurer war als gedacht. Aber Lolli hatte ihn in Sekunden überzeugt und adoptiert. Endlich war er mit etlichen anderen 'Erstis' zur potthässlichen Uni gefahren, im blöden Bus, weil er sich mit den Linien in die Richtung noch nicht auskannte, und hatte stolz die Vorstellungsvorlesungen besucht.

Kai erinnerte sich, wie der Chemieprofessor ihn geärgert und deprimiert hatte und wie er gemeinsam mit einigen anderen raus gegangen war, als der Typ auch noch meinte, die Zeit überziehen zu müssen. Das Schwatzen der Anderen am Tisch verschwamm, als er sich an den Moment erinnerte, als er Jan zum ersten Mal gegenüber gesessen hatte. An dem orangefarbenen, abgeschabten und angemalten Ecktisch in der Cafeteria, ihrem späteren Stammtisch. Jans toll gebräunte, leicht zerkratzte Arme hatten locker auf der Platte zwischen ihnen gelegen, während er Kai frei heraus von seinen Befürchtungen und Hoffnungen für das Studium erzählte.

Es war damals nicht viel zwischen ihnen passiert, eigentlich gar nichts. Sie hatten Bücher besprochen, Kurse verglichen, das Übliche. Es passierte an allen anderen Tischen umher auch, aber Jan war nach der Unterhaltung aufgestanden und hatte einen Kurs getauscht, um bei Kai in der Gruppe sein zu können. Und das war es gewesen. Er hatte frei heraus gesagt 'Damit wir das zusammen machen können' und es hatte wie eine Liebeserklärung in Kais Ohren geklungen. Gleich darauf war die Vorlesung aus gewesen und die anderen hatten Jan gefunden, vereinnahmt. Matze, Thilo und Bianca. Er war zum vorlauten Fußballproleten mutiert und Kai hatte sich gefühlt, als sei er aus einem Traum in einen Alptraum geschlittert.

Dennoch hatte Jan ihn mit Blick in die Augen und einer kurzen Berührung an der Schulter verabschiedet, als die anderen zu einer Feier weiter gezogen waren. Er hatte ihm das Versprechen auf ein Treffen zur nächsten Vorlesung abgenommen. Kai erinnerte sich, wie er im verliebten Trancezustand am Abend durch die Stadt gefahren und Lolli natürlich in der Wohnung in die Arme gelaufen war. Er war noch dumm und dusselig verliebt gewesen und hatte ihm alles erzählt. Das Gefühl der Richtigkeit und das Gefühl, das größte Glück auf Erden zu haben, ein unverschämtes Glück, überkam ihn erneut. Traum hin oder her, Jan war da, bei ihm, mehr konnte man sich nicht wünschen, oder?

Laut Schicksal, Statistik und jedweder schwuler Erfahrung hätte dieser Traum doch eine Bruchlandung hinlegen müssen. Damals hatte Kai auch nichts anderes gedacht. Lolli hatte ihn sehr unsanft auf den Boden der Realität gestoßen und sehr streng ermahnt, sich wegen der Hete nicht zum Idioten zu machen. Er hatte Kai auch sehr drastisch daran erinnert, wie schief das gehen konnte..., schmerzhaft schief. Noch immer war Kai jeden Tag glücklich darüber, wie gut es gegangen war. Sie passten zusammen. Es war das Einzige, das er so sicher wusste, dass er es nie in Frage stellen konnte.

Die nächste Ladung Würstchen kam vom Grill und eine Frage von Lena zur Motorradsache unterbrach Kais Ruhe, weil sie sich nun alle nach seinem Befinden erkundigen mussten. Zum Glück bekam Jan den Wirbel nicht mit.

Bardo kam direkt von seinem Job im LPP zu ihnen und war durchgeschwitzt und fertig, unter den Bambiaugen lagen violette Ringe, die Kai ein schlechtes Gewissen bereiteten, obwohl er gar nichts damit zu tun hatte. Vermutlich nicht. Bardo betrachtete den Besuch desorientiert, dann schleppte er sich in die Dusche und kam erst zu ihnen, als sie schon fast mit dem Essen durch waren. Intensiv nach Kais Duschgel riechend, was dieser mit schrägem Blick kommentierte, dessen stumme Botschaft Bardo sicherlich verstand, aber nur mit einem schuldbewussten Grinsen beantwortete.

Gerade als er kam, stand Tini auf und räumte die Teller der anderen auf den Küchentresen, um für den Nachtisch, eine aufgeschnittene Ananas, Platz zu schaffen. Mit einem seiner Schlabbershirts mit dem Logo einer Band bekleidet ließ Bardo sich samt einem Glas Cola reaktionsschnell neben Kai nieder, bevor Tini sich den Platz auf ihrem Rückweg sichern konnte. Er nahm sich einen Berg Kartoffelsalat und ein schon kaltes Würstchen und begann systematisch damit, sich voll zu stopfen.

Zwischen einigen Bissen strahlte er Tini an und fragte: "Hast du dich schon auf einen Namen festgelegt? Kai wollte nichts verraten, soll es ein Geheimnis bleiben?"

Kai stöhnte innerlich auf und verpasste Bardo einen Ellenbogenstoß zur Strafe. Er wollte weiter von Jan träumen und die anderen ignorieren, aber das war nicht mehr möglich. Tini hatte ihn sofort im Blick: "Nein." Tini ließ sich gegenüber nieder und piekte ein Stück Ananas auf: "Ich will, dass Kai mit dem Namen einverstanden ist." Und sie schaffte es, noch immer zu klingen wie ein verstocktes Kind. Gereizt verschränkte Kai die Arme.

Lolli lachte laut und Lena bemerkte, noch von Kais Attacke auf ihre Tattooideen, ätzend gestimmt: "Na, dann viel Glück."

Bardo seufzte und runzelte ernsthaft die Stirn: "Der Name ist superwichtig, finde ich. Er ist für den Charakter wichtig. Und wie wir gesehen werden, nicht wahr?"

Amüsiert blickte Lena ihn an: "Und das aus deinem Munde, Bardo Fröhlich."

"Hm." Bardo grinste sie an.:"Meinen Namen vergisst niemand so rasch..., früher haben mir die Leute dann immer noch gesagt, dass sie meinen Namen erst interessant fanden und dann haben sie mich singen hören und konnten mich nicht mehr vergessen. War ein nettes Kompliment und der Name hat dazu beigetragen. Ist was Besonderes."

Kai nickte, in Erinnerung an Bardos absolute Wahnsinnsstimme vor dem Stimmbruch. Henrike fragte nach dem Singen und sie redeten über Musik und die Oper und leider auch über die Namen berühmter Sänger und die sehr merkwürdigen Namen, die einige Schauspieler ihren Kindern verpassten.

Und ab diesem Moment wollte Kai die Namenssuche noch weiter aufschiebe. Aber es wurde nicht zugelassen, er musste sich der Frage stellen und das noch von seinem Anfall im Flughafen geschwächt. War ja klar, dass sie keine Rücksicht auf ihn nahmen.

Tini durfte dieses Mal den Namensreigen beginnen. Sie trug nun ein dunkelblaues ärmelloses Oberteil mit lauter winzigen roten Kirschen drauf, dazu passend hatte sie Turnschuhe mit dem gleichen Design, dazwischen eine eher knappe Shorts, die ihre gut gebräunten, fabelhaften Beine zeigten. Auf der Bank wippend meinte sie auf den Vorschlag, mal ihre Namen auf den Tisch zu legen, dass Kai sowieso gerade sauer auf sie sei und der Moment nicht so günstig.

Lolli und Lena lachten sich daraufhin über sie kaputt. Mit einem ziemlich gnadenlosen: "Wann ist er das nicht?" wurde sie auf den Boden der Tatsachen zurück geschossen.

Darauf holte Tini, überaus organisiert, ein ekelig niedlich eingeschlagenes Babynotizbuch heraus. Darin lagerte sie etliche Bilder, Ausschnitte aus Zeitungen, Ultraschallbilder und dergleichen. Außerdem hatte sie Seiten für Namenssuche und andere Dinge, die sie durchdacht haben wollte, Adressen, Termine und Telefonnummern der Ämter und einen Zeitplan, wann sie welchen Antrag wohin schicken musste. Noch immer leicht deprimiert meinte sie: "Kai mag die Namen alle nicht, aber ich lass sie euch gern hören." Nach kurzem Blick auf Jan, der aber mit Thilo draußen saß und sich und ihn in psychologisch wertvolles Schweigen über einem Weizenbier gehüllt hatte, holte sie Luft und sagte: "Kaspar."

Kai kniff die Augen zu und das war der Startschuss für Renate, offensichtlich sehr eifrig bemüht, bei Tini wieder halbwegs in die guten Karten zu kommen, den Namen superklasse zu finden. Lena fand den Namen nicht gut für ihre eigenen Kinder, aber für Tini, meinte sie, sei das sehr passend. Überhaupt war Lena ihrer Superfreundin Tini vom Moment an, als sie den Bauch streicheln durfte, total auf die Pelle gerückt. Für Henrike war das der Moment, Kai zu unterstützen, indem sie mürrisch: "Tri-Tra-Trallala, oder was?" sagte und begann, den Tisch abzuräumen. Augenscheinlich hatte Henrike sich den Abend anders vorgestellt als mit Tini als Mittelpunkt, die ihre Reiseerlebnisse darbieten durfte, ihren Bauch, ihre Pläne und ihre Probleme mit den Eltern und Kai.

Kai war Henrikes Meinung und flüchtete in die Küche, um die Teller in die Spülmaschine zu stellen und eine Tüte Pistazien auf den Tisch zu werfen, die sich Bardo sofort heran angelte, während Tini den Wunschnamen von vorn bis hinten verteidigte und so nett und so niedlich und so weiter fand, bis Lolli sie nach Ausweichplänen fragte. Als erstes kam 'Jasper'. Worauf Lolli sagte, dass sie nun nicht zu reimen beginnen sollte, und alle lachten. Dann zählte Tini seufzend noch weitere Namen auf, betonte aber, dass die nicht so ganz ihre Wünsche spiegelten. Die Namen waren allesamt beknackt und doof und Kai ging zu Jan raus, um dem zu entkommen, wurde von Thilos kühlen Blicken jedoch noch an der Terrassentür abgewiesen und wandte sich hastig wieder den anderen zu, nachdem er sich zwei Teller gegriffen hatte.

Drinnen hatte Lolli nun ein Spiel entwickelt. Jeder musste seine Lieblingsnamen und den Grund nennen. Die Namen wurden auf Servietten notiert und mit den Hülsen von Pistazien durfte jeder eine Stimme für oder wider den Namen abgeben. Die Serviette mit den meisten Nussschalen sollte der Sieger werden. Kaspar war von Tini zwar lang und breit verteidigt worden, aber die anderen konnten sich nicht durchringen, auch darauf zu setzen. Die Serviette blieb leer bis auf ihre und Renates Punkte.

Lolli machte weiter: "Tini sagt Kaspar. Jeder nur einen Namen, bitte. Na gut, Jasper ist auch das gleiche, schreib mit dazu, Tini. Ich sage: Ariel." Er schrieb es schwungvoll auf seine Serviette und legte eine Nuss dazu. "Wie der Engel. Ich weiß noch, wie ich im Urlaub auf Mallorca diesen Ariel hab kennen lernen dürfen und seine absolut engelhaften Gesichtszüge in so einem Gegensatz standen zu diesem teuflischen..."

"Keine Details, Lolli, danke!"

"Spielverderber...., jedenfalls ist der Name hängen geblieben als wirklich passend für einen so richtig hübschen Mann, der das so richtig weiß und auch auszunutzen versteht."

"Leuchtet ein. Du hast meine Stimme." Lena war gut drauf und Henrike schüttelte den Kopf.

Nachdenklich legte Tini den Kopf schief, dann schoss sie Lolli mit einem gnadenlosen: "Viel zu kitschig." nieder und blickte Lena an: "Du bist dran."

"River-Pax." Lena hob die Schultern. "Nimm den nicht, das mach ich, wenn ich mal einen Sohn kriegen sollte." Sie grinste, schrieb den Namen, den Kai spontan doof fand, auf ihre Serviette.

Henrike schnaubte und murrte: "Flowerpower, was?"

Darauf meinte Lena bissig: "Na los, rück du deinen geheimen Namen raus, Henri. Wenn du Babys so scheiße findest, dann benenn doch einfach eine Katze."

"Ich hab keinen Namen, auch nicht für eine Katze. Ariel ist mir auch zu kitschig. Aber, falls das hilft, ich kenne einen Ari, das ist dann wohl die Kurzform von Ariel. Hast mich grad daran erinnert. Der Typ hieß wirklich nur so. Ari Flemmenheger. Seine Eltern wollten den vielen E im Namen Kontra bieten, hat er so gesagt." Sie sah zu Kai rüber. "Der sah auch aus wie ein böser Engel und hatte es ziemlich raus. War dein Vorgänger an der Bar bei Leon, war nur ein paar Wochen da, dann hatte er einen geileren Job." Mit schief gelegtem Kopf schrieb sie den Namen in Druckbuchstaben und hatte sogleich die Stimme von Lolli, von Lena und Tini merkwürdigerweise auch.

Lena erinnerte sich an den Typen und befand zustimmend und gut gelaunt: "Der war echt abgefahren hübsch, hast Recht, Henri."

Kai fand es gut, dass dieser Ari gegangen war, um ihm den Job frei zu machen und fand, dass Ari okay klang, wirklich, auch wenn er seine Nüsse bei sich behielt. Er grübelte über den Namen und seine Verwendungen im Alltag, erinnerte sich, dass er dank des kurzen Namens immer um einen Spitznamen herum gekommen war, und dass er das sehr gut so fand, während Lolli und Lena zu Namen ihrer Exfreunde übergegangen waren. Die Servietten füllten sich mit Namen und Nüssen und die Namenszettel lagen bald überall auf dem Tisch umher. Kai nahm sich noch einen Schluck Prosecco und Wasser in sein Glas und schwieg sich dazu aus.

Renate war die nächste. Sie nahm die Namensfrage recht ernst:"Nils oder Patrick. Die Namen mag ich, weil sie so schön unkompliziert sind, aber zugleich für Jungs und Männer gut gehen. Immerhin muss man bedenken, dass der Name für ein paar Jahre einem Jungen gehört, dann für Jahrzehnte einem Mann."

Nachdenklich nickte Lolli das ab. "Einem fabelhaften und, mit Glück, wunderschönen Mann. Kai, das schafft Verantwortung. Aber Nils geht nicht und Patrick hab ich als eher ungut in Erinnerung."

Das hatte Kai auch. Es waren Namen, deren Besitzer er in seiner Erinnerung in Verbindung brachte mit Stress und Ärger und Kloppereien in der Schule. Er schüttelte instinktiv den Kopf, war aber sowieso noch nicht gut genug auf Renate zu sprechen, um ihre Vorschläge zu würdigen.

Tini hatte ihr offensichtlich verziehen: "Die Namen sind gut, und du hast so Recht damit, dass ja nicht nur ein kleiner Junge den Namen tragen wird. Die Qual der Wahl ist echt schlimm."

Und in diesem Moment kamen Thilo und Jan rein und schlossen die Tür, weil sie von Mücken angefallen worden waren. Thilo bekam sofort den Auftrag, seinen Wunschnamen für Ding zu sagen und setzte sich zum Nachdenken auf das Klo ab. Folglich musste Jans Name erst einmal her.

Jan nippte von seinem Bier, lehnte sich zurück und sagte unbeeindruckt und endgültig: "Leeve. Das steht doch auch schon fest."

Tini ließ sich die Bedeutung erklären, war mit einem Mal voll dafür und grinste zwischen Jan und Kai hin und her. Dann sagte sie mit etwas Bedauern, dass das aber nicht der Rufname werden würde. Thilo kam zurück und Kai erhob sich, um sich selber zum Erholen aufs Klo abzusetzen.

Thilo sagte, noch bevor er sich zu Renate gesetzt hatte: "Hero. Jan, gib mir mal mein Glas rüber."

"Hero?" Kai blinzelte und überlegte.

Lolli schrieb das auf eine Serviette und legte seine Nuss dazu, die anderen fanden den Namen auch gut, Henrike aß ihre Nüsse lieber. Bedauernd meinte Lolli: "Tini, das wird, glaube ich, auch so schwer, ich könnte mich nicht entscheiden. Gib dem Balg einfach acht Namen. Nach der Nusslage wird es dann ein Ari Hero Pax Patrick ehm..., ich hab den Faden verloren."

Kai sah das Wort an und legte den Kopf schief. Klang okay, wenn man ihn fragte. Er hatte mit dem Namen zu einverstanden ausgesehen, denn Tini sagte hastig: "Das geht nicht!"

"Was? Wieso denn?" Lena mochte den Namen auch und Jan fand ihn nicht übel. Thilos Serviette hatte die meisten Nüsse.

Tini schüttelte den Kopf: "Das geht nicht. Aus dem gleichen Grund, aus dem Leeve als Rufname nicht geht." Sie schob die Hände über den Bauch und ruckelte unruhig rum: "Das wird mit dem Nachnamen so blöd."

Kai schwante etwas, er starrte sie an. "Nach-na-men?"

Und im nächsten Moment trug Tini ihr stures Gesicht zur Schau. Und jetzt erkannte Kai es als das, was es war. Die Vierjährigensturheit. Genau wie wenn sie ihren Eltern, mit Vierjährigen-Gejammer, sagte, dass sie Alles allein entscheiden wollte. Tini begegnete seinem Blick mutig und stur und verkündete: "Ding wird deinen Nachnamen tragen und Hero Hellmann geht nicht. Leeve Hellmann ist mir auch zu E-lastig."

"Wie bitte? Warum denn die Scheiße?!" Kai wurde in diesem Anfall unterbrochen, die Türklingel läutete einmal knapp und das war sicherlich Holger. Jan kümmerte sich um dieses Problem, indem er Tini den Auftrag erteilte, ihren Freund mal rein zu lassen und sich selber in die Mücken auf der Dachterrasse stürzte, um Holger noch zwei Würstchen und ein Stück Fleisch auf den Grill zu werfen.

Kaum war Tini weg, legte Lolli die Hände auf den Tisch und lehnte sich zu Kai rüber. "Du sitzt echt in der Tinte, meine Süße."

"Mehr als mit dem Ding ging doch eh nicht. Der Name ändert nichts daran." Kai dachte an die Welle und zuckte mit den Schultern.

"Doch. Die Stimmung und Verantwortung und wie heißt Holger denn? Wenn sie heiratet, heißen die Kinder dann vermutlich auch so."

"Matthiesen."

"Dann nennt das Ding besser nicht Matti, falls das mit dem Namen dann doch noch geändert wird."

Lolli nickte weise und fummelte an seinem Handy rum. "Auf keinen Fall außerdem Fynn, Luca oder Max. Die sind in den Top Ten derzeit die ersten Plätze. Alexander bitte auch nicht, das klingt so nach Jurastudium und null Sexappeal."

Henrike stimmte zu und sie unterhielten sich über die Namen ihrer Eltern und die Entwicklung der Namen und darüber, dass man an den Namen der Leute ja auch ihr Alter oft schätzen konnte. Kai ging auf Klo und dann umgehend an den Kühlschrank, um noch mehr Prosecco für seine Nerven und Lollis Pegel zu holen.

Bardo folgte ihm, nahm sich Cola und lehnte sich dann neben Kai an den Kühlschrank: "Du, Ari ist dann doch keine schlechte Wahl. Der gefiel Tini und dir am besten, oder?"

"Hm." Es war die Wahrheit. Die Namen der letzten Wochen hatte Kai vor Augen und Ari hatte ihm spontan gefallen. Kurz, aber nicht gewöhnlich, nicht so verbreitet aber zugleich nicht peinlich abgehoben wie die komplette Version Ariel. Er konnte zu dem Namen einen Jungen sehen und einen Mann und es passte, wenn sie den verdammten Namen von ihm auch noch haben musste. Er nickte.

"Und Tini kann die anderen Namen danach anhängen, man kann ja immer mehr als einen Namen nehmen."

"Hm. Ich hab nur den Einen, das hat mir immer gereicht."

Bardo lachte. "Wir Kinder haben alle fünf Namen. Da haben die Paten mit aussuchen dürfen und dann tragen wir noch unsere Schutzheiligen mit im Namen."

Erstaunt blinzelte Kai Bardo in das fröhliche Gesicht. "Echt? Wie heißt du denn noch?" Ganz privat dachte er sich, dass Bardo doch wirklich genug Strafe war. Was mochte da noch kommen?

Bardo schüttelte den Kopf. "Nee, das erzähl ich wann anders. Jetzt ist Ding dran. Also, kannst du dich durchringen oder willst du krass sein und abwarten, bis er da ist?"

Kai dachte wieder an die Welle und atmete einmal durch, kippte seinen Prosecco mit Wasser, füllte nach, dann bestimmte er: "Wenn die das mit den E so hat, müssen wir es machen wie der Barkeeper. Ding heißt dann jetzt Ari." Er seufzte, trank einen Schluck und fügte an "Ari Hellmann meinetwegen." Das würde seine Eltern unter Umständen interessieren. Aber Kai beendete den Gedanken daran nicht, sondern trank das Glas vollends aus.

Jan blickte um die Ecke. "Ari Leeve Hellmann, Baby!"

Tini, endlich vom Begrüßen ihres Freundes zurück, trat an den Tisch und maulte: "Ich hab die Namenswahl verpasst?"

Kai begrüßte Holger mit einem Nicken und reichte ihm aus der Küche ein Bier rüber, dann sagte er: "Ari ist in Ordnung, für Ariel bring ich dich um und lass es wie einen Unfall aussehen."

Zufrieden strich Tini sich über den Bauch: "Ari Kaspar Leeve dann also."

Holger blinzelte in der Runde rum, dann streckte er sich und lachte: "Na dann haben wir diese Hürde ja geschafft. Die nächste Runde bitte erst nach dem Essen. Ich bin grad zehn Stunden durchgefahren, das war der reine Wahnsinn da draußen."

Jan kam mit den Würstchen rein und schob sie Holger vor die Nase: "Allens jut. Hier kannst du nicht verhungern." Die beiden grinsten sich an, und Kai konnte deutlich sehen, dass Tini diese Freundschaft nicht so richtig passte. Er selber dachte bei sich, dass sie sich so allmählich mal abregen konnte. Jan war da und würde bleiben. Ding..., oder Ari vielmehr, würde von Jan so einiges abkriegen, das würde sie nicht verhindern können. Nicht, wenn sie wollte, dass Kai jemals auf ihn aufpasste.

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Lena erhob sich und verkündete: "Dann werden wir den Namen jetzt überall reinschreiben und drauf sticken, Tini kann ihn sich dann auf den Arsch tätowieren lassen." Sie gähnt:. "Ich wollte gar nicht so lang bleiben. Henrike und ich sind das Wochenende unterwegs, tut nichts, was wir nicht auch tun würden!"

Lolli grinste zufrieden. "Da werden wir später dann dem Ari-Ding was zu erzählen haben. Benannt nach einem Ferienflirt von mir und einem Barkeeper von Leon. Außerdem lag die Wahl hauptsächlich daran, dass kein E darin vorkommt. Durchdacht und romantisch." Er erhob sich und fragte Lena: "Bist du mit dem Auto da? Kannst du mich rum fahren, oder ist das voll ab von deinem Weg?"

Kaltherzig sagte Lena ohne zu zögern: "Es ist vollkommen in der anderen Richtung und das weißt du auch."

Renate erhob sich und lächelt: "Ich kann dich rum fahren, Peter."

Es war erstaunlich, wie viel Furcht Lolli vor ihr hatte. Seine Mundwinkel senkten sich, aber dann nickte er brav und meinte lakonisch: "Ist vermutlich das Beste." Er wandte sich an Kai und zerrte ihn mit sich in den Flur. "Schatz? Die Sachen unten nehmen wir dann Samstag mit. Um sechs Uhr geht es los, wir kommen hier her und holen alles aus dem Keller raus, ja? "Er blickte sich einmal um und zischte: "Und Jiffi und ich pennen dann besser hier. Mit Renate in der Wohnung geht bei ihm sicherlich erst recht nichts mehr. Am Sonntag fahren wir dann mit dem Mietlaster per Fähre nach London. Ich hoffe, dass alles so klappt wie ich mir das plane!" Er verwand die Hände und übersah natürlich gekonnt, dass die Planung an Jiffi, seinen außerordentlich praktisch veranlagten Freunden in London und an Kai und Jan hängen geblieben war.

Kai seufzte und rieb sich die Augen: "Okay. Kommt vorbei. Das ist aber das allerletzte Mal, dass du hier mit Jiffi pennen darfst. Du hast jetzt eine Wohnung in London, zieh gefälligst endlich dorthin. Ich brauch unsere Wohnung mal so langsam wieder selbst und zwar zum Lernen für die wichtigste Prüfung meines Lebens!"

Und vor allem brauchte er die Wohnung mal wieder für sich und den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Doch an diesem Abend bestand keine Chance auf Zweisamkeit. Bardo ging früh schlafen und gähnte sich zuvor schon durch das Aufräumen in der Küche. Aber die anderen blieben. Erst diskutierte Jan über Stunden mit Tini und Holger das Für und Wider eines Einzugs in das Haus, bis Kai gereizt schimpfte: "Sie will nicht, damit hat sich das Thema! Geht jetzt endlich weg!"

Tini blinzelte die Küchenuhr an und meinte entschuldigend: "Ich hab Jetlag und kann noch nicht schlafen."

Holger grinste sie optimistisch an: "Uns fällt sicherlich etwas ein, das wir tun können." Damit klemmte er sich seine dicke Süße unter den Arm und schob endlich ab. Mit ihm das Gepäck. Der riesenhafte Karton mit Kinderwagen und anderem Kram lag quer in ihrem Keller und war im Weg, gemeinsam mit Lollis letzter Fuhre Flohmarktscheiß und einigen Umzugskartons mit englischer Aufschrift.

Dann war da aber noch der an Liebeskummer kranke Thilo. Er hatte mit Bianca Schluss gemacht und blieb dabei, aber das hieß noch lange nicht, dass er damit glücklich sein musste. Er betrank sich während des Abends nebenbei so sehr, dass er im Endeffekt bei Bardo im Bett landete.

Es führte zu einem sehr komischen Erwachen. Thilo hatte die Erinnerung daran, wo er war und wie er dort hingekommen war, vollständig verloren. Er erwachte mit Blick auf das romantische Foto von Kai und Jan, das im Rahmen auf Kais Schreibtisch stand, neben sich ein nur wenig bekleideter Junge, weil Bardo sich gerade umzuziehen begonnen hatte. Bardo hatte schon tief geschlafen und konnte Thilo ebenfalls nicht aufklären, was in der Nacht gewesen sein mochte.

Es dauerte zwei Stunden und fünf Kaffee, sowie eine Aspirin Brause, bis Thilo Kai glaubte, dass er nur besoffen kollabiert war, dass nichts falsch war daran, wenn er in dem Gästebett erwachte und dort eben noch ein Gast gewesen war, zudem einer mit älteren Rechten, dass Jan ihn nicht extra hatte reinreißen wollen und dass Jan ihn auch nicht extra hatte hängen lassen, sondern schlicht wie jeden Morgen im Wald joggen gegangen war.

Nachdem Thilo dies alles von Jan auch noch einmal gehört hatte, Bardo zur Arbeit abgeschoben war und Thilo nach Hause, waren sie zwar endlich für einige Sekunden allein, aber dann stand schon Lolli wieder in der Tür, um noch mehr Sachen für den Umzug zu bringen.

Kaum war der fort, rief Tini an und erinnerte Kai an den Ultraschalltermin von Ding. Sie verbot Jan den Eintritt, worauf Kai kundtat, dass er ohne Jan nicht mehr kommen würde. Es führte zu einem Krach in drei Akten, bei dem Jan und Kai von einer, nun wieder für Tini gestimmten, Renate, rundgemacht wurden, weil sie Tini immer so quälen würden. Kai machte darauf Tini rund, dass sie froh sein könne, dass er sich überhaupt Zeit für ihre Scheiße nahm und Holger bat Jan, doch einfach nicht zu kommen. Darauf bat Kai Holger, dass dieser die Fregatte mal abregen sollte.

"Jan hat den Namen ausgesucht, das reicht doch hin", war Tinis Argument.

Kai erwiderte, dass Jan sicherlich in den nächsten Monaten oder vielleicht gar Jahren sehr viel Geduld mit Ding haben würde, also sollte Tini nun mit Jan Geduld haben. Tini hmpfte, jammerte rum, dass sie von ihren Eltern verfolgt würde und nervte Kai unendlich. Er hing im Lernplan hinterher und das ohne Arbeit. Die Woche zog sich ab Montagmorgen echt in die Länge, schon bevor sie begonnen hatte.

Das Ende vom Lied nach all dem Streit war ein Ultraschalltermin am Montagabend, bei dem die molligen Sprechstundenhilfen, eine unangenehm nach Zwiebeln riechende Hebamme und die blonde Ärztin mit der gemeinen Lache sich konfrontiert sahen mit Tini, umfangreich, Kai, müde vom Stress außerdem sehr genervt und Jan, superinteressiert und voller echt fieser Fachfragen, die im Endeffekt das Lachen der Ärztin beendeten, weil sie in einem dicken englischsprachigen Fachbuch nachschlagen musste, um Jan ausreichend Rede und Antwort stehen zu können.

Der Ultraschall selbst führte Ari-Ding als einzigen in der Runde in sehr guter Verfassung vor, lustig am Rumhopsen und Rumzucken und war derart gestochen scharf, dass die 3-D-Aufnahmen sogar die Wimpern zeigten. Tini bekam von dem eher gruseligen Erlebnis, wie aus wabernden, krank orangefarbenen, Massen auf dem Bildschirm mit einem Mal ein Gesicht oder eine Hand auftauchten, sogar ein Video mit nach Hause.

Kai war erledigt, nachdem er mal wieder 'der Papa' gewesen war, den Ultraschall nicht hatte sehen, den Herzschlag nicht hatte hören und die ganzen medizinischen Details nicht hatte wissen wollen. Embryologie hatte von ihnen mittlerweile keiner mehr auf Lücke gesetzt, dafür hatte Jan nachhaltig gesorgt. Sogar die Ärztin fühlte sich wieder rundherum informiert nach ihrem Termin.

Jan war es auch zuzuschreiben, dass eine Spezialuntersuchung einfach so mitgemacht worden war. Eine, die das Herz genauer erkundete. Kai erinnerte sich in diesem Moment, als er seinen Freund angespannt auf den Bildschirm starren sah, dass Jans Bruder damals an einer Herzerkrankung schon am Tag der Geburt gestorben war. Tini wusste das nicht und der Streit um die Notwendigkeit der Untersuchung zog sich über die Untersuchung hinaus, weil weder Jan noch Kai sie aufklärten. Aber Dings Herz war gesund und normal, und wenn Jan dies beruhigte, war für Kai alles wieder gut.

Tinis Laune war nach der Untersuchung jedenfalls vollkommen im Eimer, weil sie derart viele Ehrlichkeiten von Jan hatte ertragen müssen, während sie alle auf Dings Herzschläge im CTG lauschten, dass es sicherlich für ein halbes Leben reichen musste.

Das Ganze war von, Kais Beschreibung, ihren Eltern angestoßen worden. Irgendwie hatte Kai eingefügt, dass Tini sich nicht erwachsen benahm, wenn sie mit ihren Eltern zusammen war. Und das war Tinis Untergang. Sie musste still halten, weil Ding sich alle paar Minuten ablausch sicher verzog. Die Herztöne pochten Kai unangenehm laut um die Ohren, der Raum war ekelig niedlich mit Babybildern ausstaffiert und sie hockten in knatschigen Korbsesseln mit Blümchenbezug. Kaum war die Hebamme raus aus dem Zimmer, öffnete Kai ein Fenster und ließ sich unruhig auf dem Rollhocker nieder, den er angenehmer fand als das knatschige Korbding.

Jan, mit den Bildern von der teuren Ultraschalluntersuchung zwischen den Fingern, lehnte sich in dem niedlichen Korbsessel vor und starrte Tini an. "So? Deine Eltern nehmen dich offensichtlich nicht wahr als eine erwachsene Frau."

Tini wagte es nicht, sich zu bewegen, weil Ari-Ding jetzt bereits mehrfach die Verfolgung durch das CTG abgeschüttelt hatte, was jedes Mal den Einsatz der nach Zwiebel riechenden Hebamme notwendig machte. Sie schüttelte leicht den Kopf:"Sie werden mich nie für voll nehmen! Immer..."

"Nein. das ist gewiss. So, wie du jetzt bist, werden sie dich nie als etwas anderes sehen als ihr Kind. Eines von ungefähr vier, wenn ich das schätzen kann."

"Jan, du weißt ja nicht, wie das ist!"

"Was weiß ich nicht, Tini? Ich weiß nicht? Wie das ist, wenn man erfolgreiche Eltern, hat? Ich weiß vermutlich auch nicht, wie das ist, wenn diese Eltern Erwartungen haben. Wenn sie etwas erwarten, das ungefähr das Gegenteil von dem ist, was man tun möchte?"

Tini zog die Brauen zusammen und konnte nicht kontern. Natürlich hatte sie in ihrer Eile, Jan ein paar zu verpassen, vollkommen übersehen, dass Jan nicht der blöde Fußballproll war, den er gern zur Schau trug. Nicht der Typ, dem alles egal war, mit Eltern, denen alles egal war. Er war der Sohn von Professor Bawenhop, Herzspezialist und von Frau Doktor Bawenhop, Spezialistin für Genetik und das war sicherlich nicht immer leicht gewesen.

Er hatte mit seinen Eltern ausfechten müssen, dass er Fußball spielen wollte. Er hatte in der Schule den Notenschnitt so gehalten, dass er eben durch kam, weil ihm Erfolg in der Hinsicht egal war. Das hatte er nicht, weil er dumm war oder faul. Es war, so dachte Kai es sich, seine Art des Protestes gewesen. Und mittlerweile hatte Jan sich an diese Tour gewöhnt. Seine Eltern tickten gänzlich anders, die Noten waren ihnen wichtig gewesen, Leistung, das Ansehen, das diese Leistung mit sich brachte. Anerkennung in Beruf und Lehre gehörte für sie zum Alltag. Fußball hatte keine Bedeutung in ihrem Leben. Jan hatte sie auf seine sture Art erzogen, stolz auf ihn zu sein. Für die Dinge, die ihm wichtig waren.

Jan legte die Finger gegeneinander und nahm seine Position für anstrengende Gespräche ein. Kai stöhnte innerlich auf und rollte auf seinem Rollhocker hin und her, hasste die niedlichen Poster von Babys in Verkleidungen als Bienchen und Blümchen und dergleichen, die den Raum dekorierten und versuchte die Stimmen von den beiden auszublenden, während er in sein Skript starrte.

Leider schaffte er es nicht, das harte Pochen von Ari-Dings Herz auszublenden, während Jans Stimme in den Hintergrund verschwand mit Ausdrücken wie 'Entwicklung', 'Selbstwert' und 'Erziehung'. Das Tock-tock-tock schien wie eine persönliche Uhr für ihn, die ablief. Kai fühlte sich von dem Rhythmus getrieben. Als liefe diese eine Zeit nur für ihn. Eine gnadenlose Stoppuhr. All das, was er noch tun wollte, tun musste, schien nur noch in immer knapperer Zeit möglich.

Das CTG musste gerade von der Zwiebelhebamme wieder zurecht gerückt werden, als Jan dabei angekommen war, Tini zu sagen, dass sie Leeve keine vernünftige Mutter sein konnte, wenn sie sich nicht von dem Kleinkinddasein bei den eigenen Eltern frei machte. Die Hebamme starrte sie an und nahm, um zu lauschen, zum Schein den CTG-Streifen auf. Die Therapiesitzung nahm unangenehme Ausmaße an und Kai blickte auf seine Uhr: "Tini. Ich finde es toll, dass du und Jan so schön über die Zukunft reden, dann kann ich ja jetzt..."

Tini stütze sich hoch, umfing sein Handgelenk und zischte: "Du. Bleibst!"

Jan hingegen grinste die Hebamme an, sagte ihr, dass sie mit den Zwiebeln echt langsamer machen musste, vor allem, weil Schwangere doch geruchsempfindlich seien. Er verwendete zwei psychiatrische Fachbegriffe, die sie nicht verstand und rückte dann selber den CTG-Kopf an die just beste Position, um der Tante schlechte Laune zu verpassen. Dann sprang er auf und verabschiedete sich von Kai und Tini mit einem lockeren Winken, um mit dem Rad zum Sport zu fahren. Er hinterließ Kai, Tini, Ari-Ding und die Hebamme in einer Wolke der schlechten Laune.

Gereizt fauchte Tini die Hebamme an, dass es jetzt ja wohl langsam gut sein müsse, und dass das CTG auch gern mal leiser gestellt werden dürfte, weil auf dem Flur draußen nun auch alle wüssten, welche Frequenz ihr Baby habe, und sie waren sofort entlassen.

Auf dem Rückweg vom Arzttermin durfte Kai dann die Früchte der Psychotherapie ernten, die Jan gesät hatte. Tini hielt ihm einen unglaublich langen, langweiligen Vortrag über ihr Dasein als Vorführtochter. Missmutig ging Kai neben Tini her, die von all den Dingen erzählte, die immer von ihr erwartet worden waren. Es war echt nicht leicht gewesen, das musste er zugeben.

Wenn sie mit einer Zwei nach Haus gekommen war, hatte es immer sofort geheißen "Warum keine Eins?", wenn sie beim Sport eine Urkunde bekommen hatte, war nicht gelobt, sondern nachgefragt worden, ob sie auch die Beste gewesen sei. Kai konnte verstehen, dass man mit solchem Erwartungsniveau daheim nicht wirklich entspannt aufwuchs. Er hatte aber derzeit seine eigenen Sorgen und wollte nicht immer ihr Kummerkasten sein, daher ließ er sie an der Bushaltestelle kaltherzig stehen und gab ihr beim Einsteigen in den Bus den Hinweis, dass sie sich mit Jan oder Felix oder vielleicht Henri über solche Scheiße unterhalten solle.

Tini wurde bei Henris Erwähnung rot, was interessant und ausbaufähig war. Sie hielt ihn auf und nahm ihm das Versprechen ab, dass er ihr die Leber erklärte, weil sie die Physiologiefragen schlecht gekreuzt hatte. Kai verdrehte die Augen und versprach dies, wenn er dafür einige Tage Ruhe bekäme, was sie ihm hoch und heilig versprach.

Es war leider gelogen. Schon am nächsten Morgen kamen Holger und Tini mit Ari-Ding zum Lernen angerollt. Genau wie Renate, Thilo und Matze. Ihr Esszimmer wurde zur Lerngruppenbastion. Sogar Bianca erschien hin und wieder, auch wenn sie dies nur dann tat, wenn Thilo sein Paniklernen allein bei sich hatte.

Kai verbarrikadierte sich oft und lange in seinem Zimmer, um mal seine Ruhe haben zu können. Jan hingegen war eher der Gruppentyp. Mit den anderen zusammen zwang er Kai noch einmal die verdammte Leber auf, für die Kai dann gut und gern der absolute Spezialist genannt werden durfte. Aber der Endspurt begann immer schneller auf die Prüfung zuzugehen. Thilos Panik brachte ihn gar dazu, sich von seinem Hausarzt ein Schlafmittel zu erbetteln, damit er mal zur Ruhe kam. Jan verpasste ihm eine Psychotherapie und eine Reihe Bier, einige davon mit Schuss, so dass Thilo bei ihnen übernachtete und, dem Schnarchen nach zu urteilen, tief und fest schlief.

Etwas anderes kostete Kai aber auch Nerven. Unerwarteter Weise seine eigene Mutter. Er telefonierte oft mit ihr, weil es seiner Oma schlechter ging und versprach, sofort nach der Prüfung vorbei zu kommen. Die Telefonate über hatte er ein schlechtes Gewissen von epischem Ausmaß, aber die Ding-Neuigkeiten konnte er einfach nicht über die Lippen bringen.

Wenn seine Mutter mit ihm sprach, von Imkes Baby redete, das noch auf sich warten ließ, und dann mit dieser etwas zu leisen Stimme mit einem Mal rasch abbog zu den Neuigkeiten im Verein, der Nachbarschaft und im Krankenhaus, kam es ihm surreal vor und nicht wahr. Es kam ihm unmöglich vor, das Ding dagegen zu setzen, nur seiner Mutter wegen. Außerdem machte ihm der Gedanke an ihre Reaktion auch etwas Angst. Seine Furcht vor der Reaktion seines Vaters zermarterte ihn noch viel mehr. Aber die Anrufe und Unterhaltungen mit seiner Mutter ließen nicht nach, im Gegenteil redeten sie mit einem Mal fast täglich miteinander.

Und die nächste Woche wurde noch anstrengender. Lolli stand ihnen als Gast bevor, weil Renate einige Abende über die Fensterrahmen und Fensterbänke streichen wollte. Dies machte sie auch in Bennis Zimmer, das war so mit, einem weiterhin auf der Flucht befindlichen, Benni abgesprochen.

Lollis endgültiger Umzug nach England stand auch sehr bald bevor. Diese eine Woche hatte er noch, bevor er Stück für Stück, auf drei oder vier Fahrten mit dem Auto, seine Sachen rüber schaffen wollte, daher sollte Jiffi wohl auch vorbei sehen bei ihnen.

Und die Woche sollte zu einer gewaltigen Prüfung für Kais Nerven werden. Lollis Erscheinen bei ihnen ruinierte das letzte Bisschen Ruhe und Frieden, den Kai noch am Abend nach Abzug der verdammten Lerngruppe gehabt hatte.

Jiffi und Lolli gemeinsam, für zwei Tage bei ihnen, waren derart anstrengend, dass Kai sogar an zwei Tagen versuchsweise die Flucht ergriff und in der Uni lernte. Leider war es dort nicht nur recht voll, weil nicht nur er diesen Ort aufsuchte, sondern auch brütend heiß, weil die Bibliothek mit großen Fenstern ausgestattet war, was im Winter freundlich wirkte, im Sommer eher eine Art tropischen Brennglaseffekt hatte. Durchgeschwitzt kehrte Kai daher vollkommen entnervt nach Hause zurück, fiel in die Lolli-Jiffi-Falle, mit Cocktails und Umzugsplänen, und erwachte mit Kater am anderen Morgen und Lerndefizit, was er zeitlich mit Überstunden bei strahlender Sonne und steigenden Temperaturen ausgleichen musste.

Doch so richtig sauer sein konnte Kai mit Lolli auch nicht. Dieser litt schon deutlich sichtbar unter dem Abschied vom alten Leben und auch unter einigen Befürchtungen, was sein neues Leben anging. Es erinnerte Kai stark an seine Ängste beim Umzug in die Wohnung von Jan. Aber er blickte dem kleinen Mietlaster sehr gern hinterher, nachdem Lolli in Hysterie und Geheule versunken seinen Abschied erklärt hatte.

Lolli hinterließ die Wohnung in einem gewissen Chaos, das Kai nicht mehr schaffte zu beseitigen, weil er in der Nacht panisch beim Lernen aufzuholen versuchte. Auch da kam er nicht voran und seinen Freund bekam er gar nicht zu Gesicht, der übernachtete nach einer kleinen Feier bei Thilo. Dem stand Jan, auch wegen des Liebeskummers, noch ein wenig zur Seite. Vordergründig jedenfalls. Vermutlich hatte Jan einfach nur die Flucht ergriffen, nachdem Lolli die Cocktails ausgepackt hatte. Seit zwei Tagen hatten Kai und er sich nicht mehr gesehen oder gesprochen. Nur Kai bekam allmählich auch Liebeskummer. Er vermisste seinen Freund auf einer Ebene, die körperlich zu werden begann.

Es waren noch zehn Tage bis zur Prüfung und Kai fühlte sich von der Anspannung innerlich zerrissen, zugleich hatte er niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Lukas war abgetaucht, hatte mit Noppi anscheinend viel zu tun. Carl hatte mit Pascal sehr viel zu tun, jedenfalls rief er auf einen Versuch von Kai, mit ihm mal zu sprechen, damit er Lolli beruhigte, nicht einmal zurück. Tini war überhaupt nicht zu gebrauchen. Sie hatte im Turbo alles gelernt, war mit Holger glücklich, sprühte nur so vor Hormonen und eine Unterhaltung mit ihr führte für Kai stets zu Wutanfällen, die ihn erschöpft zurück ließen. In diesem Fall rief er nie zurück, wenn sie ihn versuchte zu erreichen.

Kai war eine Woche vor der Prüfung vollkommen erschöpft, übernächtigt, gereizt, empfindlich, ängstlich, gehetzt und er fühlte sich alleingelassen. Vor allem von seinem Freund, der dies alles nicht zu spüren schien.

167

Die letzte Woche vor der Prüfung begann. Nachdem die letzten Tage in der Wohnung mit Lernen und einigen Disputen um das Lernen und natürlich auch die Kleinigkeiten, wie Wäsche oder den Kühlschrank, zwischen Kai und Jan eher unerquicklich gewesen waren, erreichten die Streitigkeiten schließlich ihren Höhepunkt. Kai und Jan hatten sich gerade gepflegt in der Wolle gehabt, weil Kai Holger, Thilo, Tini, Renate und Matze rundherum ausgeladen haben wollte, natürlich ohne es selber zu tun.

Jan wollte die alle da haben, weil es ihn zum Lernen animierte und weigerte sich, die Telefonkette zu beginnen, als Kai sich Jans Handy griff, um ihn dazu zu überreden. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Nachricht von ausgerechnet der Melanie vom Sport. Eine Rundmail an alle Freunde, was eine recht große Gruppe zu sein schien. 'Elf Uhr, FKK-Strand!'

Kai starrte das Display an, dann reichte er Jan das Handy über den Esstisch und verschränkte die Arme.

Jan blinzelte von Kais Gesicht zu seinem Handy, dann grinste er: "Hm, mit Melli muss ich auch noch ganz dringend reden, stimmt. FKK. Das klingt doch mal nach einer geilen Idee."

"Scheißidee. Ich lauf nicht nackt am See rum!"

"Nee, war ja klar. Memme."

"Jan! Ich muss lernen, okay?!"Hysterisch starrte Kai seinen Freund an, der ihn nicht beachtete.

Jan riss die Arme hoch und äffte Kai samt seiner peinlich hysterischen Tuckenstimme voll nach: "Jaaahaaan ich muss leeeeheeernen!"Er winkte ab: "Ich schreib den anderen eine Rundmail, dass wir baden gehen, dann haste deine Ruhe. Bist eh dran mit Küche putzen."

Kai verschränkte wütend die Arm: "Durch Tinis scheiß Termine dauernd bin ich zurück gefallen."

"Tja. Pech, was? Hättest sie ja nicht anbumsen dürfen. Mit wir meinte ich außerdem Holger und mich. Du traust dich doch eh nie mal Spaß zu haben. Streber... Spaßbremse..."

Kai holte Luft, aber Jan lief aus dem Raum und lachte derart mies, dass Kai ihm statt etwas zu sagen nur sein Buch hinterher feuerte. Leider traf er nicht Jan sondern den Vitrinenschrank von Hannah, und das war der Anfang vom Ende.

Jan kam sofort ins Wohnzimmer zurück, als er das Klirren und Scheppern hörte. Betroffen starrte Kai auf die herausgebrochene Scheibe, die anklagend vor dem Schrank am Boden lag.

Er kam nicht dazu, etwas zu sagen, Jan fuhr ihn sofort giftig an, dass Kai ja Hannahs Sachen noch nie gemocht und respektiert hatte. Es ging dazu über, dass Kai Jan anfuhr, dass ihm ja auch nie die Wahl gelassen wurde, die Sachen waren einfach aufgestellt worden. Jan entgegnete, dass es ja wohl auch seine Wohnung sei und Kai nicht mit anderen Möbeln hatte dienen können. Kai holte aus, dass Jan seine Meinung in Sachen Wohnung nie respektiert hätte. Sogar Tini hatte er ihnen aufladen wollen, was Kai überhaupt nicht Recht war.

Vom Thema Tini kamen sie sofort zum Thema Ding und Jans Begeisterung dafür, die Kai zum Kotzen fand. Und außerdem unangebracht. Jan holte aus, um Kai mit näherliegenden Themen zu versorgen. In Sekunden stritten sie über so ziemlich alles, was in der letzten Zeit genervt hatte. Kais Klamotten im Schlafzimmer, weil er die Wäschen nicht runter bringen wollte. Jans scheiß Freunde zu jeder Tages- und Nachtzeit, vor allem Thilo mit seinem Liebeskummer. Kais verdorbene Lebensmittel im Kühlschrank. Jans Bierstapel im Kühlschrank, der diesen total überfüllte. Kais Putztag, der wohl ausgefallen war, etwa dreimal nacheinander schon, Lollis Müll überall, Jans Sportklamotten im Bad überall, Jans Partystimmung, wenn Kai lernen wollte. Jans Fußballjungs, die neulich, mit viel Lärm, zum Grillen kommen mussten. Kais Unehrlichkeit seinen Eltern gegenüber. Jans Einmischung Tini gegenüber. Kais scheiß Prüfungsdepression, so dass man in der Wohnung gar nicht mehr sein mochte und Jans..., Kai kam nicht mehr zum Konter, denn dann..., war urplötzlich mitten im Streit Schluss. Jan ging einfach davon, nahm seine Tasche und wenig später knallte die Wohnungstür und Kai starrte seinem Freund verletzt hinterher.

Erst heulte Kai hysterisch eine Runde, dann duschte er. Ein Blick nach draußen zeigte die passende Aussicht für seine Depression. Der Himmel zog sich dunkel zu, ein Gewitter stand an, aber leider noch nicht gleich. Die Spannung lag in der Luft, die Wolken waren aber eher grau-weiß. Unangenehm heißer Wind fuhr durch die Straße und fegte Papier und Dreck vor sich her.

Kai versuchte zu lernen. Es misslang. Sein Herz pochte unangenehm hart, er war trotz kalter Dusche und Eiswasser schon wieder verschwitzt, es fühlte sich nicht gut an, krank irgendwie. Wie nach zu viel Sport mit Erschöpfung, Schmerzen überall und Atemnot. Außerdem hatte er Bauchweh. Panik. Scheiß Thilo mit seiner Hysterie, die war offensichtlich ansteckend geworden! Nur hatte Kai die Panik gar nicht wegen der Prüfung. Nein. Er starrte aus dem Fenster, dachte nur wieder und wieder daran, dass Jan und er sich gestritten hatten, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Dass er die Vitrine kaputt gemacht hatte, und Jan ihm keine Chance gegeben hatte, sich zu entschuldigen.

Matt und müde sah er sich in der Wohnung um. Jan hatte Recht, wie er betroffen feststellte. Es sah aus wie Sau. Und endlich begann er verzweifelt aufzuräumen. verschwitzt war er ohnehin gewesen. Er fühlte sich auch nicht sonderlich ansehnlich, mit rotem Gesicht und ringeligen Haaren, die nicht saßen, da machte der Dreck vom Putzen nun auch nichts mehr aus. Er schaffte die Klamotten in den Keller, in die Maschine, sogar Jans Sportzeug warf er unten schon mal hin. Die Glasscherben von der Vitrine legte er oben auf den Schrank, vielleicht konnte man das irgendwie kitten. Er schleppte sich schließlich raus in die drückende Hitze und brachte die leeren Flaschen in den Glasmüll an der Straßenecke. Die zerknüllten Notizzettel, die sich um den Esstisch gesammelt hatten, warf er in den Papiermüll, den sie im Keller neben der Bierkiste lagerten. Die leeren Bierflaschen sortierte er in die Kiste ein. Irgendwie tat es gut, das Leben zu sortieren und zu ordnen, auch wenn es nur der Müll darin war.

Er blickte in den Kühlschrank und sah, dass der fast leer gähnte, wenn man das Bier raus gesammelt hatte. Rasch schleppte Kai sich daher in den kleinen Ecksupermarkt und holte ein paar Grundnahrungsmittel, ein wenig Nervennahrung in Form von Eis, weil es zu heiß für Schokolade war und eine Flasche Wein aus dem Angebot. Jan war noch nicht zurück, als er wieder in die Wohnung kam. Draußen war der Himmel nun stahlgrau, in der Ferne grollte es. Kai seufzte und ging seine Skripte durch, legte sie säuberlich auf den Schreibtisch und ordnete einen kleinen Stapel Notizzettel mit Bleistift und Kuli daneben an. Sein Blick glitt zu dem Foto von Jan und ihm. Es war verstaubt, am Rahmen hatte sich eine kleine Spinne gar ein paar Fäden gesponnen.

Erschrocken ließ Kai sich auf das Bett fallen. War das ein Symbol? Waren sie so schnell schon eingestaubt und verdreckt und die Beziehung hatte sich aufgelöst in Vorwürfe und Putzpläne? Irgendwie machte es Kai wütend, dass es ihnen in diesem Sommer gelungen zu sein schien, aus den Gefühlen, der Freude und der Harmonie so ein Schlachtfeld zu machen. Verzweifelt starrte Kai das Handy an, aber der Gedanke, Jan eine Nachricht zu schreiben, über die er sich vielleicht ärgern oder schlimmer noch lachen würde, machte Kai noch mehr Depressionen.

Hastig stellte er sein Handy aus, als es klingelte und ihm Lolli anzeigte, und stand mit mühsamen Bewegungen auf. Er musste einfach etwas tun und lernen konnte er nicht mit dem Gewirr an verzweifelten Befürchtungen im Kopf. Der verstaubte Zustand der Wohnung nervte ihn mit einem Mal noch mehr.

Mit verbissenem Gesichtsausdruck brach Kai in eine Putzwut aus, die ihresgleichen suchte. Staubsaugen, Staubwischen, Spinnweben jagen, eine Gruppe verstorbener Wespen wegfegen, Küche schrubben, bis hin zum Backofen sogar, Bad von oben bis unten schrubben und wischen und den Spiegel polieren, den Spiegelschrank ausräumen, auswischen, alles ordnen, abgelaufene Kondome wegwerfen, dies mit einem tiefen, leidenden Seufzen. Ihm taten nach drei Stunden die Hände weh, die Wohnung blitzte und blinkte und ihm war als hätte die Ordnung in der Wohnung auch in ihm eine gewisse Ordnung wieder herstellen können.

Ihr alberner Streit und der Unfall mit dem Vitrinenschrank war schon über fünf Stunden her, aber von Jan kein Wort, kein Zeichen. Kai hockte sich in die Küche auf den Fußboden, friemelte neue Kerzen in den schönen silbernen Kerzenhalter und starrte in den düsteren Himmel. Die Wolken wurden allmählich schwarz, zogen sich schwer und drohend über der Stadt zusammen. Unwirklich scharf stach der Kirchturm in der Ferne dagegen hervor.

Die Bäume am Wald gegenüber bewegten sich wie eine aufgeschäumte See und machten Kai Angst vor dem großen Sturm. Er aktivierte seine letzten Kräfte und räumte die Dachterrasse leer. Polster rein, Kübel zusammen unter das Dach schieben, bei seinem kleinen Teich zog er die Pumpe raus und brachte alle Windlichter in das Esszimmer, stellte sie der Reihe nach an der Fensterfront auf.

In der Nähe zuckte ein Blitz durch den Himmel. Es grollte düster, hastig schloss Kai die Fenster. Eigentlich hätte Kai nun Licht einschalten sollen, aber er tat es nicht. Seine Kraft war vollkommen erschöpft, er fühlte sich leer und wie ausgewrungen. Er wollte sich gerade auf den Boden legen und einfach dort wo er lag einschlafen, als es an der Tür Sturm klingelte.

Kai war froh, dass er nicht gesessen oder gelegen hatte. Die Energie zum Aufstehen fehlte ihm vollkommen. Matt schleppte Kai sich in den Flur, öffnete die Tür mit dem Summer, ohne zu fragen, wer das sein konnte und ließ die Wohnungstür mit einem von Jans Flipflops einen Spalt weit auf. Dann tappte er in das Wohnzimmer zurück, nahm sich eines der Kissen vom Sofa und legte sich auf den Fußboden, um in den düsteren Himmel zu starren.

Es war ihm vollkommen egal, wer ihn stören mochte. Seine Gedanken kreisten um die letzten zwei Wochen, um den Stress mit all dem Besuch von Freunden, mit Jan, der dauernd nachts unterwegs war, oft über Nacht auch fort geblieben war. Nachdenklich blickte er sich nach seinem Handy um und starrte direkt auf Lolli. Sein ehemaliger Mitbewohner stand schwer atmend mit einer geblümten Reisetasche in der Hand in der Tür und starrte zurück. Sie starrten beide schweigend einen Augenblick, dann sprachen sie gleichzeitig.

"Ich hab mich mit Jan gestritten!"

"Jiffi ist positiv!"

"Es ist schrecklich!"

"Es ist furchtbar!"

Verdutzt sahen sie sich an. "Was?"

"Wie?"

Lolli ließ die Tasche fallen, holte ein Taschentuch hervor und brach in Tränen aus. Er schleppte sich zu Kai, nahm ihm das Kissen weg und ließ sich auf den Boden fallen. "Jiffi!"

"Ja?"

"Ist doch positiv."

"Eh?"

"HIV-Positiv."

"Ach du Schei...", Jans Handy klingelte zweimal kurz. Verwirrt hob Kai den Kopf. Lollis Schluchzen unterbrach ihn in dem Gedanken, dass Jan sein Handy noch nie hatte liegen lassen, aber er stemmte sich hoch und trat zum Sofa, wo es zwischen den Kissen lag, um nachzusehen, ob das vielleicht Jan selbst war.

Es war nicht Jan. Das Display zeigte Kai, während er im Hintergrund Lolli mit dem Anrufbeantworter der Meierschen schluchzend telefonieren hörte, eine Nachricht von ausgerechnet der scheiß Melanie. Doch der Text war der Gestalt, dass er das Handy nicht wie geplant wieder auf den Küchentresen legte. Sie schrieb: "Der Moralapostel bist ja wohl nicht du mit deiner Zweigleisigkeit, du Arsch!"

Kai blinzelte die Worte an. Dann schob er sich die älteren Nachrichten aus der Unterhaltung weiter hoch.

Jan hatte dauernd irgendwem irgendwas getippt. Kai hatte noch nie darauf geachtet. Jan erhielt auch dauernd Nachrichten. Nicht selten waren sie Auslöser für einen Aufbruch zum Sport oder zum Ausgehen irgendwohin. Auch darauf hatte Kai nie geachtet. Nun starrte er auf die Meldungen von Melanie aus den letzten zwei Wochen. Die Stresswochen über hatte Jan sich sehr oft mit der Tante getroffen und verabredet. In den Nachrichten kamen meist Uhrzeiten und Treffpunkte vor. Dann, mit einem Mal, wurde der Ton der Nachrichten sehr persönlich und legte nahe, dass mehr passiert war als Sport oder Party.

Mit schmalen Augen verfolgte Kai die Worte zwischen seinem Freund und dieser Tante, die ihm von der ersten Sekunde an unheimlich und unangenehm gewesen war. Noch einmal schob er alle Nachrichten zurück und las von vorn. Vor gut einer Woche war es gewesen. Von dem Hin und Her zwischen 'um 9 am Strandbad?' zum 'Was soll das?! Können wir nicht darüber reden?!' zum 'Es tut mir leid. Ruf mich an.' und endlich nun dieser Spruch mit der Zweigleisigkeit.

Schockiert blinzelte Kai das Display an, dann ließ er sich bei Lolli fallen und hielt ihm das Handy hin. Lolli hatte gerade aufgelegt und schniefte ein wenig. Dann blickte er uninteressiert auf die Meldungen, aber hob die Augenbrauen, als er die Nachrichten las: "Oh lala, ist Jan etwa immer noch bi und kriegt nicht genug?"

Kai kniff die Augen zusammen: "Bis vor zwei Wochen war ich mir so sicher..."

"Hase, das sind wir doch immer. Ich hab Frank auch geglaubt, dass er echte Treue will."

Das motivierte nicht gerade. Beruhigend war es auch nicht. Kais Magenschmerzen nahmen zu. Er schob das Handy fort und starrte in die windgebeutelten Bäume gegenüber: "Was war das mit positiv?"

Lollis Gesicht verzog sich: "Er hat es mir nicht einmal gesagt. Wir haben uns in der Woche gar nicht gesehen, weil er eine Kette geflogen ist, bei der er für fünf Tage nicht nach London gekommen ist. Ich hab mich in aller Ruhe in der Wohnung eingerichtet. Es ist so schön geworden, du musst unbedingt bald zu Besuch kommen, Maus! Du musst!"

"Was ist denn mit dem positiv jetzt? "Wie konnte Lolli sich durch Wohnungseinrichtung von so einem Thema abbringen lassen?

Verwirrt blinzelte Lolli, dann ließ er die Schultern hängen: "Als er wieder da war, wollte ich ihn endlich mal so richtig verführen. Er wollte nicht, das war so merkwürdig. Aber am anderen Morgen mach ich den Badezimmerschrank auf und seh die Medikamente da stehen." Lollis Mundwinkel senkten sich, sein Ton wurde verbittert: "Hab das im Internet gleich mal nachgelesen, einen Schock bekommen und sofort die Flucht ergriffen."

"Wie, du hast nicht mit ihm geredet?"

"So wie er mit mir, was?!" Lolli verschränkte stur die Arme: "Nein. Ich war im Schock. Sagte ich doch."

"Aber..."

Lolli unterbrach ihn und raufte sich die Haare: "Und das mir! Der Vorsichtigkeitsministerin des Landes! Selbst Carl meinte, dass ich ja nun wirklich superbedacht bin und immer aufpasse!"

"Aber ist es dann nicht perfekt?"

"Was?"

Mühsam stemmte Kai sich hoch und holte Jans Laptop aus dem Schlafzimmer: "Ich meine, wenn man vorsichtig ist, dann kann man doch zusammen sein, oder nicht?"

"Was weiß ich denn?! Ich will das nicht, das ist mir zu..."

"Geht's noch?! Lolli! Bis gestern wolltest du ihn, bist zu ihm gezogen und wolltest ein Leben mit ihm und jetzt ist alles aus, weil er krank ist?!"

"Nein... ja.... nein! Ich meine wegen des Verschweigens!" Er schnaubte und verschränkte die Arme. "Doch... ja. Das ist ekelig, und ich hab Angst! Jetzt denk ich nur noch daran, dass er positiv ist und dann ist da so ein komisches Mitleid, das ist so so so soooo unsexy! Verstehst du?"Lolli entwendete Kai den Laptop und suchte ihm eine passende Seite heraus: "Da!"

168

Nachdenklich suchte Kai in der Internetseite herum. Lollis Problem stand irgendwie im Vordergrund. Das war angenehmer, als über seine eigenen Probleme nachzudenken. Er wollte seinem Mitbewohner und Freund helfen, auch um sich abzulenken. Etwas anderes passierte aber zwischendrin, angekündigt von Telefon und Türglocke.

Schweigend teilten sie sich auf. Kai ging an das Telefon und Lolli zur Tür. Am Telefon war seine Mutte., Ihre Stimme klang gepresst.

"Kai. Ich wollte es erst nicht sagen, bis du durch die Prüfung bist, aber..." Sie seufzte, holte Luft, dann seufzte sie wieder: "Oma ist gestern Nacht gestorben."

Kai starrte auf die Uhr am Herd. Es war fast sechs am Abend. Sein Blick suchte die Wohnung ab, dann sah er zum Fenster. Die Meldung war zu bizarr, zugleich war sie wichtiger als jedes seiner kleinen Zickenprobleme. Wichtiger als der Streit mit Jan, als der Verdacht, dass Jan noch immer ätzende Tussen mochte. Das Fenster stellte den Rahmen für ein Bild dar, das Kais Gefühle perfekt zeigte. Es stürmte noch immer, Regen fiel in dichtem Schauer vom stahlgrauen Himmel, spritzte gegen die Scheiben und vernebelte die Sicht auf die Umgebung. "Oh..." Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er fühlte sich selbst von unangenehmem Nebel umgeben. Alles war merkwürdig verhangen, versteckt und nichts war mehr sicher.

Seine Mutter ließ ihn nicht zu Wort kommen. Hektisch berichtete sie "Es war ein neuer Schlaganfall, davon war sie geschwächt. Aber sie war nicht mehr in der Klinik. Sie und wir wollten das auch nicht. Ich bin gemeinsam mit Hella bei ihr gewesen bis zum Schluss. Sie ist gestern Nacht ganz friedlich eingeschlafen. Sie hat am Abend noch von dir gesprochen, wie stolz sie auf dich ist, Kai."

Kais Herz schlug hart und er kämpfte um Worte, als die Stimme seiner Mutter etwas brüchig wurde. Aber sie fing sich erneut zuerst, ihr Ton wurde geschäftsmäßig. "Die Beerdigung ist noch länger nicht, weil kein Termin zum Einäschern war und Hella und Rolf ihren langgeplanten Urlaub nicht mehr verschieben können, haben keine Rücktrittsversicherung, die verschieben das nicht mal für Butzis Geburt. Wir machen die Bestattung also auf jeden Fall nach der Prüfung, nach der mündlichen Prüfung, meine ich. Das habe ich mit Frau Ziesing vom Beerdigungsinstitut schon besprochen, aber komm bitte her, nimm Abschied."

"Heute?"

"Ja. Wir haben mit Frau Ziesing eine Aufbahrung vereinbart. Oma wollte das gar nicht, aber irgendetwas wollten wir tun, für sie..." Seine Mutter zögerte schon wieder so komisch, dann flüsterte sie rau "… für uns, wenn man ehrlich ist." Sie räusperte sich und holte die alte Energie in ihre Stimme zurück. " Morgen lassen wir dich wieder weiterlernen."

Betäubt blinzelte Kai erneut zur Uhr rüber, dann riss er sich zusammen und sagte so fest und sicher er konnte: "Natürlich komme ich. Ich schaue, welchen Zug ich nehmen kann."

Er drehte sich während des knappen Abschieds um und legte auf, als Lolli mit ausgerechnet der verdammten, scheiß Melanie in ein Gespräch vertieft in den Raum zurückkehrte. Sie hatte nasses Haar und etwas nasse Klamotten, was aber bei den engen Sportsachen kaum was ausmachte. Sie schälte sich eben aus einer Regenjacke und legte ein neongrünes Schlauchtop frei. Unter ihrem Top sahen die Träger von einem Bikini hervor.

Sie sah sich mit gereiztem Ausdruck im Gesicht um. "Wo steckt er?"

Kai blinzelte und sagte tonlos an Lolli gerichtet: "Das war meine Mutter. Meine Oma ist gestern Nacht gestorben. Ich muss nach Hause fahren..., Abschied nehmen."

Lolli reagierte als erster und hechtete sich auf Kai, um ihn mit seinen langen Armen zu umfangen und an sich zu drücken. "Arme Maus. Du hast aber auch ein Pech! Erst dieser Stress mit Jan und jetzt noch das. Ich kann dich gut verstehen in deiner Trauer, es muss am Tag liegen! Alles, aber auch alles geht schief und läuft gar nicht so, wie ich es mir geträumt hatte!" Natürlich verdrehte Lolli die Situation, um sie für seinen eigenen Stress passend zu machen. Er begann schon wieder zu heulen, vermutlich einfach von seinem eigenen Schicksal zu entmachtet, um den Tränen Einhalt gebieten zu können.

Kai ließ sich einen Augenblick lang drücken, ohne die Geste zu erwidern, dann machte er sich unbehaglich frei und starrte Melanie abweisend an. Sie nagte an einem Daumennagel und tippte auf ihrem Handy. Nebensächlich und recht gefühlsarm sagte sie "Tut mir leid, dass ich so ungelegen hier rein platze."

"Jan ist nicht da..." In dem Moment piepte Jans Handy und Kai als sah, dass Melanie ihm eine neue Nachricht getippt hatte fügte bissig hinzu, "… und er hat sein Zweithirn hier vergessen." Betäubt wanderte er in sein Zimmer rüber. Lolli ging im Hintergrund an sein Telefon und begann englisch zu reden und zu heulen. Melanie folgte Kai.

Sie sah sich kurz um, während Kai seinen Rucksack nahm und ein paar Zettel und einen nicht mehr sonderlich frischen Apfel heraus klaubte. Sie sah ihm kurz zu, dann sagte sie entschlossen: "Ich schreib ihm rasch einen Zettel. Ich will das machen, solange ich so richtig sauer bin auf den Arsch." Sie trat zum Schreibtisch und deutete auf seinen Notizblock: "Darf ich?"

Kai nickte, dann ging er zu seinem Kleiderschrank und öffnete mechanisch die Türen, während sie mit Bleistift und Zetteln hantierte. Eigentlich wollte er das gar nicht wissen, aber die ungemütliche Stille brachte Kai dazu, über die Schulter hinweg zu fragen: "Was genau... hat er denn gemacht?"

Sie fuhr sich mit einer Hand in die Haare, dann stemmte sie eine Faust in die Hüfte. "Ich bin schon oft verarscht worden von Jungs, vor allem aus Faulheit, das können die gut. Aber so was ist mir noch nicht passiert! So eine Frechheit! Ich meine, die Nummer gehört schon in das große Buch der Arschkarten."

"Nummer?"

Melanie antwortete nicht, sondern kritzelte auf das Papier.

Als sie weiter schwieg, zuckte Kai mit den Schultern. Irgendwie konnte er sich nicht mit Gedanken an seine tote Oma befassen und zugleich über seinen offensichtlich doch noch untreuen Freund nachdenken. Matt klaubte Kai zwei T-Shirts aus dem Schrank, zögerte und legte sie zurück, um sich ein schwarzes und ein hellgraues von unten zu nehmen. Eine schwarze Jeans hatte er auch, aber die würde selbst nach dem Gewitter, das draußen weiter vor sich hin grollte, noch zu warm sein. Er entschied sich für die dunkelblaue Stoffhose, die ihm zu lang war.

Mit mühsamen Bewegungen zog er sich um und klappte den Hosenstoff unten zweimal um. In Gedanken sah er seine Oma vor sich. Mit ihrem etwas schiefen Gesicht, das vor Glück geleuchtet hatte, während sie ihn und Renate am Tag von Jörgs Hochzeit betrachtetet.

Es war ein schöner Nachmittag mit ihr gewesen. Der Kaffee aus den feinen Tassen, ihre Freude am Leben, die Teilnahme daran, die ihr in den letzten Jahren oft schwer gefallen waren. Ihre puderfeinen Haare, die dünne Haut mit den tiefen Furchen um die Augen und auf der Stirn. Der Ausdruck um den Mund, an dem man sah, dass sie es nicht immer leicht gehabt hatte. Ihre leise Stimme, mit der sie sich nie hatte aufdrängen wollen, die aber doch so oft für Kai wichtige Dinge gesagt hatte.

Er erinnerte sich daran und das Vermissen begann ihn auszufüllen. Es sickerte durch die Erschöpfung, die Wut und Angst wegen Jan und die Furcht vor der Prüfung hindurch, stieg in ihm auf. Er hatte noch keinen Beweis dafür, dass es sie nie wieder geben würde, aber das Vermissen füllte ihn bereits aus.

Melanie hatte den Zettel beendet und klemmte den an Jans Handy, das sie sich genommen hatte. Sie schimpfte über Verabredungen, die nicht eingehalten wurden und Pläne für eine Reise. Auf Kais Ohren begann ein Rauschen, er wandte sich ab und versuchte sie auszublenden. Melanies Stimme verschwamm, während sie sich über Jan im Besonderen, aber Fußballer und Männer im Allgemeinen, aufregte.

Endlich sagte sie: "So. Geht das? Ich lese vor: Du Arschloch! Wenn du mal wieder Sklaven für deine Jobs brauchst, vergiss es... bei mir zieht die Nummer nicht mehr!"

Sie sah sich um, blickte auf das Foto von Kai und Jan und blinzelte: "Hey! Oha!"

Kai folgte ihrem Blick, spürte, dass er rot wurde und ärgerte sich darüber. Vorhin noch hatte er das Bild geputzt und von der Spinnenwebe befreit. Jetzt ärgerte er sich, dass er es nicht weggelegt hatte. Hastig ging er aus dem Zimmer in das Bad und ramschte seine Toilettensachen zusammen. Sie folgte ihm und fragte "Ihr seid so richtig zusammen? Nicht nur Mitbewohner, die das mal tun?"

Kai nickte unglücklich und flüchtete erneut, um das Packen zu beenden. Sie folgte ihm langsam und setzte sich auf seinen Bürostuhl.

"Hey. Tut mir echt leid, das wusste ich gar nicht. Ich mein, dass das so ernst ist und so. Kann mir Jan gar nicht so vorstellen, wenn ich ehrlich bin." Sie blickte sich um, als könnte sie die Intensität der Beziehung an Kais Einrichtung fest machen.

Der mitfühlende Ton tat Kai ganz und gar nicht gut. Hastig packte er ein beliebiges Lernskript ein, aber brachte keine Antwort über die Lippen.

Sie seufzte: "Mein Timing ist nicht besonders gut, was? Tut mir leid, dass ich so gemeckert habe, obwohl es dir schlecht geht. Ich bin nicht besonders... mitfühlend, das kann ich nicht so gut."

"Was?", Verwirrt starrte er sie an.

Sie zuckte mit den Schultern "Ich musste mich abreagieren, nachdem er mich so verarscht hatte. Tut mir leid, dass ich das auch noch bei dir ablade, wo deine Oma gerade gestorben ist und so."

Erschöpft ließ Kai sich auf sein Bett plumpsen. Kai holte Luft, um Melanie zu sagen, dass Jan ihn noch mehr verarschte. Wenn man es genau nahm, dass Jan von ihm noch viel mehr als einen bösen Zettel bekommen würde, dass..., er schüttelte den Kopf. Dafür fehlte ihm die Energie. Gedanken an einen weiteren, schlimmeren Streit mit Jan konnte er einfach nicht beenden. Es tat viel zu sehr weh.

Lolli verhinderte jede weitere Unterhaltung. Er stürzte ins Zimmer und hielt sein Handy in den Raum wie eine detonationsbereite Bombe. Schluchzend bat er um Mithilfe bei seiner Diskussion mit Jiffi, weil Kai und Melanie ihn nur anstarrten.

Kai verschränkte die Arme und Melanie hob die Brauen, dann nahm sie das Telefon an und fragte vorsichtig hinein. Kurze Zeit später unterhielt sie sich in ätzend sicherem Englisch mit Jiffi, während Lolli das Bad blockierte.

Kai suchte auf Jans Laptop nach einem geeigneten Zug und wurde von Melanie unterbrochen, die gerade aufgelegt hatte: "Musst du jetzt weg?"

"Hm", unsicher blickte Kai die Zugverbindungen durch: "Ich muss nach Hause, um … Abschied zu nehmen. Mein nächster Zug geht in einer knappen Stunde..., hoffentlich kommt Lolli vorher noch mal aus dem Bad." Und er wollte nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn Jan vorher nach Hause kam. Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Hatte Jan nun mit dieser scheiß verdammten Melanie oder nicht? Er konnte sie leider nicht mehr so richtig hassen, ihre nüchterne, unromantische Art verbot jedes extremere Gefühl. Ihre ruhige, raue Stimme hatte Jiffi offensichtlich von einer hysterischen Attacke runter geholt und Lolli ebenfalls gerettet.

Sie trat zu ihm und blickte auf den Bildschirm: "Vergiss es. Da ist irgendwo eine Leitung runtergekommen, alle Zugverbindungen nach Süden fallen aus. Es herrscht jetzt schon riesig Chaos." Bezeichnend hielt sie ihm ihr Handy mit einem Nachrichten-Ticker hin.

Kai stöhnte auf. "Scheiße! Heute geht aber auch alles schief!" Fast hätte er angefangen zu heulen, er fühlte sich mit einem Mal danach.

Sie legte den Kopf schief, dann reichte sie ihm einen Autoschlüssel mit Turnschuhanhänger. "Ich bin für jeden Idioten versichert, du kannst gern den Abend meine Karre nehmen. Ich brauch heute nirgends mehr hin. Der Tank ist fast voll, so hätte ich den gern wieder. Er nimmt Diesel, also bitte nicht zerstören."

Misstrauisch nahm Kai den Schlüssel an: "Und dann?". Ihm war klar, dass es ihn was kosten würde.

Sie lächelte anerkennend: "Und dann muss Jan den Wagen zurückbringen zu mir, damit ich ihn mir persönlich zur Brust nehmen kann."

Kai starrte auf ihren Busen und dachte ein wenig ätzend und fatalistisch, dass Jan das unter Umständen genießen würde. "Das ist echt...", er hielt inne und blinzelte verwirrt: "Das ist nett von dir."

Sie lachte, Lollis Handy in ihrer Hand düdelte und sie ging dran, winkte ihm nur noch zu und versank erneut in einer englischen Unterhaltung. Als Kai aus der Wohnung wankte, redeten Melanie, Lolli und wer auch immer am anderen Ende war auf halb-englisch-halb-deutsch durcheinander. Draußen kämpfte eine untergehende Sonne sich durch graue Wolken, die Luft roch bleiern und erst vor der Haustür fiel Kai ein, dass er nicht wusste, was für einen Wagen Melanie ihm auslieh.

Ein Rundumblick und Vergleich mit dem Schlüssel zeigte ihm einen betagten, rostig-silbernen Opel. Schloss und Schlüssel passten glücklicherweise, denn es begann erneut zu regnen und Kai hatte seine Jacke vollkommen vergessen. Matt kletterte er hinein, dankbar, dass er noch ein wenig Ruhe hatte, bevor er sich seinen Eltern würde stellen müssen.

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