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Trost 2

Kapitel 114-116

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

114

Als Kai mit fabelhaften Wimpern in den Wohnraum zurückkehrte, knipste Benni gerade Lena und Lukas, die in verschiedene Posen gebracht wurden. Lenas Schminkspiegel war in der Küche aufgebaut, die meisten Fenster waren mit Laken zugehängt und Lampen mit silbernen Schirmen verbreiteten passendes Licht. Lukas war bereits vom T-Shirt befreit und sah natürlich wieder einmal aus wie Sex in appetitlicher und zugleich gefährlicher Form. Ohne große Probleme zog Lukas sogar seine Hose aus. Kai verzweifelte innerlich daran, dass ihm selbst das Hinsehen peinlich war. Lukas war das nicht peinlich, der elende Narzist liebte seinen Körper genug, um ihn in die Kamera zu schwenken und Kai dabei auch noch anzugrinsen. Er fühlte sich auch nackt auf einem Tisch sitzend wohl, wie wenig später deutlich wurde.

Kai wanderte unsicher in der Küche umher und streichelte den Kater ein wenig. Schnurrend folgte das Tier ihm dann auf Schritt und Tritt. Zum Glück stand auch etwas zu Essen in der Küche rum. Kai war schon ein wenig duselig vom ganzen Prosecco auf nahezu nüchternen Magen. Hastig nahm er sich ein paar Stück Baguette und Weintrauben und ließ sich auf dem Bett von Lena nieder. Gegenüber war reichlich Platz, die meisten der Fotos wurden dort vor den Fenstern gemacht.

Lena trug gerade ein langes weißes Kleid und Lukas immerhin wieder seine schwarze Jeans. Endlich warf Lukas sich mit freiem Oberkörper zu Kai auf das Bett, während Benni Lena dazu überredete, sich auszuziehen. "Und, mein Engelchen? Alles in Ordnung bei dir?" Er klaute Kai eine Weintraube und lehnte sich dichter zu ihm hin. "Du schaust jedenfalls noch immer so traumhaft aus wie bei unserem ersten Treffen." Forschend sah Lukas Kai in die Augen und lächelte. "Bist du glücklich mit deinem Wauwau? Ist das ein Knutschfleck?"

"Nein! Ich hab mich nur gestoßen, verdammt! Mit Jan ist eigentlich schon alles gut. Aber sonst hab ich echt viel Stress." Kai berichtete von den letzten Sorgen betreffend seines neuen Kurses, der so schrecklich schwer war, von dem Angebot von Lasse wegen der Doktorarbeit, von der bevorstehenden Hochzeit und dem privaten Ärger, der bei Pascal noch lange nicht aufhörte. "Ich hab nicht versucht, ihn zu erreichen, aber irgendwie... ich hatte angenommen, dass er sich von sich aus meldet, um sich zu entschuldigen. Das steht ja wohl an, oder? Hast du was von ihm gehört?"

"Nee, aber wollte das auch noch nicht wieder. Er war nicht mehr im Fitnessstudio, ist wohl zu Leon rüber gewechselt. Ich bin froh, dass ich ihm nicht dauernd ausweichen muss, vor allen Dingen wegen Kai. Aber ein Stück weit kann ich ihn auch verstehen. So etwas ist nicht leicht. Immerhin hat er sich zum Horst gemacht und vor mir, dir und Jan blamiert. Er war schon immer eifersüchtig auf dich, jedenfalls kam es in seinen Erzählungen so rüber." Lukas' Hand schob sich um ihn herum und über den Rücken hinunter.

"Weswegen denn?!" Kai schupste Lukas' Finger von seinem Hintern runter und setzte sich auf.

"Weil du, nach seiner Meinung, immer so cool über allem gestanden hast. In der Schule war es dir egal, wenn niemand mit dir gesprochen hat, in der Uni bist du auch so distanziert." Gemütlich schob Lukas Kai seinen Kopf in den Schoß und klaute ihm noch eine Weintraube.

"Das stimmt gar nicht. Ich hab nur nie was gesagt damals." Nachdenklich strich Kai Lukas eine Haarsträhne aus der Stirn. Es war nett, dass sie sich so unkompliziert sehen und unterhalten konnten. Als Freund fand Kai ihn einfach nur herrlich. Unkompliziert und zugleich besorgt. Gefährlich und sexy, aber zugleich nur bis zu einer Grenze, die sie beide akzeptierten und nicht überschreiten würden.

Sie konnten einander nah sein und sich in die Augen sehen, ohne Kribbeln, ohne Unsicherheit, und ohne dass etwas passieren würde. Kai fühlte sich merkwürdig sicher mit Lukas und rückte sich ein wenig zurecht, aber ließ zu, dass Lukas ihn als Kissen missbrauchte. Sie wechselten das Thema und redeten noch ein wenig über Bardo, und was in seinem Leben so alles los war.

Ärgerlicher Weise hatte auch Lukas sofort gemerkt, dass Bardo nicht auf ihn stand. "Ach, das war sofort klar. Der war viel zu locker und unbesorgt, obwohl ich ihn... glaube ich zumindest... auf der Party ganz schön peinlich angeflirtet hatte. Ich hab ihm damals, als seine Eltern bei euch waren, eine SMS mit meiner Handynummer geschickt, und er hat diese nie verwendet bis jetzt. Ich bin mir sicher, dass der einfach nur im Schock war über all den Stress. Babybambis sind sonst auch wirklich gar nicht meine Beute. So chickenhawks finde ich ehrlich gesagt auch eher peinlich."

Kai nickte das seufzend ab und wechselte zum Thema Leon und Felix rüber. Er gab es vor Lukas zu. Er war Felix sehr dankbar für die Schocktherapie, vor allem für lau und er gab es auch zu, Leon und er kamen ausgezeichnet miteinander zurecht.

"Du magst Leon? Wie machst du das?" Natürlich konnte Lukas dem Mann nicht viel abgewinnen.

"Mit Leon komme ich gut klar, weil ich ihm bei der Therapie beigestanden hab und ihn seit dem unausgesetzt erpresse, während er mich intrigant zu manipulieren versucht. Ich bin für ihn... wie ein Spielzeug. Das ist endnervig, aber zugleich kann ich das ab. Der Job im LPP ist total angenehm."

"Er braucht eine Person als Gegenüber, die seine Spielchen mitmachen kann, sonst fühlt er sich gelangweilt und nicht ausgelastet. Leon ist wahnsinnig gern obenauf, der Bestimmer, aber nicht überall, wenn ich das richtig gehört habe. Er kann wohl mehr loslassen, relaxen, wenn er sich unterordnen muss, wenn es Regeln gibt. Das hat mir Felix bei seinen nächtlichen Gesprächen neulich erzählt. Felix hingegen manipuliert und intrigiert gern und bestimmt sehr gern über seine Partner, er schafft gern Regeln. Daher passen Felix und er so gut zusammen."

"Moment!" Kai starrte Lukas überrascht in die Augen. "Willst du mir etwa sagen, dass Felix SM-mäßig drauf ist und Leon auch? War Felix nicht mit dir zusammen? War der das da auch schon?" In diesem Augenblick fiel ihm wieder ein, wie Leon ihm gesagt hatte, dass Felix eben nicht nett zu ihm war, dass er das mochte. Kai spürte Hitze in seinem Gesicht. "Steht der auf solchen Scheiß?"

"Keine Ahnung. Aber ich glaube eher, dass Felix und Leon anders ticken, das hat nichts mit SM zu tun, nicht so mit Peitschen und Fesseln oder was auch immer, wie du das jetzt vermutlich vor Augen hast. Eher mit Machtspielchen. Wer darf die Regeln machen? Wer spielt mit und wer muss das anerkennen? Scheint so, als hätte Leon dich erfolgreich mit reingezogen." Es klang spöttisch und Kai verschränkte die Arme. "Das treibe ich ihm schon wieder aus! Liegt Felix der Bestimmer dann etwa oben? Ich dachte, dass du nie im Leben den Bottom machst."

Lukas seufzte und sah Kai an. "Mache ich leider nicht. Das hat Felix, glaube ich, am meisten mit mir gefehlt. Ich hab echt Talent, mich in Top-Männer zu verknallen. Läge ich gern unten, dann wären wir noch heute zusammen. Oder wir zwei, was Engelchen?"

"Nicht solange Jan noch lebt, nein." Es klang kaltherzig, ein wenig wie die Kobra, die Lena in ihm sah, aber Kai wusste auch so, dass es besser war, diese Grenze zu zementieren, bevor seine Abwehr gegen Lukas zu bröseln drohte.

Lukas kniff die Augen in gespieltem Schmerz zusammen. "Autsch. Sei nicht so ehrlich." Er streckte sich und gähnte. "Ich hab keine Ahnung, wie Leon und Felix das treiben, will ich mir auch nicht vorstellen, danke sehr. Als ich mit Felix zusammen war, lag er konsequent unten und hat mich von dort konsequent unterdrückt. Aktiv passiv sozusagen. Regeln und Verallgemeinerungen konnte man auf Felix aber noch nie anwenden."

Kai überlegte noch, ob er dieses Wissen unter Umständen gegen Leon würde verwenden können bei der sicherlich nächsten Runde Kampfspielchen, als ein sehr zierlicher, hellblonder Typ durch die Tür schritt. Er hatte etwas zu lange Haare, die sich hier und dort noch vom Schlafen verlegen um ein spitzes Gesicht legten. Seine schmalen Augen waren graublau und blitzten schelmisch auf, als er zu Lena und Benni an die Fenster trat. Lena war noch immer halbwegs bekleidet und redete mit Benni darüber, wie sie die Bilder machen wollten. Ihr Bett sollte als Kulisse dienen, daher wollte Benni auch gerade, dass Kai und Lukas dort verschwanden.

Lukas stöhnte auf. "Scheiße. Henri ist da. Das wird ja lustig."

"Wusstest du das nicht? Weil ich gesagt hab, dass ich mich nicht ausziehen will, hat Benni diesen Henri irgendwie organisiert. Offensichtlich lässt Leon voll viel Geld springen und Henri ist geldgeil oder so."

"Du wolltest dich nicht nackt fotografieren lassen? Von Benni? Das ist doch die Chance, geile Bilder zu bekommen, nichts dafür zu zahlen und..."

"Leon will mit dem Bild die neue Cocktailkarte gestalten! Ich bin doch nicht bescheuert!"

Lukas raffte Kai mit einem Arm an seinen Körper und knutschte ihn auf die Schläfe. "Das wäre unglaublich appetitlich, du vorn auf der Karte... hm... ich jedenfalls kriege Hunger."

"Lukas! Nicht du auch noch!" Leidend wand Kai sich fort.

In diesem Moment entdeckte Henri Lukas und stürmte auf ihn zu. "Lukas! Sehen wir uns endlich einmal wieder! Du schaust immer noch so scharf aus." Er stürzte sich mit einem Hechtsprung auf Lukas, der verzweifelt versuchte, Kai in den Weg dieses Energiewunders zu schieben, um selber zu entkommen.

Kai entzog sich entsetzt und brachte sich in Sicherheit, während Henri Lukas gnadenlos abknutschte, anfummelte und mit irgendwelchem Schwachsinn volllaberte. Total überdreht hopste er gleich darauf von Lukas herunter und rannte zu Benni zurück. "Was soll ich machen? Wann geht es los? Ich hab nich viel Zeit. Hab wegen einer wilden Nummer gestern Nacht verpennt und meine nächste Stammkundin kommt in zwei Stunden mit dem Flieger und will sicherlich ihr Jetlag wegschmusen."

Benni schraubte an seiner Kamera herum, Lena wurde noch von Lolli angefummelt und angemalt, so dass Lukas zu ihm trat und locker sagte "Mach einfach das, was du am allerbesten kannst. Zieh blank, wir sehen dann weiter."

"Für dich jederzeit!" Henri kicherte und schob sich im nächsten Moment die Jeans vom Leib. Er trug keine Unterwäsche und war komplett rasiert. Er hatte je Brustwarze ein kleines Piercing, die aufblitzten, als er seinen verwaschenen Batikpulli von sich warf. Die Turnschuhe und Socken flogen auch in die Ecke. Im nächsten Augenblick streckte Henri seinen sehr schönen durchtrainierten Körper einmal aus und hob die Hände "Und jetzt?"

Lena trat zu ihm. "Du machst uns fertig, Henri. Sicherlich bist du auch noch nüchtern, was? Ich kenne keinen, der sich so schnell nackig macht wie du."

"Hm, Lena. Hätte ich das jetzt langsam und sinnlich machen sollen? Nur für dich? Ich trinke nie, weißt du doch. Habt ihr denn vielleicht einen Tee da?" Hoffnungsvoll trat Henri auf Lukas zu. "Darf ich Lukas ausziehen?"

Benni schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen hinter sich. "Lukas erst mal noch nicht, aber Kai."

"Oh. Wer issn das?" Von jetzt auf hier mies gelaunt starrte Henri Kai an. Lukas machte die Sache nicht leichter, indem er zu Kai trat und lächelnd sagte "Mein Exfreund."

"Lukas!" Kai entzog sich und verschränkte die Arme. "Ich werde mich nicht ausziehen. Punkt."

Lena seufzte. "Außerdem ist Kai zickig und schwierig und hat einen festen Freund, der auch nicht gerade wie Frühlingsregen daher kommt."

"Jan holt mich auch bald ab!" Kai verzog sich brütend auf das Sofa und beobachtete wie Henri seinen süßen nackten Körper mal hierhin und dorthin schwenkte, mal allein oder mit Lena und einmal zu seiner übergroßen Freude mit Lukas zusammen drapierte und sich von Lolli dafür total geduldig anpinseln und stylen und sogar etwas anfummeln ließ. Ob Federboa oder Vorschlaghammer, er hatte kein Problem, sich optimal in Szene zu setzten, gleich was Benni ihm als Requisite reichte.

Er hatte auch überhaupt kein Problem sich nackt auf einen ebenfalls nackten Lukas zu setzen und zeigten nicht einmal ansatzweise Scheu, sich von Benni und Lolli dabei auch noch mit Wasserflaschen ansprühen zu lassen.

Lolli hatte aber Unrecht gehabt. Henri und Lukas zusammen waren nicht erotisch anzusehen, nicht wirklich. Schöne Körper hatten sie beide. Die helle Haut von Henri machte sich zu Lukas dunklem Teint auch nicht gerade schlecht, als er sich genießerisch auf dessen Rücken ausstreckte, aber es prickelte ganz und gar nicht zwischen den beiden. Henri baggerte zwar an Lukas rum, aber es wirkte wie Spaß, ein Spiel. Und Lukas war genervt und offensichtlich froh, als er Henris Körper von sich runter bekam.

Als Lukas sich nach den Bildern wieder angezogen hatte und in Kais Nähe driftete, fragte er ihn eine Nummer zu giftig. "Was ist das denn für ein Typ?"

"Henri? Er ist, das glaube ich fest, ein Alien, eine Rasse für sich. Kenn keinen so grenzenlos schamlosen Typen wie ihn. Er arbeitet als Masseur oder Masseuse vielmehr, scheint hauptsächlich erotische Massagen zu machen. Er ist auch hin und wieder als Stripper unterwegs für eine Agentur. Ich weiß noch, dass er hier als eins A niedliches Mädchen aufgetaucht ist und für einen Junggesellinnenabschied gestrippt hat. Natürlich waren auch noch andere Dragqueens dabei, Lolli und Frank vom Friseurladen auf jeden Fall. Ansgar-Spaßverderber hat die Sache damals unangenehm beendet. Henri hat mit der Massagesache wohl einen festen Kundenstamm. Es heißt, dass er seine Techniken irgendwo auf einer Tour durch Thailand, Vietnam und Indien aufgeschnappt hat."

"Oh mein Gott! Hattet ihr mal was?"

"Natürlich nicht!"

"Wieso natürlich?"

Lukas seufzte. "Henri ist der kleine Bruder von Felix. Sieht man doch, oder? Ich sag dir, die armen Eltern. Zwei solche Söhne sind echt kein Geschenk. Felix hat mit seiner Therapiefirma immerhin Erfolg und Leon ist als so eine Art Schwiegersohn auch nicht ohne, aber Henri, der ist das totale schwarze Schaf. Er war wohl als Kind schon die Hölle, hatte dieses Syndrom, wo die Kinder so zappelig sind. Irgendwas hat er noch immer, nimmt dauernd Tabletten. Und zappelig ist er immer noch. Total überdreht. Schule hat er abgebrochen und ist stattdessen für über zwei Jahre nach Asien entschwunden. Er kam wieder und hat als Stripper und Masseur gearbeitet. Er hat sogar eine Homepage. Eigentlich ist Henri wohl bi, vielleicht auch nur hetero. Als Masseur macht er viel mit Frauen rum und als Stripper logischer Weise auch, aber für Geld tut er es auch mit Männern, allerdings nur aktiv, soweit ich weiß." Lukas kramte nach seinen Zigaretten. "Drogenfrei und safersex sind sein Lebensmotto, auch wenn man das sonst kaum glauben kann. Ich hab ihn jedenfalls noch nie betrunken, bekifft oder auch nur mit Kaffee gesehen."

Henri hopste zu Lukas rüber und grinste breit. "Und? Bist du denn endlich mal single und haste Bock auf total versauten Kram?" Er warf sich auf das Bett, auf das Kai sich wieder zurück gezogen hatte und streckte seinen nackten Körper genüsslich aus. Unglaublich dieser Typ. Da er sich drapiert hatte, betrachtete Kai ihn auch. Er hatte gleich neben dem linken Hüftknochen ein kleines Tattoo, ein indisches Symbol, das den Blick auf seinen rasierten Schoß lenkte.

Lukas wich Henri so aus, dass Kai wieder zwischen ihnen war. Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und kramte nach Feuer. "Nein. Bin in festen Händen."

"Uh... wie fest denn so? Stehst du jetzt doch auf so Sachen?"

Lukas stöhnte gepeinigt auf, rollte sich hastig vom Bett und ging in die Küche, um dort in Ruhe rauchen zu können. Lachend hopste Henri neben Kai hin und her und rief ihm nach "Nun sei nicht so, Lukas!"

Leider ließ Henri sich dann neben Kai fallen und reckte sich einmal. "Du bist Kai, das Engelchen? Geil. Absolut geil. Dein Gesicht ist abartig süß. Lukas hat nicht übertrieben. Felix hat mir von dir erzählt. Du bist sein neuer Nachbar, nicht?" Er zupfte mit zwei Fingern an Kais Haaren. "Gottohgott. Du schaust echt aus wie..."

Pissig starrte Kai ihn an. "Sag. Es. Nicht!"

"Hm. Bist du immer so... dominant? Ich glaube, ich fühl mich gerade total unartig. Magst du mich nicht bestrafen?" Henri warf sich quer über Kais Schoß und zeigte seinen knackigen Po. Er lachte dabei und rangelte wild herum.

"Hey! Geh sofort von mir runter!"

Henri sprang wieder auf. Alles an ihm war eine Nummer zu drahtig, angespannt und überhaupt nicht so locker, wie die Sprüche glauben machen sollten. Unsicher überlegte Kai, ob Henri irgendetwas zu vertuschen versuchte, oder ob seine Hyperaktivitätsstörung tatsächlich noch immer für zu viel Energie sorgte. Sein Körper wie auch der anderer Leute, war für ihn jedenfalls nichts weiter als eine Art Stoff, mit dem man spielte.

Kai setzte sich hastig auf, um ebenfalls weg zu gehen. Er kam nicht weit. Nackt wie er war, ließ Henri sich rittlings auf Kais Schoß nieder und grub seine kräftigen Finger in Kais vom Lernen total verspannten Schultern. Unwillkürlich ächzte Kai auf. Henri lächelte süß und beugte sich dichter. Direkt an sein Ohr sagte er sachte "Du hast mich aber nötig, Engelchen. Total verspannt. Wenn du mal eine Massage willst, ruf mich an. Meine Nummer kannste von Felix oder Lukas oder aus dem Internet bekommen. Jederzeit. Für dich mache ich halben Preis und versaute Sachen umsonst dazu." Er grinste.

Benni trat ans Bett. "Ich brauch dich gleich noch einmal. Mit Lena zusammen. Kai? Wo hast du deine schwarzen Sachen? Die könnten Henri doch vielleicht passen. Ihr habt ungefähr die gleiche Größe."

Lukas trat ebenfalls wieder zu ihnen und versetzte "Henri, er schaut aus wie ein Engel, aber er ist leider der totale Top. Da wirste nicht landen können. Schwirr ab und schwenk deinen Hintern wem anderes ins Gesicht. Lolli hat schon 'hier' geschrieen."

Henri sprang über Kai hinweg und hopste lachend und mit wippendem Penis auf Lenas Bett umher. Ohne Vorwarnung sprang er Lukas an und warf ihn um. "Dich würde ich für lau vögeln, du geiler, geiler Mann. Ich massier dich vorher auch in den siebten Himmel, garantiert. Das ist total schade, dass du das nicht mal ausprobieren willst. Ich sage dir, das ist die Lösung für deine Probleme. Deinem Rücken würde das auch gut tun. Du siehst aus, als hättest du was mit den Bandscheiben. Schöne Scheiße."

Lukas lachte nervös auf, aber fing sich rasch. "Wenn du einen scharfen Mann durchnehmen willst, Henri, versuch es mal bei Kais Wauwau."

"Wauwau?" Nicht uninteressiert sah Henri zu Kai rüber. Lukas erklärte "Sein Freund Jan. Der Fußballer."

"Oh... davon habe ich gehört. Kannst ihm ja meine Nummer geben, Engelchen. Dreier kosten aber extra."

Kai starrte dieses Wunder in Schamlosigkeit vollkommen überfordert an. Es machte ihn nicht direkt an, den nackten Körper von Henri anzusehen, aber er gab es für sich zu, er würde sein Durchhaltevermögen bei einer Massage von diesen kräftigen, sehr wissenden Fingern nicht lange vertrauen. Henri hatte eben sofort die absolut verspannteste Stelle an seinem Nacken erwischt. Jans Durchhaltevermögen vertraute er ebenso wenig, daher starrte er Henri pissig und auf der Suche nach endgültig abschmetternden Worten an.

Benni rettete Kai und Lukas vor der süßen blonden Sexplage, er rief über die Musik hinweg "Henri, dein Telefon!"

Hastig hopste Henri auf und rannte zu seinen Klamotten, um ran zu gehen. Er redete nur kurz, blickte auf die Uhr und nannte dann Lenas Adresse. "Benni, brauchst du mich noch? Ich werde gleich abgeholt."

Gestresst und hektisch dirigierte Benni an dem blonden Nudisten ein wenig herum, um noch ein paar Fotos hinzubekommen. Kai seufzte gelangweilt und endgültig genervt auf. Er wurde vom Alkohol müde und den anderen beim Schminken und Knipsen und Proseccotrinken zuzusehen, war auch nicht gerade spannend oder erhebend. Henri wurde per neuem Handyanruf aufgeschreckt und stürmte, nachdem er sich so halbwegs angezogen hatte, nach draußen, um vor der Tür in einen silbernen Sportwagen zu springen.

Doch dann war Kai wieder dran. Lena zerrte ihn vor den Schminkspiegel und tüdelte an seinen Haaren herum und Benni steckte ihn in schwarze Klamotten, knipste tausend Fotos, dann kamen weiße Klamotten und dann versuchte Lolli ihn ansatzweise in irgendwelche Glitzersachen zu überreden, was Kai ablehnte. Endlich hatte Kai durch Prosecco und das viele Umkleiden eine tüchtige Müdigkeit in sich, gepaart mit nicht zu verachtender Trunkenheit. Es dämmerte draußen schon wieder, was ihm zeigte, dass Jan, diese Zecke, ihn entweder vergessen hatte, oder er noch mit den Leuten nach der Sauna was essen gegangen war. Und Lukas, Lena und Benni machten mit Lolli gemeinsame Sache und versuchte Kai zu überreden, sich nackt auf Lenas Bett zu werfen und dort knipsen zu lassen.

Lena hatte das Bett extra mit dunkelblauer Wäsche bezogen und schwärmte ihm vor, wie geil seine Augen zu der Wäsche aussehen würden. Und Lukas strich seinen Rücken entlang und meinte "Und die helle Haut würde auch richtig super dazu aussehen. Lena hat das auch eben gemacht, und die Bilder werden sicherlich total schön."

"Kaichen, meine Maus! Du musst es tun! Du bereust das, wenn du es jetzt nicht machst!" Lolli verwand die Hände. "Tu es mir zuliebe, Maus. Ich mach auch das hässliche Bett bei euch in der Wohnung fertig, so schnell ich kann. Dann hängen wir dich in nackt im silbernen Rahmen darüber. Hach, das wäre vielleicht schön. Silbergraues Bettgestell... etwas bohemien und darüber du, etwas... hm, androgyn und die blaue Wäsche, vielleicht noch ein paar silberne Effekte. Lena, gib mir mal den grauen Glitzerlidschatten rüber!"

"Ich will das nicht! Verdammt noch mal! Ich will keine Nacktbilder von mir, verdammte Scheiße!" Panisch sprang Kai auf.

Jans Stimme von der Tür her ließ Kai zusammenschrecken. "Hey, aber ich vielleicht."

Kai fuhr herum und verschränkte die Arme. "Noch langsamer konntest du wohl nicht, was?!"

Jan hob die Brauen und sah sich um. "Wieso? Ihr seid ja noch nicht fertig. Ich komme im Gegenteil gerade richtig."

"Ja. Ihr habt alle gut reden. Ich bin nicht Henri, der einfach so alles von sich wirft."

Lena und Lolli sahen sich an. "Er ist nicht betrunken genug."

Lolli nickte und blickte zu Lukas "Wir sollte noch was kiffen."

Lukas schüttelte den Kopf. "Kommt nicht in Frage."

Benni sah Kai wieder an und reichte ihm ein frisches Glas Prosecco, während Jan mit einem Bier aus Lenas Kühlschrank zu ihm trat. "Komm schon, Kai. Du schaust gut aus, du musst dich nicht schämen. Ich wette, dass du eine bessere Figur machst, als alle anderen."

Lena lachte, warf den Bademantel von sich und zog sich ihr Unterhemd an. "Ich habs getan und lebe noch. Lukas hat es sogar mit Henri zusammen gemacht und es geht ihm gut. Stell dich doch nicht so an, Kai." Lena hatte gut reden, die hatte ihre Nacktbilder hinter sich gebracht.

Jan lachte. "Eben. Stell dich nicht so an. Ist doch wirklich eine gute Idee."

"Sagst du so locker mit Jeans an! Ich zieh mich nicht aus. Wenn du das machen magst, bitte sehr. Wenn du nackt bist, überleg ich mir das. So!" Stur verschränkte Kai die Arme und drehte sich um. Im nächsten Moment begann Lena albern zu lachen und Lukas pfiff leise. Kai fuhr zu seinem Freund zurück und blinzelte dumm. Jan hatte es geschafft, schneller nackt zu sein als Henri zuvor. Gerade trat er die Turnschuhe von den Füßen und warf die Jeans und Socken daneben. Benni knipste vorsichtshalber mal ein Foto, dann rief er "Alle auf Kai! Fangt ihn! Wer ihn zuerst hat, kriegt einen Posterabzug!"

Kai kreischte auf, als sich Lukas, noch immer halbnackt, Lena bis auf eine Shorts und ein Männerunterhemd unbekleidet und Jan komplett nackt, auf ihn stürzten. Er rannte sofort kopflos davon, über Bett, Sofa und einen Couchtisch in Richtung Badezimmertür. Der einzige Raum, der sicher war. "Hilfe!" Doch er erreichte die Tür nicht einmal. Kurz davor wurde er von Lolli gestellt, der geschummelt hatte. In gemeinschaftlicher Arbeit von Lena und Jan wurde Kai auf ihr Bett geworfen und nicht gerade zart von den Klamotten befreit.

Sie waren gerade bei der Unterwäsche angekommen, als Benni rief "Danke! Kurze Pause. Bitte, Kai, lass Lolli und Lena mal ein wenig dein Gesicht schminken, dann hätte ich die Haare gern ein wenig wuscheliger und mehr in die Stirn und die Unterhose muss gehen, ist ja klar. Besser jetzt, sonst muss ich den Abdruck vom Gummiband retuschieren. Bei der hellen Haut sieht man ja alles... auweia, ist das ein Knutschfleck? Lena, kannst du mal..." Er murmelte Lena noch einige Anweisungen zu, während Jan und Lukas sich auf das Bett warfen und Lena und Lolli bei der Arbeit an Kai zusahen.

Im Endeffekt lag Kai nackt und komplett sauer auf Lenas Bett. Er lag zum Glück auf dem Bauch. Aber Lena fummelte an seinen Haaren herum und Lolli wischte mit irgendwelchem Puder an seinen Augen, Benni zog seine Arme mal hierhin und mal dorthin und Jan tätschelte seinen Hintern und versprach ihm aus Sympathie nackt zu bleiben, bis Kai sich anziehen durfte.

Endlich machte Benni ein paar Fotos und als Kai gerade besonders sauer verkünden wollte, dass er jetzt gehen würde, sagte Benni eine kurze Pause an. Gleich darauf legte Jan sich zu ihm. "Hey. Du hast Hunger, nicht?" Die rauen Finger zupften Kai die Haare aus den Augen und Jan beugte sich zu ihm, um ihn auf die Wange, dicht unter das Auge zu küssen.

Kai schloss die Augen und schob sich instinktiv dichter an Jan heran. Endlich nickte er leicht. "Bin erledigt und sauer und mir ist kalt."

Bennis Stimme riss ihn zwischen Jans sachtem Streicheln und dem Gefühl der kalten Füße heraus. "Letztes Foto, okay? Ja? Bitte, bitte, leg dich auf den Tisch. Auf den Bauch... ist etwas kühl, aber müsste nicht zu schrecklich sein. Henri hat das vorhin auch gemacht, ich will mal sehen, wie das mit dir wird, ja?"

Kai stöhnte gereizt auf, aber ließ sich von Jan zu einem der Industrietische bugsieren und legte sich auf den Bauch. Seine Arme wurden in eher unangenehme Position gebracht, seine Haare wieder so doof in seine Stirn gezupft. Lolli nervte schon wieder mit Puder rum, dann klackerte Benni mit verschiedenen Lampen und Kameras Bilder. Er wurde sogar nassgesprüht, was total unangenehm und kalt wurde, aber endlich war Kai entlassen und durfte sich das Gesicht waschen und sich anziehen.

Es war gutes Timing. Er hatte die Klamotten gerade wieder an und rieb sich die Finger, als Henrike durch die Tür gewandert kam. "Huhu. Lena, tut mir leid, dass ich so spät dran bin!"

Lena lachte. "Henri hat den Henri verpasst." Die beiden umarmten einander und Lena berichtete von der Fotoaktion. Henrike war ein wenig sauer, dass sie Kai und Henri nackt verpasst hatte. Den Bruder von Felix kannte sie irgendwie schon länger. "Aber anders als alle anderen in der Stadt hab ich ihn noch nicht nackt gesehen. Ich und mein schlechtes Timing."

Lukas lehnte sich dichter und grinste sie an. "Und du hast Lena verpasst, Benni hat sie tatsächlich auch überredet, blank zu ziehen."

Benni war ziemlich geschafft vom vielen Dirigieren und packte mit Lolli die Klamotten gerade zusammen, als Kai ihn fragte "Lolli, wann machen wir das denn mit dem Bett? Wann ziehst du denn jetzt fest nach London um?"

Bennis Schultern versteiften sich einen Augenblick lang, dann hob er den Blick in Lollis Gesicht. Erst in diesem Moment wurde Kai klar, dass er aus Versehen eher, Lollis Wunsch erfüllt und seinen Umzug geoutet hatte.

Lolli kam auf ihn zu gerannt und sagte zu Jan "Das Bett mach ich euch in der übernächsten Woche. Da hab ich nichts weiter vor, als Benni aus dem Weg zu gehen. Dafür müsstet ihr es zerlegen und ich würde das Schlafzimmer mit Plastik auslegen und alles dort machen. Dort ist dann also gesperrt für eine Woche."

"Ach, in der Woche bin ich auf Trainerlehrgang. Da pennt Kai dann einfach mal in seinem eigenen Bett."

Kai seufzte. An diese Woche allein wollte er nicht erinnert werden, aber andererseits war es vielleicht auch gut, wenn Lolli ihn ablenken kam. Er nickte. "Das passt gut, Lolli. Sag Bescheid, wenn wir was besorgen sollen, ja?"

Lolli umarmte ihn und knutschte ihn auf die Wange. "Danke, Kai. Das wird jetzt hart, aber es ist besser so. Ich hätte mich das nicht getraut. Danke."

Müde lehnte Kai das Angebot von Lukas ab, ihn mitzunehmen. "Bring du lieber Lolli und Benni mit dem ganzen Kram zur Wohnung rum. Ich geh mit Jan nach Hause. Bis bald mal!" Lukas umarmte ihn einmal und klopfte ihm auf den Hintern, dann war Kai entlassen und wankte in den Flur raus.

Jan war mit dem Fahrrad gekommen. Er schob das Rad nach Hause und lachte herzlich über die Erzählung zum Thema Henri und wie notgeil der Typ war. Etwas ernsthafter lauschte er Kais Ausführungen zum Thema Hyperaktivitätssyndrom und merkte an, dass es das auch bei Erwachsenen gab. Anschließend holte Jan sogar chinesisches Essen für Kai. Als sie das dann vor dem Fernseher in sich hinein schaufelten, meinte er leise "Das werden bestimmt total schöne Bilder. Ich bin mir sicher, dass es kein Fehler war, Benni das machen zu lassen. Du siehst sensationell aus auf dunkelblauer Bettwäsche. Werde gleich mal welche kaufen."

"Ich bin nur froh, dass es vorbei ist. Wusstest du, dass Henri als Masseur arbeitet? Er macht erotische Massagen."

"Echt? Schwul oder hetero?"

"Beides. Er war eigentlich für die Nacktbilder bestellt. Allerdings muss man sagen, Benni hätte dich nehmen sollen. Du schaust geiler aus als dieser dumme Henri." Er mampfte noch ein wenig Reis mit Ei und verkündete dann die neuste Eingebung. "Wenn die Bilder von mir was geworden sind, kriegst du eins zum Geburtstag, aber dann will ich nichts weiter hören von wegen Geschenke und so."

Begeistert knutschte Jan ihn auf die Wange. "Baby, ich liebe dich... nackt ganz besonders. Hm. Wo wir bei dem Thema sind..."

"Nein! Ich bin müde und vollgefressen. Sex geht gar nicht!"

Sex ging natürlich doch. Man musste die Sache nur ordentlich durchdiskutieren und das am besten nackt. Das schlug Jan zumindest vor, Kai war dagegen, Jan hatte da noch das eine oder andere Argument. Die Diskussion endete damit, dass Kai einen Orgasmus hatte und sich als überzeugt geschlagen geben musste.

115

Die letzte Woche in der Neuroanatomie brach an und zugleich wurde es warm. Tagsüber sogar fast heiß. Die ersten Leute kamen nur noch mit T-Shirt bekleidet zu den Kursen. Bianca brachte den armen Thilo mit tiefen Ausschnitten und knappen Shorts um den Verstand und Jan zu einigen recht derben Sprüchen. Tini fuhr manisch mit dem Fahrrad durch die Stadt. Nach einem dringenden Aufruf von Lolli aus dem Laden unterbrach Kai sein Lernen für einen Shoppingtrip in der Innenstadt, um sich mit neuen T-Shirts und erträglich aussehenden Sandalen einzudecken, bevor alles ausverkauft war.

Er wurde allmählich auch fitter, und das war wirklich gut. Jeden Tag fuhren er und Jan gemeinsam mit dem Fahrrad zur Uni und die Strecke machte ihm schon kaum noch etwas aus, selbst wenn sie mal wieder etwas spät dran waren. Dienstag war weiterhin sein Sportprogramm in der Halle, und weil Jan und er hinterher Zuhause gemeinsam duschen gingen, führten sie das Sportprogramm dort im privaten Rahmen oft noch einmal weiter. Kai kam in Neuroanatomie auch besser mit, weil er sich nun alles von Jan erklären ließ. Doch unaufhaltsam kam der Mittwoch vor der einsamen Woche näher.

Jan zog seine letzten Testate in Neuroanatomie vor und bestand sie alle nacheinander weg. Alle anderen mussten noch zwei Nachmittagsgruppen hinter sich bringen, bei denen sie gemeinsam mit den späten Gruppen die Schädelbasis und die Hirnnerven durchnehmen würden. Aber immerhin konnte die frühe Gruppe auch endlich einmal ausschlafen.

Jan beschloss daher, dass er den Mittwochabend für eine Abschiedsfeier nutzen wollte und lud ihre Gruppe ein. Sie verabredeten ein Treffen im LPP. Thilo, Bianca und Renate kamen sehr pünktlich, Matze und Holger erschienen auch und brachten Nadine mit. Tini hatte einen Spinningkurs und wollte nicht und irgendwer hatte tatsächlich den blassen Tutor angeschleppt. Der hatte sich vielleicht auch etwas anderes unter dem Gruppentreffen vorgestellt, aber Jan bestellte gleich eine Runde Long Island Ice Tea vom Angebot für alle und ab da wurde der Abend recht wild.

Leon tauchte auf und gab Kai und Jan ebenfalls einen Cocktail aus, Holger und Matze legten die nächste Runde zusammen. Der Tutor schien nicht gerafft zu haben, dass der Eistee aus Long Island durchaus mit Vorsicht zu genießen war. Er war voll, bevor sie vom LPP aus weiter zogen. Es war irgendwie aber auch zum Guten. Denn der dröge Typ traute sich endlich und baggerte Renate an, die das durchaus zu genießen schien. Ansonsten wurde er sogar ansatzweise locker.

Wie das ganze passierte, war Kai hinterher nicht mehr klar, aber sie endeten gegen drei Uhr in einer Discothek und mit dem total besoffenen Tutor am Hals. Längst waren die anderen in alle Winde verstreut. Jan konnte noch am besten reden und Kai sah noch am nüchternsten aus, so dass sie den Tutor zu sich in ein Taxi schoben. Da der Kerl der deutschen Sprache nicht mehr mächtig war und seine Adresse auf Latein nicht korrekt darstellen konnte, nahmen sie ihn mit in ihre Wohnung.

Die Treppen in den dritten Stock schaffte der Kerl noch ganz gut, dann musste er sich für eine gute halbe Stunde im Bad übergeben. Jan zog ihn sehr geduldig aus, duschte ihn ab und verpasste ihm ein Fußballerhemd und eine Shorts. Kai bezog ihm das Bett in seinem Zimmer und stellte ihm eine Schüssel dazu. Dann überließen sie den Tutor sich selber und fielen prompt ins Koma.

Als Kai am anderen Tag um halb neun schon die Augen öffnete, weil sein Wecker ihn nicht in Ruhe ließ, lag Jan noch wie tot neben ihm. Seufzend setzte Kai einen starken Kaffee auf und duschte sich. Das LPP stand am Abend an, daher brauchte er einen Moment für die Haare. Er suchte sich ein neues T-Shirt und eine erträgliche Jeans raus und erbarmte sich schließlich nach Blick in ihre Vorratslage.

Kai sah bei Jan rein. "Ich geh mal Brötchen holen, Toast ist alle."

Jan blinzelte ihn an, dann grinste er. "Hab dich total lieb, Kai." und schlief wieder ein.

Kai lachte, dann ging er müde seinen Kater ignorierend erst in den Wäschekeller und warf die Klamotten vom Tutor rein. Mit Sonnenbrille bewaffnet latschte er bis zum Bäcker an der Ecke, ließ sich von der Anwaltssekretärin anflirten und sorgte für Frühstück. Als er wieder in die Wohnung trat, stand er dem desorientiert blinzelnden Tutor in der Wohnzimmertür gegenüber.

"Wo bin ich?"

Kai grinste. "Du warst gestern Nacht dermaßen fertig und konntest deine Adresse nicht mehr sagen, daher bist du bei uns gelandet."

"Uns?"

"Ja. Jan und ich wohnen hier zusammen." Kai legte Brötchen und Zeitung auf den Esstisch und deckte Teller und Becher zur Thermoskanne.

Misstrauisch blinzelte der Tutor die stylische Küche an, während Kai die Terrassentüren öffnete, um nach den Blumenkübeln zu sehen. Als er wieder zurück kam, sah der Tutor an den Klamotten herunter. Fußballhemd und Schlabbershorts.

"Deine Sachen waren eingesaut, daher hab ich die in die Maschine geworfen. Unsere passen dir nicht, bis auf so Sportzeug von Jan. Besser du frühstückst erst mal. Kaffee ist fertig, oder nimmst du Tee?" Kai setzte das Wasser auf und stellte Jans altmodische Teekanne raus.

"Wie... was?" Der Typ hielt sich den Kopf und verstummte wieder.

Kai zählte gerade geduldig auf "Da steht Kaffee, Milch ist im Kühlschrank, Zucker auf dem Tisch. Ich gebe dir besser mal ein Aspirin.", als Jan mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer kam. Er wuschelte sich durch die nassen Haare. Die Wassertropfen auf seiner Brust funkelten kitschig in der Morgensonne. Kai hielt sich nur knapp vom Sabbern ab und wünschte sich mal wieder, dass er mehr Fotos von Jan haben könnte. Vor allem, weil der bald für eine ganze Woche ohne ihn sein würde.

Der Tutor trat ans Fenster, blinzelte kurz in die Sonne und stöhnte auf. Dann starrte er Jan an und blickte von ihm zu Kai und zurück, als könnte er sie nirgends einordnen.

Jan grinste. "Na? Noch duun? Kater? Du hast vielleicht gereiert. Ich musste dich duschen, Alter. Du musst mit dem Alkohol echt langsamer machen." Dann sah er die Brötchentüte und seine Zeitung auf dem Tisch liegen. "Hm. Hab ich heute schon gesagt, dass ich dich liebe?"

Kai grinste und legte Messer auf den Tisch. "Ja. Als ich heute früh los bin, um Brötchen zu holen."

Direkt vor ihrem Tutor blieb Jan stehen, um Kai zu knutschen. Kai erstarrte erst, dann ergab er sich kurz und neigte sein Gesicht, um Jan sachte einmal zurück zu küssen. Im nächsten Moment schob er ihn lachend an seiner Schulter weg. "Iie, du bist noch ganz nass... geh dich anziehen, dein Tee ist auch gleich fertig."

Der Tutor starrte sie dumm an und öffnete und schloss den Mund einige Male, während Kai etwas rot im Gesicht versuchte, Jan jetzt energischer von sich zu schieben. Doch der war gerade in Kuschellaune. "Hm, nachher muss ich schon los, Kai." Ihm fiel der Tutor wieder auf, der noch immer mit offenem Mund starrte, gereizt blickte er ihn an. "Iss was? Das Bad ist frei, Mann. Du hast heute Nachmittag eine Gruppe in Neuroanatomie, mein Lieber. Mach dich besser mal startklar! Wer feiern kann, kann auch arbeiten."

Kai hatte etwas Mitleid mit dem schockierten Typen und schlug vor "Geh erst mal duschen, vielleicht hilft dir das. Ich pack deine Klamotten nachher gleich in den Trockner."

Nachdem der Tutor abgeschoben war, um zu duschen, war Jan aber auch mit Kuscheln durch und ging sich anziehen. So saßen Kai und Jan recht bald schweigend am Esstisch und genossen die Sonne und frische Brötchen. Jan trug eine noch recht neue Jeans und ein T-Shirt ohne Werbung, was Kai sehr begrüßte. Er nippte friedlich von seinem Tee und las Zeitung, Kai nuckelte sich durch seinen Milchkaffee und hielt das Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne.

Endlich kam der Typ um die Ecke geschlichen, noch immer grau um die Nase und zugleich offensichtlich nicht ganz auf Sendung. Kai deutete mit einer Hand auf den für ihn gedeckten Platz. "Kaffee?"

Er nickte nur und in diesem Moment fiel Kai auf, was so komisch war an dem Kerl. Er hatte sich seinen Namen nie gemerkt. Hatte der Tutor sich überhaupt mal richtig vorgestellt? Wer war er eigentlich?

Im nächsten Moment sagte Jan mit etwas harschem Unterton. "Mark, nun reiß dich mal zusammen. Du hast gefeiert und gesoffen und bist abgestürzt. Das kommt halt mal vor. Meine Herren, Alter, kann doch echt nicht sein, dass du da ein Drama draus machen musst."

Kleinlaut ließ Tutor Mark sich bei ihnen nieder. "Ich hab das noch nie..."

"Was? So viel gesoffen? Das passiert halt mal. Irgendwann überschätzt man sich."

"Nein, ich hab noch nie Alkohol getrunken, vorher", flüsterte Tutor Mark nun etwas beschämt in seinen Kaffeebecher. Und ab diesem Moment fand Kai ihn irgendwie niedlich. Der Kerl hatte also fast das ganze Studium hinter sich gebracht, ohne jemals gefeiert zu haben? Ohne jemals etwas übertrieben zu haben oder gar... Kai fiel gerade Renate wieder ein, als Jan auch schon knallhart darauf zu sprechen kam. "Hör mal zu, Mann. Du hast Renate angebaggert. Ich fände es echt nett, wenn du ihr dazu was Ehrliches sagst, hü oder hott, verstehen wir uns? Die war nämlich nüchtern und fand dich ganz toll, wobei ich mich echt frage, warum."

Tutor Mark starrte Jan überfordert an und blickte dann auf seinen Kaffee runter. Unsicher und heiser flüsterte er schließlich "Ich... erinnere mich nicht mehr so richtig."

Mitleidlos legte Jan seine Zeitung zusammen und lächelte. "Na, das ändern wir dann also mal." Er nahm sein Handy auf und wanderte auf die Dachterrasse raus.

Kai war sich nicht sicher, was sein Freund vor hatte, aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er dem Tutor wenigstens auf eine Art helfen konnte. Er stand auf und streckte sich gähnend. "Die Maschine müsste durch sein. Ich werd mal deine Klamotten in den Trockner werfen." Selber noch nicht sonderlich ausgeruht wanderte Kai ins Badezimmer, um aus ihrem Wäschesammler noch eine Ladung eigener Sachen in den Keller zu schaffen. In Gedanken war er auf seinem Weg in den Keller schon beim Abend. Er würde im LPP arbeiten, das war ein Glück, denn Jan würde weg sein. Über eine lange Woche weg.

Als er aus dem Keller in die Wohnung kam, verkündete Jan. "Tini und Renate kommen gleich mal vorbei, wir haben ja schon den Tutor da, dann machen wir hier noch eine kleine Lerngruppe." Jan war natürlich mal wieder widerlich fit und wach, hatte gar keinen Kater. Kai zögerte, dann nickte er und half den Frühstückstisch abzuräumen, um Platz für die Bücher und Plastikschädel zu schaffen.

Tutor Mark erwachte aus seiner totalen Lethargie und schlug vor, die Hirnnerven mit Bindfäden darzustellen. "Dann können wir den Verlauf im Schädel noch mal üben. Soll ich das vorbereiten?"

Jan grinste ihn fröhlich an. "Na endlich wird er munter! Kai, ich hab schon den Akkuschrauber geholt, lass uns das Bett zerlegen, damit Lolli sich daran austoben kann. Mark, pack mal mit an. Die Matratze ist ein totales Monster."

Es war Mark deutlich anzusehen, dass er auf einen Trip in das Schlafzimmer gern verzichtet hätte. Zugleich war er offenkundig zu schüchtern und lahm, um sich zu wehren. Hastig rannte Kai vorweg, um nach irgendwelchen verdächtigen Dingen zu sehen, aber das Schlafzimmer war bis auf einen kleinen Haufen Bettwäsche und die zusammengelegten Decken und Kissen ordentlich, Jan hatte bereits aufgeräumt.

Jan schaltete das Radio ein, dann schafften sie die Matratze und die Lattenroste in den Flur rüber. Schweigend schraubte Jan am Bettrahmen, Kai half ihm, die Teile passend abzulegen und Mark fummelte im Wohnzimmer am Esstisch an einem der Plastikschädel herum und zog Bindfäden ein. Die Sonne schien, ihr Kater hielt sich trotz zu viel Eistee aus Long Island vom Vorabend in engen Grenzen und der Neuroanatomiekurs lenkte sich endlich in Bahnen, die Kai wieder als problemlos ansah. Die Hirnnerven und ihre Verläufe hatte er längst auswendig gelernt.

Aber Kai fühlte sich durch und durch unglücklich. Und er fühlte sich zugleich komplett albern und kindisch. Die Vernunft kasteite ihn auch schon seit dem Frühstück dafür. Jan würde für eine Woche wegfahren. Eine lausige Woche! Sie hatten sich doch zuvor... er grübelte über das letzte Seitenteil vom Bett gebeugt. Nein, sie hatten sich, seit sie zusammen waren, wirklich ständig gesehen.

Wenigstens einmal am Tag in der Uni, als Kai noch in der WG gewohnt hatte. Seit sie zusammen lebten, hatte er sich fast jede Nacht an Jan kuscheln können, hatte ihn ansehen, fühlen, riechen können. Aber es war noch viel mehr geworden. Es war das Gefühl des eigenen Herzschlags, wie er sich mit einem Mal zu vertiefen schien, nur weil Jan seinen Blick über dem Frühstückstisch erwiderte, das Gefühl im Magen, wenn Jan ihm im Bad beim Zähneputzen so nebenbei über den Nacken streichelte, oder dieser Wirbel der Gedanken, wenn sie eines ihrer anstrengenden Gespräche führten. Es war zur täglichen Gewohnheit geworden.

Jans Sorge, ganz typisch, wie auch am Morgen in Sachen Renate, seine direkte Art und die Wärme, die gleich hinter diesen Sprüchen lauerte, waren für Kai wichtig geworden. Überlebenswichtig. Er umarmte sich auf den Fußboden starrend selber und versuchte das dumpfe Vermissen in sich zu vergraben, das sich mehr und mehr einzustellen begann.

Jan hatte es trotzdem gesehen. Er kniete sich hinter Kai und umarmte ihn einmal fest. "Ich rufe an. Ich verspreche es." Er seufzte leise. "Es ist nur ein Trainerlehrgang, aber der nächste ist erst im November und bis dahin ist mein Ersthelferkurs verfallen."

"Hör auf!" Kai ließ sich rückwärts gegen Jan fallen und setzte sich hin, lehnte sich in die Arme, die seinen Oberkörper umfingen hinein.

Und wie immer zwischen ihnen, sprach Jan es ehrlich und offen aus, während Kai sich schweigend schämte. "Ich kann nicht. Ich fühl mich wie ein verdammtes Kleinkind, Kai, aber so ist es nun einmal. Wir haben uns viel zu sehr daran gewöhnt, dass der andere da ist."

Kai nickte leicht und senkte den Kopf. Das war es und das war nicht gut. Ein Wochenende, eine Woche oder ein Monat. Das sollte doch drin sein. "Wenn ich jetzt so daran denke, dass Tini einfach für zwei Monate nach Kanada fliegt... Holger tut mir leid. Die hat doch echt Glück mit dem Freund, oder? Ich wäre total ausgerastet, wenn du mir sowas nebenbei mal gesagt hättest. Da kann es doch noch so lang geplant sein, noch so klar, dass es keine Ausflucht ist."

"Holger kann von Glück sagen, dass er dich zum Versöhnen und Vermitteln hat. Der Ärmste ist immer total aufgeschmissen, wenn Tini ihre fünf-Minuten kriegt." Jan lehnte seinen Kopf auf Kais Schulter runter. "Dass diese dumme Nuss aber auch immer gleich Schluss machen muss!"

Kai kicherte. "Ich glaube, dass die den Versöhnungssex will."

"Versöhnungssex? Hm... Baby, vielleicht sollten wir uns mal wieder so richtig fetzen, was?"

Mit einem kleinen Lächeln küsste Kai ihn auf die Wange, dann nickte er. "Nächste Woche, wenn du wieder da bist, mache ich dir 'ne Szene, Jan, versprochen."

Jan lachte auf, dann schob er zwei Finger unter Kais Kinn und küsste ihn. Kai seufzte und neigte das Gesicht leicht, um den Kuss zu erwidern. Er schob seine Hände um Jans Schulter herum, seine Augen schlossen sich von allein. Jan schmeckte wie immer, nach seinem Tee, ein wenig süß, nach sich selber. Schon wieder fühlte Kai dieses dumpfe Vermissen in sich. Wütend darüber schob er sich weiter gegen Jan, bis sie auf dem Boden lagen, er sich auf Jans Körper ausstrecken konnte, um ihn intensiver spüren zu können.

Eine Stimme von der Tür ließ sie aufschrecken. "Wollt ihr sehen, ob ihr ohne Bett auskommen könnt oder was?" Tini lehnte im Türrahmen und starrte auf sie runter.

Rot im Gesicht sprang Kai auf und half Jan hoch. Während Jan die Klamotten vom ebenfalls etwas peinlich berührten Tutor aus dem Keller holte, erklärte Kai Tini, dass Lolli das Bettgestell nun auch von seiner Geschmacklosigkeit befreien und in ein Stylewunder verwandeln wollte.

"Echt? Macht er das eigentlich für lau?"

"Natürlich nicht. Der wird mich schon leiden lassen dafür, irgendwann."

Tini trug eine echt knapp abgeschnittene Jeans, ein T-Shirt und eine Weste. Ihre nackten Beine sahen nervend trainiert und perfekt rasiert aus, außerdem schon ein wenig gebräunt. Maulig hielt Kai seinen Arm gegen ihren. "Scheiße, ich werd in der Sonne immer nur rot. Wieso hast du denn schon so Farbe?"

"Ich war die Tage total viel auf dem Fahrrad unterwegs, bei dem Wetter immer schön mit Shorts. Ich werde eh schnell braun."

"Und Jan pampt mich immer mit Faktor 50 ein, seit ich letztes Jahr wegen ihm einen Sonnenbrand hatte."

Tini lachte laut auf, dann seufzte sie. "Holger und ich..."

"Sag. Es. Nicht!" Giftig blickte Kai sie an. "Wenn ihr euch gestritten habt, dann will ich das nicht hören. Verdammt noch mal. Könnt ihr mal was anderes als Fetzen und Vertragen?!"

Sie starrte ihn an, dann schnappte sie den Mund zu und hob das Kinn. "Es ist nicht einfach, okay?! Meine Eltern finden ihn zu alt für mich. Er kommt aus der falschen Familie, hat nicht mal einen Vater vorzuweisen. Er hat eine ungewöhnliche Vergangenheit mit der Seefahrt und so... er hat eine Tätowierung, ist eben nicht das tolle Arztsöhnchen! Er ist außerdem total direkt, wenn er was scheiße findet und er..."

"… er hat dich total lieb und er ist ziemlich direkt, dir das zu zeigen, wenn ich mich recht entsinne." Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. "Okay, was war es dieses Mal?"

Tini seufzte und ließ sich auf Jans Bürostuhl sinken. Etwas nervös und hibbelig, wie immer, schob sie sich mit den Füßen im Halbkreis hin und her. "Wir waren bei meinen Eltern zum Essen eingeladen. Das waren wir schon mal vor ein paar Wochen und das war total in die Hose gegangen. Ich hab es mir geschworen, dass jetzt das totale Comeback laufen wird, aber jetzt war das wieder das gleiche von vorn. Es ist total schief gelaufen. Letztes Mal, weil meine Eltern es scheiße finden, dass Holger Soldat ist. Dieses Mal, weil meine Eltern per Zufall das Tattoo gesehen haben. Außerdem natürlich, weil Holger so dermaßen genau weiß was er will, und das so dermaßen direkt sagt, dass meine Eltern das sofort scheiße fanden. Und mir macht das Angst, wenn er sowas sagt. Ich bin wie gelähmt, kann nicht mehr richtig zu ihm halten."

Ein wenig konnte Kai Tini verstehen. Wenn er mit Jan daheim hätte antreten müssen, ohne dass Jan Fußballer gewesen wäre, dann hätten seine Eltern, sein Vater besonders, kein einziges gutes Haar an seinem Freund gelassen und das hätte dann sicherlich zu Stress geführt. Zwangsläufig, oder? Aber merkten Tinis Eltern nicht, dass sie ihre Tochter durch ihr ablehnendes Verhalten eher von sich fort stießen? Kai lehnte sich an den Schreibtisch an und sah ihr ins Gesicht. "Soso. Was will Holgi-Baby denn?"

Tini raufte sich die Haare. "Heiraten. Mich heiraten. Kinder. Viele Kinder."

"Und was willst du?" Okay, er konnte ihre Panik verstehen, Holger war eine Nummer zu heftig.

"Das ist es ja! Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch weiter studieren soll! Medizin ist interessant, aber sollte man nicht auch den Job später mögen? Irgendwie macht es mir Sorge, dass ich Holger jetzt mag, aber der Gedanke an ein 'später', ein 'für immer' sogar, macht mir Herzrhythmusstörungen. Ich mag das Studium, aber der Gedanke, so wie meine Eltern tagein tagaus in eine Praxis zu dackeln, oder Nachtdienste zu schieben oder... das macht mir Gänsehaut. Philosophie war auch nicht mein Ding. Ich fang im Herbst mal mit Psychologie an."

Kai seufzte abgrundtief auf. "Du bist so was von bescheuert, Tini. Ich hab keine Worte mehr dafür. Holger hat eine Tätowierung?"

"Hm. Auf dem linken Oberarm." Tini grinste hilflos. "Schaut geil aus. Lustig und... naja, die komplette Jugendsünde halt."

"Was ist es denn?"

"Haste noch nie gesehen?"

"Nee."

Sie lachte. "Ein Matrosenmädchen, ein Pinup. Total süßes Bild, würde ich mir glatt auch machen lassen."

Kai blinzelte. Das hätte er von Holger ehrlich gesagt nicht gedacht, andererseits kam Jugendsünde bei Holger vielleicht auch hin. Immerhin wurde der Kerl in der Tat schon dreißig in diesem Sommer.

Er stand mit mühsamen Bewegungen auf. "Gib mir dein Handy."

Tini rückte es raus, aber fragte misstrauisch. "Was hast du vor?"

"Holgi-Baby anrufen, was sonst." Kai gähnte. "Dann kannste ihm auf den Sack gehen mit dieser Tour und ich hab meine Ruhe."

Tini verschränkte die Arme, aber ließ zu, dass Kai die Nummer aus der Liste suchte und wählte. Holger ging spät ran und klang verkatert. "Morgen, wir machen Lerngruppe für heute Nachmittag. Unser Tutor ist hier versackt und will uns die Prüfungsfragen vorsagen."

Es war einen Augenblick lang still, dann seufzte Holger leise. "Danke, Kai." Er legte auf und Kai warf Tinis Handy an ihr vorbei auf den Schreibtisch. Tini blickte einen Moment lang darauf, dann schob sie es in ihre Tasche zurück, stand auf und beugte sich rasch vor, um Kai auf die Wange zu küssen. Sie lächelte. "Du bist total lieb, danke."

Kai nickte das ab und schob sie vor sich her zu den anderen zurück. Der Tutor hatte seine Klamotten zurück und hechtete sich erleichtert hinein. Er und Renate boten ihnen dann bis zu Holgers Eintreffen die Nummer 'Schüchterne Maid an verklemmtem Burschen'. Jan grinste sich durch einen letzten Becher Tee und war dabei, seine Wäsche zu legen, als es an der Tür klingelte. Kai stieß Tini den Ellenbogen in die Rippen. "Du gehst mal gleich aufmachen!"

Tatsächlich haute die Nummer mal wieder hin. Holger kam vorbei, vertrug sich noch im Türrahmen mit Tini, nahm ihre zerknirschte Entschuldigung an und entschuldigte sich bei ihr, um sich dann zu den anderen an den Esstisch zu setzen. Der Tutor saß neben Renate und beäugte sie hin und wieder schüchtern, aber sagte nichts zum Thema Anbaggern. Renate war auch wieder sehr spießig und abweisend. Hoheitsvoll beachtete sie ihn nur, wenn er sich mit fachlichen Fragen an sie wandte. Jan saß den beiden entspannt gegenüber und schrieb sich SMS mit Fußballfreunden. Er hatte seine Prüfung ja auch schon hinter sich.

Das Telefon unterbrach Kai dabei, als er Holger versuchte, die Hirnnerven logisch gebündelt beizubringen. Es war zu seinem Entsetzen Imke Jelenik, die schwangere Braut. Sie war schon immer recht handfest gewesen, passend zur Freiwilligen Feuerwehr, so auch jetzt. "Kai! Ich hab grad deine Mutter auf dem Markt getroffen! Heilige Scheiße! Du bist schwul, das erklärt übrigens einiges, und sollst zu meiner Hochzeit eine Frau mitbringen?! Das ist ja wohl endpeinlich! Tut mir so leid, das war nicht von mir. Meine Mutter und Hella haben das verbockt."

Kai hatte den Hörer hastig von seinem Ohr weggehalten, Imkes Stimme war bis zu den Leuten am Esstisch vorgedrungen. Mit rotem Kopf wandte er sich ab. "Nein. Das ist okay. Wegen der Tanzerei allein, und wenn ich allein komme, dann ist das doch..."

"Nichts ist okay, Kai! Du bringst natürlich deinen Freund mit, verdammt nochmal! Kann ja wohl nicht wahr sein! Du kannst dann ja tanzen oder nicht tanzen, mit wem du willst. Hella wollte dir Nadine Ehrlich aufs Auge drücken. Also echt jetzt. Die kann ich voll nicht ab! Die lad ich doch nicht ein zu meiner Hochzeit und dann auch noch aus einem so beknackten Grund!"

"Ist doch nicht schlimm..."

"Doch! Verdammt!" Imke stockte, dann lachte sie. "Ups. Hormone, Kai. Das sind die Hormone. Ich bin total aufgedreht. Tut mir leid. Also, wirklich. Bring mit, wen du mitbringen willst. Wie heißt denn dein Freund?"

"Jan. Bleib mal kurz dran." Kai blickte zu Jan rüber, der mit Renate an einem Plastikschädel bastelte, der sich zerlegt hatte. Jan hob den Kopf und Kai legte die Hand über die Sprechmuschel. "Das ist Imke Jelenik, wegen der Hochzeit im Juni. Sie sagt jetzt, dass ich statt einer Tischdame dich mitbringen soll."

"Was?! Ich will nicht! Ich hasse Hochzeiten. Blödes Geschmuse und Gesabbel, ich hasse Sekt und dann muss man Anzug tragen, peinliche Spiele ertragen und... vergiss es, Kai!"

"Imke? Er kann eh nicht. Wie bald brauchst du den Namen denn?"

"Das ist es ja. Die Tischkarten müssen diese Woche in den Druck, weil wir sie im Paket mit den anderen Sachen bestellt haben. Alles ein Design, war ein Angebot."

"Oh. Was machen wir denn jetzt? Ich hab leider keine vernünftige Tischdame zur Auswahl."

Renate hob den Kopf. "Kai, ich hab Zeit und ich kann tanzen, wenn es darum geht."

Tini nickte wild. "Stimmt! Kai, Renate kann total gut tanzen, die kann sogar dich führen!"

"Sogar?"

"Na, hast du nicht gesagt, dass du nicht tanzen kannst? Also, was ist denn jetzt?"

Kai blinzelte Renate an, die lächelte genau in diesem Augenblick und zeigte diese endsüßen Grübchen. Jan grinste zugleich und sah optimistisch zwischen Kai und Renate hin und her. "Ihr habt auch eine passende Größe, Kai."

Kai kniff die Augen zu, dann holte er rasch Luft und sagte hastig "Imke, meine Tischdame hat sich gerade gefunden. Sie heißt Renate Kindermann." Er buchstabierte das geduldig und wünschte noch weiterhin alles Gute. Ermattet legte er auf.

Renate lächelte noch immer so niedlich. "Ich mag Hochzeiten, Kai. Total. Und Tanzen finde ich gut. Wollen wir dann nach Neuroanatomie mal üben?"

"Üben?" Die Abteilung Abartigkeiten hob müde einen Finger.

Renate wurde mit der Idee so langsam warm. Sie nickte freudig, während Jan abgeturnt starrte und der Tutor sie deprimiert beäugte. "Walzer tanzen. Das und vielleicht noch Fox, dann geht das schon."

"Au ja! Wollen wir nicht alle mal einen Tanzkurs machen?" Energiegeladen blinzelte Tini sie an.

"Tini, du bist in Kanada!" mahnte Holger zeitgleich mit Kai und Jan, die 'Nein!' schrien.

Kai nannte Renate das Datum der Hochzeit und wo sie stattfand und versprach ihr, dass er seine Mutter anrufen und nach der Unterbringung fragen würde. Es war kurios, wie sehr Renate sich freute. Jan freute sich ungemein, dass der Kelch an ihm vorüber ging, und Kai war insgeheim froh, dass er sich nicht auf Imkes und Jörgs Hochzeit von Sprüchen zum Schwulsein oder von Nadine Ehrlich und den mit der Tante verbundenen Erinnerungen quälen lassen musste.

Er war gerade noch so richtig froh deswegen, als der Moment der Wahrheit ihn überrollte und seine Depression wieder zum Leben erweckte. Kai sah zur Uhr am Herd und wusste, dass sie los mussten. Tini wollte mit Renate und Kai mit dem Fahrrad fahren, Holger war mit seinem Wagen gekommen und versprach, den noch immer etwas grüngesichtigen Tutor Mark mitzunehmen. Kai wollte mit Jan allein sein, aber Jan wollte mit einem Mal auch schon los. Er kam mit seiner großen Sporttasche über der Schulter in den Wohnraum, als sie gerade alle ihre Plastikschädel und Skripte in die Rucksäcke verstauten.

Kai starrte Jan an und seufzte. Eilig stand er auf. "Du musst auch?"

"Hab grad den Staubericht gehört. Ich brauch sicherlich eine Stunde länger als gewünscht." Jan wollte zu Kai hingehen, aber er stürzte hastig auf ihn zu. "Ich bringe dich zum Wagen runter. Wir brechen auch alle auf."

Gemeinsam gingen sie zur Garage runter. Jan trug mit einer Hand die schwere Tasche, den freien Arm hatte er Kai um die Hüfte geschoben. Am Wagen blieben sie stehen. Mit diesem bescheuerten, kranken Gefühl in der Magengrube sah Kai zu, wie Jan seine Tasche in den Kofferraum warf und sein Handy in die Freisprecheinrichtung klickte.

"Ich rufe auf deinem Handy durch, wenn ich dort bin. Wenn was ist, schreib mir eine Mail. Ich hab mir das so eingerichtet, dass ich sofort eine Nachricht bekomme, okay?" Jan lehnte sich an den Wagen und Kai trat seufzend dichter. Er ließ den Kopf hängen und schob sich gegen Jan. Mit geschlossenen Augen ließ er seine Hände einmal an seinen Oberarmen entlang streichen, dann drehte er das Gesicht und umarmte ihn fest. Jans Finger schoben sich in seine Haare. "Hey, die sind mal wieder total lang geworden, Kai."

"Hm. Hab am Samstag einen Termin bei Frank. Da hab ich Spätschicht im LPP." Sie küssten sich einmal.

"Morgen kommt der Gärtner für hinten und will an den Teich ran. Wenn der Fragen hat, soll er mich nächste Woche ansprechen, wenn ich wieder da bin." Jans Lippen tasteten sich einmal über Kais Unterlippe, seufzend schmiegte er sich noch enger an.

"Irgendwie ist es gar nicht schlimm, mit Renate zu der Hochzeit zu gehen." Kai schmuste sich an Jans Hals heran und genoss den warmen Geruch, nach Sonne, nach Wald.

"Sag ich doch. Die ist lieb und will dir nicht an die Wäsche. Außerdem mag sie gern mit Schwulen zusammen sein."

"Hm. Ob sie lesbisch ist und es noch nicht gerafft hat?"

"Glaub ich nicht." Jans Finger schoben sich unter Kais Pulli über seinen Rücken. "Allerdings, selbst wenn, wäre sie zu spießig, es zu merken, oder?"

Kai grinste, dachte dann jedoch an die Klamottenwahl. "Oh Gott! Ich hoffe, dass sie was Vernünftiges auf die Hochzeit anzieht, sonst wird das doch schrecklich."

"Dann musst du mit ihr shoppen." Jans Zungenspitze huschte über Kais Unterlippe, dann öffnete er den Mund und presste sich an ihn heran, um ihm mit einem Zungenkuss den Atem zu rauben. Eine Stimme unterbrach sie nach einer Weile.

"Ihr seid in der Garage, sollte euch das entfallen sein."

Sie fuhren auseinander, doch Jan entspannte sich gleich wieder. "Felix. Ab dem Wochenende hat Kai wieder Zeit für Therapie. Machst du weiter? Ich bin allerdings erst nächste Woche wieder da."

Felix trat näher, den Motorradhelm im Arm. "Wir machen nächste Woche weiter. Allerdings brauche ich schon einen zweiten Mann für die Übungen. Werde mal Henri bitten. Der war ganz scharf darauf."

Böse funkelte Kai ihn an. "Lass den bloß weg von mir!"

Felix lachte. "Nicht auf dich, Kai. Auf ihn."

Verwirrt blinzelte Jan ihn einmal an, dann zuckte er mit den Achseln und meinte "Kenn ich den?"

"Nein. Ihr kennt euch nicht." Kai verschränkte die Arme und setzte in Gedanken hinzu 'Und ihr werdet euch auch nicht kennen lernen.'

"Henri war bei Benni und hat Bilder von sich ausgewählt für seine neue Homepage. Da hat er wohl Fotos von Jan gesehen. Nackt." Felix' Blick glitt über Jans Schritt, hastig trat Kai in sein Sichtfeld.

"Bennis Bilder sind schon fertig?!"

"Na ja. Digital. Er hat mit Henri abgestimmt, wie die Fotos zusammengeschnitten werden sollen. Er will wohl eins von ihm und Lena auf die Seite hochladen. Werbung für seine... Dienste." Man konnte sehen, dass Felix sich innerlich schüttelte. "Na, ich muss los. Bis demnächst, Psycholinchen. Ich finde dich schon, keine Sorge."

Kai kommentierte diesen neuen Namen mit einem giftigen Blick, die Abteilung Abartigkeiten zeigte Felix den Mittelfinger.

Jan hatte in der Zwischenzeit auch einen Blick auf das Handy geworfen und meinte "Du musst los, sonst kommt ihr alle zu spät zum Kurs." Und genau in diesem Moment kam Tini runter und rief "Hört endlich auf, euch zu verabschieden. Meine Güte! Wir kommen zu spät!"

Jan winkte noch einmal schnell und sprang in den Wagen. Im nächsten Moment waren Kai und Felix allein in der Garage. Müde und zugleich gereizt schlappte Kai wieder hoch und zum Fahrradschuppen raus. Er ließ den restlichen Tag an sich vorüber rauschen. Den Kurs mit den Knochenschädeln und Nerven, die kurze mündliche Prüfung, das Arbeiten im LPP mit einer sehr quirligen Henrike.

Alles verschwamm vor seiner Furcht, am Abend allein im Bett zu liegen und Jan zu vermissen. Zugleich nervte er sich selber 'Hysterische Kuh! Hör endlich auf, so bescheuert zu sein!' Gereizt räumte Kai mit Leon zusammen auf und ließ ihn von der Erleichterung wegen der abgeschlossenen Therapie berichten. Leon stand nun natürlich noch die Operation in einigen Wochen bevor, aber daran wollte er nach eigenen Worten noch nicht denken. 'Mensch. Leon hat echte Probleme und ich stell mich an, wenn mein Freund eine Woche weg ist!' Aber das half ihm nicht wirklich.

116

Kai wurde am Samstag viel zu früh geweckt. Er hatte zwar Spätdienst im LPP, aber leider noch den Friseurtermin bei Frank. Somit war er selber daran schuld. Er war am Freitag auch aus eigenem Antrieb erst spät ins Bett gekommen, weil er zunächst vor dem Fernseher versackt war, und dann noch lange mit Jan gequatscht hatte. Er hatte in seinem Zimmer geschlafen und erst einmal echt schlecht geschlafen. Endlich, gegen vier am Morgen, hatte er Jans T-Shirt aus dem Badezimmer aus der Wäsche zu sich ins Bett geholt. Damit im Arm war er wieder eingeschlummert, aber er fühlte sich gerädert, als er gegen halb neun unter der Decke hervor kroch, um sich einen Kaffee zu kochen.

Der Morgen wurde ab der Dusche jedoch total angenehm. Kai war noch mit Milchkaffee in der Hand auf ihrem Balkon und goss seine Blumen, als es an der Tür klingelte. Es war Bardo, der ihm einen Muffin mitbrachte und fragte, ob er ein wenig Cello üben könne. Natürlich ließ Kai ihn und so saß er dann noch die restliche Zeit bis zum Friseurtermin in klassische Musik eingehüllt am Esstisch und betrachtete das schöne Bild, das Bardo mit seinen recht lang gewordenen Haaren, seinem mittlerweile etwas kantigeren Gesicht und dem Cello in der Morgensonne abgab.

Er überließ Bardo die Wohnung und schleppte sich schließlich zu Frank in den Friseursalon. Die Atmosphäre war nicht wie sonst fröhlich beschwingt und von Klatsch und Tratsch durchsetzt. Frank war mies gelaunt, weil er sich mit seinem Lebensgefährten über das Thema Haustier gezofft hatte. Die beiden hatten wohl einen gemeinsamen Hund zu Grabe getragen und nun ging es daheim um die Frage, ob ein Ersatz her sollte. Welche Rasse der Hund hatte, war Kai nicht ganz klar. Aber der Köter war niedlich gewesen, auf diese hässliche 'Nur eine Mutter kann so etwas lieb haben'-Art. Ein Gemälde von ihm hing mit kleiner schwarzer Schleife dekoriert im Salon aus. Der Hund war sonst auch oft zwischen den Kunden umhergelaufen und hatte sich anhimmeln lassen. Er hatte ein wenig so ausgesehen, als hätte eine Fledermaus mal was mit einem Mops gehabt. Frank schnüffelte ein wenig beleidigt "Ich kann nicht glauben, dass Thomas so unsensibel ist, jetzt schon einfach zu dem Züchter fahren zu wollen. Als könnte man Romeo einfach so..." Frank zupfte sich ein Papiertuch aus dem Halter und seufzte tränenreich.

Kai nickte, soweit es ihm möglich war, ohne seine Haare zu gefährden. Durch eine Frage zu Lollis Besuchen in seiner Wohnung wechselte das Thema zum Glück zu dem sicheren Terrain Klatsch. Er wurde locker über die Urlaubspläne der meisten Schwulen der Gegend in Kenntnis gesetzt und musste selber die Info rausrücken, dass Jan und er für eine Prüfung lernen und in der Stadt bleiben würden.

Ansonsten war er recht bald im Bilde. Lukas fuhr mit seinem neuen Freund weg, vermutlich mit dem Bulli nach Spanien, jedenfalls hatte er den bei Tom in der Werkstatt durchsehen und ja auch eine Runde frisch lackieren lassen. Frank kicherte albern "In Nuttenrot! Und das sag ich nur, weil Lukas das selber so gesagt hat. Ach, der ändert sich auch nie." Die Meiersche war abgetaucht, das war schon komisch. Pascal war gerade erst für zwei Wochen weg gewesen, muss eine Fernreise gewesen sein, ein Freund von Frank hatte ihn mit großem Koffer am Flughafen gesehen. Lolli und seine britische Saftschubse waren sich offensichtlich einig, das war wirklich schade um die Lolita in der Szene. Ohne den, war Frank sich sicher, hatten alle anderen auch nur noch halb so viel Spaß. Und das, wo Lolli nach dem Schock durch diese grauenerregende Schlägerei und dann seine dröge Beziehung zu Frank eine ganze Weile nicht wirklich auf vollen Touren lief und erst gerade wieder so richtig in ihrer Mitte aufgetaucht war.

Aber in der Stadt war auch eine Menge los. Der Besitzer vom Subzero hatte Krach mit Lukas, weil dieser zu viele Minderjährige in dem Laden ausgekundschaftet hatte. Das war wohl ein ziemlicher Aufriss gewesen. Frank kicherte "Lukas hat bestimmt aus Versehen einen gevögelt, der noch keine sechszehn war und ist deswegen so ausgetickert. Jedenfalls gab es eine echt gemeine Razzia auf einem Lederabend. Das war aber immerhin ein netter Zug von Lukas, da waren sicherlich kaum Teenager dort. Hätten sie das auf dem Gruftiabend gemacht, wo all diese süßen Möchtegernvampire dort abhängen, auweia. War sicherlich nur eine Warnung gegen Horst."

Horst und Lukas hatten sich daraufhin wohl im Eingang des Subzero so richtig angepöbelt. Aber Lukas Hausverbot zu erteilen, wagte der Typ dann auch wieder nicht wirklich, aus Angst vor Dauerrazzien als Rache. Außerdem war Lukas nicht nur Stammkunde, sondern auch in gewisser Weise das Ziel vieler anderer Kunden.

Da das Thema Minderjährige schon einmal aufgekommen war, wurde das nun auch ausgebaut. Frank wuschelte durch Kais Haare und schnippte an seinem Ohr entlang. Alle gingen jetzt fest davon aus, dass Kai total an diesem illegal jungen Typen dran war. Kai dementierte müde, auch wenn er Bardo in seiner Wohnung wusste, aber Frank glaubte ihm eh nicht. Über Lukas hörte er nach hastiger Ablenkfrage, was er denn sonst so machen würde, dass der sich mit seinem Kai an den letzten Beziehungsrekord annäherte. "Nach Felix hatte Lukas nie wieder was Längeres als drei Wochen. Doch, warte mal. Ihr zwei wart ein wenig länger zusammen und dann mehr als einmal, nicht? Ich meine sogar, dass er in der Zeit nix nebenher hatte, ungewöhnlich. Aber da er selber für dich nur Lückenbüßer war, zählt das nicht. Schon toll, dass er und seine neue Flamme so steady gehen."

"Also ehrlich, alles über drei Wochen zählt schon?" Entrüstet blickte Kai in den Spiegel.

Schnippisch zupfte Frank ihm eine Locke hinter das Ohr. "Kann ja nicht jeder mit 'ner Fußballerhete verheiratet sein. Es ist nicht leicht in freier Wildbahn, wenn man so ein geiler Typ ist wie Lukas. Zu viele Gelegenheiten. Er muss doch nur die erste Stufe ins Subzero runter gehen, schon hatte er Sex mit wenigstens einem Mann, der total scharf auf ihn ist." Neidisch seufzte Frank und fuhr Kai mit süß riechendem matt-look Gel in die fertige Frisur.

Nach dem Friseur sah Kai wieder annehmbar aus. Das Gel hatte er sich gleich aufschwatzen lassen. Und nun, wo er schon mal beim Geldausgeben angekommen war, wollte Kai eigentlich noch shoppen gehen und von dort direkt zur Arbeit, um seine Verluste wieder auszugleichen.

Vorher schaute er noch einmal schnell bei Bardo vorbei. In der Wohnung traf er zwar auf das Bambi samt Cello, aber auch auf Lolli und Benni. Wieder waren sie mit Renates Auto gekommen, um die notwendigen Utensilien für das Möbelstyling vorbei zu bringen. Und Benni hatte erneut die Fotos dabei. Dieses Mal allerdings auf seinem Laptop und nicht in Buchform. Und sie hatten Renate dabei, weil sie nach der Aktion für das Wochenende zu ihren Eltern fahren wollte.

Während Benni und Lolli im Schlafzimmer mit Folie hantierten und Bardo sein Cello erneut aufnahm, um zu üben, trat Renate auf Kai zu. "Sag mal. Ist es wirklich okay, wenn du mit mir auf die Hochzeit gehst? Die Entscheidung kam mir hinterher doch irgendwie übereilt vor." Unsicher zupfte sie ihr unbekömmlich geringeltes T-Shirt über ihren Hintern runter. Die Jeans ging auch überhaupt nicht, ließ sie wieder so dick erscheinen.

Unsicher überlegte Kai, ob er dem Amt für Styling und Fashionvictims freie Hand lassen sollte, dann schob er diese Oberflächlichkeiten vorsichtshalber zur Seite und sagte "Ich bin dir dankbar, wenn du das machst." Eigentlich hatte er Renate bis zu der Feier bei Thilo noch nie so richtig beachtet, nun schien sie dauernd Teil der Gruppe zu sein, die sich bei ihnen einnistete, also entschied er sich für das Überwinden und Gewöhnen. "Hast du ein Kleid?" testete er vorsichtig.

Unglücklicher weise nickte sie eifrig. Doch dann sagte sie wiederum glücklicher weise "Meine Mutter und ich waren neulich zu einer großen silbernen Hochzeit. Dafür haben wir gemeinsam eingekauft. Meine Mutter hat einen total guten Geschmack." Sie lächelte hilflos. "Nicht so wie ich."

Es erstaunte Kai, dass Renate so viel Selbstkritik übte. Doch dann sagte sie passend zu seiner Meinung von ihrem Stilgefühl. "Das Kleid nehme ich noch einmal, weiß ja keiner. Es ist schlicht und schwarz, ich finde, dass ich aussehe wie ein Schuhkarton, aber meine Mutter fand es gut. Dann ist es egal, was du anhast, nicht?"

Kai schüttelte den Kopf. Das war es natürlich nicht, aber so wusste er jetzt schon, dass er einen schwarzen oder grauen Anzug tragen würde. War sowieso praktischer, den konnte er dann für alle anderen möglichen Familienfeiern und die mündliche Prüfung im September einsetzen.

Aber Renate hatte noch ein anderes Anliegen. "Wollen wir eine Lerngruppe bleiben, Kai? Mit Jan, Tini, Holger? Das ging neulich total gut, fand ich." Pragmatisch blickte sie sich um. "Ihr habt hier auch total viel Platz. Wir könnten uns so jeden zweiten Tag treffen, vielleicht was kochen und dann Themen für ein-zwei Stunden durchsprechen, dann stört das nicht beim restlichen Lernen. Es hat ja doch jeder sein eigenes Tempo."

Die Idee war gut. Vor allen Dingen würde eine Lerngruppe mit festen Terminen auch Jan deutlich mehr motivieren. Außerdem hatte Renate Jan erstaunlich gut im Griff. Ein strenger Blick von ihr brachte ihn viel besser zum Lernen als Kais Versprechungen und Bestechungsversuche. Tini und Holger waren beide fleißig und stets sehr konzentriert dabei, Renate war tatsächlich total schlau und konnte gut erklären und sie war locker mit Jan und ihm umgegangen. In so einer Lerngruppe würde niemand doof starren, wenn Jan ihn küsste oder sie sich umarmten. Er nickte und versprach "Ich werde Jan mal heute Abend anrufen und ihn seelisch darauf vorbereiten."

Sie wurde ein wenig rot und ließ das unkommentiert. Stattdessen fragte sie ihn, nach welcher Liste er lernen würde. Von dort kamen sie auf die Fächer und Wichtungen zu sprechen und wurden beim Abgleichen ihrer Lernpläne von Benni unterbrochen, der sich die Bilder von Kai mit ihm zusammen ansehen wollte. Renate hatte Taktgefühl und ging sofort weg, um mit Bardo über das Klavierspielen und irgendwelche Konzerte zu reden.

Kai war total überrascht davon, wie viele Fotos gemacht worden waren, von denen er absolut keine Ahnung hatte. Die Fotos waren in einzelnen Ordnern nach Personen sortiert. Sein Ordner war wahnsinnig groß. Er war drauf, als er mit Lena die Katze streichelte, er war mit Lolli drauf, als der seine Wimpern färbte und mit Lukas auf dem Bett von Lena, mit Weintrauben beschäftigt. Es sah absolut dekadent aus, wie Lukas und er halbnackt aufeinander lagen und sich gegenseitig Weintrauben klauten. Benni hatte den Bildausschnitt so gewählt, dass auch sonst nur das Bettzeug zu sehen war. Die gestellten Serien kamen dazwischen, die Fotos waren sehr gut geworden, auch wenn Kai keine Ahnung hatte, was Benni damit vorhaben mochte. Dann kam Henri mit ins Bild. Errötend wollte Kai an den Bildern von Henri, der nackt auf ihm saß, vorbei blättern. Benni hielt ihn auf.

"Henri lässt fragen, ob er das Bild hier verwenden kann. Der Ausschnitt würde seine Hände und sein Gesicht und von dir die Schultern und den Hals zeigen. Nichts weiter. Ungefähr so." Benni zog einen Rahmen in eines der Bilder, das Kai von hinten zeigte. Henris kräftige Finger gruben sich gerade in seine verspannten Schultern, er sprach direkt an sein Ohr. Es sah zugleich unschuldig und erotisch aus. "Er mochte, wie dein Nacken dort ausschaut."

"Das wäre okay", nickte Kai diese Idee ab. Von ihm war wirklich nicht allzu viel zu sehen. Und Benni ließ ihn weiterblättern. Die Farbserien kamen und Kai nickte den Gebrauch der Bilder ab. Dann kamen er und Lena mit einer Serie, auch diese Bilder gingen in Ordnung. Jan kam ins Bild und die wilde Jagd auf Kai war offensichtlich Teil einer Idee von Benni gewesen. Die Szenen waren im Nachhinein sehr lustig anzusehen. Eine Horde Unbekleideter machte Jagd auf einen angezogenen Menschen. Die Katze war einmal mit im Bild, Lolli mit hysterisch hochgerissenen Armen, als er Kai gefangen hatte. Kai musste lachen. "Jetzt ist es lustig. An dem Tag war ich voll sauer auf euch."

Benni grinste und fragte dann leise "Darf ich aus diesen Bildern eines nehmen für eine meiner Ideen? Ich zeig dir die bearbeitete Version dann auch, bevor ich sie abschicke. Versprochen."

Kai nickte auch das ab. Dann klickte er weiter und erstarrte. Fotos von ihm und Jan, beide nackt auf dem Bett von Lena. Sie schmusten eindeutig rum, Jans Hintern sah geil aus, genau wie der deutliche Kontrast zwischen Jans dunklem Teint und harten Körper und Kais eher weicher, heller Erscheinung. Aber das Bild war eindeutig zu intim, sie streichelten und küssten sich. Scheiß Benni mit seiner blöden, indiskreten Kamera. Kai erinnerte sich, sie hatten darüber gesprochen, dass er Hunger hatte und kalte Füße und keinen Bock mehr. "Du bist voll der Paparazzi!" Anklagend starrte Kai kurz Benni in das Gesicht.

Leise sagte Benni "Konnte nicht widerstehen. Ihr zwei seid zusammen immer so..."

Bardo kam an den Tisch heran, nachdem er zuvor Lolli und Renate im Schlafzimmer geholfen hatte. "Oh. Siehst du, Kai. Da schaust du wieder total..."

"Bardo! Augen weg!" Kai wurde gerade klar, dass er da nackt auf dem Bildschirm zu sehen war. Hastig klickte er weiter. Es wurde nicht besser. Die gestellten Fotos von ihm in Lenas Bett. Dunkelblaue Wäsche, er blickte sauer und müde direkt in die Kamera, seine Augenfarbe wurde tatsächlich hervorgehoben. Sein Körper sah fast weiß aus gegen den dunklen Untergrund.

Bardo seufzte leise. "Du bist auf Fotos immer total schön."

Kai schickte Bardo mit resoluter Geste auf die andere Seite des Tisches.

Benni nickte zu Bardos Meinung und versetzte "Und das Bild ist noch nicht bearbeitet. Deine Haut ist echt fast perfekt, Kai... du schaust auch immer total neutral, man kann durch die Umgebung so ziemlich alles hineininterpretieren. Ich bin froh, dass ich dich hab überreden können, bei der Sache mitzumachen."

Hastig wollte Kai wegklicken, aber Benni hielt ihn auf. "Darf ich das Foto verwenden? Man sieht ja nichts so richtig. Das Bettzeug ist passend drapiert und ich hatte dich extra etwas von der Seite geknipst. Warte mal, zwei Bilder weiter... hier schaust du genau wie ich das wollte, wie gerade wach geworden."

"Nein. Aber ich muss einen Abzug kriegen. Jan will das zum Geburtstag haben." Unglücklich blickte Kai sich selbst in die Augen. Auf dem Bild war zwar zu sehen, dass er nackt war, aber so richtig viel zeigte es tatsächlich nicht. Das war dann perfekt.

Benni lachte auf. "Na gut. Ich hab dir eine CD gebrannt mit deinen Bildern und einigen schönen von den anderen."

"Danke, Benni, das ist ne...tt... Oh Gott! Moment! Hast du den anderen auch solche CDs gebrannt?!"

"Ja. Warum?"

"Mit Bildern von mir?"

Stolz lächelte Benni ihn an. "Klar."

"Scheiße!"

"Was ist los? Jeder bekommt die Bilder von sich."

"Und wo mehrere Leute drauf sind? Und sowas wie das hier?"

"Na, das eben auch. Hatten wir doch so abgesprochen. Hier, ich hab dir die nackte Serie von Lukas hinten angehängt. Schaut das nicht geil aus?"

Lukas auf dem Tisch, ein Bild von ihm als Unterlage für einen zappelig angespannten Henri. Kai stöhnte auf, die zwei sahen wirklich zugleich geil aus und dann auch wieder nervig. Zwei gestylte, fitte Körper von zwei Narzissten, die sich selbst gern hatten. Der Funken zwischen ihnen sprang auch auf den Bildern nicht rüber. Es waren geile Bilder von geilen Kerlen, mehr nicht.

Bardo hatte sich wieder angeschlichen. Er lehnte sich dichter und klickte ein Bild weiter. Kai auf dem Tisch. Das Silbergrau der Stahlplatte fand sich um seine Augen wieder, Wasser perlte über seine von einer Gänsehaut überzogenen Schultern und sein Gesicht, ansonsten konnte man ihm gut ansehen, wie genervt er war. Bardo lachte. "Da biste aber total sauer, oder?"

"Der Tisch war kalt, ich hatte Hunger und wollte das eigentlich nicht. Jan hat mich überredet." Kai verschränkte die Arme. "Das Foto muss auf jeden Fall verschwinden, Benni!"

"Ist ja gut." Tragisch seufzte Benni und zeigte Kai dann noch Bilder von Henrike und Lena. Es war niedlich, wie offensichtlich Henrike Lena anhimmelte. Dann sammelte er seine Sachen ein und legte Kai die CD auf den Tisch. Renate und er verabschiedeten sich bald. Aus dem Schlafzimmer begann es nach Chemie zu stinken. Bardo und Kai blieben am Esstisch einander gegenüber sitzen.

"Hey, Bardo. Du kannst doch mit Computern gut umgehen, oder?"

"Hm?"

"Ich will Jan ein Bild von mir mailen, muss ich das dazu irgendwie bearbeiten?" Kai stand auf und holte Jans Laptop an den Tisch.

"Das von euch zusammen?" Bardo klappte den Laptop auf und startete ihn mit schon verdächtig gewohnt wirkenden Handgriffen. Er schob die CD ein. "Wo ihr zwei...?"

"Nein! Ein anderes."

Bardo lächelte. "Welches dann? Das im Bett?"

"Nein! Da bin ich nackt. Natürlich nicht! Nimm eins, das nicht so..."

Bardo startete ein Bildbearbeitungsprogramm. "Ich muss das Foto echt erst mal kleiner machen, sonst dauert es ewig, bis Jan das anschauen kann. Das ist gut, oder das hier?"

Sie einigten sich endlich auf ein paar Bilder. Einmal von einem bekleideten Kai in Lenas Bett, dann von der wilden Jagd, weil Jan da gut getroffen war, um ihm außerdem eins auszuwischen, immerhin war Jan da nackt am Rumspringen, und noch zwei weiteren, auf denen Lena extrem gut aussah und eins, auf dem Kai allein zu sehen war. Während Kai seine Sachen zusammen packte, bearbeitete Bardo die Bilder und fügte sie in eine Mail ein. Kai tippte eine kurze Erklärung zu Bennis Besuch dazu. Bardo schickte alles ab. Er fummelte noch ein wenig mit dem Bildbearbeitungsprogramm rum, während Kai sich ein frisches T-Shirt für den Abend überziehen ging. Dann klappte er den Laptop zu und brachte ihn zu Lolli in das nach Lack und Chemie stinkende Zimmer.

Nach einem Abschied und einer Ermahnung an Lolli, bloß nicht in der Wohnung zu rauchen, machte Kai sich gemeinsam mit Bardo auf den Weg. Weil das Wetter total geil war, beschloss Kai, mit Bardo zu Fuß zu gehen, statt im stickigen Bus mit verschwitzten Leuten zu leiden. Bardo stimmte zu und schob sein Fahrrad. Das Cello auf dem Rücken machte ihm nichts aus, wie er sofort beteuerte.

"War es okay, dass ich da war?" Unsicher schob Bardo ein Steinchen aus dem Weg.

"Sonst hätte ich was gesagt." Kai fühlte sich unausgeruht und freute sich auf den nächsten Morgen. Endlich Sonntag, ausschlafen, rumhängen. In der Sonne auf dem Balkon rumliegen. Im nächsten Augenblick fehlte ihm Jan dazu und er ärgerte sich wieder.

Bardo wechselte das Thema. "Du gehst mit Renate auf eine Hochzeit?"

"Hm. Mein Cousin Jörg heiratet seine schwangere Freundin. Seine Eltern und meine Eltern und überhaupt alle wollten, dass ich eine Tischdame bringe, damit sie so tun können als ob."

"Ist eigentlich schade, nicht? Dass du eine 'Dame' bringen musst. Stell dir mal vor, wie krass das wäre, wenn du einfach mit Jan hingehen könntest. Einfach mit ihm dort feiern und tanzen und... so."

"Jan kann Tanzen und Hochzeiten nicht ab." In Gedanken fügte er hinzu 'Ich auch nicht. Mich fragte ja mal wieder keiner.'

"Wäre trotzdem romantisch."

Kai lachte. "Du und dein romantisch, Bardo. Komm, ich will noch ein Eis essen. Ich geb dir eins aus."

"Super!"

"Was ist mit dem Chor eigentlich?"

"Du, das war komisch. Ich hab mit dem Chorleiter Heiner gesprochen, als der Ostern bei meinen Eltern war, und der hat schon gewusst, dass ich raus muss. Er hatte das irgendwie auch so zu Stefan gesagt. Er meinte aber damit, dass ich sowieso in den Chor der Herren gehen soll, weil ich im Knabenchor nicht mehr vernünftig angeleitet werde. Er hat mir gesagt, dass ich sowieso mehr tun muss, wenn ich Gesang und Cello studieren will und dann im Knabenchor der Kirche nicht mehr richtig aufgehoben bin. Vielleicht hat Stefan das irgendwie falsch verstanden?"

"Weiß dieser Heiner denn, warum das Thema aufgekommen ist?" Fast fühlte es sich an, als wollte Bardo diesen dämlichen Stefan in Schutz nehmen.

Unglücklich nickte Bardo. "Natürlich. Meine Mutter hat schon voll lange mit ihm geredet."

Sie kamen zum Eispavillon auf der Ecke vor der Kirche und mussten hinter einer Mutter mit Kindern und einigen Mädchen mit Rollerbladern anstehen. Kai blickte mit schmalen Augen nach der Sorte im Angebot, aber das war ekeliger Weise Schokolade mit Chili. Dann wandte er sich Bardo erneut zu. "Das tut mir leid für dich. Deine Mutter ist indiskreter als Lena. Zwei Kugeln, dafür hab ich grad Kleingeld."

Bardo hob die Schultern. "Ich mache mir eher Sorgen, weil alle mir neuerdings sagen, dass ich viel mehr tun muss, wenn ich Musik studieren will. Ich tu schon so viel!"

Sie mussten ihre Bestellung aufgeben und verzogen sich mit dem Eis auf die Mauer vor der Kirche. Die Beine in der Sonne baumeln zu lassen, mit Bardo quatschen und Eis zu essen war sehr nett. Eigentlich war dieser Tag ganz und gar nicht übel. Eine Weile schwiegen sie und Kai seufzte zufrieden, bevor er ihre Unterhaltung wieder aufnahm. "Ich bin mir sicher, dass du Musik studieren kannst. Du bist doch total gut, oder?"

"Das ist es ja! Offensichtlich nicht. In letzter Zeit meckert meine Cellolehrerin ständig mit mir rum. Die Stücke für das Konzert findet sie gerade so akzeptabel." Bardo vertiefte sich einen Augenblick lang in sein Eis, dann sagte er leise "Es ist aber auch so, dass ich mich nicht so richtig auf das Cello konzentrieren kann. Oder auf Klavier. Ich konnte früher stundenlang üben, nicht mal Halvar hat mich dabei gestört. Jetzt wandern meine Gedanken dauernd." Er wurde ein wenig rot dabei.

Kai grinste ihn an. "So? Wohin?"

Bardos Mutter schlug im nächsten Moment voll bei ihm durch. "Zu dir", sagte er leise und sah Kai derart direkt an, dass ihm komisch wurde.

"Was?!"

Bardo blickte Kai wieders forschend an, wie so oft in den letzten Tagen so oft. "Irgendwie hat alles mit dir angefangen und... es hört nicht auf."

Kai leckte hastig von seinem Eis, als es zu laufen anfing. "Wie meinst du das?" Bardo vernichtete den Rest vom Eis und Kai reichte ihm seins. "Kann nicht mehr. Nimm mal, du kannst es brauchen."

Kommentarlos übernahm Bardo, nach einer kleinen Weile erklärte er mit leiser Stimme "Ich bin nur rein in die Party bei Lena, weil ich vom Fenster aus dich gesehen hatte. Erst waren da so krass wilde Leute, alle waren so obercool mit den Piercings und Tattoos und schon so alt irgendwie. Das war total nicht das, was ich gesucht hatte. Ich hatte Angst vor denen, wollte schon wieder gehen, aber dann hab ich dich mit Lukas tanzen sehen. Das sah so... frei aus, so richtig. Zusammen Spaß haben, feiern und so, nur eben nicht mit Mädchen. Deswegen war ich doch zu der Party hin, weil es sonst nirgends richtig war, wenn ich das mit Jungs machen wollte. Sie umarmen, ansehen, halt so... zusammen sein. Wegen dir bin ich auch tatsächlich zur Party rein, obwohl ich voll Angst hatte. Und als ihr gehen wolltet, hab ich mich gerade nach Lena umgesehen, um meinen Rucksack zu holen. Ich wollte auch nach Hause gehen, zu Stefan vielmehr. Ich bin stattdessen mit Tini mit, weil du am nächsten Morgen auch in der Wohnung dabei sein wolltest. Du hast mich irgendwie ja auch zum Frühstück eingeladen, wegen dir bin ich mit hin."

Kai machte gerade ein Taschentuch mit etwas Wasser aus seiner Flasche nass, um sich die Finger zu putzen. "Warum?" Er wusste im nächsten Augenblick, dass das keine schlaue Frage gewesen war. Hastig stand er von der Mauer auf, um Bardos Blicken, um seiner schmerzhaften Ehrlichkeit entgehen zu können.

Bardo war rot im Gesicht und mampfte einen Augenblick lang schweigend an seinem Eis, dann sprang er von der Mauer. Er nahm sein Cello auf und sah zu Kai rüber, der ein paar Schritte vorweg gegangen war. Er hob die Schultern. "Weiß ich nicht", sagte er leise, und das war gelogen.

Kai ging hastig los, während Bardo noch sein Fahrrad aufschließen musste. Auch als Bardo ihn wieder eingeholt hatte, wusste Kai nicht, was er jetzt sagen sollte. Irgendwie ärgerte er sich darüber, dass das Bambi, mit dem er sich so wohl gefühlt hatte, jetzt so einen Ärger machen musste. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her in Richtung Bahnhof, endlich fragte Kai mit deutlichem Unwohlsein. "Du bist aber nicht in mich verschossen, oder?" Die Frage lag auf der Hand, die Vernunft wollte das auch dringend abgeklärt haben, auch wenn Kai dieses Thema gern hätte ruhen lassen.

Bardo hob die Schultern wieder. "Weiß nicht." Es war fast nur ein Flüstern.

Kai stockte und sah ihn an. "Scheiße, Bardo!"

"Tut mir leid."

Sie schwiegen eine Weile, während Bardo nervös sein Cello anders schulterte, um sein Fahrrad besser schieben zu können. Die Gedanken in Kais Kopf wechselten sich rasch ab. Bardo hatte ihn angesehen, nicht Lukas. Immer ihn! Verdammte Scheiße! All dieses unbeschwerte Zusammensein war einseitig gewesen, ganz und gar nicht von Bardo aus. Der hatte Kai schon die ganze Zeit mit anderen Augen angesehen, als gedacht, oder? Oder nicht?

Kai senkte total genervt den Kopf. "Hör zu. Ich dachte, dass wir sowas wie Freunde sind. Jetzt machst du alles total kompliziert. Muss das sein?!"

Komischer weise fand Bardo seine Reaktion toll. "Ehrlich, Kai? Freunde?"

"Was sonst?" Kai zog die Schultern an, das Erziehungsgen jammerte rum. Die Vernunft merkte an, dass Teenager Gefahrengut darstellten. Davon ein wenig verärgert sah Kai Bardo in das süß von Sommersprossen überzogene Gesicht und giftete "Hast du ein Problem damit?!"

"Im Gegenteil! Freunde ist total gut."

"Freunde", betonte Kai total mies drauf, während er weiter ging. "Das ist der Zustand, in dem man nicht rumgummert oder irgendwelche Dummheiten anstellt, klar?!"

Bardo schwieg eine kleine Weile, dann murmelte er leise "Aber ist das okay, wenn..."

"Nein!"

"Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte." Grummelig schob Bardo an einem Papierstück auf dem Weg.

"Egal was, es ist nicht okay! Ach, so ein Mist! Irgendwie bin ich echt schon doof drauf, weil Jan weg ist, und jetzt bist du so bescheuert! Wenn ich das gewusst hätte, dann..."

Ja, was eigentlich? Kai hatte immer nur freundschaftlich, vielleicht gar mit dem Erziehungsgen im Hintergrund mit dem Bambi gesprochen. Er hatte ihm vertraut und sein Vertrauen war nicht hintergangen worden. Bardo hatte Kai vertraut und Kai wusste, dass er ihn niemals hintergehen würde. Doch die unbeschwerte Zeit hatte ein Ende. Das war klar. Es gab nur eine Lösung für dieses Problem. Auch klar. Leider.

Kai blieb stehen. "Hör zu. Du gehst mal für eine Weile auf Abstand, Bardo."

Unglücklich nickte Bardo, seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern, als er zustimmte "Ist okay."

Seufzend drehte Kai sich zu ihm um. "Ich finde dich ... freundschaftlich wirklich total nett. Wir kommen echt gut aus. Aber ich kann solche Komplikationen nicht gebrauchen. Echt nicht, okay?"

"Aber wie merke ich denn dann, ob es vorbei ist?" Verzweifelt und ein wenig verlangend starrte Bardo ihn an.

"Such dir wen anderes, klar?!"

Kai bog ins LPP ein, wo Henrike ihm bereits von der Galerie aus zuwinkte. Die großen Fensterfronten waren wegen des genialen Wetters den Tag über offen gewesen, gerade jetzt war Bastian dabei, die Fenster zu schließen. Kai half ihm hastig.

Er hatte erwartet, dass er das Bambi jetzt, nach dieser peinsamen Unterhaltung, los war. Aber Leon erblickte Bardo und rief "Halt! Junger Mann, ich hab was für dich!" Dann verschwand er im Büro.

Bardo nickte verwirrt und schloss schließlich sein Rad an. Er ließ sich auf ein Glas Wasser an der Theke nieder und beobachtete Kai, nachdem dieser mit dem T-Shirt des Tages bekleidet wieder vorn erschien, bei der Arbeit.

Leon ließ Bardo eine ganze Weile warten, bis er wieder erschien und ihm ein Päckchen überreichte. "Von Anna. Sie meinte, dass du demnächst Geburtstag hast. Das ist ein vorgezogenes Geschenk. Sie hat mir dazu aufgetragen zu sagen, dass du es bei Kai und Jan aufmachen sollst, wenn du mal wieder dort bist."

Bardo wurde rot und Kai stockte beim Wischen. Leon sah zwischen ihnen hin und her, dann lächelte er und lehnte sich dichter an Kai heran, ihre Hüften berührten sich eben gerade. "Hm, du warst beim Friseur. Sehr schön. Ein wenig fehlen mir die Knutschflecken vom letzten Mal."

Kai ignorierte ihn. In seinem Hirn erwuchs ein Plan, den die Vernunft mit Sorge betrachtete, das Erziehungsgen war sich noch nicht sicher, was es davon halten sollte. Er lehnte sich zu Bardo vor. "Ich nehme das besser gleich mit. Komm die Tage vorbei, dann sehen wir mal, was Anna dir so schenkt."

Bardo hielt das Päckchen fest. "Aber..."

Kai hielt auch fest, sie sahen sich in die Augen. "Oder soll Halvar das finden und öffnen? Wer weiß, vielleicht ist der Inhalt ja... interessant?" Kai lächelte und Bardo blinzelte ihn mit roten Ohren an, dann nickte er und fragte mit leiser Stimme "Morgen?"

"Nicht zu früh. Ich bin sicherlich nicht vor drei im Bett."

"Hm, bis dann." Hastig verschwand Bardo zu seinem Fahrrad.

Felix' große Maschine hielt vor dem Laden und Leon diffundierte aus Kais Nähe heraus, um extrem unschuldig an dem Tresen zur Küche nach etwas zu suchen.

Natürlich war das Thema Bardo noch nicht gestorben. Die Unterhaltung wurde von Leon gnadenlos nach Dienstschluss auf dem Weg zu seinem Auto wieder aufgegriffen, als Kai, das Päckchen unter dem Arm geklemmt, aus dem LPP trat und die Alarmanlage scharf machte.

Leon schnippte lässig gegen das Päckchen und sah Kai amüsiert an. "Der Kleine ist in dich verknallt, hm?"

Kai nickte leicht und kletterte in den Wagen. Während sie sich anschnallten, fragte er leise "Was mach ich jetzt nur?"

"Aufpassen."

"Worauf?"

"Deine Zurückhaltung? Ist ja offensichtlich, dass er nur darauf wartet, dass du ihm einen Befehl erteilst, oder deine Abwehr aufgibst."

Sie sahen sich an der nächsten Ampel kurz an und Kai lächelte. "Nein. Bardo hat Prinzipien, da bin ich mir sicher. Außerdem ist er total romantisch."

Leon lehnte entspannt im Wagen und lenkte mit einer Hand. "Außerdem ist er dabei, ein Mann zu werden. Sein Denken und Fühlen ist sicherlich nicht immer romantisch, Kai. Irgendwann wird auch dieser süße Junge einmal geil sein, schlicht und ergreifend geil."

Der Blick, der die Worte 'schlicht und ergreifend geil' begleitet hatte, machte Kai nicht froh, aber er nickte leicht. Dann knöpfte er sich Leon auf seine Art vor. "Wo wir von geil und Bardo sprechen, Leon. Hier ein kleiner Hinweis, den Bardo mir hat zukommen lassen."

"So?"

"Anna hat deine Pornosammlung gefunden."

Die restliche Fahrt war es merkwürdig still im Wagen. Grinsend kletterte Kai in den dritten Stock hinauf. Es machte ihm nicht einmal etwas aus, dass Leon ihn auf dem letzten Treppenabsatz überholte. Sie sagten 'Gute Nacht', auch wenn Kai das nicht glauben mochte.

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