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Trost 2

Kapitel 117-120

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Inhaltsverzeichnis

117

Es wurde eine gute Nacht für Kai. Jan hatte ihn auf dem Handy angerufen, das er mal wieder in der Wohnung vergessen hatte, und bat um Rückruf, egal wann. Also tat Kai ihm den Gefallen und rief nach einer Dusche gegen halb vier am Morgen zurück, während er sich in sein Bett warf und das T-Shirt von Jan über das Kissen ausbreitete.

Jan war noch wach, hatte mit anderen vom Lehrgang Karten gespielt. Er hatte ein paar Bier getrunken und war in guter Stimmung. "Danke für die Fotos, Kai. Hab schon total mit meinem süßen Freund angegeben."

"Was?!"

Jan seufzte. "Ich hab keine Selbstmordabsichten. Leider bin ich in einem Fußballtrainingskurs. Wenn die das Wort 'schwul' nur hören, sind die Jungs hier alle sofort verklemmt ohne Ende. Da halte sogar ich meine Klappe. Ich hab natürlich sagen müssen, dass du mein Mitbewohner bist. Die Deerns vom Parallelkurs Aerobic, oder was das ist, waren aber alle vollkommen hin und weg von dir. Wo bleiben die Nacktbilder?"

"Geburtstag. Vorher nicht." Wütend verschränkte Kai seine Arme.

Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang. Erst eine längere Zeit über Bardo und ob das jetzt kompliziert werden würde. Dazu sagte Jan, dass er Bardo schon recht eindringlich klar gemacht hatte, was passieren würde, wenn er sich an Kai ranmachen wollte.

"Er hatte mir eigentlich versprochen, sich zurück zu halten."

"Hm. Vielleicht war es, weil ich ihn direkt darauf angesprochen hab", versuchte Kai das Bambi ein wenig in Schutz zu nehmen.

"Egal. Ich verpasse ihm einen prophylaktischen Einlauf, wenn ich wieder da bin."

"Das mache ich selber. Morgen. Hab ihn herbestellt, dann werd` ich ihm noch mal in Ruhe sagen, dass es so nicht geht."

Jan beendete das Thema tatsächlich gleich wieder. Er ließ sich über seinen Zimmernachbarn aus, der offenkundig ganze vierzig Minuten gebraucht hatte, um eine Teilnehmerin im Kurs Erste Hilfe, den sie mit den Mädchen zusammen hatten, anzubaggern. Tatsächlich war er wohl nun auch bei der im Bett gelandet. "Das nenne ich rekordverdächtig! Meine schnellste Nummer war im Urlaub und hat immerhin gute vier Stunden von Drink in der Disco zu Bett gebraucht und ich musste total viel sabbeln und knutschen, bevor..."

"Too much information, Jan! Ich fang auch gleich mal von Lollis neusten Abenteuern an."

Jan lachte und bog im Thema erneut ab, um Kai von den anstrengenden Sachen zu erzählen, die sie im Kurs hinter sich brachten. Kai erzählte von Renate und ihren Kleiderplänen und natürlich seiner Sorge, dass er sich jetzt wieder mit einer Tusse konfrontiert sah, die scheiße angezogen war. Sie redeten über eine Stunde, dann schlief Kai mehrfach mit dem Telefon in der Hand ein, und Jan meinte endlich auch, dass er am nächsten Morgen um acht schon einen Waldlauf hatte. Er beendete das Gespräch mit einem kryptischen "Ick hebb di leev." Wozu Kai sich dachte, dass es was Nettes war, was auch immer. Er endete mit einem neutralen "Bis bald“ und einem Gähnen.

Nach dieser herrlichen Unterhaltung fehlte Kai zwar noch immer der warme, kräftige Körper neben sich, aber er schlief dennoch ganz wunderbar. Nicht so toll war das jähe Ende seines Schlafes, als am anderen Morgen zur unchristlichen Zeit von neun Uhr bereits Lolli an der Tür klingelte, als sei Godzilla hinter ihm her. Total übermüdet hing Kai deswegen mit Milchkaffee in der Sonne auf der Dachterrasse, als Bardo samt seinem Schlüssel und einem Schuldbewusstsein von der Größe der Beringsee zu ihnen in die Wohnung kam, um sich Annas Paket zu widmen.

Nachdenklich beobachtete Kai das Bambi, der am Esstisch vor dem Päckchen saß und versuchte, sich gegen Lolli zu wehren. Dieser wollte unbedingt wissen, was Bardo von der krassen Anna bekam und lungerte in der Küche herum, nachdem er eine Raucherpause eingelegt hatte. Lolli trug an diesem Tag eine farbverschmierte knappe Jeans und ein rosa T-Shirt, auf dem in lila Glitzerschrift 'Fairy Godmother' zu lesen war.

Endlich erbarmte Bardo sich und knibbelte das braune Packpapier von einer goldenen Schachtel. Drinnen lagen eine Tafel Schokolade mit Herzchenpapier, zwei Packungen Taschentücher mit niedlichen Bambibildchen drauf, eine Packung mit fünf Kondomen und zwei Flaschen Kleiner Feigling. Anna hatte eine Karte dazu geschrieben, die Bardo kurz las und dann an Kai weiter reichte. Die Karte zeigte ein nacktes Paar am Strand. Zwei Männer, der eine beugte sich über den anderen, wie um ihn zu küssen. Von beiden konnte man nicht nur antrainierte Muskeln sehen, sondern auch den Penis. Beide beschnitten, beide rasiert. Anna schrieb. "Damit das bei dir was wird, schenk ich dir ein Anfängerset. Ich hoffe, dass du es bei Kai und Jan aufgemacht hast und nicht mit deinen Brüdern zusammen. Küsschen, Anna."

Kai blinzelte die Sachen an, dann bemerkte er kritisch "Tussen. Sie hat das Gleitgel vergessen."

Bardo wurde rot und Lolli brach in eine Kicherattacke aus, die sich länger nicht beruhigen ließ. "Ich mag Anna. Anna ist geil! Und du bist sowieso total geil, Kai. Jan hat dir echt gut getan, auch wenn ich nicht glaube, dass ich so etwas von der Fußballerhete sage." Noch immer lachend wanderte er zu seinem Bettprojekt zurück.

Kai und Bardo blieben zurück und schwiegen sich an. Kai mit Kaffee und Bardo mit Einsteigerset für Sexneulinge. Endlich hob Bardo den Blick und fragte unsicher "Kann ich das hier lassen? Ist ja eine nette Idee, aber..."

"Natürlich." Kai leerte seinen Kaffeebecher, dann seufzte er und kam zum anstrengenden Teil der Unterhaltung. "Ich hab gestern Nacht noch mit Jan geredet. Über dich. Er wollte dir schon eine Packung verpassen, weil er mit dir wohl besprochen hatte, dass du mich nicht anmachen sollst. Aber das finde ich übertrieben."

"Oh." Bardo knibbelte an dem Paket. "Danke. Ist auch nicht nötig. Ich weiß ja, dass du mich nicht..." Er brach ab, suchte nach Worten.

Kai blinzelte ihn an und suchte ebenfalls. Nicht was? Er hatte Bardo total gern, aber eben als Bambi, nicht als... Mann. Das war der doch ohnehin noch nicht. Noch lange nicht. Der Gedanke half.

"Ich mag dich, Bardo. Das ist es ja! Werd‘ doch bitte erst einmal erwachsen. Lass das Paket von Anna hier. Behalte den Schlüssel, aber komm eine Weile nicht her. Das ist blöd für dich, blöd für mich und ganz ganz besonders blöd, wenn Jan wieder da ist und dich hier so gummeräugig sieht."

Mit müden Bewegungen stand Bardo auf und legte die Karte in das Paket zurück. "Tut mir leid." Seine Stimme war wieder nur dieses Flüstern. Er ging auch zu hastig aus dem Wohnzimmer. Die Tür klappte und Kai starrte noch immer auf seine Finger, die sich fest um seinen leeren Becher geschlossen hatten.

'Scheiße, scheiße, scheiße...' Er fühlte sich, als ginge ihm etwas verloren. Irgendwie hatte er zugleich mit der Vernunft gesehen, dass es anders als so nicht gehen würde und mit der Abteilung für Romantik, dass es weh tat, so harsch zum Bambi zu sein. Ein anderer Teil in ihm war traurig und fühlte sich verlassen. Das Gefühl erinnerte ihn daran, wie weh es getan hatte, als Pascal ihm als Freund verloren gegangen war.

Das Bambi war nur kurz, aber ziemlich heftig in sein Leben hineingeplatzt. All diese Unglücke – der Besuch auf der Feier, die Attacke seiner Eltern samt Polizei, die Sache mit dem verbrannten Kuchen, der missglückte Ausflug zum Osterfeuer samt seiner von Vorurteilen beladenen Freunde – hatten sie irgendwie zusammenrücken lassen. Und die schönen Momente, als er Bardo hatte trösten können, wie geduldig und verständnisvoll der Kleine ihm zugehört hatte, das war Freundschaft gewesen, oder nicht?

Er hatte sich mit Bardo auch körperlich wohl und mit der Nähe vollkommen sicher gefühlt. Immer. Das hatte er sonst noch nie richtig gehabt. Mit Jan fühlte er sich gänzlich anders. Da war dieses warme Verlangen, das auch gern einmal in heißes Verlangen umschlagen konnte. Es war die Sicherheit, dass es Liebe war. Und im Hintergrund die stete Angst, dass es eines Tages vorbei sein könnte.

Mit Lukas fühlte er sich zwar wohl, aber nur solange dieser die Grenze nicht überschritt. Eine gewisse Grundspannung blieb Kai immer erhalten, eben weil Lukas diese Grenze nicht selten ganz wo anders sah als Kai selber. Aber mit Bardo gab es diese Unsicherheiten nicht. Er hatte sich total wohl gefühlt, neben ihm in seinen ältesten, abgetragensten Sachen zu sitzen, ihm von peinlichsten Erlebnissen zu erzählen, ihm bei seinen Problemen zu helfen. Er hatte sich total wohl gefühlt, neben ihm im Bett zu liegen, ihn fest zu umarmen, ihn zu berühren. Sich mit einem anderen Menschen als Jan körperlich wohl zu fühlen, war schön gewesen. Es war warm gewesen und hatte glücklich gemacht, es war nicht sexy gewesen, nicht gefährlich und schon gerade nicht peinlich. Und jetzt war diese Sicherheit fort. Warum? Weil dieser bescheuerte Junge seine Hormone nicht in den Griff bekam!

Das Erziehungsgen war altklug damit befasst, Bardo wieder in die zu erziehende Gruppe nerviger Kinder einzuordnen. Das Sexgen war am Inhalt von Annas Paket interessiert und die Vernunft schwieg sich eisig über die möglichen weiteren Konsequenzen aus. Innerlich zerrissen starrte Kai auf die Postkarte mit den geschniegelten, nahtlos gebräunten Männern. Sie machten ihn nicht an, waren zu unwirklich. Wie Henri. Nackt zu sein war wie ihre Kleidung und ihr Verhältnis zueinander war gestellt, leer. Die zwei hatten sich nicht wirklich gern, der Funken sprang nicht über.

Mit müden Bewegungen stand Kai auf und nahm das Paket mit in sein Zimmer. Er hatte das Richtige getan. Das Bambi musste auf Abstand, dringend. Um den Kopf frei zu bekommen und sich jemanden reelles zu suchen. Leider fühlte es sich total schrecklich an. Lollis gute Laune konnte da ebenso wenig drüber hinweg helfen wie Tinis Anruf mit einer Anfrage, ob er Zeit für sie hatte. Er redete sich mit Arbeit und Müdigkeit heraus und versprach, sie am nächsten Tag anzurufen.

Erst am Abend war Lolli fertig mit dem Ablaugen vom Bettgestell. Die Teile hatten Kai und er Stück für Stück auf die Dachterrasse raus und wieder rein getragen. Nun stanken sie im Schlafzimmer auf Folie abgelegt vor sich hin. Kai öffnete beide Fenster und schloss die Tür.

Lolli verkündete, dass er für den Tag fertig sei. Aber er war ganz und gar nicht fertig mit Kai. Wie Tentakeln legten Lollis Arme sich um Kais Hals. "Na, meine Maus? Wollen wir zusammen chinesisch essen und schweinische Filme sehen?" Grinsend piekte Lolli ihm in die Seite.

Kai zuckte zusammen, dann schüttelte er den Kopf. Ein Blick zur Uhr zeigte ihm, dass bald Essenszeit war, aber Hunger hatte er nicht. "Lass mal, Lolli. Ich bin echt müde von den letzten Tagen und ich..."

"… du machst dir um das Bambi Gedanken, was?" Lolli lehnte sich über den Esstisch. "Was ist los?"

"Er hat mir gesagt, dass er in mich verknallt ist." Deprimiert ließ Kai den Kopf hängen.

Lolli blinzelte, dann lachte er auf. "Gute Güte! Ist das alles? Ich weiß das, Lukas weiß das, Lena und diese geile Anna sowieso, am Nordpol wissen sie das auch! Sag mir bitte, bitte nicht, dass du das erst jetzt bemerkt hast!"

Hilflos hob Kai die Schultern. "Ich hab ihn nie so gesehen."

"So?"

"Na, als... Mann."

"Oh. So." Lolli zückte sein Handy. "Natürlich. Das ist er nicht. Noch lange nicht. Aber wir machen jetzt mal was gegen dein lahmarschiges Selbstmitleid. Das ist total unsexy, das geht gar nicht! So will ich meine süße, geile Maus nicht in Erinnerung behalten."

Kais Protest wurde mit einem rigorosen "Geh dich duschen! Zieh die grüne Hose an... ist mir egal was dazu, wir gehen aus!" abgeschnitten. Und damit wurde Kai ins Bad geschoben und Lolli begann mit diversen Leuten zu telefonieren.

Es gab kein Entrinnen. Lolli steckte Kai in seine grüne Hose und das passende T-Shirt. Dann verschleppte er ihn in die WG, flößte ihm Kir Royal und einige Züge von einer Tüte ein, vergaß das Essen dazu und wirbelte herum, um sich selber in ansehnliche Form zu bringen. Benni wurde mit imperativem Blick als Begleitung bestellt, Lukas informiert und im Endeffekt fuhr der sogar mit dem Bulli vor, um sie zur Nebenstraße in der Innenstadt mitzunehmen, in der das Subzero lag. Ausgerechnet, aber leider der einzige Laden, der sonntags auf hatte. Kai verdrehte die Augen.

Lukas war sogar mit seinem Kai gekommen. Er nannte ihn irgendwie süß und peinlich zugleich 'Noppi'. Die zwei waren ein hübsches Paar. Beide gestylt und fit und ziemlich offensichtlich aneinander dran. Sie hatten ursprünglich etwas anderes geplant, aber Lollis Aufschrei, dass niemand ihn vermissen würde, dass sie ihn bloß alle ignorieren sollten und so weiter und so weiter, machte nicht nur Kai Kopfschmerzen, es brachte die anderen auch dazu, sich einzufinden.

Für das Subzero war es natürlich noch viel zu früh. Sie gingen daher erst einmal zwei Straßen weiter zu einem pakistanischen Restaurant. Das hatte Lena vorgeschlagen und dort war sie bereits, samt Henrike. Die zwei lagen schon auf den Bodenkissen in der Ecke für Gruppen um zwei niedrige Tische herum und hatten für Vorspeisen und Getränke gesorgt.

Es gab süßen schwarzen Tee und knuspriges Brot mit Dip. Die erste wirklich gute Idee des Tages. Kai rückte mit Benni zu Henrike herum. Lukas warf sich derweilen auf seine Schwester und knutschte sie ab. Er blieb gleich bei ihr liegen und redete über seinen geplanten Urlaub und die Pläne für den Bulli. Die beiden sahen total gut aus zusammen. Er selbstbewusst und ungeheuer sexy. Sie stylisch mit ihren seit der Fotoaktion frisch gefärbten Haaren, fast weißes Blond mal wieder. Das sah zu ihrer dunklen Haut exotisch und zugleich edel aus. Sie war im Dali-Modus, trug ein schwarzes Männerhemd offen über einem engen Top, eine legere Bundfaltenhose und schwere Schuhe, die derzeit vor der Kuschelecke ausgezogen standen.

Henrike war ihrem Punk-Look treu geblieben. Sie trug einen knappen Rock in schwarz mit pinken Matroschka-Puppen darauf. Dazu pink-karierte Overkneestrümpfe. Ihr Gesicht wurde von rosafarbenen Strähnchen umrahmt. Lolli stürzte sich sogleich aufgeregt auf sie und lobte ihren Stil. Benni verschwand samt seiner grauen Cordsachen komplett in den Schatten um den Tisch. Natürlich hatte sich Lolli wieder einmal selbst übertroffen. Er trug eine Tigerstreifenhose in rot-schwarz und verboten eng zu einem roten T-Shirt, das eine Nummer zu knapp geraten war. Vorn waren gezeichnete nackte Männer zu sehen, die durcheinander sprangen. Darüber stand in geschwungenen Lettern 'hunt me, Baby'.

Kai war sich zwar nicht sicher, ob Jan die legendäre grüne Hose an diesem Abend, mit Lukas dabei, gebilligt hätte. Aber andererseits war Jan nicht da, und er fühlte sich trotz der Raubtierblicke, die Lukas an seinem Hintern entlang streichen ließ, sehr wohl in seiner Haut. Das T-Shirt saß gut, die Hose saß geil und er trug ein langes Hemd über beidem, damit es zum Essen nicht zu geil wurde. Und er trug die Schneckenblume. Damit fühlte er sich derart kontinuierlich an Jan erinnert, dass er für den Abend keine Befürchtungen hatte, was das Thema Treue anging.

Zwischen ihm und Lukas saßen immerhin auch der Dali, Benni und Henrike. Es war also eine relativ sichere Sache. Auf seiner anderen Seite ließ Noppi sich nieder und erzählte ihm, wie er zu dem Spitznamen gekommen war. Augenscheinlich hatte seine Schwester bei der Sprachentwicklung mit etwa drei Jahren diesen Begriff für den großen Bruder geprägt. Darüber kamen sie zu lustigen Kindheitserlebnissen und von dort zum Studium.

Noppi war durch seinen Beruf medizinisch gebildet und konnte über Kais Anekdoten vom Fummelkurs lachen. Es war angenehm, sich mit ihm zu unterhalten. Seine süße Art kam bei Kai nicht als Flirt an und war auch nicht so gemeint. Noppi rückte ihm nicht auf die Pelle, tuckte nicht rum, lästerte nicht peinlich missgünstig wie die anderen Freunde von Lukas das gern einmal taten und er redete nicht über Lukas' Körper oder Kais Beziehung zu ihm. Es war unerwartet erholsam. Während Kai und Kai sich entspannt miteinander unterhielten, setzte Lolli leider gerade die restliche Gesellschaft über die Bardo-Krise in Kenntnis. Indiskret wie immer, war ja klar.

Das bedingte, dass Lukas nach ihrer Essensbestellung zu Kai rüber kam und sich zu ihm und seinem Noppi niederließ. Sein Körper wirkte angespannt, ein wenig als sei er im Stress und würde bald die Geduld verlieren. Etwas harsch befahl Lukas Kai, sich bei dem Bambi nicht so naiv zu verhalten. "Meine Güte! Ist doch klar, dass der sich in dich verknallt! Verdammt..."

"Klar?!" Giftig starrte Kai ihn an. "Was daran ist klar?! Wieso nicht in Jan?! Der hat ihn schließlich bei uns bleiben lassen! Er hat ihn über alles aufgeklärt und er hat..."

"Der ist doch die Paradehete. Du bist ganz offiziell der einzige schwule Mann, der diesen Typen aushalten kann!"

Noppi mischte sich interessiert in diese Unterhaltung ein. Sein süßes Lächeln bei der Frage nach Jans Hetentum, brachte Lukas irgendwie zum einen die Chance durch einen Vortrag über Jans unmögliche Art mit Kai seinen Stress abzubauen, als auch mit einem Lächeln als Antwort zu reagieren und somit seine Laune auf diese Art zu bessern.

Kai reagierte auf Lukas' Attacke mit dem sehr giftigen Hinweis, dass Jan und Lukas nun einmal beide auf Platzhirschniveau absanken, wenn es um ihn ging. "Und das fand ich bei deiner letzten Feier total scheiße, Lukas! Von euch beiden! Und das finde ich auch heute noch scheiße. Streitet euch gefälligst über was anderes als mich!"

Lukas seufzte, holte einmal tief Luft, dann nickte er. "Hast ja Recht. Ich kann nur nicht begreifen, dass..."

Noppi-Kai schob seinen Arm um Lukas' angespannte Schultern. "Da Kai mit Jan zufrieden ist und nicht mehr mit dir zusammen, Lukas, hab ich ja richtig Glück gehabt, was?"

Lena lehnte sich an Henrike vorbei zu ihnen. "Und gib es zu, Lukas. Kai und Jan zusammen zu sehen, ist einfach schön. Ich bin mir sicher, dass diese beiden tatsächlich auf immer zusammen bleiben."

Kai blinzelte Lena überrascht an und sie lächelte. "Die Fotos haben das doch gezeigt. Wie ihr euch miteinander bewegt, wie er dich ansieht, von dir ganz zu schweigen. Es macht Sinn, da kann Lukas noch so sehr dagegen halten. Wenn du seine Eifersucht magst, ist sie nicht verkehrt."

Kai schwieg verwirrt. Er hatte Jan schon wieder so angesehen, wie Bardo immer sagte? Von Lena hatte er diese Art Zuspruch zudem nicht erwartet. Misstrauisch blickte er zu ihr rüber, dann sank der restliche Text ein. "Moment Mal! Die Fotos, Benni, die von Jan und mir, wieso hat Lena die gesehen?!"

Benni hatte gerade mit Henrike über seine Projekte geredet und hob den Kopf. Er lächelte auf diese total niedliche, schüchterne Art. "Lena hat mir beim Bearbeiten geholfen."

"Wir hatten eine Abmachung, Benni!" Entrüstet stemmte Kai eine Faust in die Seite.

"Ja, aber Lena hat dich doch live nackt gesehen und Jan auch. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass es was macht, dass sie dich auf den Fotos auch noch nackt sieht."

Lena machte die Sachen sofort noch eine Idee schlimmer. Sie grinste Kai an. "Übrigens hätte ich nicht gedacht, dass du so verdammt gut ausgestattet bist. Alle Achtung, Kai. Tini hatte ja mal sowas..."

"Lena!" Sie schwieg sofort betreten, Lolli, Lukas und Noppi starrten äußerst interessiert und Kai rettete sich mit einem gegrummelten "Ich hätte mit Tini niemals duschen dürfen. Das war sowas von ein Fehler. Können wir das Thema wechseln?"

Er hatte Glück, gerade als Lukas Noppi im Detail bestätigen wollte, dass Kais Schwanz nicht unbedingt die kleinste Nummer auf Lager war, ergab sich eine vernünftige Ablenkung. Mit großem Tamtam sprang die Meiersche um die Ecke und breitete die Arme aus. Lolli reagierte sofort und stürzte sich hinein. Lachend und weinend knuddelten und knutschten die zwei einander, als ginge es um ihr Leben. Dann schob Carl sich zu Kai auf die Bank, während Noppi und Lukas weiter durchrutschten. Er küsste ihn eine Idee zu nah am Mundwinkel, tätschelte Lukas auf den Po und kniff Noppi in die niedlich von Grübchen verzierte Wange. Nachdem er sich mit Noppi bekannt gemacht hatte und Lukas für seinen guten Geschmack in Sachen Boyfriends gelobt, sagte er betulich in die Runde "Ach tut mir leid, tut mir sowas von leid, ihr Lieben. Ich bin zum Glück noch nicht zu spät, oder? Der Hauptgang kommt doch noch, nicht wahr?"

Alle lachten und als hätten sie sich um perfektes Timing bemüht, kamen zwei Kellner mit den Schalen voller Lamm und Kichererbsen und Curry und Reis zu ihnen und ballerten den Tisch voll mit Tiegeln und Töpfchen und Messingstövchen. Und Kais Laune und sein Magen waren endlich gerettet.

118

Die Unterhaltung wurde während des Essens von Carl und Lolli in die Richtungen gelenkt, die sie interessierten. Klatsch, Tratsch, Gerüchte, sexuelle Vorlieben der Mitmenschen, der Hintern eines Passanten vor dem Fenster, die Klamotten von Leuten am Nachbartisch. Natürlich war die Meiersche begeistert vom Essen. Benni und Henrike redeten mit Lena über die Fotos und Lukas und Noppi unterhielten sich am Anfang unglücklicher Weise über Kais Penis. Später glücklicher Weise mehr über das Essen und das Gefühl, gleich platzen zu müssen und wie viel sie nun im Fitnessstudio extra machen würden.

Kai hatte den festen Plan gehabt, nach dem Essen nicht um die Ecke zu wandern, um für viel Geld in eine Disco zu gehen, die er nicht mochte. Aber Lolli jaulte auf, dass seine Maus ihn nicht mehr lieben würde, was damit alle Leute im Restaurant in dem schwelenden Verdacht bestätigte, dass Kai was mit Lolli hatte, so auffällig benahm er sich. Alle anderen in der Gruppe baten Kai inständig, Lollis Laune nicht zu ruinieren. Um seine Ruhe zu haben, zischte Kai Lolli beim Schuhe anziehen zu, dass er ihn hassen würde und nun wohl mitkommen musste, aber nicht auf seine eigenen Kosten.

Die Meiersche und Lukas klemmten ihn daraufhin unter den Arm und schleiften ihn entsprechend gnadenlos mit, um für ihn zu bezahlen. Beide hatten Mitgliedschaften in dem Laden. Lukas gab Kai den Eintritt aus, Carl erwarb ihm einen Gutschein für zwei Getränke an der Bar. Die Frauen durften an diesem Abend nicht mit, aber Lena fand das Subzero sowieso nicht sonderlich ansprechend, wenn nicht Lesbentag war und sie dort als DJ Geld bekam. Sie nahm eine sehr willige Henrike mit sich in andere Gefilde.

An der Garderobe schoben sie ihre Jacken rüber und Kai zog auch das Langarmhemd aus. Anerkennend strich Lukas ihm einmal über den Rücken. "Ich liebe deine Ausgehhosen. Schon das silberne Teil war scharf, Kai. Diese hier ist der Beweis, dass Olivgrün sexy ist." Er verteilte einen Klaps auf Kais Po, küsste Noppi zum Abschied auf die Wange und ging mit sicheren Schritten davon, im Vorbeigehen grüßte er den Barkeeper und zwei andere Typen.

Kai wurde bereits nach zwei Schritten in den dunklen Raum hinein unwohl. Die Hose und das Shirt waren ohne Ende sexy, das war noch immer so. Mit den anderen zusammen in einer netten Kneipe oder auf einer Feier hätte er sich damit wohl gefühlt. Jetzt, im düsteren Subzero, war das anders. Jetzt fühlte er sich wie Beute. Die Blicke der Männer, die im Gang zur Tanzfläche und in den Ecken lehnten, schienen ihn zu berühren, nicht angenehm, sondern beleidigend, aggressiv. Es war Kai nicht geheuer, ließ ihn fast schon Angst spüren. Über seine eigene Unsicherheit verärgert verschränkte er die Arme, aber wartete auf Benni und Noppi, statt hinter Lolli her zu laufen.

Unwillkürlich schob Kai sich enger an die zwei heran. Das Subzero an einem Sonntag war eine schreckliche Idee. Er würde allein nie im Leben hier rein gehen. Enge Klamotten schienen Pflicht, dazu ein freier, aufgepumpter Oberkörper und semiversteckte Geilheit. Tattoos, Piercings und Leder auf nackter Haut waren ebenso vertreten wie durchgestylte Muskeltypen in T-Shirts. So entspannte, bunte Partyleute wie im Stroboskop fanden sich hier natürlich auch, vor allem vorn an der Bar und auf der Tanzfläche, aber sie kämpften auf verlorenem Posten gegen die Düsternis und den Sex an, der die Luft schwer machte.

Die Musik war sehr schnell, dumpf und eine Nummer zu laut für Gespräche. Die Tanzfläche strahlte mit ihrem Metallfußboden industrielle Härte aus. Glamour mit Lichteffekten gab es kaum. Es gab beißenden Diskonebel, der im Hals kratzte und die Tanzfläche zu einem geheimnisvoll wabernden Sumpf werden ließ. Dieser Nebel wurde durch verteilte Punktstrahler hier und dort angeleuchtet, in der Regel verstärkte sich dadurch der Sumpfeffekt noch mehr.

Lolli hatte einmal gesagt, dass es auf dem Lesbentag hier gänzlich anders aussah. Bunt und lustig, mit Diskokugel, die flirrendes Licht verteilte und heller Beleuchtung, in der man sich gut sehen konnte. Die Musik war auch nicht so derb laut, man konnte sogar reden. Aber alle anderen Tage waren düster, gefährlich und wie in einen Raum gesperrter Sex. Ein wildes Tier, das durch das Eingesperrt sein nur noch aggressiver wurde. Wer nicht geil war und hier rein geriet, wurde schnell geil gemacht. Aber es gab Ausnahmen. Kai fühlte es deutlich, denn er war eine. Er wurde nicht geil im Subzero, er wurde sauer und müde und fühlte sich gestört.

Auch vorn, an der etwas erhöht gelegenen Bar, war es eigentlich zum Reden zu laut, obwohl man hier durch eine getönte Glasscheibe etwas vor dem Lärm geschützt war. Seufzend rieb Kai sich mit den Fingern den Nasenrücken. Es war klar, dass er leiden würde. Scheiße, dass er sich nicht hatte absetzen können. Das viele Essen lag ihm noch immer im Magen, und er wollte mit Jan telefonieren, anstatt sich von notgeilen Typen auf den Hintern, oder schlimmer noch in den Schritt, starren zu lassen. Für Sex war er sowieso viel zu müde. Ein total unangenehmer Abend nahm seinen Lauf.

Nicht für Lukas. Der war in seinem Element, warnte seinen Freund nach einer Runde durch den Raum, dass er nicht vorhatte, in dieser Nacht, jedenfalls in der nächsten Zeit, treu zu bleiben und verschwand erneut in dem Sumpf auf der Tanzfläche.

Verwirrt starrte Kai ihm nach und sah dann zu seinem Namensvetter rüber. Noppi sah an diesem Abend verdammt niedlich aus. Hatte andere Ohrringe drin, eine neue Frisur und zeigte mit engem pinken T-Shirt seinen gar nicht üblen Körper ebenso wie mit der stylisch zerrissenen Jeans. Er lächelte Kai zu, erriet seine Gedanken und hob die Schultern. "Lukas ist so. Ich hab mich daran gewöhnt. Wenn der nicht zwischendrin auf Jagd gehen und wen flachlegen kann, wird er unruhig und doof. Komm, lass uns was trinken."

Sie ließen sich an der verspiegelten Bar nieder und behielten die Tanzfläche hinter ihnen im Auge. Noppi-Kai sah Kai anerkennend auf den Hosenstall. "Aber du schaust heute doch auch sehr scharf aus. Geile Hose. Und wenn ich da an die Schwanzdiskussion von eben denke..." Der Barmann stellte ihnen die Getränke vor die Nase.

Kai lehnte sich dichter an Noppi heran, um nicht so schreien zu müssen. "Nächstes Thema!" Unbesorgt prostete Noppi ihm zu und rettete Kais Laune für fünf Sekunden. Im nächsten Moment wurde Kai von einem Typen in schwarzem T-Shirt angebaggert und verschränkte die Arme, um ihn mit einem bösen Blick auf seinen Weg zu schicken.

Arschlöcher! Konnte man nicht mal fünf Minuten in Ruhe trinken? Lolli hopste mit Lukas und Carl auf der Tanzfläche herum und knutschte so ziemlich jeden, der ihm in die Arme geriet. Er war extrem überdreht und auch das nervte Kai. Durch einen kleinen Seitwärtsschritt brachte er sich an eine verspiegelte Säule zurück und schob Noppi zwischen sich und potentielle weitere Typen, die ihn anbaggern könnten.

Für eine gute Stunde hatten sie daraufhin ihre Ruhe und schrien sich zum Thema Musik und Männer etwas an. Zwischendrin kam immer mal wer angedackelt, redete kurz mit Noppi, baggerte vielleicht auch etwas an ihm rum. Anders als Kai konnte Noppi das mit einem Lächeln genießen, lehnte sich dichter, freute sich über Komplimente und ließ sich anfummeln, ohne eine Krise zu bekommen. Lukas kam nach Ablauf dieser Zeit in Kais Blickfeld, als er wild mit einem Typen knutschend von der Tanzfläche in Richtung der Sitzgelegenheiten im Dunkelnirvana an der Seite wegdriftete. Gereizt sah er Noppi in das Gesicht. "Sollte der das nicht mit dir machen?"

Noppi-Kai schüttelte den Kopf. "Wo denkst du hin? Das ist doch nix. Wenn der mich hier vögeln wollte, fänd ich das nicht so doll. Nein. Er kann sich etwas austoben, dann können wir nachher bei mir in Ruhe die Sachen machen, nach denen mir ist." Er betrachtete Kais Gesicht. "Du bist aktiv, oder? Hast du nie Bock gehabt, einfach mal einen Mann durchzunehmen, zu spüren, dass du ihn gewonnen, erbeutet hast? Brauchst du sowas nicht?"

Kai schüttelte den Kopf und dachte verzweifelt 'Nächstes Thema.' Dieser Noppi war deutlich gefährlicher als er gedacht hatte.

"Und wenn das Bambi das wollte? Der Kleine, über den ihr vorhin geredet habt. So eine Puppylove kann man doch mit Sex am allerbesten wegbekommen. Nimmt den romantischen Aspekt." Optimistisch leerte Noppi sein Glas.

"Wie meinst du das?"

"Na, was hält so eine Verliebtheit am Laufen? Das ist der Umstand, dass man sich etwas herbei träumt, das nicht real ist. In den Träumen ist es natürlich viel besser. Du weißt doch selber, wie Sex ist. Man fühlt sich auf dem totalen Hoch, aber das Danach kommt auch, die Ernüchterung. Schau dir Lukas an. Für viele genau jetzt der totale Traum. Kaum hat er sie gefickt, ist der Traum vorbei. Dann war es nur noch ein Fick, vermutlich nicht mal ein guter, hier in der Disco, in lauter Musik, zwischen anderen Typen und zugleich auch schon wieder vorbei. Vielleicht kommt man nicht mal zum Abschuss... blöder geht es doch kaum. Perfekt, um sich den Traum abzugewöhnen."

"Nein. So was mag ich nicht. Ich brauch das nicht und für das Bambi wünsche ich mir, dass er sein erstes Mal richtig macht. Mit jemandem, den er liebt, oder zumindest gern hat, der es richtig macht und nicht nur nebenbei."

Noppi lachte und lehnte sich dicht an sein Ohr. "Und das wärst du, Kai. Gib es zu. Du bist nicht geil auf ihn, sondern hast ihn gern. Du würdest ihm nicht wehtun. Ihr kennt und vertraut euch und..."

"Scheiße, Noppi! Bardo ist vierzehn! Der ist noch ein halbes Kind. Hör bitte auf, davon zu reden, okay?"

Noppi legte den Kopf schief und lächelte wieder so niedlich. "Hey. Ich war fünfzehn, als ich es mit meinem ersten Freund getan hab. Das Alter hat nix damit zu tun. Irgendwann muss man es einfach tun, oder man geht kaputt von den ganzen Hormonen. Wenn man dann nicht wen hat, dem man vertraut, dann baut man Mist."

Kai erinnerte sich siedend heiß und unangenehm an sein erstes Mal. Das war mit Lukas gewesen und es war totaler Mist gewesen. Er ließ den Kopf hängen. Zwei große Hände schoben sich heiß am Bauch unter sein T-Shirt. Ausgerechnet jetzt war Lukas zu ihnen zurückgekommen und drängte seinen Körper zwischen die Säule und Kais Rücken. Mit einem kleinen Ruck wurde Kai an den Hüften gegen Lukas' Schoß gezogen. "Na, Engelchen? Was machst du für ein Gesicht?"

Noppi grinste sie an. "Ich hab Kai vorgeschlagen, es mit dem Kleinen zu tun. Dann ist der endlich nicht mehr Jungfrau und hört mit dem falschen romantischen Träumen auf." Er lehnte sich an Lukas kurz heran und sah ihn lächelnd an. "Und? Ausgetobt?"

Lukas erwiderte den Blick hitzig. "Vergiss es. Gleich bist du fällig. Bin sowieso heute ohne Ende geil auf dich!"

Kai befreite sich von Lukas und sah sauer zwischen den beiden hin und her. "Und ich hab gesagt, dass das nicht in Frage kommt!"

Noppi ignorierte ihn. "Ich geh noch eine Runde tanzen." Er küsste Lukas auf die nackte Schulter, seine eine Hand glitt streichelnd über Lukas' Oberkörper, Bauch und verweilte einen kleinen Augenblick auf dem Reißverschluss der Hose, dann schob er sich an Kai vorbei aus dem Barbereich zur Tanzfläche runter.

Lukas folgte ihm kurz mit Blicken, dann sah er Kai an und lachte auf. "Könnte aber klappen. Wenn du das Bambi mal tüchtig durchnimmst, ist er vielleicht von dir geheilt. Man kann fast jedes Gefühl wegficken, wenn man es richtig angeht."

Kai erschauderte und schüttelte den Kopf. "Ich könnte ihm nie wehtun, Lukas und das weißt du!"

Lukas nickte. Er lehnte sich dichter und umfing Kais Schultern. "Weiß ich doch, mein Engel. Du wärst perfekt. Hart und zugleich vorsichtig und du weißt haargenau, worauf es ankommt, weil du selber gelegentlich unten liegst, nicht wahr?"

"Selten", gab Kai zu.

Lukas schüttelte fasziniert den Kopf. Mit den Fingern spielte er an der kleinen Tasche, die vorn im Schritt auf der Hose appliziert war. Kai spürte, wie er unerwünscht hart wurde. "Lukas! Hör auf! Ich will nicht..."

"Was? Du willst nicht geil sein? Hör auf, mich und dich selbst zu verarschen, Kai! Wie kann man nur im Subzero rumhängen und dann auch noch nicht an Sex denken wollen? Hast du Hormonprobleme oder was? Wie auch immer. Noppi und ich bleiben nicht mehr lange. Ich will noch eine Runde mit ihm tanzen, sollen wir dich dann mit nach Hause nehmen?"

Erleichtert nickte Kai. Er suchte den Raum mit Blicken ab. Noppi war bereits auf der Tanzfläche und unterhielt sich in Zeichensprache mit Lolli. Benni war nirgends mehr zu sehen, hatte sich vermutlich für die Nacht bereits zu seinem Computer und den Projekten verzogen. Carlchen flirtete mit dem DJ.

Lukas und er standen etwas abseits und Kai grübelte über die Dinge, die Noppi ihm gesagt hatte. Rasch zupfte er Lukas an der Hose zu sich zurück. "Hey. Meinst du, dass das Bambi unbedingt Sex braucht? Ich meine, Fummeln und so weiter schön und gut, aber so richtig..."

"Wenn du meinst, dass er es besorgt bekommen will? Von dir ausgerechnet? Ich glaube, das kann man einerseits mit einem klaren 'Ja' beantworten. Er träumt sehr sicher davon, dass du mit ihm schläfst, so wie mit Jan... oder, dass du ihn ranlässt. Andererseits ist er sich noch ganz und gar nicht im Klaren darüber, was er sich da wünscht." Lukas lächelte kurz. "Hm. Aber wird ihn das daran hindern, es sich zu wünschen, sich Sex herbei zu träumen und dich dabei vor Augen zu haben? Nein. Übrigens schaust du auf dem einen Foto von Benni einfach nur scharf aus. Du willst das Jan zum Geburtstag schenken? So freizügig hätte ich dich nie eingeschätzt. Krieg ich auch eins? Immerhin werde ich dämliche Dreißig und fühl mich schon ganz deprimiert. Würde mir echt gut tun, dich nackt über meinem Bett zu haben."

"Was?! Wieso haben jetzt alle Nacktbilder von mir gesehen?! Das war ganz und gar nicht die Abmachung, Lukas! Scheiß Benni!" Und zugleich erklärte diese Geschichte dann auch endlich, wieso Lukas so bescheuert und hysterisch gewesen war an diesem Abend. Irgendwie niedlich, dass ein ausgewachsener Mann mit diesem einen Geburtstag Probleme haben konnte.

Im nächsten Moment dachte Kai daran, was Tini ihm über Holger gesagt hatte. Auch der wurde dreißig. Es war offenkundig doch was dran, wenn Tinis Eltern ein Fass aufgemacht hatten, nur weil der Freund ihrer Tochter etwas älter war. Es war schon komisch, was für eine große Rolle das mit einem Mal spielte.

Extra kiebig starrte er Lukas an. "Vergiss es! Du wirst nie wieder ein Nacktbild von mir sehen, klar?! Und wenn du sechzig wirst. Hysterische Kuh!"

Lukas lachte auf, er drückte Kai kurz und küsste ihn auf den Mund. "Ich hab doch was viel besseres. Ich hab das Original gesehen und gehabt. Es ist echt schade, dass wir nicht mal wieder..."

"Schieb ab zu deinem Noppi, Lukas! Du hast echt Glück, dass der dich so friedlich rumvögeln lässt!"

Lukas grinste zahnreich. "Ich lass ihn ja auch. Das hält die Langweile von uns fern. Wir müssen gar nicht erst darüber diskutieren, dass einer aus Versehen wen anderes gefickt hat. Das Treuegesülze ist eh unsexy ohne Ende."

Verwirrt starrte Kai ihm nach und überlegte, ob er es an Jan unsexy fand, wenn der eifersüchtig wurde. Er musste den Kopf schütteln. Nein. Im Gegenteil machte es ihn an, wenn Jan ihn so genau beobachtete und bewachte. Und der Gedanke jetzt auf diese Tanzfläche raus zu gehen und mit einem Unbekannten einfach so Sex zu haben, gleich welche Sorte, ließ ihn erschaudern.

Die nächste Zeit verkeilte Kai sich mit einem Gin-Tonic an der Bar in einer Ecke und führte eine kleine Strichliste über die Typen, die ihn anbaggern kamen. Es waren ziemlich viele Striche auf seinem Bierdeckel, als nach einer Stunde Noppi zu ihm kam. Er hatte sein T-Shirt sehr zu seinem Vorteil ausgezogen und grinste Kai fröhlich und verschwitzt an. "Na? Was machst du denn da?"

Kai hob den Bierdeckel an und zählte nach. "Ich zähle Anmachen. Die dümmste war 'Höhö...ficken?', die schönste war 'Äh... ich dachte, ich kenn dich, aber das kann nicht sein. Im Himmel war ich noch nicht.' Alles dazwischen ist es nicht wert, wiederholt zu werden." Mit einem Nicken zum Dank gab er dem Barkeeper den Kuli zurück.

Noppi seufzte. "Du bist vielleicht eine Zicke. Wolltest du nicht wenigstens mal mit wem reden?"

"Zum Reden war keiner dabei. Ist Abflugzeit? Ich bin total müde und will schlafen!" Er fing den Blick von einem Typen an der Bar auf und zog die Brauen zusammen. "Allein schlafen! Kann ja wohl nicht angehen, dass hier nur Notgeile `rumlaufen!"

Lukas schob einen Arm um Noppis Schultern, die andere Hand legte er besitzergreifend Kai in den Schritt, dann schob er seine Hand auf die Hüfte hoch. Mit festem Griff hielt er ihn umfasst. "Komm schon, Engelchen. Dich lass ich nicht allein hier. Lolli ist mal wieder verschollen und die anderen sind auch verschwunden." Ein Kuss auf Kais Ohr machte ihm Gänsehaut. Lukas ließ seine Hand unter das T-Shirt gleiten. "So zickig du bist, irgendwann kommt noch so ein Arsch und greift dich ab. Noppi, bist du soweit? Wir fahren Kai heim, dann zu dir?"

Noppi-Kai küsste Lukas auf die Wange und seufzte zufrieden. "Aber immer doch. Ich muss morgen arbeiten, Schlaf wäre gut irgendwann demnächst."

Kai links im Arm und seinen Noppi rechts schritt Lukas mit nacktem Oberkörper an den gaffenden Typen an der Bar vorbei, um sie beide wie seine Beute zur Garderobe abzuführen. Mit einem kleinen Grinsen ließ Kai ihm diese Show und auch die neidischen Blicke.

Er war ohne Ende müde, fühlte sich vom Arbeiten und dem Schlafmangel der letzten Tage gerädert und wollte nur noch in sein Bett, als ihm auf dem Weg nach oben die Meiersche in den Weg lief. "Kai! Kann ich bei dir nächtigen, Schatz?!"

"Was?! Penn bei Lolli!"

"Der ist schon wieder weg und ich erreich ihn nicht auf dem Handy. Benni auch nicht. Was mache ich nur?!" Carl verwandt die Finger.

"Bei mir geht nicht. Ich hab nur mein Schlafzimmer, nur das eine Bett, Carl."

"Wieso?"

"Das Mahagonimonster wird von Lolli doch gerade hübsch gemacht. Ist auseinandergebaut und stinkt nach Chemie."

Lukas kam mit seinem Kai im Arm zu ihnen. "Komm mit zu uns. Noppi hat im Wohnzimmer eine Schlafcouch."

Carl verdrehte die Augen. "Dann muss ich die ganze Nacht zuhören, wie ihr zwei das treibt. Lukas, das ist nicht fair!"

Sie erklommen die Stufen zur Straße rauf, der Türsteher nickte Lukas respektvoll zu. Kai zippte seine Jacke und bemerkte spitz "Bei Jan und mir hat dich das doch auch nicht gestört, Carl!"

Die Meiersche grinste versonnen. "Jan ist was anderes, der stört mich nie, nicht mal beim Fußballschauen. Ich werd nicht müde, diesen göttlichen Körper zu betrachten, diese wunderschönen Augen und..."

"Carl!"

"... dann liegt er samt diesem oberheißen knackigen Hintern unten und lässt sich so richtig gern..."

"Carl!!"

"… durchficken." Sonnig verträumt lächelte die Meiersche in die Runde.

"Okay! Du pennst definitiv bei Lukas und Noppi!" Gereizt verschränkte Kai die Arme.

Lukas starrte Carl an, aber wegen etwas anderem. Fassungslos blinzelte er und erklärte seinem Noppi "Jan ist diese dämliche Fußballerhete, Kais Wauwau. Für den sollte man Leinenzwang einführen. Das totale Arschloch!" Er sah zu Carl zurück. "Du stehst auf den Wauwau?!"

Carl nickte nachsichtig lächelnd. "Schon immer. Der Traum meiner schlaflosen Nächte. Oh, ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Diese trainierten, gebräunten Beine, dieser stramme Hintern, der Rücken. Sein Bauch, da würd ich alle Tage meine Wäsche mit der Hand waschen bei dem Waschbrett! Seitdem bekomm ich einen Fetisch für Anatomie, ihr Lieben. Bei Jan kann man die Muskeln einzeln sehen, an der Hüfte runter, hinten die Oberschenkel entlang, den Rücken bis zum Po runter, wo so endniedlich diese kleinen Grübchen entstehen, wenn er sich streckt. Und dann sein Gesicht! Oberhetenhetero, aber endgeiler 'nimm-mich'-Blick. Überhaupt diese misstrauischen Blicke, etwas kurzsichtig, missmutig, total süß. Und dieses..."

Etwas unterbrach Carls Schwelg-Rede ziemlich abrupt, bevor Kai seine Hände um den kräftigen Hals legen konnte. Eine Motorradgruppe riss weiter oben an der Straße die Maschinen auf. Gleich darauf donnerten und röhrten etwa zehn Motorräder an ihnen vorbei. Kai schrie auf und fuhr an die Wand zurück. Er starrte den Maschinen hinterher, eine Hand an der Kehle. Seine Beine gefroren, ihm wurde schwindelig, hastig atmete er dagegen an und schloss die Augen. Dann herrschte schon wieder Stille und er entspannte sich. Felix hatte ihm tatsächlich schon ein wenig geholfen. Das Geräusch war nicht mehr total beängstigend. Und, er hatte nur kurz mit dem Atmen aufgehört. War echt gut gelaufen. Die Vernunft lobte ihn, sein Muttimodus tätschelte ihm die Wange und er blinzelte erleichtert zu Lukas' Bulli hinüber.

Leider war sein Kurzausfall den anderen nicht entgangen. "Alles in Ordnung, Maus?" besorgt starrte die Meiersche ihn an.

Lukas hatte seinen Schreck ebenso bemerkt und konnte das leider auch noch zuordnen. Seine Sorge war zwar ehrlich, aber hinderte ihn nicht daran, das Ganze in seinem Sinne auszunutzen. Er legte sofort den Arm um Kais Schultern. Aufmerksam blickte er ihm ins Gesicht. "Felix hat mir ja schon von deinem Problem erzählt, Kai." Mit schmalen Augen bestimmte er dann großzügig "Ich finde, dass Carl heute Nacht wirklich bei dir bleiben sollte. Dann bist du nicht allein in der Wohnung. Morgen kommt Lolita und nimmt ihn wieder mit. Hm?"

Sie kamen am Bulli an und stiegen ein. Seufzend ergab sich Kai nach einer kurzen Diskussion, während Carl seine Tasche aus dem kleinen Citroen holte. Es war schon fairer, wenn er die Meiersche zu sich mitnahm. "Na gut. Du kannst auf der Matratze auf dem Boden pennen, Carl. Bei mir im Bett ist nicht und wenn du mich anfummelst, verlierst du deine Finger, klar?!"

Carl lachte unbesorgt auf. "Ich steh auf Jan, nicht auf dich, Maus. Keine Sorge. Ich bin außerdem total müde. Lolita und ihre anstrengenden Ideen mal wieder. Und dann düst der Verrückte auch noch mit einem Lederkerl davon. Was für eine Nacht das wird, können wir uns doch jetzt schon plastisch ausmalen."

Kai schnallte sich an. "So? Können wir das?"

Draußen schob Lukas seinen Freund gegen das Auto zurück, um ihn nicht gerade sachte zu küssen. Die beiden umarmten sich fester und versanken in eine Knutscherei, die so nach und nach zum Vorspiel zu werden drohte.

Carl kicherte und erläuterte, während sie die beiden anderen beim Zungenküssen beobachteten, wie er sich Lollis heiße Nacht vorstellte. "Erstmal vorn Schuhe ausziehen, sonst gibt es Stress mit dem Ehemann des Lederkerls, weil die den Dielenboden gerade neu lackiert haben. Dann muss die Teddybärensammlung durchgesehen werden, dann die Fotos vom letzten Campingurlaub, dann müssen sie zusammen Kaffee trinken, weil die sicherlich so eine neue Maschine gekauft haben, die den tollsten Cappuccino macht und dann kiffen sie wie bescheuert. Dann kriegen sie keinen mehr hoch. Dagegen nimmt der Lederkerl großzügig ein Viagra ein. Das wirkt erst, wenn Lolli schon im Halbkoma ist und der Lederkerl im Vollkoma. Also pennen sie eine Runde nebeneinander und wachen auf, wenn der Ehemann heim kommt. Bis dahin hat der Lederkerl endlich eine Viagra-Latte und eine Morgenlatte. Lolli muss dann schnell nach Haus ausweichen, weil die beiden Eheleute das seltene Vergnügen der Latte mal auskosten wollen."

Kai grinste. "Meinst du? Ich glaube, dass Lolli mit dem nach Hause geht, dort eine Runde kifft und dann auf dem Sofa übernachtet, weil er im Dunkeln nicht allein irgendwo hin geht. Morgens ruft er dann dich oder Lukas oder Benni an und lässt sich abholen."

Carl seufzte, dann nickte er. "Lolita eben. Hey, Kai?"

"Hm?" Kai lehnte sich vor und klopfte an die Scheibe, um die schnabelnden Männer mal aufzuschrecken, damit sie fahren konnten.

"Hey, danke dir. Du bist immer so geduldig mit uns."

"Was meinst du?"

"Ich meine, dass du dich von Lolli ins Subzero schleppen lässt, obwohl du es da scheiße findest. Ich meine, dass du mich über deinen Hetenfreund reden lässt, dass ich schon Schaum vor dem Mund bekomm und du machst nur einen leicht genervten Spruch, lässt mich sogar bei dir übernachten. Ich meine, dass... ich bewundere, dass du es mit ihm so knallhart durchziehst", kam er endlich zum Punkt.

"Das ist nichts, was ich irgendwie erleide oder so. Es geht mir entgegen aller Naturgesetze gut dabei."

"Du bist ein Mann, Kai. Auch du wirst irgendwann einmal..."

Kai schüttelte den Kopf. "Nein. Zwischendrin ist nicht bei ihm und bei mir auch nicht. Nach ihm... ich weiß einfach, dass mich jeder andere enttäuschen würde." Er lehnte sich noch einmal nach vorn und klopfte kräftiger gegen die Scheibe. An der lehnte nur noch Noppi und sah nicht so aus, als wollte er ihnen Beachtung schenken.

Carl verdrehte die Augen. "Junges Glück", flötete er grinsend.

"Verdammt! Was zur Hölle machen die denn da so lang?!"

"Na, Lukas bedankt sich bei seinem Freund, dass der so geduldig daneben gestanden hat, während er es mit anderen tun wollte. Ich will mal sagen, der Dank ist angemessen."

"Können die das nicht Zuhause machen?!" Kai sah zu Noppi, dann zu Carl zurück. "Moment mal. Muss er ihm etwa hier noch einen blasen?! Scheiße!" Das Sexgen rief zur selben Zeit 'Oh wie geil!' Die Vernunft riet Kai ganz dringend im Bulli zu bleiben und den Lauf der Dinge ruhig abzuwarten.

Die Meiersche lachte sich über Kais Gegrummel und Gezicke kaputt, bis sich das 'junge Glück' überaus befriedigt zu ihnen in den Bulli bemühte. Es hatte nicht lange gedauert. Entweder war Noppi schon total geil gewesen oder Lukas war an diesem Abend außerordentlich begabt. Sehr rasch konnten sie losfahren.

Vor ihrem Haus dehnte Kai seufzend seine Schultern, die Treppe bereitete ihm Mühe. Er war totmüde. "Ich geh zuerst ins Bad, Carl. Ich will schnell duschen, bevor wir..." Sie waren um die letzte Ecke auf dem Weg nach oben gebogen. Kais Blick fiel auf ihre Wohnungstür und dort hockte auf der Fußmatte das Bambi. Mit angezogenen Beinen und sowohl einem leicht zugeschwollenen Auge als auch einer aufgeplatzten Lippe.

Kais Hirn miepte, dann schaltete er auf Rettung und stürzte zu Bardo. "Ach du heilige Scheiße! Was machst du denn hier?! Und wie siehst du nur aus?" Die Abteilung Abartigkeiten wies Kai gereizt darauf hin, dass er sich im Mutti-Modus befand.

Bardo blickte hoch zu ihm und schnüffelte. Unsicher huschte sein Blick zwischen Carl und Kai hin und her. "Ich... hatte den Schlüssel nicht dabei... aber wollte nicht... nicht..."

Die Meiersche zeigte sich beeindruckt. "Wow, sieht nach so einer richtig männlichen Schlägerei aus. Sehe ich da Blut? Huch, mir wird anders. Kann ich mich setzen, Kai?"

"Scheiße!" Kai schloss die Wohnung auf. "Kommt erst einmal rein." Er half Bardo auf die Füße und schob ihn vor sich her. Über die Schulter rief er Carl zu "Die Matratze legen wir ins Wohnzimmer. In meinem Zimmer im linken Schrank ist Bettwäsche. Ich schau mir mal diese Sauerei mit dem Bambi an." Er lief in die Küche, nachdem er Bardo einen Schups ins Bad hinein verpasst hatte.

Kai brachte Bardo einen seiner Eiswürfelbeutel und schlug den in ein Handtuch ein. "Halt mal an dein Auge. Tut ja nicht Not, dass das noch mehr zu schwillt. Ich bin gleich zurück."

Er holte aus Jans Zimmer noch eine Packung mit Schmerzmittel, dann stapfte er in sein Zimmer und holte sich Schlafsachen raus. Er warf sie auf sein Bett und brachte ein Handtuch zu Carl ins Wohnzimmer. Der hatte die Monstermatratze aus dem Flur hineingezerrt und hingeworfen. Zudem hatte er effizient begonnen, sündig rote Bettwäsche von Hannah aufzuziehen. "Ist es okay, wenn ich diese Decke nehme, Kai?"

"Hm." Kai half Carl rasch und bezog zwei Kopfkissen. In seinem Geiste stritten das Erziehungsgen mit der Abteilung Abartigkeiten. Außerdem war es schon komisch, dass Carl unbedingt bei ihm pennen wollte, obwohl Jan gar nicht zum Ansabbern zur Verfügung stand. Das machte Kai misstrauisch. Schließlich seufzte er und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. "Du kannst gleich ins Bad, Carl. Ich will nur rasch sehen, ob Bardo was braucht. Sagst du mir dann Bescheid, wenn du fertig bist? Dann dusche ich auch noch."

"Ich koch dem Bambilein noch ein Teechen, ihr Süßen. Ruft ihr mich, wenn ihr was braucht?"

"Ach... nicht erschrecken, ich lass grad mal die Außenrollläden runter, ja?"

"Oh, Himmel! Oh, Wonne. Ausschlafen!" Carl seufzte verzückt. "Stell Türklingel und Telefon aus, Kai. Sei so gut, ja?"

Kai lachte leise und ging zu dem mit hängendem Kopf im Bad stehenden Bardo. Der blickte ihn mit einem Auge an. Das andere bedeckte er vorsichtig mit den Eiswürfeln. Schweigend schob Kai Bardo auf den Klodeckel und besah sich vorsichtig tastend den Schaden an seinem Gesicht. Wieder überprüfte er seine Gefühle für den Jungen. Warme Zuneigung. Ein leiser, fremder Schmerz, weil er es absolut nicht gern sah, wenn Bardo verletzt war und litt, aber da war kein Verlangen, da war keinerlei Unsicherheit. Kai war sich absolut sicher, dass er Bardo als Freund sah, aber nicht als mehr. Bardo schwieg weiterhin, zischte nur leise, als Kai mit einem Waschlappen vorsichtig das getrocknete Blut von der Lippe tupfte, prüfend die Zähne betrachtete und mit Wundsalbe an der Lippe entlang strich.

Endlich hatte Kai sich soweit gesammelt, dass er ruhig mit Bardo reden konnte. Er ließ sich auf dem Wannenrand nieder und sah ihn forschend an. Bardo redete zuerst, wie so oft zwischen ihnen. "Darf ich heute Nacht hier bleiben?" Hastig fügte er hinzu. "Meine Eltern wissen, dass ich hier bin, hab ihnen eine Nachricht geschickt. So kann ich morgen doch eh nicht zur Schule gehen. Bitte."

"Was ist das für eine Scheiße?" Aufgebracht starrte Kai den Jungen an. Das linke Auge war leicht verquollen, gerötet. Das würde vielleicht gar ein Veilchen geben. Die Lippe war zum Glück halb so schlimm, nur ein wenig gesprungen. "Hatte Carl etwa Recht? Hast du dich tatsächlich geschlagen?"

Bardo antwortete nicht, sondern senkte den Kopf.

Da Kai danach war, ihn zu bestrafen, verschränkte er die Arme. "Na gut. Du kannst hier bleiben. Aber das Zimmer von Jan geht nicht, da ist Lolli mit seiner Chemie noch nicht fertig. Ich will mein Zimmer haben. Du pennst dann wohl bei Carl auf der Matratze im Wohnzimmer." Mit verschlossenem Gesicht erhob er sich und wies auf die Tür. "Hol dir ein T-Shirt von Jan, das passt dir vielleicht und schieb ab. Ich will noch duschen."

Bardo sah ihn an, dann senkte er den Kopf. "Bitte... Kai." Seine schlanken Hände öffneten und schlossen sich einige Male. "Bitte, ich muss mit dir reden."

"Dann rede!"

In dem Moment klopfte Carl an. "Ich will nicht stören, aber ich muss für kleine Optiker."

Kai rieb sich die Augen, dann seufzte er. "Na gut. Komm mit!"

Betreten folgte Bardo ihm in sein Zimmer. "Umdrehen!" Kai zog sich rasch die Partysachen aus. Er war gereizt, aber nicht davon, dass Bardo in diesem Moment zu ihm gekommen war. Der Umstand, dass Bardo nach einer Klopperei eher zu ihm als seiner Mutter kam, erschien Kai samt dem Erziehungsgen und der Vernunft nur natürlich. Aber er war ohne Ende gereizt, weil er Angst hatte, dass alle Recht hatten. Würde Sex ihnen jetzt dazwischen kommen? Beknackte Geilheit? Konnten sie nicht einfach wieder werden wie vor zwei Tagen? Er schlang sich sein Handtuch um die Hüften und lehnte sich an die Zimmertür. "Ich gehe gleich duschen, dann höre ich. Wenn so eine Scheiße kommt, wie heute Vormittag und gestern, Bardo, dann fliegst du raus. Ist das klar?!"

Bardo war auf dem Bett niedergesunken und nickte, Tränen bildeten sich in seinen Augen und machten Kai Herzschmerzen und Magenweh und eine enge Brust. Es machte ihm den Wunsch, ihn zu trösten, wieder so in den Arm nehmen zu können. Zugleich machte es ihm Angst davor. Seit dem gestrigen Tag war das nicht mehr erlaubt und sicher genug. Hastig wandte er sich seinem Schrank zu und kramte eins seiner T-Shirts raus. Noch einmal in das Chemiezimmer an Jans Schrank gehen wollte er nicht. Harscher als notwendig befahl er "Zieh dich um!"

Unter der Dusche fiel ihm ein, dass er noch nicht nach seinem Handy gesehen hatte. Noch halbwegs nass, mit tropfenden, sich wild lockenden Haaren kramte Kai es aus der Jackentasche und blickte drauf. Jan hatte ihm eine SMS geschrieben, um sich für den Abend abzumelden, da sie weggehen wollten. Seufzend stellte Kai die noch aktive Weckzeit aus und warf das Handy in sein Zimmer zurückgekommen auf sein Bett.

Bardo hockte auf dem Schreibtischstuhl. Er trug eine Shorts und das T-Shirt von Kai und hatte ein Bein angestellt, sein Kinn auf das Knie gestützt. Müde und verheult und verprügelt sah er aus. Das T-Shirt saß eine gute Ecke zu eng und betonte nur noch weiter, wie dünn Bardo durch den letzten Wachstumsschub geworden war. Kai stählte sich erst einmal gegen diesen Anblick. Bardo bewegte den Stuhl mit den Zehenspitzen hin und her und schwieg und Kai fehlten die Worte.

Carl unterbrach diese herrlich unangenehme, angespannte Situation. "Auweia, Süßes. Was war denn nu? Hast du einen Unfall gehabt? Dich gehauen? Ist es schlimm?" Als Bardo ihn mit verheultem Gesicht anschwieg, stellte Carl einen Teebecher auf den Nachttisch und streichelte seufzend seine Schultern.

Dann sah er zu Kai. "Holla, ist das ein Knutschfleck?"

"Hab mich nur gestoßen, verdammt!" Böse starrte Kai Carl in das Grinsegesicht und dachte 'Arscharscharsch...'

Carl grinste eine Spur breiter und verpasste ihm dann den Todesstoß. "Ich bring dir mal die zweite Decke rüber, Schatz. Schaut ja doch so aus, als ob ihr etwas länger reden müsst."

Kai verschränkte die Arme. Andererseits war es vermutlich die Wahrheit. Bardo und er mussten reden. Nicht nur über diese Blessuren und wo die nun wieder herrühren mochten. Auch über den tränenreichen Blick und dann auch über diesen schrägen Blick auf Kais nackten Oberkörper, wo der blaue Fleck am Oberarm nahe der Axel von seinem Zusammenstoß mit dem Tisch in der Uni schon seit einer guten Weile für Knutschflecksprüche sorgte. Giftig befahl er Bardo "Dreh dich um. Ich bin gleich fertig!" und zog sich lamentierend an. "Immer ich. Wieso nur? Warum eigentlich ich? Warum nicht Carl, oder Lolli oder Tini... Ja! Das wäre doch fair. Warum bekommt nicht Tini mal so eine Nummer ab?! Aber nein! Wen suchen sie heim, zur nachtschlafenden Zeit? Mich! Und dann auch noch mit so Dramaqueen-Auftritt, Tränen überall, verstockt am Schweigen und total verbeult und verletzt und dann willste auch noch Verständnis, was?!"

Bardo seufzte nur und ließ die Tirade über sich ergehen. Carl warf eine Decke und ein Kopfkissen zu Kais Bettzeug auf das Bett und empfahl sich mit sonnigem Grinsen für Kai und einem mitleidigen Blick in Richtung Bambi.

Kai ließ sich auf das Bett fallen und nippte einmal vom Tee. Ekelig, oberekelig sogar. Strafe musste sein. "Komm her und trink den Tee. Carl hat sich sicher was dabei gedacht!"

In seinem Kopf mahnte die Stimme der Vernunft 'Muttimodus' an. Genervt rutschte Kai auf dem Bett durch und zog sich die Decke bis unter das Kinn hoch. Er platzierte das Handy in sicherer Lage neben sein Kopfkissen, um Jans nächsten Anruf nicht zu verpassen. Gewissenhaft steckte er dann seine Decke um sich fest, um sich passend zu verbarrikadieren. Endlich hob er den Blick auf das Bambi.

Bardo saß noch immer auf dem Bürostuhl, hatte noch immer das Bein aufgestellt und den leidenden Blick. Aber er war mit dem ekeligen Tee von der Meierschen beschäftigt. Mit vorsichtigen Bewegungen versuchte er ohne Kontakt zu seiner Lippe zu trinken. Kai beobachtete ihn dabei. Im Licht der Nachttischlampe begann das Auge nicht so gut auszusehen. Sie schwiegen eine lange Zeit, endlich stellte Bardo den Tee ab und kam unsicher zum Bett. Er krabbelte unter die Decke, blieb auf der Kante liegen.

Kai legte sich auf die Seite und betrachtete sein Gesicht. Bardos Traurigkeit schnitt ihm ins Herz, aber er wollte dem nicht nachgeben, weil er sich vorsagte, dass es davon schlimmer werden würde. "Leg los. Spucks aus."

"Stefan und ich haben uns geschlagen. Heute, nach dem Chor in der Oper." Bardos Stimme klang heiser, aber zum Glück nicht mehr verheult.

"Echt jetzt? Wie ist das denn passiert?" Stefan. War ja klar. Dieses Arschloch würde von Kai demnächst eine Rechnung bekommen. Für psychologische Unterstützung seinetwegen.

Bardos Augen wurden schmal. Er sah ganz anders aus, wenn er so wütend schaute. "Ich hab ihn angesprochen, darauf, dass er Heiner falsch verstanden hat. Er hat abgeblockt, wollte nicht mit mir reden. Ich hab ihn... angeschrien, dass er schon nicht schwul wird, wenn er nur mit mir redet. Er hat sich das Fahrrad geschnappt und wollte abhauen. Da hab ich gesagt, dass es ja peinlich ist, wenn er Angst vor mir hat. Ein paar andere haben ihn dann auch angemacht, dass er nicht so spießig sein soll. Ein paar Mädchen waren auf meiner Seite. Da ist er total wütend geworden und hat gebrüllt, dass ich ihn nie wieder ansprechen soll. Dann ist er mit dem Fahrrad weg."

"Aha. Und das Auge?"

"Ich bin hinterher, wollte ihm noch viel mehr sagen. Irgendwie war ich so wütend, dass er unsere Freundschaft einfach wegwirft, als sei sie nichts wert gewesen!" Bardo zerknüllte die Bettdecke mit einer Hand, dann zischte er leise, löste seinen Griff wieder und sah kurz schuldbewusst zu Kai. "Und bei seinem Haus ist es passiert. Ich hab ihn irgendwie falsch angesprochen, er war sofort wieder wütend, hat gebrüllt, dass er seine Eltern ruft, seine Schwester, die Nachbarn, die Polizei. Nur wegen mir! Ich hab ihn einen Feigling genannt." Bardo seufzte leise. "Mein Vater hätte dazu gesagt 'und ein Wort hat das andere gegeben, am Ende war keins mehr zurück zu nehmen.' Hätte ich nur nicht mit ihm reden wollen!"

Kai runzelte die Stirn. Dem Vater konnte er zustimmen. "Das Auge ist noch immer nicht klar, Bardo."

"Stefan hat mit einem Mal angefangen, über... mich zu lästern, dann über Schwule und dann über dich. Er hat dich ja auf dem Osterfeuer gesehen und das war wohl genug für ihn, um total krass auszurasten. Hat so unglaublich gemeine Sachen gesagt, ich kann das gar nicht... da hab ich ihm auf die Nase gehauen, ist so aus mir rausgebrochen. Er hat sich leider sofort gewehrt. Vielleicht hat er auch nur auf eine Ausrede zur Klopperei gewartet. Wir haben uns auf der Kellertreppe so richtig gehauen, und es tat echt gut! Blöd nur, dass er kräftiger ist als ich. Hat voll krass weh getan, als er meine Lippe erwischt hat."

"Was hat er gesagt, Bardo?"

Ein missmutiges Kopfschütteln war die Antwort.

"Bardo! Du hast dich mit deinem ehemals besten Freund geschlagen, was hat er gesagt?!"

Bardo biss die Zähne fest aufeinander, seine Augenbrauen schoben sich zusammen. Kai konnte richtig sehen, dass er unter den Worten litt. "Zu mir hat er gesagt, dass ich mich zusammenreißen soll, dass es nicht natürlich ist, Jungs zu mögen und dass ich das wegmachen soll, mich benehmen soll. So in der Tour, dass ich es nur wollen muss und dann wird das wieder. Da hab ich ihn echt fast ausgelacht. So ein Idiot."

"Weswegen hast du ihn gehauen?"

Bardos Blick huschte über die Zimmerdecke, mit seinen schlanken, beweglichen Fingern tastete er gerade vorsichtig sein verquollenes Auge ab. "Er hat dich ekelhaft und verbogen genannt und hat mir gesagt, dass ich wegen dir in die Hölle komme, dass du offensichtlich eine Versuchung bist und man dir ansehen kann, dass du pervers bist. Dann hat er gesagt, dass es strafbar ist, wenn du mit mir was zusammen machst, dass er das der Polizei sagen wird, dass sie dich festnehmen und dann hat er... gesagt, dass du dann im Knast mit den ganzen Perversen ja deinen Spaß haben kannst. Da hab ich ihn gehauen."

Kai legte den Kopf schief, dann lächelte er leicht. "Danke."

Nervös hob Bardo den Kopf. "Bist du nicht sauer? Hätte ich nicht irgendwie kühl darüber stehen müssen? Meine Mutter hätte gesagt 'einen tiefen Atemzug, deeskaliere die Situation, indem du dich verbal distanzierst."

"Vielleicht hättest du dann jetzt kein blaues Auge, aber ich glaube, dass du dich so besser fühlst, oder?"

Unsicher hob Bardo die Schultern. Er legte sich etwas besser zurecht, ächzte leise. "Vielleicht. Schlechter kann ich mich nicht fühlen. Erst das mit dir und jetzt mit Stefan." Er ruckelte wieder herum.

"Bardo, wo hast du dich noch verletzt?" Misstrauisch ließ Kai seinen Blick an Bardos Oberkörper hinunter wandern.

"Rücken." Bardo ruckelte wieder etwas. "Bin die Kellertreppe bei Stefan so ganz doof runtergerasselt. Wir hatten uns auf dem Treppenabsatz gekloppt, da bin ich weggerutscht."

"Zeig her."

Nach einem schon eher misstrauisch zu nennendem Blick zog Bardo das T-Shirt hoch und entblößte neben einem deutlich durch blasse Haut auszumachenden Rippenbogen und total niedlichen Sommersprossen eine hässliche lila-rote Spur an der Seite entlang bis zur Wirbelsäule. Kai betrachtete den Verlauf der Schramme, dann tastete er sie vorsichtig ab und schob mit den Händen schließlich die Rippen einmal fest gegeneinander. Bardo zischte leise, aber sagte sonst nichts dazu. "Gebrochen sind die Rippen nicht. Ist nur eine Schramme, vielleicht eine Prellung. Nimm die Tabletten, die ich dir auf den Nachttisch gelegt hab."

"Ist es das eigentlich?" Bardo rollte hastig das T-Shirt über seinen Brustkorb runter.

Kai warf sich mies gelaunt in das Bett zurück. "Was?"

"Strafbar?" Bardo schluckte die Tabletten mit einem Rest Tee und betrachtete Kais Gesicht mit schon fast zu spürenden Blicken.

"Wenn du so guckst, schon." Kai erwiderte den Blick missgelaunt und befahl "Hör auf damit!"

Bardo zuckte zusammen und wandte sich hastig fort. Sie schwiegen eine Weile, dann knipste Bardo das Licht aus und Kai spürte, wie seine Augen schwer wurden. Sie brannten auch ein wenig. Müdigkeit, zu laute Musik, Alkohol. Der Stress, im Subzero all diesen Blicken ausgesetzt zu sein. Es war kein schöner Abend gewesen.

"Tut mir leid." Bardos Stimme war nur so ein leises Raunen von jenseits der Decken.

Kai hörte seine eigene Stimme wie von außen, als ob das nicht er selber war, der da sprach. "Der Abend war schlimm. Du bist eigentlich nur die Sahnehaube gewesen."

"Schlimm?"

"Hm. Beim Essen musste ich mir anhören, dass du das mit mir tun willst. Im Subzero hat mir Lukas' Freund haarklein auseinander gesetzt, warum du das mit mir tun willst, und Lukas meinte, dass du deine Hormone bald nicht mehr im Griff hast. Außerdem bin ich im Subzero in einer Stunde fast dreißig Mal mies angebaggert worden, die Sprüche waren der Untergrund, einige haben sich sogar wiederholt."

"Fast dreißig Mal?"

"Hm. Neunundzwanzig. Hab eine Strichliste geführt."

"Wieso machst du das?"

"Was?"

"Wieso bist du überhaupt dort hin, in das Subzero, wenn du es dort nicht gut findest?"

"Lukas hat mich verschleppt und die Meiersche auch." Kai zögerte. "Es war schon so spät geworden, Taxi ist verdammt teuer und ich hatte keine Lust, allein mit dem Bus nach Hause zu fahren. Irgendwie wollte ich außerdem Lolli seinen Partyabend nicht versauen. Er wollte mit uns feiern und hat ja auch die Möbel gemacht, da musste ich mit."

"Ah. Ist es echt so schlimm da? Im Subzero?"

"Hm. Wenn man es auf die Schnelle treiben will, oder einen dafür abschleppen, ist der Laden perfekt. Ich finde die Atmosphäre dort zu... flach. Es macht mir Angst."

Bardo bewegte sich leise ächzend. "Ich will das gar nicht, Kai."

"Was?"

"Na, es tun. Will ich gar nicht."

"Echt nicht?"

"Nein. Der Gedanke allein. Da hätte ich total Angst."

"Vor mir?!" Kai stützte sich auf. In der Schwärze des Zimmers konnte er nichts sehen, nicht einmal, wo Bardo lag und der schwieg. "Noch einmal für Blöde. Du hast Angst vor mir?"

"Nein. Nicht so. Davor, dass du so perfekt bist und ich... nicht. Wie eben. Du verlangst einfach, dass ich mein T-Shirt ausziehe, wenn du kurz davor hier fast nackt rumgestanden hast?"

"Du bist fünfzehn. Nicht mal Fünfzehn und du wächst wie Unkraut. Was erwartest du von deinem Körper? Davon mal ab, bin ich selber ja wohl echt nicht perfekt. Außerdem finde ich dich sehr hübsch." Kai erinnerte sich an die Unterhaltung, die er mit Jan deswegen geführt hatte.

"Hübsch?" Es klang fassungslos.

Kai zögerte. Das konnte Bardo nicht ernst meinen, oder? Selbst als Teenager musste Bardo doch wissen, dass er unglaublich hübsch war, auf dem besten Wege, ein echt schöner Mann zu werden. Doch dann fiel ihm Nantwin ein. Der offiziell absolut göttlich schöne Bruder. Eigentlich kein Wunder, dass Bardo so seine Probleme hatte mit dem Aussehen. Er holte einmal tief Luft, suchte in Gedanken nach etwas Unverfänglichem, dann meinte er "Du hast sehr schöne Augen. Was meinst du denn, woher dein Spitzname stammt, Bambi?"

Kai stützte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Sie lauschten einen Augenblick lang auf einander, dann flüsterte Bardo. "Immerhin. Augen." Es klang wegwerfend.

"Herrgott noch einmal! Wenn du möchtest, hol ich dir die Meiersche. Der ist wortgewandter, wenn es um Lobpreisungen geht. Hättest ihn heute mal hören sollen, als er von Jans Hintern geschwärmt hat."

Ein Kichern, dann raschelte es und Bardo flüsterte "Und du? Was denkst du?"

Kai seufzte abgrundtief. "Okay. Mach das Licht an." Das Amt für Soziale Gerechtigkeit erwachte und schob das Partygen zur Seite, das noch immer ekstatisch war über den vergangenen Abend, denn jetzt wurde es ernst. Kai setzte sich auf und betrachtete Bardo eingehend im gedämpften Licht seiner Leselampe. "Willst du das wirklich wissen?"

Bardo wurde rot und nickte leicht, sein Blick huschte unglücklich über die Zimmerdecke und immer wieder kurz zu Kai.

Kai seufzte. "Ich zähl dir das auf, dann wird geschlafen. Wehe du störst mich noch einmal, dann fliegst du raus. Mir egal, wo du dann pennst!" Nachdem Bardo das abgenickt hatte, legte Kai den Kopf schief und zählte an den zehn Fingern nacheinander weg auf "Du hast wunderschöne Haare, dafür würde jedes Mädchen töten. Deine Augen gefallen mir wirklich, war schon immer so, die dichten Wimpern, der Schnitt, du bist ein totales Bambi. Du hast schöne Hände, es schaut elegant aus, gleich was du damit machst. Du hast ein ganz herrliches Lachen, einladend aber nicht so platt wie eine Anmache. Hm... was noch? Deine Stimme war geil und wird immer geiler, der dunklere Ton passt viel besser." Eine Hand hatte er durch und holte Luft. "Weiter geht’s. Deine Ohren sind niedlich, mach dir bloß keine peinlichen Ohrringe rein, das nehme ich dann persönlich. Du hast geile lange Beine, überhaupt wirst du ziemlich groß, bist nicht so ein Zwerg wie ich. Wenn du läufst, schaut es immer so aus, als ob du im nächsten Augenblick zu hüpfen anfangen wirst, energiegeladen irgendwie. Du hast eine gute Haltung, lässt dich nicht so hängen und ich mag diese Sommersprossen." Er lächelte gemein. "Überall."

Kai legte sich wieder auf das Kopfkissen zurück und betrachtete das Bambi. Der saß knallrot im Gesicht mit verheilender Lippe und dickem Auge vor ihm. Kai verzog den Mund zu einem kleinen Grinsen. "Du hast es so gewollt. Außerdem bist du warm und kümmerst dich. Du bist lustig und hast einen witzigen Humor. Du bist verdammt zäh und kannst dich durchsetzen. Überleg mal, was das heißt, dass du es geschafft hast, dass ich zu dir sage, dass wir Freunde sind. Ich vertraue dir, das sage ich von fast niemandem sonst." Mit schmalen Augen blickte Kai Bardo an. "Also komm nie wieder zu mir geheult mit so einer scheiß Selbstmitleidstour, okay? Das ist unsexy und nervt. Und jetzt mach das Licht aus. Ich bin müde."

Bardo blinzelte ihn einen Augenblick lang verwirrt an, dann schaltete er das Licht hastig wieder aus und schob sich unter die Decke. Sie schwiegen eine lange Zeit, Kais Augen schlossen sich und er war fast eingeschlafen, da flüsterte Bardo leise. "Danke... ich..." er zögerte leise und drehte sich zu Kai um. "Tut mir leid, jetzt hab ich dich noch mehr... lieb."

Kai stöhnte leise auf, aber knurrte zur Antwort nur "Wenn du mich anfummelst, schaust du dir die Sonne morgen mit zwei Veilchen an, klar?!" Und danach war wirklich Ruhe, Kai schlief ein und schlief dank der elektrischen Außenrollläden bis weit in den nächsten Vormittag.

119

Ein Sturmklingeln weckte sie am Morgen. Es war natürlich Lolli, der Bardo aufschreckte und mit viel Tamtam in die Wohnung stürzte. Müde und genervt zog Kai sich sein Kopfkissen über das Gesicht. Auf das Türöffnen folgten Geschrei, aufgeregte Fragen und Gejubel, vermutlich wegen Bardos Aussehen und der Anwesenheit der Meierschen. Als Kai sich aus dem Bett ins Badezimmer bemühte, hörte er aus ihrem Wohnzimmer leisere Stimmen. Lolli hatte sich endlich abgeregt. Es roch schon sehr appetitlich nach Kaffee und Ei, aber er brauchte eine ganze Weile, um startklar und einsatzbereit zu sein. Als er dann endlich um die Ecke kam, saßen am Esstisch tatsächlich die Meiersche mit Lolli und Bardo, aber dazu auch Benni.

Lolli trug noch seine Partysachen vom Abend zuvor und sah reichlich zerknautscht aus. Benni war offenkundig sein Morgentaxi gewesen. Jedenfalls hatte er, wie eine Drohung, seinen Laptop dabei. Vermutlich wollte er Kai irgendwelche Bilder zeigen und sich absegnen lassen.

Lolli schwenkte gerade den Kaffeebecher und gähnte sein Brötchen an. Er war in seiner Erzählung seine Nacht betreffend "… und dann haben wir natürlich erst noch eine Runde gekifft. Als wir damit durch waren, ging gar nichts mehr bei ihm und..."

"Halte ein, du Holde!" Carl sprang auf und hielt Bardo mit beiden Händen die Ohren zu. "Gut, weiter."

Lolli grinste. "Und dann sind wir eben eingepennt. Ich durfte auf das Sofa, das war viel zu kurz für meine glamourösen Luxusbeine."

Bissig fragte Kai "Was? Kein Viagra zur Hand?" und nahm sich einen Kaffee.

"Das kam für ihn nicht in Frage. Er hatte da wohl so einiges von wegen Herzinfarkten gelesen."

Carl ließ Bardo wieder los, nachdem er ihn auf die Wange geknutscht hatte und plumpste auf seinen Platz zurück, um zum Thema seines Interesses zu kommen. "Kaichen, du mein Sonnenstrahl und der Segen meiner Existenz?"

"Was willst du?"

"Kann ich das eine Foto von Benni haben?"

"Wenn Jan drauf ist, nein."

"Och, sei nicht so. Sonst muss ich Jan selber fragen, nicht wahr? Hast du mal seine Handynummer?"

Dies erübrigte sich. Jan rief an. "Na? Dein Handy war gestern Abend aus. Wilde Party oder was?"

Kai ließ den Blick über die versammelte Gemeinde streifen, dann wanderte er in den Flur raus und gähnte einmal. "Total. War voll was los hier. Lolli wollte eine Runde Abschied feiern. Musste natürlich im Subzero sein, voll ätzend. Carl ist vorbeigekommen, hat hier übernachtet und will ein Nacktfoto von dir haben. Ach, Bardo hat sich mit Stefan geprügelt."

"Was?!"

"Na ein Nacktfoto. Er ist nämlich..."

"Kann er haben, mir total egal. Der Meier sabbert mir schon seit Ewigkeiten in den Schritt. Ist mir echt lieber, er macht das mit dem Foto."

"Bitte?"

"Es ist nur ein Foto. Carl ist ein Freund, der das sicherlich nur für private Zwecke braucht."

"Ja, aber welche Zwecke können wir uns doch bildlich vorstellen! Ich will das nicht!"

Jan schien zu lachen, seine Stimme bebte noch ein wenig, als er sagte "Du bist echt süß. Okay, wenn du mich nicht auf dem Foto hergeben willst, dann muss Carl wohl in die Röhre schauen. Ich persönlich fühl mich geschmeichelt. Zurück zu Bardo. Was ist mit ihm?"

"Hm. Hat sich mit dieser Arschgeige Stefan geschlagen, schien für ihn gut gelaufen zu sein. Stefan hat wohl eine nett dicke Nase. Er hat ein blaues Auge und eine dicke Lippe."

Jan lachte leise. "Arschgeige? Na, der hat ja verschissen bei dir, was Baby? Gib mir mal Bardo."

Bardo nahm das Telefon mit einem verwirrten Blick und meldete sich sehr vorsichtig. Es schien ihn zu erleichtern, dass nicht seine Eltern dran waren. "Ach, Jan. Hallo." Erst fasste Bardo seinen Kampf zusammen. Dazu ging er auf die Terrasse raus, kam aber nach einem Moment wieder zu ihnen zurück. Dann lauschte er eine Weile und nickte endlich. "Verspreche ich... hm... klar! Voll krass, Jan! Tu ich! Hmhm... Natürlich." Er reichte Kai das Telefon zurück und lächelte schief und noch etwas vorsichtig mit der kaputten Lippe.

Misstrauisch betrachtete Kai das strahlende Bambi. "Moment." Er ging vorsichtshalber auch auf die Dachterrasse raus. "Was hast du zu ihm gesagt?"

"Na. Ich hab ihm gesagt, dass ich es gut finde, dass er sich nicht alles bieten lässt. Ich hab ihm gesagt, dass es okay ist, wenn er mit dieser Sache zu dir gelaufen kommt, dass ich das verstehe."

"Hmhm."

"Und dann hab ich gesagt, dass er dich unbedingt knutschen soll, wenn seine Lippe wieder heil ist."

"Wie bitte?!" Entrüstet stemmte Kai eine Faust in die Seite.

"Ich hab ihm gesagt, dass ein Ritter sich sowas verdient hat. Er hat sich wegen dir geschlagen, und das muss man doch belohnen."

"Jan! Ich bring dich um, wenn du wieder da bist. Scheiße! Das ist nicht lustig, verdammt!"

"Baby. Du fehlst mir auch so. Ich freu mich auf die Szene und den Versöhnungssex. Mail mir das Foto, das Carl haben will, dann seh ich mir das an und verweigere es ihm nur für dich. Ich muss los, bis dann!"

Weg war Jan und Kai starrte Bardo aus schmalen Augen an, der dies mit rotem Kopf registrierte. Leider ohne mit diesem dämlichen schiefen Grinsen aufzuhören.

"Carlchen. Such dir ein Bild aus. Jan ist voll dafür, dass du auf das Foto sabberst und nicht mehr ihm selbst in den Schritt. Aber dann will ich davon nichts mehr hören!"

Carl riss die Augen auf und schlug die Hände vor der Brust zusammen. Entzückt rutschte er zu Benni an den Tisch und vertiefte sich in die Fotogalerie. Murmelnd bewerteten sie erst einmal Lenas Körperbau. "Für eine Frau ist sie genauso ein Traum wie Lukas als Mann... körperlich gesehen."

"Charakterlich geben die zwei sich ja auch nicht viel, wenn es um Egoismus geht und Eitelkeit und so."

"Aber supergeil gebaut. Schau dir mal diese Brüste an, Lolita, die bekommt man mit Silikon nicht so schön hin."

"Hm. Scheint Henrike ja auch zu finden. Das war ja schon verdächtig, wie wenig die beiden zur Unterhaltung beigetragen haben gestern. Ganz verträumt, die Mädchen."

"Ja, aber sie tuns nicht. Sie sind nur Freundinnen, Carla. Wie wir." Lolli nippte noch einen Schluck Kaffee.

Carl klickte sich zu den Fotos von Jan durch. "Komisch dabei ist nur, dass sie sich so im Dali-Modus aufgetuckt hatte, nicht?"

"Die arme Henrike. Es war ja total megaoffensichtlich, dass der Henri in den Dali verknallt ist."

Nachdenklich lehnte Benni sich über den Esstisch. "In den Dali? In Lena oder in wen? Ich finde, dass sie viel zu oft in neue Rollen wechselt. Wer ist sie eigentlich wirklich?"

Die Frage war wirklich nicht ohne. Typisch Benni legte er einen Finger auf die Stelle, die wehtat. Wer war Lena eigentlich? Was wollte sie? Es war schon komisch, wie wandelbar sie sich zeigte. Mal Dali, mal Lena, mal wilder DJ, dann wieder intellektuelle Studentin. Sie wechselte die Rollen wie die Klamotten. Die arme Henrike schien ihr in die Fänge geraten zu sein, ohne Chance darauf, bei ihr richtig zu landen.

Carl und Lolli kamen bei Jans Körperbau an. Das Foto, das Carl wollte, war eines von einem nackten Jan, der entspannt auf Lenas Bett rumlag und Kai dabei zusah, wie der sich auf dem Metalltisch einen abfror. Benni setzte sich zu Carl dazu, um ihm das gewählte Bild zu bearbeiten. Lolli sprang auf, um sich Musik anzumachen, und Kai blendete die sabberige Lobhudelei über Jans Hintern und Bauchmuskeln aus und sah sich um. Sein nächstes Problem war ein ihn angummernder Teenager.

Sie hatten Freunde gesagt. Freunde und nix weiter. Wenn zwischen Henrike und Lena eine unklare Beziehung herrschte, so herrschte doch zwischen Kai und dem Bambi eine klare Grenze. Er fand es sehr ärgerlich, dass Jan diese Grenze mit seinen dummen Sprüchen über Ritter aufgeweicht hatte.

Etwas anderes kam zwischen Kai, Bardo und eine Erklärung zum Knutschen und den möglichen Folgen für Bardos körperliche Versehrtheit. Es klingelte an der Tür. Familie Fröhlich kam, um Bardo einzusammeln. Ein Teil der Familie Fröhlich, mit dem Kai weder gerechnet hatte, noch den er hatte sehen wollen. Ansgar Spaßverderber stand in der Wohnungstür. Autoschlüssel in der einen Hand, Handy in der anderen und schlecht sitzende, geschmacklose Klamotten überall dazwischen.

Sie starrten sich an. Ansgar verlor diesen Starrwettkampf. Er fuhr sich mit einer Hand in die viel zu langen Haare und fragte "Ist mein Bruder noch hier?"

Kai nickte stumm und trat zurück, um Bardo zu rufen. Der hörte wegen der Musik nicht, so dass Kai zum Wohnraum weiter ging. Ansgar verstand die Geste falsch und trat zu ihm in die Diele, schloss die Tür nach einem misstrauischen Rundumblick und folgte ihm dann.

Bardo war auf der Dachterrasse, wo er an seinem Handy fummelte. Die anderen räumten gerade gemeinsam den Esstisch ab. Benni und Lolli kamen ihnen entgegen, um das Bettmonster in Augenschein zu nehmen und den Fortschritt zu knipsen.

Lolli stockte kurz, dann verschränkte er die Arme. "Ansgar..."

Kai hob eine Hand. "… ist hier, um seinen Bruder abzuholen. Klappe! Alle beide!" Ein giftiger Blick auf Ansgar, dann zurück auf Lolli begleitete diesen Befehl. Lolli nickte ergeben und ging mit hastigen Bewegungen in Jans Zimmer weiter durch.

Zum Glück stand die dicke Matratze bereits wieder an der Wand hochkant und lag nicht mehr dekadent voller roter Wäsche mitten im Raum. Carl war ordentlich, das war wirklich ein Vorteil. Dennoch erstarrte Ansgar in der Bewegung, als er sich mit gleich so vielen Männern konfrontiert sah, die für ihn in seinem Inneren vermutlich für immer in die Kategorie Perverse gehörten. Dazu war dann sein Bruder mit diesen ganzen Perversen die Nacht allein gewesen, die Gedanken konnte man Ansgar regelrecht am Gesicht ablesen. Sein Blick ärgerte Kai derart, dass er eine Spur zu laut rief "Bambilein! Dein Bruder kommt dich abzuführen! Los geht’s!"

Bardo kam unsicher in das Wohnzimmer zurück und stellte sich Ansgars Blicken. Der zwinkerte einmal etwas dumm, dann lachte er "Bardo! Voll krass! Ich hätte nie gedacht, dass du diesem bescheuerten Stefan eine reinhaust!"

Kai blinzelte sich durch den Schock, Ansgar Spaßverderber mal fröhlich zu sehen und verpieselte sich in die Küche, um Carl dort zu helfen.

Erleichtert grinste Bardo schief und erzählte, wie sie sich auf der Kellertreppe bei Stefans Eltern gekeilt hatten. Er ließ schlauerweise komplett weg, dass er Kai verteidigt hatte und das war sicherlich gut so. Ansgar taute zwar auf, aber definitiv für seinen Bruder, ob er das jemals für Kai oder gar Lolli tun würde, das war mehr als fraglich.

Gleich nach diesen einleitenden Worten meinte Ansgar auch "Ich bring dich nach Hause. Winni hat den AB abgehört und mich angerufen, weil doch alle anderen heute Nachmittag zusammen zu Tante Johanna fahren."

"Oh nein! Ich sollte ihr vorspielen! So will ich aber nicht mit."

"Bleib den Nachmittag bei mir. Tante Johanna kommt zu deinem Konzert, dann sagst du ihr eben, dass du die Überraschung nicht vorweg nehmen wolltest. Hast du alles? Können wir?" Es erleichterte Ansgar sicherlich genau wie Kai, dass Bardo nickte und sofort mit ihm kam. Während Ansgar schon zur Diele durch ging, sah Bardo Kai noch einmal an. Schon wieder auf diese merkwürdig verlangende Art. Kai merkte es daran, dass er seine Arme verschränkt hatte und die Schultern angezogen, bevor er überhaupt etwas sagen konnte.

"Bis bald mal, Bardo. Hör auf, dich mit Leuten zu schlagen."

"Mach ich. Danke." Unsicher zögerte Bardo, dann meinte er leise "Ich mach das nicht... was Jan gesagt hat. War doch nur Spaß."

"Da kennst du Jan schlecht. Aber ich bin auch dafür, dass du das nicht machst. Meine Warnung gilt noch. Wenn du symmetrisch aussehen willst, bitte."

Darauf musste Bardo lachen, auch wenn seine Lippe ihn noch immer schmerzte und dies abkürzte. Kai ging zur Wohnungstür mit durch. Während Bardo sich seine Ökoschuhe über die Füße zerrte, genossen Ansgar und er derweilen die angespannte Atmosphäre, die sich daraus ergab, dass Ansgar bei seinem letzten Besuch in dieser Wohnung den Eindruck einer miesgelaunten Wildsau hinterlassen hatte und zu einer Entschuldigung im Leben nie bereit war. Der Abschied gestaltete sich daher knapp und das Türenschließen war von Erleichterung geprägt. Aufseufzend lehnte Kai sich dagegen.

Doch dann kam Benni wieder aus Jans Zimmer, aus dem wilde Musik und chemischer Geruch verkündeten, dass Lolli sich trotz durchzechter und durchkiffter Nacht an sein Projekt machte. Benni lächelte wieder so niedlich schüchtern und winkte Kai zu sich. "Ich hab die ersten Bilder bearbeitet, schau."

Es war unglaublich, was Benni mit den Fotos gemacht hatte. Man erkannte das Ursprungsbild oft nicht wieder in den neuen Motiven. Von Lena hatte er oft nur einen Ausschnitt verwendet. Ihre Hände, ihre Augen. Von Lukas den Schulterbereich oder einmal ein Foto von ihm mit Kai, wo man sie nur wie durch Nebel erkennen konnte.

Benni hatte leider auch die Bilder von Kai nackt in Lenas Bett bearbeitet, vielleicht in der Hoffnung, sie verwenden zu dürfen. Er wurde zum Dank von Kai angeblafft, dass sie sofort verschwinden mussten. Sofort!

Das Bild von Henri auf dem Tisch war für das LPP bereits umgewandelt. Es sah fantastisch aus, aber Benni war noch nicht zufrieden. "Da muss ich noch total viel dran tun, aber ungefähr so wird das werden." Den Tisch hatte Benni weggeschnitten, an seiner Stelle war das umgekippte L zu sehen. Henri lag auf der Längsseite ausgestreckt und wirkte angespannt und krabbelig, wie auch im Leben. Das L sah durchsichtig aus, von einer sprudelnden Flüssigkeit gefüllt, die Grenzen verwischten durch leichten Nebel. Stolz meinte Benni dazu "Ich mache das so, dass Leon alle Farben aussuchen kann. Er wird die T-Shirts daran anpassen lassen, das hat er mir schon gesagt. Es ist ein so schönes Gefühl, dass diese Idee tatsächlich Geld wert ist. Klar, für lau finden viele meine Bilder schön, aber dafür Geld zu bezahlen, das heißt doch was, nicht?"

Nachdenklich betrachtete Kai den drahtigen irgendwie klein wirkenden Körper von Henri. "Bekommt Henri was ab davon?"

"Indirekt. Ich mache ihm die Homepage neu. Das mach ich kostenfrei. Wird auch richtig gut. Willst du mal sehen?"

"Irgendwie nicht." Noch immer hatte Kai Angst vor dem Moment, in dem dieser durchgeknallte Henri tatsächlich auf Jan treffen mochte. Wenn der so auf ihm rumsprang, wie er das bei Lukas gemacht hatte, dann konnte Kai bei sich jedenfalls für nichts mehr garantieren. Natürlich zeigte Benni ihm trotzdem die Seiten. Rot, Gold und ein sehr grelles Pink zusammen mit exotischen Mustern verbreiteten einen Kamasutralook. Auf einem Bild war Kais Nacken zu sehen mit Henris Fingern und einem kleinen Ausschnitt von seinem Gesicht.

Auf der anderen Seite war Lenas Rücken mit ihrem Poansatz zu sehen, mehr nicht. Henri tauchte gar nicht richtig auf, schon gerade nicht nackt. Aber Kai dachte bei sich, dass diese entspannt liegende, echt attraktive Frau vermutlich genau das Signal war, das die Kundinnen anlocken konnte. Während Benni seinen Kram zusammen packte und noch einmal nach Lolli schaute, überlegte Kai müßig, was er mit seiner freien Zeit nun anfangen sollte.

Es war Montag. Er hatte keine Uni mehr und musste auch erst am Abend zur Arbeit. Lolli kündigte an, dass er die erste Lage Lack machen wollte, dann würden er und Carl sich zu Lolli in die WG verziehen. Eigentlich musste er jetzt nur noch warten, bis er allein war. Er seufzte lächelnd und wurde von Carls Frage überrascht, was er sich zum Mittagessen wünschen würde.

"Na. Ich koche natürlich noch für dich, Schatz. Du rettest mich und lässt mich hier schlafen, und ich hab ein Nacktfoto von deinem Freund mit diesen göttlichen, göttlichen Beinen und diesem himmlischen, himmlischen Arsch mit den Grübchen und diesem geilen, geilen..."

"Komm zum Punkt."

"Indisch, chinesisch oder italienisch?"

"Deutsch. Mir ist nicht nach Kultur." Sie grinsten sich an, Carl verlor und lachte los, die nächsten Minuten lachten sie beide sich schlapp. Mit Carl passierte so Blödsinn einfach, es war wundervoll.

Kai seufzte endlich. "Ich muss sowieso einkaufen, soll ich was mitbringen?"

"Ich komme mit. Lassen wir Lolita allein mit dem Monster kämpfen." Carl ging zu Lolli in das Chemiezimmer durch. "Hey, wir holen Nahrung. Kai hat sich deutsches Essen gewünscht, ihm ist nicht nach Kultur." Im Anschluss an diese Verkündigung kicherten Lolli und Carl sich minutenlang kaputt.

Kai musste samt seinem Rucksack für Shoppingtrips noch ein Weilchen an der Tür warten, bis Carl sich ausgehfähig gestaltet hatte. Sie waren gerade aus dem Haus getreten, um sich in Richtung des nächsten Supermarktes auf zu machen, als Carl leise zugab. "Ich wollte eigentlich gestern Abend mit dir reden. Das Bambi ist mir voll dazwischen gekommen."

"Reden?" Kai streckte sich einmal. Die Sonne war total warm und eine Jacke endlich nicht mehr nötig. Er trug nur die Weste von seinen Eltern und hielt seine Arme in die Sonne. Irgendwie freute er sich allein wegen der Dachterrasse auf den Sommer.

"Ja. Über Pascal."

Ein heißer Stich fuhr Kai in den Magen, sofort gefolgt von einem unangenehm kalten Schauer. "Aha." Er konnte sich selbst anhören, wie er sich verschloss.

Carl seufzte. "Er traut sich nicht, sich bei dir zu entschuldigen."

"So?" Kai blickte kurz in Carls rundes, freundliches Gesicht. Der Ausdruck in den schmalen Augen war ernst, es war Carl wichtig. "Ich finde, dass er das selber mit mir klären sollte."

"Was war denn? Wirklich meine ich? Ich kenne die Sache nur aus zweiter Hand."

Grübelnd blickte Kai auf den Boden vor ihnen. Sein Körper bewegte sich mit einem Mal automatisch, er dachte nicht mehr darüber nach, sondern versuchte sich zu erinnern, was denn wirklich los gewesen war. Mühsam wiederholte er den Höllentag mit Passis Auftritt für Carl. Er hatte Pascal ganz und gar nicht vergeben, das merkte Kai daran, dass er schon wieder wütend auf ihn wurde. "Er war eifersüchtig. Nix weiter. Wieso ist mir nicht ganz klar. Lukas ist uns dazwischen gekommen und hat alles schlimmer gemacht. Vielleicht neidet er mir die Beziehung, die ich zu Lukas habe. Die Freundschaft meine ich. Ich bin mit Lukas im Bett gewesen und nun noch befreundet, das gelingt ihm nicht."

Sinnend blickte Carl an der Fußgängerampel vor dem Supermarkt in den Himmel. "Hm. Er will ja auch keine Freundschaft mit Lukas. Lukas ist seit der Sache mit Felix so entfernt. Er hat Angst, jemandem zu vertrauen."

"Er vertraut mir."

"So?"

"Du hast keine Ahnung wie sehr." Kai erinnerte sich an Lukas Schwanzhysterie und die Nacht mit dem Porno und fragte ablenkend "Was soll das, Carl? Pascal und Lukas sind eben inkompatibel. Das kommt doch vor. Man lernt sich kennen, findet sich auf den ersten Blick ganz nett, aber dann lernt man sich richtig kennen und rafft eben, dass es nichts wird."

"Stimmt. Pascal will etwas ernstes, Lukas hat Angst davor. Er versucht abgebrüht zu sein, will nicht mehr, dass es kompliziert ist. Nur Sex, damit hätte Lukas sicherlich gut leben können. Unverbindlich, so wie bei Noppi. Sie treiben es miteinander, haben sich etwas lieb. Mit Pascal waren da zu viele Gefühle im Weg." Er seufzte. "Mit ihm sind Gefühle eben voll im Weg, der hat solche Sachen nicht im Griff." Es klang ziemlich gepeinigt.

Kai drückte überflüssigerweise noch einmal auf den Knopf an der Ampel. "Möglich."

"Er tut mir echt leid, weißt du. Aber Mitleid ist so unangenehm und macht doch nur, dass man sich schlechter fühlt. Deswegen ist es echt anstrengend, ihn zu trösten. Ich fänd es gut, wenn ihr euch vertragt, Maus. Dann hätten wir endlich die Chance aus diesem Hamsterrad heraus zu kommen. Ich hab ihn gern, aber ich tröste ihn nicht gern, das ist ekelig anstrengend."

"Warst du echt wegen Pascal so weg in der letzten Zeit?"

Eine Oma mit Rollator kam den Weg entlang und rief mit schriller Stimme "Haben Sie schon gedrückt?"

Kai nickte mechanisch und Carl drückte noch einmal. "Nein. Ich war nicht wegen Pascal weg. Hanno hat einen Selbstmordversuch unternommen. Ich hab ihn in der Psychiatrischen abgeliefert und mich um ihn gekümmert."

"Was?!" Im nächsten Moment sprang die Ampel um und die Oma mit Rollator überholte sie und hängte sie ab, weil Kai die Meiersche anstarrte und nicht losging. Sie schwiegen einen Augenblick. Die Ampel sprang wieder auf Rot. "Wie geht es ihm?"

"Na, wie schon. Bescheiden natürlich. Er will von den Drogen weg, aber es ist nicht leicht. Er ist jetzt auf Entzug in einer etwas außerhalb gelegenen psychiatrischen Klinik. Er hat in Berlin nur Freunde, die er besser nicht sehen sollte und mich gehabt. Seine Familie hat ihn rausgeworfen, will nichts mehr mit ihm zu tun haben." Carl drückte auf den Ampelknopf. "Als das mit dem Suizidversuch war, da hab ich sie angerufen. Sein Vater sagt doch glatt, dass er hofft, dass die ihn in der Psych dann auch normal machen. Dass es auf der Welt noch solche Leute gibt, es macht mich immer noch traurig und wütend. Da konnte ich ihn nicht allein lassen. Natürlich bin ich mit ihm in die Klinik, bin mit ihm zu den ersten Gesprächen und dann hab ich jetzt halt die traurige Pflicht, ihn einmal in der Woche mit Kram zu versorgen, bis sie ihn raus lassen. In zwei Wochen geht es in die Tagesklinik für ihn, in vier Wochen oder so soll er dann wieder zu seinem Job. Den hat er zum Glück noch. Ich kümmere mich derzeit um seinen Umzug. Er wird die nächsten Tage erst mal bei Freundinnen von mir unterkommen. Die haben netterweise ein Zimmer für ihn."

"Das tut mir leid. Lolli hat gar nichts gesagt."

"Der weiß das nicht. Ist auch nicht nötig." Carl sprach etwas zu schnell und drückte heftig auf dem Ampelknopf herum. Im nächsten Moment wurde Kai etwas klar. Betäubt starrte er Carl an. Es war nicht das erste Mal, dass er so etwas machte. Sich derart kümmerte, sich reinhängte, organisierte, seine Freizeit, sein Geld und seine Gefühle investierte und ganz offensichtlich war es beim letzten Mal nicht so gut ausgegangen.

Betreten schwiegen sie, bis die Ampel endlich wieder grün wurde, und Kai hektisch zum Supermarkt rüber rannte.

120

Sie ließen sich beim Einkaufen sehr viel Zeit. Ganz offensichtlich wollte Carl nicht gleich wieder zu Lolli in die Wohnung zurück. Die bevorstehende Aussprache stellte Kai sich allerdings auch nicht unbedingt gesund vor. Lolli konnte anstrengend werden, wenn er etwas nicht in Ordnung fand. Damals, als Jan noch die Hete war, hatte Kai sich ohne Ende Gekeife wegen seiner Treffen mit diesem Freund anhören müssen.

Als sie dann mit ihrer Beute wieder die Stufen hochstapften, bat Carl leise "Lass mich das erzählen, ja?"

Kai nickte einmal, doch dann erinnerte er sich an die Sache mit Pascal. "Und was willst du jetzt von mir?" Er schulterte den Rucksack etwas anders, um besser an seinen Wohnungsschlüssel zu kommen.

"Ich würde mich freuen, wenn du Pascal eine Chance gibst. Er ist eifersüchtig. Auf das, was du hast. Das kann man nicht einfach so abstellen. Glaub mir, ich kann das verstehen, ich neide dir deinen Wauwau auch gerade ein wenig. Und dann seid ihr euch so einig hier in der Wohnung, es läuft alles so toll zwischen Jan und dir. Ich selber weiß quasi erster Hand, dass sogar der Sex geil ist. Das ist für Pascal nicht so leicht zu ertragen, wenn ihm selber alles schief gegangen ist. Er leidet vor allem aber auch darunter, dass ihr im Streit auseinander seid."

"Er hat angefangen. Na gut, es war meine Schuld, weil ich von Lukas förmlich verlangt hab, dass er Passi auf unserem Abend zusammen nicht links liegen lässt, aber so sehr kann er sich doch wirklich nicht von ausgerechnet Lukas' Urteil abhängig machen, oder?"

Carl blieb vor der Wohnungstür stehen und seufzte. "Es war was anderes, glaube ich."

"So?"

"Ich glaube, dass er einfach nicht aus seinem Lügenleben daheim rauskommt und das nervt ihn. Seine Eltern wissen von nix, seine Kollegen ebenso wenig. Er..."

"Er traut sich nicht, sich zu outen. Na und? Das geht doch vielen so. Ich bin selber nicht Lolli, der es jedem ins Gesicht schreit, auch wenn das nach fünf Sekunden mit ihm sowieso nicht mehr nötig ist."

"Nein, Kai. Darum geht es Pascal nicht. Ich glaube, dass er sich allein fühlt. Er hat keine Freunde hier in der Stadt, neben dir nur Leon, der ihn nicht an sich ran lässt und abweisend ist."

"Okay, Carl. Ich sag dir jetzt was, das sagst du ihm weiter und dann war es das, wenn er da nichts draus macht, klar?" Kai sah sich um, dann zog er Carl zum Fenster im Flur zurück. "Erstens: seine Eltern wissen, dass er schwul ist, seit... schon immer. Hat mir mein Vater neulich erzählt. Ich wusste das früher ehrlich gesagt auch nicht. Zweitens: Leon ist schwer krank und hat andere Sorgen. Drittens: er ist endsüß und sexy und, wenn ich Lukas richtig verstanden habe, die totale Kanone im Bett und wo immer man das noch treiben kann. Wenn ihm das nicht langt, dann hab ich keine Worte mehr." Kai beendete diesen Exkurs mit einem bösen Blick.

Carl senkte den Kopf und nagt auf seiner Unterlippe. Endlich nickte er leicht. "Danke. Das ist super, genau so!"

Kai schloss auf und zog sich vor dem Dielenschrank die Schuhe aus. Aufseufzend blickte er dann auf Tinis Sandalen. 'Scheiße! Mir bleibt aber auch nichts erspart!' Er latschte in die Küche durch, ohne sich um Tini, die sich auf der Dachterrasse sonnte, zu kümmern. Mechanisch räumte Kai Milch, Nudeln, zwei Schalen Erdbeeren und Vanilleeis aus dem Rucksack.

Carl begrüßte Tini auf das Herzlichste, knuddelte, drückte und knutschte sie eine Runde. Dann begann er seinerseits, in der Küche zu hantieren, nachdem er Jans Radio in Gang gesetzt hatte. Irgendwie schien er seine Mission erfüllt zu haben und machte einen zufriedenen Eindruck. Summend begann er sogleich, die Erdbeeren sauber zu machen und Spargel zu schälen.

Kai schälte eine Fuhre Kartoffeln mehr schlecht als recht, dann wurde er von Carl aus der Küche entfernt. Ein resolutes Schieben an den Schultern machte Kai klar, dass er im Weg stand. Seufzend nahm er sich ein Glas Wasser und stapelte Eiswürfel hinein. So ausgerüstet ging er zu Tini auf die Terrasse raus und sah sie abwartend an.

Sie trug Sportklamotten, eine enge Radlerhose und eine Weste aus Sweatshirtstoff. Vermutlich hatte sie den Morgen über schon wieder wie wild im Fitnessstudio die Leute gescheucht. Sie nahm ihm das Glas ab und nippte einmal. Da sie nichts sagte, schwieg Kai ebenso und wanderte zu seinen Blumen. Der Wein hatte dank der Hitze echt zu wuchern angefangen. Kai goss mit dem Wasser, das er mit tüchtig Dünger versetzt hatte und sah sich nach ihr um. Doch Tini hockte noch immer auf der Sonnenliege und nippte am Wasserglas. Misstrauisch auf sie lauschend begann er, die Triebe in das Rankgitter zu friemeln.

Endlich trat Tini zu ihm und fragte leise "Ist es echt okay, wenn wir hier dauernd zur Lerngruppe vorbei kommen?"

"Wieso?"

"Na ja... wegen Renate und Jan und so."

"Da ist nichts. Sie ist zu spießig, wenn sie nüchtern ist, und er wird von mir eigenhändig kastriert, wenn er noch mal was versucht und das weiß er." Forschend blickte Kai sie an. "Und in einer Gruppe zu lernen ist besser. Da schafft man mehr. Wir treffen uns ja nur jeden zweiten Tag oder so. Renate macht den Plan und wird uns dann schon voll lehrermäßig in die Pflicht nehmen."

Sie lachte auf. "Okay. Ich bin im Juli wieder da und lerne dann mit euch zusammen. Passt du auf, dass Holger alles rafft? Er ist so..."

"Holger ist gut, mach dir keine Sorgen."

Sie seufzte und nickte dann. Auf eine extrem nervige Art war sie schon wieder so empfindlich und nervös und zugleich machte sie einen unglücklichen Eindruck. Gereizt sah er sie von der Seite her an. "War es das?"

Lolli kam mit einem Teil vom Bett auf die Dachterrasse gewandert und hielt es in die Sonne, um zwei verschiedene blaugraue Farben daran auszutesten. Tini und Kai beobachteten ihn schweigend, während er summend etwas pinselte, noch mal pinselte und mit schmalen Augen zu einer Entscheidung kam.

Das Telefon tüdelte und unterbrach die unangenehme Stille. Erleichtert hechtete Kai ran und meldete sich ohne Kontrollblick auf den Gesprächspartner, ein Fehler.

"Kaichen, endlich erreiche ich dich einmal!"

Kai unterdrückte ein Stöhnen. "Mama, deswegen haben wir einen Anrufbeantworter. Sprich doch mal drauf."

Seine Mutter ignorierte diesen Einwand und erkundigte sich resolut "Du hast jetzt frei, richtig?"

"Geht so. Ich wollte die nächsten Wochen vorarbeiten, damit ich zur Prüfung aussetzen kann." Kai musste das noch mit Leon klären. Er wollte gern mehr Frühschichten bekommen, um abends für Jan und das Lernen Zeit zu haben.

Seine Mutter lenkte ihn von den möglichen Argumenten ab. "Wir kommen am Donnerstag in die Stadt zum Einkaufen. Ich hab einen Tag frei. Du kommst dann gleich mit, dann kaufen wir dir einen passenden Anzug."

"Wir?"

"Dein Vater nimmt sich Überstundenfrei. Meinst du, dass ich ihn in dem ollen Anzug von eurer Konfirmationsfeier auf die Hochzeit von seinem Patenkind gehen lasse?!" Der Ton war schärfer als notwendig und Kai grinste. Ganz offensichtlich hatte es um die Klamotten und die Notwendigkeit derselben einen Krach gegeben. Er entkam seiner Mutter aber auch nicht. "Du weißt dann hoffentlich bis Dienstag einen guten Laden, Kai. Ich weiß schon, wo ich nach einem Kleid für mich sehen will, aber für Norbert und dich müssen wir schon zu einem vernünftigen Herrenausstatter."

"Ich frag mal Jan."

"Jan?!" Natürlich. Kais Mutter kannte Jan auch nur so mies gekleidet, wie er nun mal fast immer war.

"Ja, der hat Ausgehklamotten hier in der Stadt gekauft bekommen. Der Laden macht wohl auch Änderungen." Jedenfalls hatte Jan erwähnt, dass die dunkelbraune Anzughose für ihn gekürzt worden war. Und Kai war sich sicher, dass er mit seiner geringen Größe sicherlich ebenfalls nur zu lange Hosen finden würde. Bei Jeans war das schon immer so nervig. Seine Mutter stimmte etwas misstrauisch zu und Kai war entlassen.

Aufseufzend legte er auf und blickte Tini an, die in der Zwischenzeit Lolli bei seinen Ausführungen über Farben zugehört hatte. Sie wollte aber augenscheinlich nicht mehr länger bleiben und ihn stören, sie lehnte sogar Carls Einladung zum Essen ab. "Ich muss noch bei Holger vorbei. Der hat ab Montag so offizielle Sachen vom Bund und dann bin ich bald auch schon weg."

Carl knuddelte Tini und Lolli winkte ihr farbverschmiert und fröhlich zu. Kai brachte sie in die Diele vor und in dem Moment rief Carl ihr noch hinterher "Hey, hey, Tinimaus. Mach nicht so ein Gesicht, ja? Zwei Monate sind nicht der Untergang der Welt! Sieh es als Atempause an, hinterher seid ihr wieder so richtig scharf aufeinander und dann macht ihr euch ein superromantisches Wiedersehen."

Unsicher sah Kai ihr ins Gesicht. "Du wolltest doch so lang weg. Deine Eltern und dein Bruder würden das beide verstehen, wenn du wegen der Prüfung früher wieder zurück willst. Da müssen die nicht mal auf Holger stehen."

Sie biss sich auf die Unterlippe, dann schüttelte sie den Kopf. "Ich will den Abstand. Nicht wegen Holger. Er wird mir total fehlen, er fehlt mir jetzt schon und ich fahr nicht wegen ihm so lang weg. Ich brauch Abstand..." Sie seufzte. "… zu dir."

"Hä?" Verwirrt und genervt sah er ihr zu, wie sie die Sandalen über die Füße zog, aber Tini sagte nichts weiter, sondern blickte ihn aus ihren dunklen Augen einen Moment lang forschend an, dann küsste sie ihn auf den Mund. Mit zwei Fingern strich sie ihm einmal rasch durch die Haare an der Schläfe. "Bis in zwei Monaten."

Kai fiel es erst ein, als er die Tür hinter ihr geschlossen hatte. 'Die fliegt doch erst in einer Woche!' Im nächsten Moment bat Carl um Hilfe beim Kochen, und Kai vergaß diese anstrengende Tussi dankbar erst einmal zugunsten von Essen und Rumkichern mit der Meierschen und Lolli.

Und die nächsten paar Tage blieben erstaunlicherweise frei von Bardo, frei von nervigen Tussen und frei von nervenden Typen. Pascal erschien nicht, um Kai mit seinem miesen Gewissen und weiteren Vorwürfen zu martern. Carl schob ab, nachdem er Kai ausreichend bekocht und dann überreichlich vollgelabert und vollgestopft hatte. Lolli schob mitsamt der Meierschen ab und blieb erst einmal verschollen. Kai dankte es ihm stumm in einer Art Abendgebet, als er von der Arbeit in eine dank Carl saubere und dank Lolli stinkende Wohnung zurückkehrte.

An diesem Abend redeten Jan und er am Telefon noch einmal über Bardo und Kais Taktik in dieser Sache. Jan schlug vor, dass Kai Bardo nicht abweisen sollte, sondern im Gegenteil nicht zu weit fort lassen. "Wenn du ihn umarmst, was mit ihm allein machst, dann härtet ihn das viel besser gegen diese dummen Träume ab, die er sich macht. Ich merke das gerade selber, Kai. Abstand zu dir ist nicht gut. Für mich auf keinen Fall. Ich werde genervt davon. Es tut mir nicht gut, wenn ich dich nicht bei mir hab, es macht mich viel zu geil auf das Wiedersehen. Bei Bardo ist das dann so, dass ihn der Abstand sicherlich scharf auf jedes neue Zusammensein macht. Wenn ihr euch hier und dort immer wieder mal seht und du ihn auch mal umarmst, dann ist es nicht mehr so aufregend und wertvoll für ihn. Anders habt ihr keine Chance als Freunde zusammen zu sein."

"Aber Bardo will nicht nur so als Freunde zusammen sein! Ich hab keinen Bock, dass ich dich dann mit ihm betrüge und außerdem... betrüge ich ihn dann auch. Ich bin nicht in ihn verknallt. Ich mag ihn, mehr nicht."

"Eben. Dann umarme ihn, sei da, wenn er einen Freund braucht." Jan lachte auf. "Küss ihn einmal tüchtig, so wie er sich das verdient hat, dann wird es reell mit dir, und er versteht, dass er dich als Freund hat und nicht als Traumgebilde. Dass du ihm das gibst, aber mehr nicht. Dass er das nehmen und zu schätzen wissen soll oder nichts bekommt."

"Und wenn er dann mehr will?"

"Dann mach ich ihn lang, gleich nachdem du ihn lang gemacht hast, Kai."

"Freunde küssen sich nicht."

"Natürlich tun Freunde das. Hast du mal ein Fußballspiel so richtig verfolgt? Das sind zu weit über neunzig Prozent keine schwulen Männer, aber da wird sich mit bedeutungsvollen, tiefen Blicken in die Augen unterhalten. Da wird geknuddelt, geknutscht und gestreichelt, umarmt und lieb gehabt, dass es nur so rappelt." Jan lachte. "Vermutlich haben die deswegen so eine Angst, dass es von einem aus diesen elf Jungs eben nicht freundschaftlich gemeint ist. Aber ganz ehrlich, wenn ich meine Jungs umarme, dann will ich nicht mit ihnen ins Bett. Es ist etwas gänzlich anderes in diesem Augenblick. Auch für mich, obwohl ich Männerkörper ansprechend finde. Es ist Freundschaft, Zusammensein und Freude über die gute Teamarbeit und ein Tor, die man natürlich körperlich auch ausdrücken will. Und so ist Bardo für dich auch, das musst du ihm zeigen, beibringen." Im Hintergrund wurde Jan gerufen, es sollte zu einer Schwimmhalle und Sauna gehen. Hastig verabschiedeten sie sich voneinander.

Kai sah und hörte jedoch die nächsten Tage nichts von Bardo, so dass er mit dem Abhärten nach Jans Art nicht anfangen konnte. Aber er war auch beschäftigt mit Arbeit und dem Erholen von der Arbeit. Er musste seinen Donnerstag tauschen, um mit den Eltern einkaufen gehen zu können, aber wurde den Tag an eine Kollegin los, die auch Geld geil war.

Lolli veranstaltete einen Videoabend mit Proseccotrinken, aber sonst war Kai müde im Bett mit Einschlafen und Jan-Vermissen befasst, wenn sein Freund ihn aufschreckte. Jan war wild beschäftigt und ihre Telefonate am Abend zunehmend vom Gähnen gezeichnet. Auch Jan erreichte die Grenzen seiner Kapazität nach einigen Tagen des abwechselnden Feierns und Leistungssports. Etwas grummelig gab Jan allerdings zu, dass ihm der Sex fehlen würde. "Baby, nächstes Mal kommst du mit!"

"Vergiss es! Ich arbeite an der Szene, Jan. Du bereitest den Versöhnungssex vor."

Jan lachte, von Gähnen unterbrochen. "Das wird geil!" und legte aus Versehen auf.

Kai grinste das Telefon an, dann schloss er die Augen und schlief in himmlischer Ruhe und durch die Außenrollläden auch himmlischer Abgeschiedenheit bis in den nächsten Tag hinein.

Der restliche Donnerstag prüfte Kais Kräfte, Nerven und seine Contenance dann doch so reichlich, dass er diese Ruhepause schon wieder verbraucht hatte, noch bevor er mit seiner Mutter und Norbert zum Abschied im Eiskaffee am Bahnhof einen Erdbeerbecher verschlang, um sein Gemüt zu beruhigen.

Der Grund war nicht seine Mutter, denn sie war friedlich und freute sich über das herabgesetzte Kleid, das sie ergattert hatte. Auch Norbert war friedlich, fand den Laden, den Kai von Jan gesagt bekommen hatte, gut, fand die Preise exorbitant, aber schätzte sie nach Seitenblick auf seine Ehefrau als notwendig ein, und er fand dann einen Anzug, der ihm sofort passte, was es unnötig machte, dass der eindeutig zu tuntige Verkäufer an ihm herumzupfte. Der zupfte sowieso lieber an Kai herum, der die Hose natürlich kürzen lassen musste.

Der Verkäufer kannte Lolli gut und leider auch Frank, den Friseur und Klatschpräsidenten der Gemeinde und so wusste er entsprechend so ziemlich alles über Kai. Zum Glück hielt er sich recht gut zurück und riss sich sogar am Riemen, als es um die Frage der Hemd- und Krawattenfarbe ging. Rosa schien in Mode zu sein, Kai lehnte das sofort ab. Zu seinen Haaren konnte er Rosa niemals tragen. Aber ein runtergesetztes blaues Hemd war perfekt für ihn, betonte seine Augen, was nie verkehrt war.

Nein, der Einkauf der Anzüge und des Kleides für seine Mutter lief hervorragend. Genau bis zu dem Moment, in dem sie in einen benachbarten Schuhladen gingen, weil Kais Mutter natürlich noch die passenden Sandalen zum Kleid brauchte und Norbert neue Sandalen für den täglichen Gebrauch erstehen musste, nachdem seine Frau die alten resolut in den Müll übergeben hatte, kaum war seine Aufmerksamkeit einmal durch Fußball etwas abgelenkt gewesen.

Norbert zog in Richtung braungetöntes Nirvana der Herrenschuhe davon und Kai folgte seiner Mutter zu den Foltergeräten, die das Herz der Frauen höher schlagen ließen. Dort wartete der Nemesis und die Ursache für Kais Stress. Sie stießen vor den Sandalen mit niedlichem Absatz auf Tini. Kai stockte, sah sich hastig nach einem Versteck um, weil Tini immerhin seine Mutter nicht kannte, aber versagte. Seine Vernunft und das Erziehungsgen hielten ihm zeitgleich einen Vortrag darüber, dass er sich unmöglich vor einer Freundin verstecken konnte und im selben Augenblick rief Tini schon "Kai?"

Er seufzte, drehte sich zu ihr um und stellte sich ihrer aufgedrehten Wuseligkeit. Nervös umarmte sie ihn sofort mit je einem sehr spitzen Schuh in den Händen, so dass er erschrocken still hielt, während Stilettoabsätze dicht an seinen Augen vorbei zischten. Das bedingte, dass sie ihn auch noch auf den Mund küssen konnte, und das interessierte dann seine Mutter. Sehr.

"Ich bin Martina, Kais Mutter."

"Mama, das ist Tini. Eine Studienfreundin." Er klang genau so sauer wie er war. Sein Blick befahl Tini zu gehen.

Sie strahlte jedoch und sagte enthusiastisch "Das ist ja so nett, Sie einmal kennen zu lernen!"

Kais Mutter fand das auch 'so nett' und bot ihr sofort das Du an. Im Folgenden tauchten diese beiden Energiewunder in eine sehr grausame Unterhaltung über Schuhe und leider auch seine Person ab. Er konnte nur hilflos zusehen, während Tini nicht nur eine der peinlichen Kindheitserinnerungen aufgetischt bekam, nein, alle mal wieder. Er hasste seine Mutter und flehte Tini mit Blicken an, sofort zu verschwinden. Tini ignorierte das erneut und folgte seiner Mutter durch die Regale mit den Sandalen. Vom Segment obszön teuer in das Segment horrormäßig teuer. Die Absätze der Schuhe nahmen an Höhe zu, Tini schien begeistert.

"Es ist ja sehr interessant zu sehen, dass unser Kai auch mal eine Freundin hat", sagte seine Mutter endlich und drehte goldene Sandalen in der Hand um, damit sie den Preis sehen konnte.

Seelenvoll seufzend starrte Tini Kai ins Gesicht und gab zu seiner Pein zu "Ich war total in ihn verknallt, bis ich meinen Freund gefunden hab. Das war vielleicht unfair. Warum muss er auch..." Hilflos und mit großen Augen ließ sie den Satz unvollendet.

"Tja. So ist das Leben." Mitleidslos starrten die beiden Frauen Kai an, als sei er schuld.

Energisch wandte Tini sich wieder seiner Mutter zu. "Dann ist er so hübsch, weil er das von dir geerbt hat, Martina. Eindeutig, die Ähnlichkeit ist wirklich sofort zu sehen."

"Nein, nein. Diese schönen blauen Augen, die hat Kai von seinem Vater. Als er so etwa drei war, da hat er..."

Kai ergriff die Flucht. Norbert erschien ihm sicherer. War leider nicht so. Norbert war scheiße drauf, weil eine Verkäuferin ihn über irgendwelche Makel an seinen Füßen informiert hatte und die ihm optisch passend aussehenden Schuhe realistisch weder seinen Füßen noch seinem Portemonnaie passend erschienen waren.

Kai litt einen Augenblick lang in Norberts Nähe, versuchte ihm einige Sandalen zu empfehlen, bekam eine Runde miesgelaunte Sprüche zum Dank und machte sich sofort wieder auf in Richtung Weiber. Die erschienen ihm dann doch sicherer. Er hatte Glück. Seine Mutter hatte in den goldenen Sandalen die Schuhe ihrer Träume gefunden, die leider einen Alptraumpreis hatten. So war sie hastig zum Bezahlen vorgedrungen, bevor Norbert ihr die Teile wieder mies machen konnte, um Geld zu sparen. Tini hingegen drehte zwei verschiedene Paar rote Sandalen mit sehr hohen Absätzen in den Händen und seufzte.

"Mein Bruder hat mir vorhin eine Mail geschrieben, dass er mich zu meinem Geburtstag total schick ausführen will. Ich musste mir sowieso ein neues Kleid zulegen, die Schuhe sind eigentlich nicht nötig, aber ich wollte welche mit höheren Absätzen, um mal besser an Holger ran zu reichen." Sie sah zu ihm auf. "Deine Mutter ist klasse."

"Hm." Mürrisch verschränkte er die Arme. Natürlich war seine Mutter klasse, aber das ging niemanden was an, Tini schon gar nicht.

"Ist was?"

"Musste das sein?" Er ließ sich auf einen Schuhanziehhocker niedersinken.

"Was?"

"Du weißt genau, was ich meine!"

Schuldbewusst zog sie die Schultern an und ließ die Sandalen fallen. Gelenkig ließ sie sich vor ihm auf einem zweiten Hocker nieder, stellte die Füße auf die Sitzfläche auf und starrte Kai einen Augenblick lang an. "Ja. Musste sein. Ich wollte sie kennen lernen, schon immer."

"Und jetzt? Das ändert doch wohl gar nichts. Was ist denn aus dem scheiß Abstand geworden, den du unbedingt wolltest!" Das Wort Abstand hatte ihm irgendwie Hoffnung gemacht.

Hilflos lehnte Tini ihre Stirn an seine Schulter und schloss die Augen. "Ich kann nichts dafür. Das ist einfach wie Rauchen oder so. Ich kann nicht damit aufhören." Es klang irgendwie zugleich verzweifelt und begeistert.

Über ihre ehrliche Art musste er doch grinsen und sah ihr seufzend ins Gesicht. "Du bist sowas von bescheuert, Tini. Dann hör eben nicht auf. Du weißt genau wo die Grenze ist, okay? Meine Mutter ist auf der anderen Seite dieser Grenze, damit das klar ist."

Sie seufzte und nickte einmal, dann schob sie ihr Gesicht kurz gegen seinen Hals. "Ich verspreche es."

Kais Mutter schreckte sie auf. Fröhlich fragte sie "Kann ich dich noch auf ein Eis einladen, Tini? Unser Zug geht erst in einer guten Weile und Norbert braucht dringend einen Kaffee." Offensichtlich hatte der arme Mann die Rechnung für die Schuhe doch in die Finger bekommen.

Sie fuhren auseinander und Tini sprang fröhlich auf. Kai taumelte hastig in die Senkrechte. "Nein!" "Ja, gerne!"

"Tini, du wolltest gleich zu Holger, nicht wahr?" Böse blickte er sie an. "Bevor ich ihn anrufen muss, um ihm zu sagen, was du so lange machst."

Sie blinzelte, dann nickte sie leicht und reichte seiner Mutter zahm die Hand. "Das hat mich sehr gefreut, Martina. Einen schönen Tag noch. Die Schuhe sind auf jeden Fall das Geld wert, echt!" Sie wirbelte herum und Kai ließ sich von ihr umarmen und auf die Wange küssen.

Er sah sie an. "Bis in zwei Monaten dann, gute Reise. Vielleicht kannste ja endlich mit dem verdammten Rauchen aufhören."

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, dann schüttelte sie den Kopf. "Glaub ich echt nicht, Kai. Das macht so Spaß!" Bevor er das ahnden konnte, war sie fortgelaufen.

Und so saß er mit seinen Eltern in der Sonne und löffelte Eis und Erdbeeren in sich hinein und lauschte ihren Erzählungen zu Hellas Problemen mit Jörg, der nicht tanzen konnte und Imke, die zu fett für das Hochzeitskleid zu werden drohte. Zur Kolonie, in der Streit um die Arbeiten an den allgemeinen Wegen entstanden waren und endlich zu den Nachbarn, die ihren Schäferhund hatten einschläfern lassen, weil er einen Tumor hatte. Kais Vater spießte seinen Löffel in die Luft "Bestimmt war das ein Hirntumor! Das Vieh hatte eine Macke! Endlich sind wir dieses Gegeifer los, bloß weil mal wer die Straße rauf was in die Mülltonne wirft."

Kais Mutter kam dann aber umgehend wieder auf das Thema, das sie interessierte, zurück. "Nolle, denk dir, wir haben vorhin per Zufall eine 'Freundin' von Kai kennen gelernt."

Misstrauisch starrte Norbert seine Frau an.

"Ja. Tini... wie heißt sie eigentlich wirklich, Kai?"

"Sie ist nur eine Studienfreundin."

"Aha? Die dich küsst und ..."

"Sie steht auf mich, kann ich doch nix für!"

"Aha?" Norbert starrte zwischen ihnen hin und her, nun doch ein wenig interessiert.

Kai konzentrierte sich auf sein Eis und schoss jedwede Hoffnung mit schon geübter Nebensächlichkeit ins Aus. "Ihr Freund Holger ist oft mit meinem Freund Jan unterwegs, sie spielen zusammen Fußball und Basketball im Uniteam."

Spitz versetzte seine Mutter derweilen "Ich dachte, dass es dich interessieren könnte. Immerhin ist sie ein sehr hübsches Mädchen, das deinen Sohn mag."

"Nee, interessiert mich nicht! Und dich sollte das auch nicht interessieren!" Tatsächlich schien es Norbert eher zu deprimieren. Kai konnte es ihm nicht verdenken. Immerhin heiratete sein Patenkind Jörg bald, bekam mit seiner Imke ein Kind und machte im normalen Leben voran, erleichterte seine Eltern, indem er sich benahm wie alle anderen auch. Zum Kotzen. Kai hatte jetzt schon keinen Bock mehr auf diese scheiß Hochzeit!

Seiner Mutter konnte man die gute Laune nicht versauen. Glücklich summend rührte sie in ihrem Eiskaffee. "Ja, das arme Ding hat sich komplett in diese blauen Augen verschossen. Das kann ihr keiner verdenken, nicht? Nolle, ich weiß noch, wie wir uns zum ersten Mal..." Ihre Stimme wurde ein leises Summen auf Kais Ohren. Das Thema bog ab zum weiten Feld des zweiten Frühlings, in den seine Eltern sehr offensichtlich reingeschlittert waren. Das Kaffeetrinken wurde daraufhin sehr informativ. Kai hatte beispielsweise noch gar nicht gewusst, dass seine Eltern einmal auf einem Musikfestival gewesen waren. Er verabschiedete sie dennoch mit deutlicher Erleichterung und zuckte nur wenig, als seine Mutter ihm auf den Weg mitgab "Sag deiner Freundin, dass sie dringend mit dem Rauchen aufhören sollte. So ungesund, wirklich!"

Darüber musste er dann doch lachen und nickte. "Ich werde ihr sagen, dass sie das unbedingt muss, Mama. Bis bald mal!" Erleichtert winkte er dem Zug kurz nach.

Wieder Zuhause wartete allerdings leider die nächste Prüfung für seine Geduld auf ihn. Der Anrufbeantworter blinkte. Es war Pascal. Kurz bat Pascal um Rückruf, damit sie reden konnten. Kai rief ihn auf dem Handy zurück und bestellte ihn einfach gleich für den Abend zu sich. Müde vom anstrengenden Tag mit den Eltern lehnte er sich auf die Sonnenliege zurück, um sich zuvor in der Abendsonne noch ein wenig ausruhen und sammeln zu können.

Während er in Gedanken die Formulierungen durchging, die sowohl ehrlich als auch nicht ausreichend verletzend waren, tauchte wieder und wieder Carls Gesicht vor seinem inneren Auge auf. Es war pervers, aber nach einigen Minuten wurde Kai eindeutig klar, dass er dieses Date zum Aussprechen nicht nur Carl verdankte, sondern auch eigentlich nur für ihn machte. Komischerweise ging ihm Pascals Wohlbefinden noch immer am Arsch vorbei. Seine Abteilung für Reue nahm es auf sich, auch eine Unterabteilung für Nachtragen ins Leben zu rufen. Nur für Passi, dem Kai sehr nachtragend die Show noch immer nicht verziehen hatte.

Die Erinnerung ließ sich nicht mehr abweisen. Kai hatte sich erst so sehr über das Auftauchen seines Freundes gefreut. Weihnachten waren sie einander so nah gewesen. Pascals Geschichte hatte Kai berührt und hatte ihn gefühlsmäßig eingenommen. Und bei Lukas war Kai derselben Meinung wie Passi, der Mann war geil, mehr gab es nicht zu sagen. Und nachdem Lukas und Kai sich einig geworden waren, dass sie nicht, wie Jan es ausdrückte, Beziehungsmaterial abgeben würden, war die Entscheidung, Passi zu helfen, auch sehr leicht gefallen.

Kai hatte sich reingehängt, hatte den Traummann klar gemacht für Pascal und es hinbekommen, dass er und dieser Traummann den Traumsex hatten, mit ihm als einer Art Katalysator dafür. Es hatte ihm selbst eher geschadet, jedenfalls hatte es ihm keinen sonderlichen Spaß gemacht, und was war der Dank? Pascal machte auf Eifersucht und Drama, tat beleidigt und verletzt. Und Kai selber? Er war ohne Ende genervt davon, dass jetzt alle Welt von ihm verlangte, es dem armen, armen Pascal nicht so schwer zu machen.

Als es klingelte, hatte Kai sich in diesen Spiralen so richtig in miese Missgelauntheit verdreht und starrte Pascal entsprechend mit nicht sonderlich einladendem Gesicht entgegen.

Sein Schulfreund hatte mal wieder die totalen Traumklamotten an, vermutlich alptraumhaft teuer. Er sah fit aus, gebräunt, was Kai noch mehr nervte und er sah irgendwie fröhlich aus. "Kai, hallo!" Energiegeladen hopste Pascal zu Kai die Treppen hoch und umarmte ihn einmal, ohne sich um die miese Laune zu kümmern, die Kai umgab wie eine Wolke.

Kai trottete auf die Dachterrasse raus und bot Pascal ein Glas Weißwein an, das sich nach Carls Essen noch im Kühlschrank fand. Dann ließ er sich angespannt auf einem Kissen auf dem Boden nieder und überließ Pascal die Sonnenliege, um ihn von unten her anzuschweigen und anzustarren.

Pascal betrachtete ihn einen Augenblick lang, dann lächelte er süß. "Tut mir leid. Ich... hab mich grad verliebt und ich bin..." Er atmete tief durch. "Es ist noch zu früh, was zu sagen, tut mir leid."

Gepeinigt schloss Kai kurz die Augen. Es war unglaublich, wie niedlich dieser Typ war. Immer noch. Wie damals als kleiner Junge. "Das freut mich, Passi. Ehrlich. Hat Carlchen dir ausgerichtet, was ich zu sagen hatte?"

Pascal nickte. "Hat er. Ich war ein Idiot und ich entschuldige mich dafür." Ernsthaft nickte er noch einmal, aber war in Gedanken wo ganz anders.

Es nervte Kai schon wieder und wurde schlimmer. Wie Juckreiz, je mehr man ihn bekämpfte, umso schlimmer wurde das. Je mehr er von Pascal genervt war und versuchte, seine Laune wieder zurück zu biegen, umso genervter wurde er. Mit sehr viel Mühe hielt er sich zurück, etwas Harsches zu sagen. Stattdessen nickte er auch einmal. "Okay."

Und Pascal nahm dies als Vergebung hin, auch wenn es genau wie seine eigene Entschuldigung zuvor ganz und gar nicht ernsthaft gemeint war. Es wurde trotz Pascals sonniger Laune kein sonderlich langer Besuch. Pascal erzählte von zwei Dienstreisen, die er unternommen hatte und von dem neuen Fitnessstudio. Er berichtete kurz noch den neusten Klatsch über zwei ehemalige Klassenkameraden von ihnen, die er auf einem Heimaturlaub getroffen hatte. Als Kai etwas erzählen wollte, hörte Pascal nicht so richtig hin, so dass Kai es einfach wieder ließ. Pascal erzählte dafür ganz kurz von seinen Eltern, aber bog hastig ab zu dem Thema Wohnungseinrichtungen. Halbherzig lud er Kai ein, seine neue Wohnung zu besichtigen, weil er nun damit fertig war. Aber eine Einweihungsfeier war offenkundig nicht geplant.

Kai hörte weitestgehend schweigend zu, nickte an den richtigen Stellen, langweilte sich und vermisste Jan. Diese Unterhaltung war perfekt, um von Jan geführt zu werden. Der hätte die Sache anders geregelt. Er hätte Pascal auf den Pott gesetzt, hätte mit ihm über seine Eltern geredet. Jan hätte Pascal gesagt, dass er Carl nicht als Trösttunte missbrauchen sollte, und er hätte diesen Streit und das kühle, nervig juckende Gefühl, das Kai sofort überfiel, wenn er Passi nur ansehen musste, sofort ein für alle Male aus der Welt geschafft.

Hilflos aalte Kai sich hingegen im schlechten Gewissen wie in seiner schlechten Laune und schwieg. Als Pascal sich auf den Weg gemacht hatte, fühlte Kai sich, als hätte der Besuch nicht stattgefunden. Surreal und irgendwie falsch hatte sich alles abgespielt. Pascal hatte ihm etwas total Wichtiges verschwiegen und er ihm auch. Kai lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wohnungstür.

Pascal hatte ihm verschwiegen, wer ihm diese süße gutgelaunte Verliebtheit bescherte. Das war komisch und gab Kai das Gefühl, dass Pascal ihm trotz des Besuchs und des vielen Lächelns ganz und gar nicht vertraute. Es gab ihm die Sicherheit, dass sie keine Freunde waren. Aber er war nicht besser gewesen, hatte etwas sehr Wichtiges verschwiegen. Er hatte Pascal komplett verschwiegen, dass er ihm nicht verziehen hatte. Das nervig juckende Gefühl begann ihn noch mehr zu quälen. Und so fand Felix Kai vor, als er ihn zu einer weiteren Überraschungstherapie aus der Wohnung klingelte.

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