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Trost 2

Kapitel 89-92

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 89

Kai fühlte sich leicht und fröhlich, befreit. Als hätte er den ganzen Tag nur schönes erlebt und nicht einen Horror am nächsten, bis zu dem Gespräch mit Jan. Er kam gerade bis zur Türschwelle, bevor Jan ihn einholte. Er wurde von hinten um die Schultern gefasst und auf den Hals geküsst, dann mit einer Spur zu viel Schwung herumgezogen und von Jan mit einem hitzigen Zungenkuss überfallen. Kräftige Finger drängelten sich sofort unter seinem T-Shirt über den nackten Rücken hinauf und schufen eine Gänsehaut.

Sie küssten sich derart wild, dass Kai den Sinn dafür verlor, wo er war und erst aufgeschreckt wurde, als er rückwärts auf sein Bett fiel, auf dem Papiere für Histologie ausgebreitet waren. Mit Mühe schaffte er es, das Skript mit einer Wischbewegung auf den Fußboden zu befördern. Jan ließ ihn kaum zu Atem kommen, war schon mit einer Hand an seiner Jeans und zerrte an der Knopfleiste, bevor seine Hand warm und vereinnahmend unter der Hose über seinen Hintern streichelte.

Kai half mit, hob seine Hüften an, damit Jan die Jeans besser herunterziehen konnte. Jan selber zerrte an seiner eigenen Jeans nur die Knopfleiste auf, hatte keine Geduld für mehr. Er kniete sich gleich darauf wieder zwischen Kais Beine und ließ sich von ihm das T-Shirt über den Kopf zerren. Während Kai Jans Brust entlang küsste und den Geschmack der warmen Haut genoss, neckte Jan ihn frech zwischen den Beinen. Kai warf ohne hinzusehen Jans T-Shirt auf den Fußboden, doch sein eigenes Hemd behielt er an, wie auch Jan ignorierte, dass er seine Jeans nicht ganz ausgezogen hatte.

Er legte sich gleich darauf schwer und vereinnahmend über Kai, rieb sich mit drängenden Bewegungen gegen ihn und schob ein Bein zwischen Kais. Der raue Jeansstoff fühlte sich gut an, unterstützte die Reibung. Sie pressten sich fest aneinander, während Kai versuchte, seine Finger irgendwie noch in Jans Jeans auf den Hintern zu mogeln. Kais Erregung stieg gerade so richtig an und er wollte seine Bewegungen ein wenig ändern, um sich zum Höhepunkt zu bringen, als Jan abrupt aufhörte und sich aufstützte. Kai lachte leise. "Wenn ich geahnt hätte, dass dich so ein Kitsch wild macht, hätte ich es vielleicht schon früher gesagt."

Jan schüttelte stumm den Kopf, zog ihm das Hemd aus und zerrte sich die Jeans von den Hüften. Sie schoben sich schwer atmend weiter auf das Bett. Wie um sich zu beruhigen, holte Jan einmal tief Luft, dann begann er erneut, Kai zu küssen. Dieses Mal hörte er nicht bei der Brust auf, sondern verfolgte eine Spur über seinen Bauch und die Leisten bis auf einen Oberschenkel hinunter, dann zog er mit der Zunge eine prickelnde Spur auf der anderen Seite wieder hinauf.

Kai krallte sich unwillkürlich in Jans Haare und schloss die Augen. Eigentlich hätte er gern selber mehr gemacht, aber gegen seinen zielstrebigen und ihn so sicher berührenden Freund kam er wieder einmal nicht an. Jan streichelte seinen Penis einige Male locker mit Daumen und Zeigefinger. Genug, um zu reizen, aber lange nicht fest genug für Kai, der seine Hand über Jans Finger legte, um den Druck zu erhöhen. Nebenbei wies Jan seine Finger wieder ab, ließ ihn nicht mitmachen, ließ ihn aber auch nicht zur Ruhe kommen. Endlich stützte er sich auf Kais Hüfte auf und blickte zu ihm hoch, mit weiten Pupillen und einem intensiven Blick, als wollte er Kais Gedanken lesen. "Ich will dich, Kai. Bitte..."

Kai sah ihm in die Augen und seufzte einmal, dann nickte er. Jan war innerhalb von Sekunden aus dem Bett gerollt und kramte im Nachttisch. Kai hingegen stählte sich mental für das Gefühl, dass er etwas tun würde, das er immer und immer wieder bereute.

Doch Jan war vorsichtig, verwickelte ihn in wundervoll verspielte Küsse. Das Eindringen begleitete er mit einem ausgiebigen Vorspiel, das Kai schon fast zu lang ausfiel, weil Jan ihn nicht kommen ließ, ihn nur neckte. Endlich spürte Kai, dass Jan ihn sich ein wenig zurechtrückte und drehte, um mit ihm zu schlafen. Und genau in dem Moment wurde Kai kalt... er erschauderte, versteifte sich und grub seine Fingernägel in die Handflächen.

Mit halb geschlossenen Augen griff er gleich darauf fest in das Kopfkissen und wartete auf das unangenehme Gefühl... es kam nicht. Mit einem Mal hatte Jan es nicht mehr eilig. Er ruckelte sich schweigend, mit einer Hand leicht über Kais Rücken streichend, gegen ihn, drängte sich nicht in ihn, ließ nur eben zu, dass er Kai berührte. Sachte, aber dennoch jederzeit umkehrbar in wirkliches Eindringen, als wollte er schon einmal probieren, ob der Winkel stimmte, aber noch nicht wirklich mit ihm schlafen.

Es erregte Kai, aber machte ihm gleich wieder Angst vor dem nächsten Schritt, erregte ihn weiter, aber ließ ihn unruhig lauschen. Gestresst spannte Kai sich an. Mit den Lippen strich er Kai am Ohr entlang und flüsterte ihm etwas zu. Mit Gänsehaut am ganzen Körper lehnte Kai den Kopf zurück gegen Jans Schulter.

Ein wenig sauer dachte Kai, dass er nun nicht einmal den schönen Gesichtsausdruck genießen konnte, um sich abzulenken. Ein wenig hungrig, ein wenig verträumt und zugleich wild. Genau der Gesichtsausdruck, der ihn erschaudern ließ, der ihn anmachte. Der Ausdruck, der ihm zeigte, wie sehr Jan ihn begehrte, wie viel es wert war, wenn er morgen nicht zur Vorlesung gehen konnte, weil Sitzen nicht so doll kam. Unzufrieden wartete er ab, was Jan jetzt tun würde.

Doch auch Jan wollte die Position wechseln. Er kniete sich hinter Kai und drehte ihn um. "Ich will dir nicht wehtun. Zeig mir mal, wie du dich fühlst, Baby." Und Jan sah Kai sofort an, wie es ihm ging. Mit leisem Seufzen ließ Jan seinen Kopf auf Kais Brust sinken und schloss die Augen, wie um sich zu sammeln. "Ach, Kai. Sag doch was. Wenn du dich nicht wohlfühlst..."

"Nein, es geht schon, schon okay, Jan." War es nicht. Aber Kai wollte Jan nach all dem wilden Sex, den sie auf Jans Kosten gehabt hatten, auch etwas zurückgeben. Wütend biss er sich auf die Lippen. Was war nur mit ihm los? Warum konnte er das nicht? Sich entspannen, seinem Freund, der ihn noch nie verletzt hatte, einfach vertrauen. Was zur Hölle war so schwer daran?

Jan legte den Kopf schief und sah ihn fragend und zugleich schon irgendwie wissend an.

Kai erwiderte den Blick einen Moment lang. Seine Enttäuschung sickerte durch ihn hindurch, er erschlaffte und drehte das Gesicht fort. "Scheiße."

"Sch..." Jan küsste ihn auf den Mund, dann den Wangenknochen entlang und bis zum Ohr, flüsterte wieder so herrlich heiser. "Nein... Nein. Hör auf. Hör auf, immer so pessimistisch zu sein." Jans Finger umfingen ihn erneut, streichelten ihn eine Weile, dann legte sich Jan auf ihn und rangelte sich zwischen Kais Beine. Mit einer Hand strich er an der Rückseite von Kais Oberschenkel entlang, hob sein eines Bein an und zog ihn gegen sich. Seine Bewegungen waren nicht gemacht, um Kai seine Depression auskosten zu lassen. Dafür, dass Jan überhaupt nicht gern tanzte, auf Partys nur zum Anbaggern mal auf der Tanzfläche erschien, hatte er ein paar sehr gemein erotische Hüftbewegungen drauf.

Kai war schnell wieder erregt, trotz seiner Befürchtungen und depressiven Gedanken. Er veränderte seine Position etwas, um es für sie beide besser zu machen und presste Jan gegen sich. Er begann sich mit leichtem Anspannen gegen Jan zu schieben und der antwortete deutlich heftiger, ahmte die Bewegungen nach und beschleunigte den Takt. Ihre Zungen berührten sich und Kai seufzte, öffnete den Mund und seine Beine etwas weiter.

Hitze sammelte sich in Kais Becken. Die typische Spannung, als sei er kurz davor. Jan schien es zu sehen, schien ihm alles anzusehen. Er schob sich eine Idee tiefer, fester gegen ihn. Seine Finger gruben sich in Kais Po, fast schon schmerzhaft, was Kai zugleich anmachte und ihn befürchten ließ, dass da mal wieder ein blauer Fleck bleiben würde.

Er rächte sich und verpasste Jan einen Knutschfleck gleich unter dem Schlüsselbein. Besitzergreifend umfing er die kräftigen Schultern mit einem Arm. Gleich heizte Jan die wilden Küsse mit kleinen Bissen weiter an und beschleunigte seine Bewegungen noch einmal mehr. Jan kam kurz vor ihm, aber streichelte ihn gleich weiter, bis Kai ihn daran hinderte, um sich küssen zu lassen und seinen Höhepunkt zu genießen.

Sie starrten sich gerade schwer atmend in die Augen, als es an der Tür klingelte. Verwirrt blickte Kai zur Uhr hin. Es war noch nicht tiefe Nacht, aber für Nachbarn oder spontane Besuche durch Freunde schon zu spät, von Lolli einmal abgesehen, für den normaler Anstand und Sitte nicht gültig waren.

Jan fluchte leise, dann küsste er Kai noch einmal und erhob sich mit einem genervten Seufzen, weil es schon wieder klingelte. Jan warf das Kondom weg und suchte nach seiner Hose. "Wer auch immer das ist..."

"Ich geh. Will eh ins Bad." Kai stand auf, wischte sich mit seinem T-Shirt ab und nahm sich Jans T-Shirt und seine eigene Jeans mit, dann ging er zur Wohnungstür und fragte über Gegensprechanlage nicht gerade freundlich nach, wer da war.

Die Stimme am anderen Ende kam ihm latent bekannt vor, aber Kai konnte nicht verstehen, was die Person sagte. Nach kurzem Zögern drückte er den Türsummer. Er fühlte sich noch ein wenig unstet durch den Sex und genervt von dem abrupten Ende. Daher lehnte er die Tür nur an und ging ins Bad, um sich ein wenig abzuwaschen und abzukühlen. Er zog sich Jans T-Shirt über und schob es in die Hose. Als er wieder in den Flur trat, stand Bardo da, eine Tasche unter dem Arm und weiß im Gesicht.

"Jan! Für dich!" Kai nickte Bardo zu und forderte ihn barsch auf "Mach den Mund zu, und wo du dabei bist, auch die Tür." Dann ging er, von diesem unverhofften Ende für seinen schönen Abend zu zweit verärgert, in ihr großes Schlafzimmer, um dort auf Jan zu warten und vielleicht etwas zu lernen.

Jan trat mit nacktem Oberkörper aus Kais Zimmer und entdeckte Kai in seinem T-Shirt. Lässig knöpfte er noch an seiner Jeans und Bardo lief sekundenschnell rot an. Jan blickte Kai gespielt tadelnd entgegen. "Ach, erst die Pullover und jetzt die T-Shirts. Wenn du so weiter machst, lauf ich bald nackt rum, Kai."

Kai grinste ihn an und küsste ihn im Vorbeigehen auf die Schulter, mit den Fingern berührte er den Knutschfleck einmal und grinste. "Kundschaft. Du bist so was von schuld", flüsterte er und ertrug einen Stoß in die Rippen mit leisem Ächzen.

Jan kannte sich mit Kids aus, das musste man ihm lassen. Als Fußballtrainer für eine C-Jugend hatte er sicherlich dauernd mit durchgeknallten Teenagern zu tun. Und Kai musste es ihm neidlos zugestehen. Er klemmte sich Bardo fachmännisch unter den Arm, verpasste ihm einen heißen Tee und Nudeln und holte seine Geschichte aus ihm heraus. Geduldig hörte Jan zu, obwohl es nicht ohne Geheule und irgendwelche verwirrten Rückschlüsse abging.

Kai tauchte nur hin und wieder auf dem Weg zum Badezimmer und später noch einmal auf dem Weg zum Klo auf, während Bardo und Jan erst miteinander redeten, dann telefonierten und an Jans Laptop herumtippten. Endlich kam Jan zu Kai ins Bett.

"Tut mir leid. Ich erinnere mich noch dunkel daran, dass ich ihm erlaubt habe, zu uns zu kommen, wenn er Probleme hat. Aber echt..." Jan zog sich den Kapuzenpullover über den Kopf. Darunter war er appetitlich nackt. Er warf den Pulli samt der Jeans auf seinen Bürostuhl, um zum Bett zu kommen. "… ich hätte nie im Leben gedacht, dass er so bald und so verdammt unpassend vorbei kommt."

Ungnädig blickte Kai ihn an und reichte ihm die Schlafshorts rüber. "Und nun?"

Jan warf die Shorts neben dem Bett auf den Fußboden. "Wo waren wir noch mal stehen geblieben? Für den Knutschfleck gibt’s jetzt erst mal Rache!"

Kai lachte und quiekte erschrocken, als Jan sich auf ihn warf. Der Abend war doch nicht so verloren, wie er zunächst gedacht hatte. Jan und er schafften es, sich für eine weitere Runde Sex aufeinander zu stürzen und beendeten den Abend mit einer schönen Knutscherei und einer Unterhaltung darüber, wie sehr Jan Kai liebte. Das Thema gefiel Kai außerordentlich, auch wenn ihn die ganzen Emotionen so nach und nach anzustrengen begannen. Der schief gelaufene Sex wurde nicht mehr angesprochen, was Kai erleichterte. Er war derart müde, dass er gänzlich vergaß, Jan nach dem Bambi zu fragen, bevor er eingeschlafen war.

Als Kai am anderen Morgen geduscht und rasiert in sein Zimmer tappte, um seine schwarze Cordhose zu suchen, die laut Lolli einen netten Arsch machte, erinnerte er sich erst zu spät wieder an ihren nächtlichen Gast. Offenbar hatte Jan den Jungen in Kais Bett geparkt. Bardo war schon aufgewacht und wühlte sich aus den Decken, während Kai sich quiekend, weil nackt und nicht so zeigefreudig, ins Bad rettete. Mit einem Handtuch bewaffnet kehrte er in sein Zimmer zurück, aber das Bambi stand langbeinig und unsicher schon im Flur und fragte nach der Dusche.

Mies gelaunt zeigte Kai ihm die Handtücher und zog sich in Ruhe an. Nach Rundumblick in der Küche setzte er für sich einen Kaffee auf und Teewasser für Jan. Hoffnungsvoll inspizierte er den Toast und seufzte. Noch war es gut, aber sah schon wieder so pappig aus. Er kippte Jan sein Müsli in eine Schale und stellte Teller und die Schale auf den Gartentisch. Mit Jans Zeitung bewaffnet und einem Kaffee vor der Nase fühlte er sich auch stark genug, um ihren Teenager-Besuch zu überstehen.

Unsicher kam das Bambi um die Ecke gestakt. Er trug eine enge schwarze Jeans und ein schwarzes Langarmhemd, darüber ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Heavymetal Band, deren Name Kai nichts sagte. Das Bild vorn war ekelig. Blutige Totenschädel mit Feuer und irgendwelche Schlangen darum. Es verdarb Kai ein wenig den Appetit. Um den Hals trug Bardo ein eng gefasstes Lederband. Klischee. Kai verdrehte die Augen, aber sagte nichts dazu, sondern fragte "Frühstück? Kaffee?"

Bardo nickte leicht und Kai schob ihm einen Becher zu. Rosendekor mit Goldrand, Hannah war auch hier vertreten. Das Bambi verbrauchte mehr Milch als Kaffee, also war er das Zeug noch nicht so gewohnt. Kai erinnerte sich, dass er lange Zeit keinen Kaffee trinken durfte, weil seine Mutter das für ungesund hielt. Sie schwiegen sich ein Weilchen lang an, bis Kai seufzend die Zeitung fortlegte und den Jungen ansah. "Und? Was war los?"

Bardo umfing die Rosendekor-Tasse mit beiden Händen. Seine schlanken Finger wirkten elegant, passend zu dem filigranen Porzellan. "Ansgar hat mich bei unseren Eltern verraten. Lena hat Fotos von der Party geschenkt bekommen. Da hat Ansgar welche mit mir gesehen."

"Ah. Okay." Kai nahm sich vor, Lena darauf anzusprechen.

"Ansgar hat leider Bilder von mir gesehen, wie ich mit Lukas zusammen an der Bar stehe. Er ist voll krass ausgerastet und hat Lena angeschrien. Voll krass. Ich war nicht dabei, aber so klang es zumindest. Und Lena hat ihm dann irgendwie verraten, dass ich... dass ich schwul bin und er sich 'lockermachen soll'. Locker machen, ihre Worte."

Kai stöhnte auf. "Scheiße, Lena ist immer so indiskret!"

Bardo senkte den Kopf. "Und Ansgar kann das nicht, sich lockermachen. Nicht bei dem Thema. Weiß ich doch auch. Ich weiß noch, als diese Frage mal bei Nantwin mit seinem Ballett aufgekommen ist. Da war Ansgar auch total dagegen, weil Nantwin vom Balletttanzen schwul werden könnte! Allein so etwas zu behaupten, war ja schon idiotisch! Ansgar wohnt doch nur in der WG, weil er auch so ein Musikfreak ist wie die anderen. Mit schwulen oder lesbischen Leuten kann er nichts anfangen. Da ist er allergisch. Er geht immer weg, wenn Lena ihren Bruder zu Besuch hat. Das hat er selber mal erzählt." Bardo hob den Kopf und seufzte leise "So bin ich ja erst darauf gekommen. Durch Winni mit seinem Ballett und Ansgar, wie er sich daheim wegen Lukas aufgeregt hat."

"Okay." Kai zog die Brauen zusammen. "Und was tust du hier?"

"Ansgar ist gestern Abend zu uns nach Hause und hat mich bei den Eltern angeschwärzt. Und die sind wegen der Feier krass ausgerastet... das hätte ich nicht gedacht... und haben mir Stubenarrest verpasst und Dies-Verbot und Das-Verbot und dann wollten sie reden. So auf Therapietour. Ich sollte ihnen erzählen, wieso ich sie angelogen hab, wie ich gemerkt habe, dass ich... und... ich musste da raus!"

"Dann ruf doch jetzt mal an bei ihnen und teile ihnen mit, wo du bist. Bestimmt machen sie sich Sorgen."

"Ich hab meinem Vater gestern eine SMS geschrieben, dass ich bei Stefan bin und von ihm zur Schule gehe. Stefan hab ich gestern angerufen und ihm gesagt, dass er mich nicht verraten soll. Er ist mein bester Freund und hält dicht."

"Die wissen bestimmt auch jetzt schon, dass das nicht stimmt, Bardo." Kai schüttelte den Kopf. So einen Deppenplan konnte nur ein Teenager mit Hormonen im Kopf aushecken. "Irgendwann musst du ohnehin mit ihnen reden. Eltern sind so. Die toben rum und kommen dann klar, das steht so in der Jobbeschreibung."

"Was verstehst du denn davon?!"

Kai stellte seine Tasse etwas zu hart ab. "Ich war vierzehn, als mein Vater mich mit meinem ersten Freund erwischt hat. Er hat mich tüchtig vermöbelt und bei Regen im Oktober rausgeworfen. Ich lag drei Tage mit Lungenentzündung im Krankenhaus."

Bardo starrte ihn, weiß im Gesicht, an. Er schien nicht in der Lage, eine Antwort zu sagen.

Milder gestimmt wiegelte Kai ab und fügte ruhiger hinzu "Aber ich bin zurück, hab mich mit meinen Eltern zusammengerauft, oder sie mit mir vielmehr. Meine Mutter wollte am Anfang täglich reden, ich wollte mich verkriechen. Das war anstrengend, aber sie hat das gemacht, weil sie mich lieb hat, nicht um mich zu ärgern. Er ist zwar immer noch kein Fan von meinem Lebensstil, aber es ist möglich, auch nach sowas zivilisiert zusammenzuleben."

"Tut mir leid." Unsicher starrte Bardo Kai ins Gesicht. Dann zog er die Schultern an. "Immerhin haben sie mich nicht gehauen oder so, nur so schrecklich enttäuscht angesehen. Als wäre ich jetzt verloren für sie, fast als wenn ich gleich als nächstes aus der Schule fliegen und auf der Straße leben würde."

"Und jetzt?"

Bardo erhob sich. "Ich rufe sie von meinem Handy an und sag, dass ich für ein paar Tage bei Freunden bin. Vielleicht erwische ich Ortrud, die ist netter zu mir."

"Ein paar Tage?!"

"Kann ich nicht bis zum Wochenende hier bleiben? Ich frag auch meine Eltern sofort! Ich geh auch zur Schule, versprochen."

Kai verschränkte die Arme. "Es ist Jans Wohnung, frag ihn."

Jan lehnte in der Tür und rief rüber. "Unsinn, Kai. Es ist dein Zimmer. Es ist deine Entscheidung."

Kai stöhnte auf. Jan war so gemein! Jetzt lastete ein eins-A-Bambi-Bettelblick mit voller Wucht auf ihm und erweichte sein Herz in Sekundenschnelle. "Okay. Wir rufen Lena mal an und fragen sie nach den Chancen, dass Ansgar sich abgeregt hat." Kai erhob sich auch, dann sah er zur Uhr und zu Bardo zurück. "Und du gehst zur Schule! Das ist ein Befehl! Ich gebe dir einen Schlüssel mit. Und zieh das scheiß T-Shirt aus! Kann ja wohl nicht angehen, dass du so unter Leute willst!"

Jan lachte auf und konnte nicht mehr aufhören, bis Bardo, mit roten Ohren und gesenktem Kopf, davon gezuckelt war. Sogar minus dem T-Shirt. "Es fehlte noch, dass du dem Kleinen ein Brot mitgibst, Kai. An dir ist echt eine beängstigende Mutti verloren gegangen."

Kai fand nichts zum Werfen, daher verfolgte er Jan durch die Wohnung. Sie waren gerade bis zum Bett gekommen, wo Kai sich auf seinen Freund geworfen hatte, als das Telefon klingelte. Lena war dran und fragte gleich nach Bardo und ob sie wüssten, wo er gerade sein mochte.

Kai blickte zu Jan und hob die Schultern. "Gerade in diesem Moment hoffentlich auf dem Weg zu Schule. Gestern Nacht war er bei uns."

Lena stöhnte auf. "Tut mir so leid. Ist schon ein wenig meine Schuld. Er kam zu mir angeheult, weil Ansgar so gemein war. Aber ich hab ihn zu seinen Eltern zurückgeschickt. Leider sind die ziemlich anstrengend. Seine Mutter ist wohl Therapeutin für irgendwas. Sie haben über Ansgar schon überall nach ihm gesucht und gedroht, dass sie mich anzeigen. Als ich allerdings fragte, weswegen, kam keine vernünftige Antwort zustande. Ich verrate nicht, wo er ist. Soll ich euch Lukas mal rumschicken? Er kann ihn ja heute oder morgen Abend abholen und zu seinen Eltern zurück schaffen. Wenn er sein Dienstgesicht aufsetzt und so juristisches Kauderwelsch vor sich hinmurmelt, dann könnte das ganz gut hinhauen."

Kai seufzte erleichtert auf. "Ich arbeite heute Abend, Jan ist bestimmt ab zehn oder so hier. Morgen bin ich auch da."

Nach dieser Unterbrechung fuhren Kai und Jan dann gemeinsam in die Uni, wo sie sich in ihre Kurse und Lesungen aufteilten. Mittags trafen sie am schwarzen Brett vor der Cafeteria wieder zusammen. Es hatte sich rasend schnell herumgesprochen. Der Termin für das Physikum hing gemeinsam mit der Verteilung der Prüfungsgruppen für den schriftlichen Teil aus. Kai seufzte und schrieb sich den Raum für die schriftliche Prüfung in seinen Kalender. Er war mit Bianca und Thilo zusammen in einem Raum, wie nervig! Jan war nicht einmal im selben Gebäude wie er, sodass sie sich auf eine Pinkelpause hätten treffen können.

Die Anmeldebedingungen für die Prüfungsgruppen für den mündlichen Teil lagen ebenfalls aus. Kai und Jan war klar, dass sie nicht gemeinsam in einer Gruppe zur mündlichen Prüfung gehen würden. Das wäre zu viel Ablenkung und Kai lag vom Wissen in einer ganz anderen Liga als Jan. Es würde eine eher unausgewogene Gruppe werden. Jan sah es realistisch. "Ich gehe mit Thilo und Holger und vielleicht noch Nadine. Wir sind alle nicht so gut, da sticht keiner heraus und wir kommen alle irgendwie durch."

"Als ob du dann nicht doch noch mit einer Eins raus wanderst! Ich werde wohl mit Tini Prüfung machen. Ich bin in allen Kursen mit ihr zusammen eingeschrieben." Unglücklich studierte er die Preise für die Lehrbücher. "Wenn ich die bezahlt habe, kann ich mir doch keinen Urlaub mehr leisten. Scheiße, sind die teuer!"

Jan blickte ihm über die Schulter. "Stimmt. Die muss ich mir auch noch holen."

Kai rechnete unglücklich vor sich hin, ob er das schaffen konnte, aber Tini kam durch die großen Glastüren am Haupteingang und lenkte ihn von der Sorge ab. Sie sah noch immer nicht besonders glücklich aus, aber strebte gleich zu ihnen. Kai begrüßte sie mit einem Grinsen und meinte "Jan ist schuld. Wir haben jetzt ein Adoptivkind."

Sie blinzelte verwirrt und Jan knurrte unzufrieden. "Bardo das Bambi. Ist gestern Nacht bei uns aufgeschlagen."

"Oh, ist was passiert?"

"Was halt bei Jungs in dem Alter und mit der Energie so passiert. Er hat sich mit den Eltern und dem Bruder gezofft. Erst mal hab ich ihn soweit beruhigt, dass er nicht denkt, die Welt geht unter."

Kai setzte erklärend hinzu "Sein dämlicher Bruder hat ihn geoutet."

Jan nickte. "Das war jedenfalls ein Vertrauensbruch, den ich nicht erwartet hätte von einem älteren Bruder. Dieser Ansgar ist mir ganz schön unsympathisch."

Tini blickte sie besorgt an. "Ich hab das Bambi schon gern, aber er kann leider nicht nochmal bei uns pennen. Er müsste in meinem Zimmer mit übernachten und das ist mir zu eng und Renate steht nicht auf Männer in ihrer Dusche morgens... das hat sie mir heute Morgen sehr eindeutig klar gemacht."

Kai winkte ab. "Er übernachtet in meinem Zimmer, schon okay. Ich bin aber auch froh, wenn der wieder abschiebt. Da hat man schon den genetischen oder psychischen oder was auch immer Vorteil, dass man keine eigenen Kinder ertragen muss und schon schieben einem andere fiese Leute ihre Braten zu."

Jan stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und Tini schnaubte und zischte: „Soziopath." Damit ließ sie Kai und Jan stehen, die ihr verwundert hinterher sahen. Jan zuckte mit den Achseln "Hat ihre Tage oder nicht genug Sex. Bis heute Abend!" Er schloss sich Bianca und Thilo an, die sich gerade aus der Vorlesung geschlichen hatten.

Holger erklärte Kai Tinis miese Stimmung beim Mittagessen. "Sie ist irgendwie noch immer wegen der Allergiesache unrund, glaube ich. Sie hat seitdem noch nicht mit mir geredet." Er seufzte und sah ein wenig unglücklich aus. "Ich hoffe, dass sie mir noch eine Chance gibt."

"Bestimmt. Sie hat Kampfgeist, oder nicht?"

"Ihren ersten Freund hat sie wegen der Sache damals sofort abgeschossen." Holger sah Kai einen Moment lang ins Gesicht. "Davon weißt du ja sicher. Weißt ja eh alles über sie... und mich." Es klang ein wenig deprimiert.

Kai nickte und senkte den Blick rasch auf sein Essen, auch wenn er es nicht mehr mochte. Das Thema war dem Appetit nicht gerade förderlich. Rasch nahm er seinen Nachtisch und schob ihn zu Holger rüber.

"Danke. Mit dir essen lohnt sich immer. Wenn sie nicht mit mir reden will, Kai, musst du das klar machen."

"Warum?"

"Auf dich hört sie. So wie letztes Mal. Ich will das jetzt nicht versauen, nachdem ich sie endlich bekommen hab. Das war harte Arbeit, Mann. Ich war jetzt fast zwei Jahre an ihr dran!"

"Meine Güte! Ehrlich?!" Erstaunt starrte Kai Holger an und versuchte sich zurückzuerinnern, wie lang er schon gesehen hatte, dass der große blonde Typ, der immer seine Reste beim Mittag vernichtete, schon auf Tini scharf war. Tatsächlich erinnerte er sich jetzt, dass Holger schon immer in den gleichen Kursen wie Tini aufgetaucht war und bei Partys verdächtig in ihrer Nähe abgehangen hatte.

Holger stützte sein Gesicht in eine Hand und tippte mit den Fingern gegen sein Augenbrauenpiercing. "Hm. Ich bin nicht so wie Jan, dass ich alles, was mir auch nur im Entferntesten gefällt, gleich ausprobieren muss. Ist nie mein Ding gewesen. Hatte erst eine Freundin vor dem Studium. Ich bin lange zur See gefahren, mehr hat sich nicht ergeben und ich wollte auch nicht. Ich kenne Tini jetzt seit Beginn des ersten Semesters und seit einer ganzen Weile weiß ich, dass wir echt gut zueinanderpassen. Leider ist sie sich da noch nicht so sicher. Ich bin mir für mich sicher, dass sich das nicht so schnell ändern wird."

"Na, dann müsst ihr tatsächlich, wie Jan so schön sagt, drüber reden."

Holger lachte hilflos. "Ja... hab jetzt schon Angst davor."

Im Hintergrund hastete Tini mit Bianca vorbei, beachtete Holger gar nicht weiter. Er seufzte und senkte den Kopf. "Erst mal müssen wir uns wieder vertragen. Die ist echt schnell beleidigt."

Kai sah Tini eher erleichtert beim Wegdüsen zu. Hastig wechselte er das Thema und fragte Holger lieber nach dem Kraftraum beim Unisport und nach Melanie aus, die sich so aufdringlich an Jan herangemacht hatte. Außer der Info, dass Melanie beim Sport auch an Jan dran war, fand er nichts heraus, aber wurde nach einem Blick auf die Uhr abgelenkt, weil er und Holger sich zum Histologiekurs hetzen mussten. Sie kamen trotzdem als die Letzten in den Raum. In der Regel war das kein Problem, weil Tini ihm immer schon einen Platz gesichert hatte. Heute nicht. Er musste in der ersten Reihe sitzen.

Tini saß zwei Reihen hinter ihm mit Bianca und Renate zusammen. Die drei teilten sich ein Mikroskop, während Kai und Holger sich eins mit Matze teilten. Matze saß extra weit weg von Kai und sah ihn nicht einmal an. Kai dachte die ganze Zeit 'Doofer Arsch' vor sich hin und konnte sich nicht auf die Stimme der Assistentin für den Kurs konzentrieren. Kai füllte endlich mechanisch die Bögen aus, weil er alle Zellen und Gewebe schnell erkannte.

Holger schrieb von ihm ab, weil ihm vom Mikroskopieren übel wurde und Matze schrieb von Holger ab, weil er vom Party machen noch zu müde war und keinen Bock hatte. So ging der Nachmittag zwar friedlich, aber auch anstrengend vorüber. Kai hatte Kopfweh und war genervt, als er sich in den Bus in die Innenstadt quetschte, um zur Arbeit zu fahren.

Kapitel 90

Als Kai mit wabernden Kopfweh vom Starren durch die Okulare im LPP auf Leon traf, zitierte dieser ihn mit einem Handzeichen sofort zu sich in das Büro. Kai hechtete in sein T-Shirt, wechselte einen unsicheren Blick mit Henrike und trottete zum Chefbüro. Allein die Doppeltüren zu schließen, machte ihn nervös. Unsicher schlich Kai sich an den Schreibtisch heran.

Leon hatte mit Blick auf die Straße an seinem Kräutertee genippt. Er drehte sich samt Lederchefsessel herum und lachte, als er Kais Gesichtsausdruck sah. "Nichts schlimmes. Ich wollte dir danken. Felix ist bis Sonntag zurück, und dann hoffe ich, dass ich ihn zur Vernunft bringen kann."

"Hm."

Leon lächelte überheblich. "Ich soll dich von deinem Namensvetter grüßen."

Ungemütlich erinnerte Kai sich, dass er Leon geoutet hatte, aber der meinte anstelle eines Einlaufs betreffend dieser Indiskretion nur locker "Ich hab dir den Vormittag als Überstunden auf deinen Zettel dazu geschrieben, wunder dich also nicht über das Gehalt."

Kai blinzelte verwirrt, dann schüttelte er den Kopf und hob die Hände. "Das war doch absolut nicht notwendig! Ich finde es so gar nicht in Ordnung. Das war keine Arbeit!"

"Es war dir unangenehm, also war es wie Arbeit."

"Nein. Ich hab keine Probleme mit medizinischen Einrichtungen. Eigentlich war es interessant, die Bestrahlungsmaschine einmal zu sehen."

Leon sah ihn auf seine kühle Art an, dann sagte er unpassend warm "Du wirst mal ein richtig guter Arzt, glaub ich. Total distanziert, aber zugleich hatte ich das Gefühl, dass du genau wusstest, was mich belastet hat in dem Raum."

Kai akzeptierte das Urteil schweigend, aber schreckte auf, als Leon ihm zum Abschied sagte "Es schüttet, ich fahr dich heim. Schließ du ab, ich sage es Bastian."

"Eh, ich..."

"Ich fahre dich nur, keine Sorge."

Kai machte sich aber Sorgen. Und wie. Er rührte unsicher immer wieder in Richtung des Spannerfensterchens blickend in den Cocktails. Er ließ sich von zwei extrem tuckigen Designstudenten aus Lollis Dunstkreis anflirten, denselben zwei, die ihn einmal in der Woche anhimmelten, ohne sie so betont abblitzen zu lassen wie sonst. Von einem Kollegen von Pascal aus der Investmentbank ließ er sich für einen Espresso mit Trinkgeld zuschütten und lächelte aus Versehen sogar, obwohl der Arsch ihn gleich als nächstes nach seiner Nummer fragte, was sich schon deutlich angekündigt hatte. All die Kunden, die der Regen und Sturm zu ihnen herein wehte, wurden zu einer monotonen Masse. Und während die Zeiger auf der Uhr sich voran schoben, nahm Kais Nervosität weiter zu.

Erst gegen Ende der Schicht kam Leon nach vorn. Er machte sich ein Tonic auf Eis und heißes Wasser für Kräutertee und teilte Bastian und Henrike mit, dass Kai an diesem Abend abschließen sollte. "Ihr geht um elf Uhr."

Bastian kommentierte das nicht, sondern zückte sofort sein Handy, um seinem Hasi eine Nachricht zu tippen, dass sie ihn eine halbe Stunde eher abholen sollte. Henrike aber putzte sich mit einem Lappen zu Kai hinüber und lehnte sich gegen ihn. "Habt ihr was miteinander?" Ihr Nasenring blitzte auf, als sie die Nase ein wenig kraus zog, fast wie ein Kaninchen. Ihr schien der Gedanke nicht sonderlich zu gefallen.

"Was?!" Genau das Gerücht hatte Kai befürchtet. Er schüttelte unglücklich den Kopf. "Nein."

Henrike wischte noch immer dieselbe Stelle neben der Spüle. "Hm. Seit einigen Wochen schon ist Leon neben sich. Er war überhaupt nicht mehr sein altes Über-Selbst."

"Über-Selbst?"

Sie lehnte sich neben Kai an und sah ihm kritisch beim Gläserpolieren zu, dann meinte sie "Leon war sonst immer so geil informiert. Der totale Overlord. Er wusste alles über uns. Sogar, wenn die Mädels ihre Tage hatten, oder wenn ich mal wieder Liebeskummer durchlitten hab, oder wenn Basti sich früher absetzen wollte, weil Hasi was vorhatte. Derzeit scheint Leon nicht mal zu wissen, wenn der Koch zu spät zum Job erscheint. Du kümmerst dich nicht sonderlich um deine Mitmenschen, nicht?"

Kai dachte an all die Verwirrungen, in die allein Leon ihn schon verwickelt hatte und schloss gepeinigt die Augen. "Doch. Eigentlich noch viel zu viel."

Sie lehnte sich gegen den Tresen und zog den Minirock über ihren Hintern runter. "Leon. Der Mann war Energie pur. Die Sorte Mann, für die nicht wenige Frauen ihren Mann anlügen. Nicht wahr? Und Männer auch, wo wir dabei sind."

"Und?" Kai nahm sich das nächste Glas und meckerte "Und du tust mal was, wenn du schon hier rumstehen willst! Räum mal die Saftkaraffen zur Durchreiche rüber."

"Oho, Minichef! Alles klar!" Henrike salutierte lässig und griff sich zwei Glaskaraffen. Sie schob beide mit einem 'Ey, mach mal was, Alter!' zum Koch in die Küche rüber. Gleich darauf war sie wieder bei Kai. "Ich meine, dass seine Energie in letzter Zeit wie weggeblasen war. Er hat mich nicht mal zusammengeschissen, als ich neulich in der Küche eine geraucht hab. Sonst ist er da immer oberallergisch. Es war gespenstisch."

Kai reichte ihr die nächsten Karaffen und nahm sich selber das letzte Glas aus dem Rack. "Er hatte Stress mit seinem Kerl. Ganz ehrlich geht es uns aber nichts an. Ich kann dir versichern, dass ich mit einem anderen zusammen und nicht an Leon interessiert bin. Gar nicht." Hastig begann Kai das leere Rack wieder mit dreckigen Gläsern zu füllen.

"Ein Glück." Kritisch blickte Henrike ihn an. "Sag mal, was anderes, Kai. Du kennst Lena doch näher, oder? Die hier hin und wieder auflegt?"

"Hmhm. Gehört irgendwie zu meinem Freundeskreis."

"Oh. Echt? Ist sie bi? Hat sie hin und wieder auch mal was mit Frauen?"

Kai lachte. "Zurzeit schon. Jedenfalls am Wochenende war sie noch lesbisch."

"Und hat sie eine Frau dafür? Was festes?"

Verwirrt starrte er Henrike an. Sie war immer eine lustige, fleißige wie flippige Kollegin für ihn gewesen. Zwar schon irgendwie eine Frau, aber asexuell und auf eine Art unbedrohlich. Vielleicht lag es an ihrer geringen Größe. Er war schon nicht sonderlich groß, aber Henrike reichte ihm mit dem Scheitel gerade über die Schulter. Einige Zwergen-Witze gingen schon mal auf ihre Kosten deswegen. "Willst du was von ihr, Henrike?"

Unsicher fummelte Henrike an ihrem neuen Kurzhaarschnitt, der nach den Rastalocken schon eine Wohltat für seine Augen war. Sie nickte leicht. "Kann es nicht verhindern. Ich find sie geil."

"Hm, geil kommt schon hin irgendwie. Aber auch nervig, rücksichtslos und ohne Ende indiskret. Frag doch ihren Bruder Lukas. Da kommt er zufällig gerade."

Lukas trat in den Laden und zeigte Kai ein Sekundenlächeln. Kritisch bemerkte Kai, dass er ein unmarkiertes Fahrzeug der Polizei mit dem Schild 'Polizeieinsatz' auf dem Gehweg direkt vor den Laden geparkt hatte. Der arme Leon, das gab bestimmt Gerüchte.

"Willst du was trinken? Wir schließen gerade, aber..."

"Nein. Lass man gut sein. Ich muss mit Leon reden."

Der stand bereits in der Tür und winkte Lukas zu sich. Die beiden Männer blickten sich mit schmalen Augen an und Lukas' Art, zu ihm durch den Laden zu gehen, wirkte auf Kai, als baute er mit jedem Schritt eine Spannung in seinem Körper auf, die ihn erschaudern ließ.

"Wow. Das ist ihr Bruder? Ich wusste nicht, dass der nicht Lenas Freund ist. Ich dachte immer..."

"Die küssen sich schon hin und wieder. Sind nicht nur Bruder und Schwester, sondern auch beste Freunde. Zwischen ihnen gibt es keine Geheimnisse. Wirklich. Gar. Keine. Das ist ja so nervig bei den beiden."

Kai dachte daran, dass ein Großteil dieser Offenheit zwischen Lena und Lukas auch seinen Stress mit Tini verursacht haben mochte. Und wieder dachte er an Pascal. Wie hatte er nur glauben können, dass Passi und ihn auch einmal eine enge Freundschaft wie zur Schulzeit verbinden konnte? Die Kindersorgen teilen, die Lieblingslieder und Stars, die man sexy fand, war eben doch etwas anderes, als seine Sorgen jetzt. Es war rein seine Hoffnung gewesen. Seine Sehnsucht nach einem Freund, dem er sich einmal anvertrauen konnte.

Jan war das mit Sicherheit nicht, der war viel zu anstrengend. Außerdem wollte er jemanden haben, mit dem er über Jan reden konnte. Nie konnte er mit jemandem mal darüber sprechen, wie alles zwischen ihnen lief, was er für sie beide befürchtete, was er sich wünschte.

Tini kam als Frau ganz und gar nicht infrage, er war schon froh, wenn sie ihn nicht mit ihren Sorgen nervte. Lolli war definitiv zu indiskret. Carl zu weit weg und zu eng mit Lolli befreundet. Lukas zu sexy und gefährlich. Benni war zu realistisch und emo. Wieder hoffte Kai, dass Pascal irgendwann wieder zu ihm kam, wenn Lukas nicht mehr zwischen ihnen stand.

Lukas kam aus Leons Büro, als Bastian und Henrike sich verabschiedeten. Er sah gelassen und friedlich aus, ein wenig müde. "Kai, alles in Ordnung?"

"Hat Lena dich nicht erreicht?" Mit einem Grinsen bemerkte Kai, dass Henrike bei dem Namen aufhorchte und sich unauffällig dichter schob. Um ihre Neugierde zu verstecken, kramte sie in ihrer großen Tasche, aber ihr Blick zwischen Lukas und Kai hin und her wirkte wie bei einem Vogel, der Beute machen wollte.

Lukas kramte sein Handy aus der Lederjacke. "Ich hab bis eben gearbeitet. Wir haben derzeit am Zoll viel zu tun. Was wollte sie denn?"

Kai seufzte. "Wir haben ein Bambi bei uns. Komm und bring es weg."

"Bambi? Ah, Bardo?"

"Sein Bruder hat Fotos gesehen. Von dir und ihm und hat ihn wohl geoutet."

"Ansgar der Spaßverderber. Der Typ ist wirklich ätzend! Ich weiß noch, wie er Lenas Gras weggeworfen hat, weil das so schrecklich ungesund ist."

"Und das von dir!"

Lukas grinste und Henrike streckte sich zu ihrer vollen, leider nicht sonderlich hohen Größe. "Hat Lena einen Freund oder eine Freundin derzeit?"

Kai blinzelte von Henrikes Angriffslust erschrocken zu ihr rüber.

Lukas hob die Brauen, starrte auf sie runter, dann schüttelte er den Kopf. "Die hat ihr Tattoo im Kopf von früh bis spät. Ich kann sie nicht davon abbringen. Morgen Vormittag wollte sie zu dem Laden hin. Vielleicht solltest du ihr die Hand halten, wenn du dich an sie ranmachen willst." Er lehnte sich gegen die Theke. "Ich hab da keinen Bock drauf. Tattoo schön und gut, aber so eine Geschichte?"

"Was will sie denn haben? Immerhin haben wir alle ihr das mit bezahlt." Kai sah, dass in Leons Büro das Licht ausging. "Oh. Gleich fliegen wir hier raus."

Lukas seufzte. "Sie will so einen chinesischen Drachen. Vom Nacken bis über den Hintern runter. Das wird Wochen dauern, bis sie wieder auf dem Rücken liegen kann, sag ich euch. Aber sie ist ja erwachsen."

"Zu wem geht sie denn?" Henrike blickte optimistisch und Kai bewunderte sie ein wenig für ihren Mut.

"Tanja bei Easy Ink natürlich." Er wandte sich an Kai zurück. "Ich komme morgen Nachmittag nach der Arbeit und hol Bambi bei euch raus, wenn er dann noch da ist. Ist der überhaupt noch bei euch?"

Kai zückte sein Handy und rief in der Wohnung an. Nach einigem Zögern meldete sich das Bambi mit einem unpersönlichen 'Hallo?'. Kai reichte Lukas das Handy und der befahl dem Bambi knapp, bis zum nächsten Abend durchzuhalten. "Kai hat das abgenickt. Ich spreche dann mit deinen Eltern. Ansgar nehme ich mir auch noch mal vor. Der kennt das schon von mir, okay?" Lukas lauschte kurz und lachte "Weiß ich doch, mein Süßes. Kenn ich alles. Mach dir keine Sorgen. Bis morgen."

"Hör auf, ihm Honig um den Bart zu schmieren, Lukas. Der gummert dich auch so schon ohne Ende an!" Wütend schnappte Kai sein Handy zurück.

"Ist mir lieber als Pascal." Lukas lehnte sich kurz zu ihm. "Bis morgen Abend dann, ja?"

Leon trat aus seinem Büro zu ihnen, als Lukas Kai auf die Wange küsste. Mit ausdruckslosem Gesicht nahm Leon die Kasse, um sie zu seinem Safe zu bringen. Seine Stimme hatte aber einen scharfen Unterton, als er zurückkam und fragte "Ich fahre jetzt. Kai, willst du noch länger bleiben?"

"Nein. Ich komme! Ihr zwei! Raus!" Hektisch kramte Kai sein Trinkgeld in das große Kellnerportemonnaie und ignorierte Henrikes Blick.

Lukas blinzelte kurz hinter Leon her, dann fragte er leise "Aber ihr habt nix, oder?"

"Nein! Verdammt noch mal. Wir wohnen nebeneinander und es pisst. Er nimmt mich nur mit nach Hause. Ich steh nicht drauf, total nass zu werden auf dem Weg mit dem Bus, deswegen fahre ich auch mit. Gehabt euch wohl. Schiebt ab. Ich muss noch zuschließen!"

Erleichtert bemerkte Kai, dass seine wütende Rede die beiden überzeugt hatte. Er konnte tatsächlich sofort das Licht löschen, die Alarmanlage scharf machen und abschließen. Leon saß hinter dem Steuer und fuhr an, kaum dass Kai sich auf den Beifahrersitz geworfen hatte. "Jetzt denken alle, dass wir was miteinander haben. Scheiße."

Leon lachte. "Für dich fühl ich mich einen Hauch zu alt. Ich nehme' das als Kompliment. Unter der Bestrahlung möchte ich keinen Sex haben. Keine Sorge, Kai."

Das hatte Kai komplett vergessen und entschuldigte sich leise, bevor er fragte "Hat Lukas wegen Felix mit dir geredet?"

"Ja. Er hat mir den Schlüssel zu seinem Haus vorbei gebracht. Ich fliege am Wochenende hin und hole Felix ab. Aber ganz ehrlich. Ich bin froh, dass Felix zu ihm hin ist. Lukas kennt sich mit seinen Zicken aus. Er weiß Felix zu nehmen, und er hat ihn im Endeffekt auch überzeugt, wieder zurückzukommen."

Nachdenklich blickte Kai aus dem Fenster. Das musste schwer gewesen sein für Lukas. Seinen Ex wieder mit dem Mann zusammenzubringen, der ihn damals ausgespannt hatte. Der Stadtwald glitt geräuschlos an ihnen vorüber und das weiße Haus tauchte aus dem Regenschleier auf. Leon bog in die Auffahrt zur Tiefgarage ein und ließ Kai oben rausspringen.

Der Abend war schon weiter fortgeschritten, aber Kai fühlte sich nicht mehr müde wie nach der Uni. Eher ein wenig aufgedreht. All die neuen Verwicklungen in seinem Leben, oder vielmehr im Leben seiner Freunde, machten ihn unruhig. Während er auf Leon wartete, um nicht auf der Treppe von ihm überholt zu werden, dachte er an Lolli und nahm sich vor, ihn zu fragen, was bei seinem Test rausgekommen war und was nun mit seinem Jiffi passieren würde.

Es fühlte sich bizarr an, über die Krankheit nachzudenken, die Kai zwar von seiner Mutter als den Grund für Kondome in den Schädel gebimst bekommen hatte, die sich aber dennoch so weit weg angefühlt hatte bislang. Als er im Krankenhaus daheim abgehangen hatte, weil ihm die Atmosphäre dort gefiel, weil er gern dort ausgeholfen hatte, waren Infektionen immer ein Thema gewesen. Zieh dir Handschuhe an, zieh dir Handschuhe an, da hängt das Sterilium. Aber irgendwie nicht so bedrohlich, wie in dem Moment, in dem die Krankheit nicht wie viele andere über das Blut übertragen wurde, sondern einfach durch ein Zusammensein.

Bislang war diese eine Sache für Kai aber auch irgendwie ein nicht greifbarer, irgendwie theoretischer Teil des Schwulseins gewesen. Vermutlich dadurch, dass er alles darüber von seiner Mutter erfahren hatte. Ein wenig wie bei Kariesprophylaxe hatte sie ihm genauestens vorgeschrieben, was er wann und wie zu tun hatte. Aus Sorge, aus mütterlicher Verantwortung natürlich. Aber das hatte bedingt, dass er sich noch mehr versteckt hatte, nahezu Angst vor Sex gehabt hatte als Schüler. Erst Lolli und Frank hatten ihm vorführen können, dass Sex auch in einer Beziehung zwischen zwei Männern ganz normal dazugehörte. Lollis fröhliche Indiskretion und auch seine nicht gerade leise Art im Bett hatten Kai nach und nach lockerer werden lassen.

In der WG hatten sie außerdem noch nie ernsthaft über HIV geredet. Es war eine Art märchenhafte Seuche, vor der sich alle fürchteten. Aber niemand in seinem Umfeld kannte jemanden persönlich, der sie hatte. Ob Lolli nun vielleicht auch...? Leon lenkte ihn zum Glück genug ab und Kai erholte sich von seiner Grübelstimmung, sodass er sich Bardo samt seinem leidenden Blick stellen konnte.

Bardo hing vor ihrem Fernseher rum und machte keinen sonderlich glücklichen Eindruck. Er hatte irgendwelche Hausaufgaben auf Jans Laptop gemacht und ausgedruckt. Sein Zeug, sein Handy und eine Tüte Chips verstreuten sich noch über ihren Couchtisch.

Kai mutierte sofort zur radikalen Mutti und meckerte rum, dass Bardo aufräumen und seinen Teller in die Spülmaschine stellen und überhaupt nicht so rumhängen und dämlichen Mist im Fernsehen glotzen sollte.

Bardo schlurfte in die Küche und schuf Ordnung. Das Gemecker von Kai ließ er dabei sehr gekonnt über sich hinwegrieseln, während in Kais Hirn jemand begann, das Erziehungsgen ein wenig fester auszubauen. Die Abteilung für schwule Abartigkeiten verhöhnte ihn auch eine Runde. Jan war schuld, soviel stand fest! Genervt ließ Kai sich auf ihr Sofa fallen.

Bardo rehabilitierte sich sogleich, indem er Kai mit einem Glas Wasser versorgte, sogar mit Eiswürfeln, wie er das gern hatte. Dann begann er Kai von irgendwelchen Geschichten aus der Schule zu erzählen und den Couchtisch von seinem Kram zu befreien. Seine Eltern, so meldete er, hatten ihn auf dem Handy erreicht. Sie hatten ihn nach Hause befohlen, was er abgelehnt hatte. Er wollte nicht zu ihnen zurück und sich einsperren lassen, bis er endlich achtzehn wurde. "Aber keine Angst. Ich hab ihnen gesagt, dass ihr total nett seid und nicht irgendwie komisch. Ich bin froh, dass ich hier Pause machen darf." Kai konnte das zwar verstehen, aber dachte bei sich, dass Bardo seine Lage gerade jetzt verschlimmerte.

Sicherlich versuchten seine Eltern über Freunde genau in diesem Moment herauszufinden, wo er stecken konnte und machten sich Sorgen um seine Zukunft. Und Ansgar, der Spaßverderber, war nicht dumm. Früher oder später würde der die Adresse von Kai und Jan herausbekommen haben und dann standen sie vor der Tür. Und dann gab es Ärger. Den Kai nie und nimmer bestellt hatte. Wieder verfluchte er, dass Jan das Bambi adoptieren musste.

Jan war, nachdem wieder so halbwegs Ordnung herrschte, noch immer nicht zurück von wo auch immer, sodass Kai Bardo lediglich ins Bett beorderte und versprach, dass er nach seinem Kurs am Freitagnachmittag auch da sein würde, wenn Lukas mit Bardos Eltern und Bruder sprechen wollte. Als Jan nach Hause kam, schaffte Kai es gerade so, ihn über die Pläne zu informieren, bevor er in ein Schlafkoma fiel.

Am anderen Morgen war das Bambi der erste, der auf war, und war so schnell ab in Richtung Schule gedackelt, dass Kai gar nicht mehr dazu kam, ihn anzumeckern, dass er auch im Zimmer aufräumen und sein nasses Handtuch nicht auf dem Bürostuhl liegen lassen sollte. Genervt föhnte Kai die Sitzfläche trocken, weil er den Tag über nicht im Wohnzimmer lernen wollte.

Schließlich setzte er sich mit anklagendem Blick zu Jan an den Esstisch. "Ich bin echt froh, wenn das Bambi wieder in den Heimatwald abschiebt. Das ist vielleicht nervig mit so einem Teenager!"

Jan lachte. "Einem, der genauso schlampig ist wie du, was?" Er wich Kais Ellenbogen aus und streckte sich gähnend. "Danke, dass du ihn in deinem Zimmer schlafen lässt. Im Grunde ist er ja eine Sorge von mir."

Kai nickte bestätigend und ging dazu über, am Esstisch sein Trinkgeld zu zählen. Jan futterte sein ekeliges Müsli mit Joghurt und tippte auf seinem Laptop rum. "Sag mal, Jan, was kostet ein Flug nach Spanien denn so? Ist das teuer?"

Jan sah erfreut auf. Etwas im Internet zu suchen war eine Passion von ihm. "Soll ich grad mal nachsehen?"

"Lukas hat uns doch alle eingeladen, im September nach der Prüfung vorbeizukommen. Seine Wohnung liegt gleich in der Nähe von Valencia. Sag mal, Jan..." Kai pirschte sich an ihn an und lehnte sich an seinen Rücken, um auf den Bildschirm zu blicken. "… du bist auch eingeladen. Kannst du im September? Hast du Lust, nach dem Physikum für eine Woche mitzukommen?" Er senkte den Blick. "Ohne dich würde ich ungern fahren, wenn ich ehrlich bin."

"Wie das klingt, Kai. Fahr auf jeden Fall. Okay?" Jan klickte sich durch eine Seite mit Flugzeiten und Preisen. "Die Preise gehen in Ordnung, schau."

Tatsächlich müsste das machbar sein, wenn das Trinkgeld im Sommer weiter so stimmte. "Lukas kommt ja heute Abend her in Sachen Bambi, dann frag ich mal nach, wann es ihm passt. Wann fängt das Semester eigentlich wieder an? Irgendwie kann ich nur bis zum Tag X denken. Alles nach dem Physikum liegt noch in grauem Nebel."

Jan rieb sich die Augen. "Ich muss mal im Verein fragen, ob ich im September weg kann. Ab nächster Saison spiele ich nicht mehr in der A-Mannschaft und muss mich nicht mehr so reinhängen." Es klang ein wenig niedergeschlagen, aber Kai wusste, dass Jan diese Entscheidung nach reiflicher Überlegung und ermüdenden Diskussionen mit seinen Eltern und jedem, der es nicht hören wollte, gefällt hatte. Einmal entschieden würde Jan sicherlich auch nicht wieder davon abrücken.

Jan surfte das Wetter in Spanien im September und zeigte Kai Bilder von einem schönen Strand und Meer und Sonne. "Als Belohnung nach dem Physikum wäre das wirklich angesagt, oder? Ich schau gleich heute mal nach dem Spielplan für die nächste Saison. Vielleicht hab ich Glück und die haben die Spiele schon ausgewürfelt im Verein."

Ihre Diskussion um die Reise wurde von der Türklingel unterbrochen. Jan öffnete und wartete oben in der Tür, sodass Kai nicht vorgewarnt war, als Lolli mit Benni und einigen Kisten mit Stoff und anderen Sachen in die Wohnung explodierte. Benni in grauem Pulli und einer schwarzen Hose, Lolli in seinem üblichen Farbmeer. "Oh, ihr Lieben! Wie geht es euch, wie stehn die Dinge? Das Leben ist so aufregend momentan! Denkt euch nur..." Er küsste Jan auf den Kopf, der daraufhin hastig verkündete, dass er zum Sport fahren würde. "… Geoffrey ist vielleicht doch nicht positiv. Erzähl ich alles gleich, erst mal müssen wir abladen." Er küsste Kai auf die Wange und lächelte Jan an. "Bis heute Abend, mein Schatz!"

"Was? Willst du so lang bleiben?" Jan ramschte ein Handtuch und seine Fußballschuhe für schlechtes Wetter in die große Sporttasche.

Kai blickte ihn scharf an. "Wehe du lässt mich mit der Bardokrise hängen, Jan!"

"Versprochen, ich bin da." Ein hastiges Winken in Richtung Benni, der unter Ächzen eine Kiste abstellte, dann klappte die Tür und Jan war weg.

Lolli erzählte, während er sich wie ein Fungus in der gesamten Wohnung auszubreiten begann, dass sein Jiffi vielleicht nur das Opfer seiner eigenen Panik gewesen war. Lolli und er hatten seinen HIV-Test mit all den verworrenen Zahlen und Codes einem befreundeten Krankenwagenfahrer gezeigt. Der hatte das Blatt seinem Bekannten gezeigt, der wiederum Arzt auf der Infektionsstation der Uniklinik war, der das Ganze mit einem befreundeten Laborarzt diskutieren wollte. Kai hatte den Faden verloren, aber raffte nach und nach, dass Jiffi zwar grenzwertige Ergebnisse im Soforttest gezeigt hatte, aber der Nachtest erst zeigen würde, ob er wirklich infiziert war.

Nun kaute das Jiffi daheim die Nägel runter und wartete auf das endgültige Urteil. Die Panik und Trauer war dennoch angebracht, denn sein Exfreund lag derzeit noch immer mit einer schweren Hirnhautentzündung in der Klinik. Lolli war erstaunlich kaltherzig, was die Angelegenheit anging, und Kai war regelrecht froh, dass Jan nicht auch noch dabei war, als Lolli locker meinte "Ich werde Geoffrey am Wochenende besuchen fahren, oder fliegen vielmehr. Er ist vollkommen runter mit den Nerven und ich bin mit der Diplomarbeit super vorangekommen, sodass ich mir mal eine Auszeit nehmen kann. Dann kann ich ihn trösten und gleichzeitig die eine Firma in Augenschein nehmen, bei der ich vielleicht nach dem Diplom anfangen könnte."

"Aber was ist mit dir selber?" Kai beobachtete, wie Lolli seine Nähmaschine aus dem Koffer holte.

"Negativ." Lolli hob die Hände. "War doch auch klar. Ich weiß, Benni, das hattest du mir auch gleich gesagt, du süßer realistischer Schatz, du! Wenn wer auf Markenkondome und vernünftiges Gleitgel achtet, dann bin das wohl ich! Meine Güte, ich bestehe ja auch immer auf meine eigenen Sachen! Gerade bei Geoffrey hatte ich das doch gemacht, weil der mir nur so zugeflogen war. Und... ich bin null negativ. Meine Blutgruppe mein ich. Ist wohl eine super Gruppe, um zu spenden. Die haben mir Geld geboten, damit ich öfter hingehe." Lolli steckte die Nähmaschine mittels Verlängerungskabel in der Küche ein.

"So. Aber jetzt bin ich gekommen wie die gute Fee, um euch von diesem Wohnalptraum zu erlösen, ihr süßen." Lolli reckte sich und blickte mit zusammengezogenen, sehr akkurat gezupften Augenbrauen derart verächtlich auf das Sofa, dass Kai es fast in Schutz genommen hätte.

Kapitel 91

Tatsächlich packte Lolli nach seiner Nähmaschine, einen kleinen aber sehr vollgestopften Werkzeugkasten und seine geliebte Heißklebepistole aus. Mit großzügigen Bewegungen wurden zwei verschiedene Stoffe auf dem Gartentisch ausgebreitet. Er lobte den Tisch als Unterlage für sein Vorhaben und dirigierte schließlich Benni, ihm mal einen Kaffee zu brauen.

Kai übernahm das Brauen des Kaffees lieber selber und beobachtete schon ein wenig nervös, wie Lolli die Ärmel seines schreibunten, engen Hemdes hochschob. Hinten war ein dunkelblauer Ganesha appliziert. Dazu trug er eine grell-violette Hose, auf deren Beinen glitzernde Lotusblüten hinaufwanderten. Der Anblick machte Kai nicht unbedingt Hoffnung für ihr Sofa. Und in diesem Zusammenhang bekam er nun doch ein wenig Angst, was mit Jans Laune passieren würde, wenn das Sofa scheiße wurde.

Benni kam zu Kai in die Küche und grinste ihn beruhigend an. Er war natürlich nicht nur als Träger mitgekommen, er wollte auch seine Sachen endlich mal holen und Kai die Fotos von der Feier zeigen. Gemeinsam überließen Kai und er Lolli seinem Schicksal mit dem Sofa und blätterten in dem Fotobuch. Er musste einige Male laut lachen. Es waren wirklich herrliche Momente drin. Kai, der voller Entsetzen stillhielt, als Lena sich auf ihn stürzte. Tini und Lena, die sich küssten, mit einer Gruppe schwuler Männer drum herum, die abgeturnt wegsahen. Carla und Lolita mitten in ihrer Show samt ihrer Fangemeinde.

Es folgten wilde Tanzbilder mit fliegenden Haaren, Lolli mit nacktem Hintern vor Kai, der sich in Sicherheit brachte und die DJs in Aktion. Aber es gab auch sehr viele persönliche Nahaufnahmen von den einzelnen Gästen der Party. Von Lena, die eine Geburtstagskarte las und ihre Stirn in süßer Verwirrung kraus zog, von Lukas, der mit einem Bier in der Hand am Fenster lehnte und rauchte und im Gegenlicht geil aussah, Jan, der hitzig mit der Melanie vom Sport diskutierte, vom selbsternannten Barkeeper, der zufrieden auf einen Cocktail blickte. Die Momente waren perfekt eingefangen. "Wow, Benni. Du kannst echt gut fotografieren. Die Bilder sind alle so..."

"… am Computer nachbearbeitet?" Benni lachte. "Bei den meisten musste ich einiges mit dem Programm verändern. Das Licht, glänzende Stellen im Gesicht oder Schatten, die Farben oder die Schärfe. Ich hab zwei Tage und Nächte daran gesessen, weil ich Lena versprochen hatte, mich zu beeilen damit."

"Nein. Ich meine, dass du den Moment erwischt hast. Irgendwie schauen die Bilder alle so aus, als wärst du immer zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen."

Benni lächelte. "Danke. Ich hab natürlich auch viel Schrott weggelöscht." Seine kurzen Finger glitten über ein Bild von Kai und Tini. Es war geknipst worden, als Tini Kai umgeworfen und abgeknutscht hatte. Sie lachte, er starrte sie pissig an. Sie lagen quer auf dem Sofa, zu Kais Ärger war Jan nicht mit drauf, obwohl er Kai doch abgefangen hatte.

Auf dem nächsten Bild waren sie dafür zusammen zu sehen. Kai saß auf Jans Schoß, auch wenn man das nur am Winkel ihrer Gesichter zueinander erahnen konnte, sie sahen sich in die Augen. Es kribbelte Kai in den Fingern umzublättern, wegzusehen, so intim war der Moment. Obwohl er selber drauf war, wollte er nicht stören. "Das Bild muss ich auf jeden Fall haben", flüsterte er leise.

Bennis Finger fuhren um Kais Profil auf der Aufnahme herum. "Du bist ziemlich fotogen, Kai. Hast du zufällig Lust, dich mal nur so knipsen zu lassen? Von mir? Ich will demnächst eine Serie mit Lukas und Lena machen. Vielleicht..." Kai schüttelte schon wild mit dem Kopf und Benni versuchte einen enttäuschten Hundeblick.

"Mausch! Dasch isch scho eine schute Idee!" Lolli sammelte die Stecknadeln aus seinem Mund. "Das ist die Chance, geile Bilder von dir zu bekommen, solang du noch so niedlich und jung bist!"

Ein wenig beleidigt sah Kai zu ihm rüber, aber Lolli hatte schon wieder andere Sorgen. Er stand auf und sah kriegerisch zu seinem neuen Erzfeind. "So, du weinrotes, hässliches Luder. Jetzt geht es dir an den Samt! Ich brauch mal ein paar Hände und ein wenig rohe Gewalt."

Benni erhob sich gleich. "Schau dir die Bilder weiter an. Ich mache das."

Aber es folgten Aufnahmen vom Morgen danach mit Frühstück und verkaterten Leuten. Kai blätterte im Buch zurück und besah sich noch einmal alles von vorn. Den Teil der Party, der ihn interessierte. Viele der Leute kannte er nicht, aber die, die er kannte, waren von Benni gut getroffen. Sogar Pascal, der komplett schmollend und niedlich besoffen neben Tante Carla saß und das Bambi mit seinen wirklich schönen Rehaugen.

Kai fand die Liste für die Bestellungen und machte eine Spalte für sich auf. Er kam auf nicht so viele Bilder. "Benni, zeigst du Tini die Bilder auch noch?"

"Sie hat die Bilder bei Lena schon gesehen und sich sogar ein paar Abzüge auf Papier gemacht. Lena hab ich die auch gebrannt." Benni kniete vor dem Sofa und half Lolli beim Lösen der Polster. "Aber wenn du ihr ein bestimmtes mitbringen willst, dann bestell noch einmal. Ich weiß nicht mehr, welche sie wollte."

Lolli lachte. "Sie wollte bestimmt alle Bilder, auf denen Kai auch nur ansatzweise drauf ist. Die ist vielleicht verrückt nach dir!"

Kai bestellte ein Bild für Bardo mit, auf dem er mit Lena und Lukas zusammen drauf war und nicht sonderlich betrunken aussah. "Sie hat einen Freund und damit wird das endlich aufhören."

"Hm. Sei dir man nicht so sicher. Du bist immerhin ihr Kuschelfreund."

Kai blätterte um und betrachtete ein Foto, auf dem Tini wirklich an ihn angelehnt auf dem Sofa saß. "Wann zur Hölle hast du nur all die Bilder gemacht? Und wie?"

Benni lachte. "Ich kann mit einem Zoom umgehen, Kai. Renate kuschelt auch gern mit mir, seit sie weiß, dass ich schwul bin. Mit Männern ansonsten steht sie ja ein wenig auf Kriegsfuß, die Gute. Sie meinte mal, dass es so angenehm ist, dass ich nicht ihren Busen anfummeln will und wirklich nur kuscheln."

Kai hob die Brauen und schüttelte sich ein wenig. Kuscheln? Mit Renate? Wie konnte Benni das gut finden?

Lolli schälte den Bezug von den Polstern und meinte wenig aufmunternd. "Früher oder später will sie mal richtigen Sex und nicht nur rumschmusen mit dir und dann kriegt ihr diese doofe Diskussion, ob man das nicht mal einfach machen sollte, nur so."

"Das hatten Renate und ich nie und werden wir sicherlich auch nicht, Lolli. Nicht jede Beziehung wird durch Sex beeinflusst."

Kai seufzte, aber mischte sich nicht ein, sondern sagte betont optimistisch "Dafür hat Tini jetzt Holger. Da kann sie dann auch gleich mit dem wasauchimmer, und dann bin ich sie los."

Benni wiegte mit dem Kopf. "Ich glaube nicht, dass das so leicht werden wird, mein Lieber."

"Wieso?" Kai blätterte weiter und besah sich noch einmal die Bilder, die zu Bardos Problemen geführt hatten. Lukas und das Bambi Arm in Arm. Und dann vermutlich das Bild, das zu Bambis Outing geführt hatte. Lukas, der Bardo auf den Mund küsste. Direkt daneben, wenn auch nur unscharf, schmusig angetrunken Jan und Kai.

Benni kam zu ihm zurück und blickte auf die Fotos. "Ich bin nicht nur der schwule Kuschelteddy, ich bin auch der Rollenspielfreund. Ich bin einmal in der Woche mit ihr und den anderen zum Spielen verabredet, derzeit sind wir sehr regelmäßig dabei. Das machen wir jede zweite Woche bei ihr in der Wohnung. Tini, mein Lieber, gibt dich sicherlich nicht so schnell auf, nicht wenn all das stimmt, was ich da so aufgeschnappt habe. Zudem ist sie obermegaenergiegeladen."

Kai seufzte und rieb sich die Augen. "Wem sagst du das."

Benni blätterte zurück und zeigte Kai ein glanzvolles Foto; Lolli, der mit Lena tanzte. Beide schmachteten total kitschig in die Kamera. Bardo und Lukas kamen noch einmal dran. Die beiden sahen niedlich aus zusammen. Bardo war fast hochgewachsen genug, um Lukas in die Augen sehen zu können, aber wirkte mit seinen schmalen Schultern dennoch klein gegen Lukas' kräftigen Oberkörper. Kai grinste. "Das kleine Reh und der böse Wolf." Er hob den Kopf. "Ach ja, das wisst ihr ja noch gar nicht." In knappen Worten erklärte Kai, dass sie gerade die Adoptivförster vom Bambi geworden waren.

Lolli meinte sehr typisch für ihn und typisch taktlos, dass es nun mal irgendwann so kommen musste. Er nahm gerade am alten Polsterstoff Maß für den neuen und krabbelte dafür auf dem Boden lang. "Jan und du mussten einfach jemanden oder etwas adoptieren. Vielleicht solltet ihr Jans Kinderwunsch mit einem Hund entgegenwirken oder so?"

"So ein Schwachsinn! Wir sind beide froh, wenn Bardo wieder abschiebt. Und ganz ehrlich. Ich bin froh, wenn ich mein Zimmer wieder für mich habe und wenn ich weiß, dass das Bambi fein wieder in den Heimatwald gehoppelt ist!" Kai blickte auf die Uhr. "Ich hab heute Nachmittag noch einen Kurs, wenn der nicht wieder ausfällt. Ich lerne jetzt eine Runde, dann können wir ja noch zusammen Mittag essen."

Benni nahm sein Fotobuch und verabschiedete sich von Lolli mit einem Kuss auf die Wange. "Ich hole dich dann wieder ab. Ruf mich einfach auf dem Handy an, ja? Kai, kannst du mir noch meine Kisten mitgeben? Heute sind wir mit Renates Auto gekommen, da kann ich den Kram endlich mal aus eurem Keller holen."

Kai befürwortete das eindeutig und ging mit Benni in den Keller runter. Auf der letzten Treppe seufzte Benni leise. "Ich bin so froh, dass Lolli negativ ist und vielleicht sogar Geoffrey. Ich hab den Kerl zwar angehasst wie die Pest, aber irgendwie waren die beiden auch wieder niedlich zusammen."

"Sag mal," Kai kämpfte kurz mit dem bockigen Schloss vor ihrem Keller. "Warst du nicht vor kurzem noch megamäßig in Lolli verknallt?"

"Hm. Bin ich noch. Ich warte einfach auf ihn. Ich gehe gern mit anderen Männern weg, er geht gern mit anderen Männern weg. Wir sind aber oft, sehr oft, allein in der Wohnung zusammen. Wir gehen zwar nicht miteinander ins Bett, aber die Beziehung, die wir gerade haben, ist schön so. Sie basiert auf Vertrauen, Zusammensein. Sex holen wir uns beide wo anders, und vielleicht ist es gerade deswegen so schön."

"Was? Wenn ich mir vorstelle, ich sollte mit Jan nur wohnen und..."

"Ihr zwei seid eben komplett verschieden von uns. Jan ist eh so ein Thema für sich und du... Tja. Auch ein Thema für sich. Du schaust einen Porno fünf Minuten, dann ist dir das zu öde. Du gehst ins Subzero und es ist dir zu dunkel dort. Du gehst ins Stroboskop und flirtest genau null Mal. Ich meine... ehrlich. Du schaust gut aus, bist nicht unbedingt der Fall von jedermann mit roten Locken, so klein und schmal, aber viele schauen dir hinterher. Allein bei Lena auf der Feier. Meine Güte! Du nimmst das gar nicht wahr!"

"Ich bin eben nicht interessiert. Ich habe einen Freund."

Benni nickte. "Eben. Du bist wie verheiratet mit der Hete, das sieht jeder. Glaube mir. Wenn dein Fußballer keinen Sex wollte, sondern nur kuscheln und ein wenig knutschen und eben... zusammen sein. Du würdest es machen."

Kai stockte in der Bewegung, mit der er die erste Kiste noch mal kurz öffnen wollte, um zu vermeiden, dass Benni Hannahs Bettwäscheset mitbekam. Er drehte sich um und sah Benni an. Widerstrebend nickte er endlich. Das war wahr. Bei Jan würde er so ziemlich alles mitmachen.

Benni lächelte. "Und ich mache es bei Lolli eben auch mit. Das ist eben der Unterschied." Er nahm eine Kiste und öffnete sie. Hannahs Porzellan. "Zwischen Sex und Liebe."

Kai dachte an den Sex, den Jan und er hatten, versuchte sich vorzustellen, diesen Sex nicht mehr mit Jan zu haben und scheiterte an leiser Panik, dass er dann an Überdruck sterben würde. Mit einem Mal konnte er verstehen, dass Benni dauernd mit anderen Männern rummachte. Musste echt ätzend sein, wenn man das Objekt der Begierde vor Augen und vorm Schwanz hatte und nicht ran durfte. Er schob Benni mit dem Fuß eine Kiste zu. "Nein. Ich will beides! Und beides von ein und derselben Person!"

Benni lachte. "Ansprüche hat er auch noch!" Er fand noch eine Kiste mit seinen Comics und gemeinsam schleppten sie die zwei Beuteteile zu Renates Auto. "Bitte denk noch mal über die Sache mit dem Fotografieren nach. Ich stelle gerade eine Bewerbungsmappe für einige Werbefirmen zusammen und bräuchte dringend ein paar hübsche und interessante Leute für die Ideen, die ich mir überlegt hab."

"Mal sehen. Ist es eilig?"

"Nein. Ich fang mit zwei Models aus der Uni an. Ich melde mich in ein paar Wochen, okay?"

"Vielleicht dann. In den Semesterferien hab ich den Kopf etwas mehr frei als jetzt."

Benni reichten die zwei Kisten erst einmal aus. Seine dritte wollte er dann später holen, sodass Kai rechtzeitig wieder in die Wohnung kam, um Lolli dabei zu helfen, das nun kahle Gerippe vom Sofa auf die Dachterrasse raus zu tragen. "Ich lauge das vor dem Essen ab, dann muss es ein wenig stehen, dann kann ich es beizen und lackieren. Ein Glück scheint heute endlich mal die Sonne! Aber ich muss drinnen lackieren, sonst habt ihr so viel Mist und Fliegen und so im Lack."

Kai goss gerade die Nudeln ab, als es klingelte. Lolli war noch immer auf der Dachterrasse. Er hatte sein buntes Haarband drin und Handschuhe an, weil er noch immer mit einem Schwamm und irgendwelcher Chemie an dem Holzgestell wischte. Hastig öffnete Kai die Tür mit dem Summer und lief zur überkochenden Soße zurück.

Es war Tini, die sich wenig später vorsichtig in die Wohnung vortastete. "Oh, was..."

Lolli lachte. "Ich mach das Sofa. Ist was? Du schaust so blass aus um die Nase."

Tini schüttelte den Kopf. "Schlafmangel." Unbestimmt driftete sie zu Kai in die Küche und blickte ihm über die Schulter, während er fluchend die Soße wegwischte. "Scheiße! Jan kriegt 'ne Krise, wenn er den Herd so eingesaut vorfindet! Oh Mann, der ist bei so was immer so pingelig. Fällt der Kurs schon wieder aus?"

"Nee. Ich wollte dich abholen. Die Sonne scheint, deswegen eigentlich mit dem Fahrrad."

"Alle wollen neuerdings, dass ich Sport mache. Bin ich dicker geworden?"

Tini lachte. "Die Strecke ist so schön, am Wald lang und durch die Gartensiedlung. Deine Eltern haben doch einen Garten, müsste dir doch gefallen, oder?"

"Ich mag Gartenarbeit nicht so gern. Als Kind musste ich immer stundenlang in Beeten wühlen, oder jäten, oder..." Kai schob Tini drei Teller in den Arm. "Du isst mit?"

"Hm."

"… oder abends noch gießen, obwohl ich einen Film sehen wollte."

Sie deckten den Tisch auf der Seite, die Lolli ihnen noch freigelassen hatte und in einer Wolke dubiosen chemischen Geruchs futterte Lolli mit Tini und Kai ein paar Nudeln, redete pausenlos über Geoffrey und die verschiedenen HIV-Stämme und fragte Tini erst, nachdem Kai die Teller abgeräumt hatte. "Wolltest du mit Kai allein reden? Dann geh ich superschnell raus auf den Balkon." Natürlich wollte Lolli eine rauchen und war nicht etwa mit einem Mal sozial kompetent oder gar taktvoll.

Tini hatte wirklich eher gestochert als gegessen. Kai grübelte kurz, dann kippte er die Nudeln von ihr zu den Resten und schüttete Soße und Parmesan darüber, bevor er das ganze für Jan oder das Bambi, wer auch immer zuerst nach Haus kam, in die Mikrowelle stellte. Schweigend wusch er die Töpfe ab, Tini lehnte am Kühlschrank und nippte an einem Glas Wasser rum.

"Ich schau dann wohl mal, ob mein Fahrrad einsatzbereit ist." Kai zog sich die Jacke über, schnappte seinen Rucksack und sagte Lolli, dass er nun den Nachmittag allein klarkommen musste. Etwas genervt stiefelte er zum Fahrradschuppen in den Garten raus. Jans Rad, ein teures, sportliches Modell, fehlte. Also hatte er ebenso wie Tini die Sommersaison eröffnet. 'Und das im März.' Sein Amt für wetterbedingtes Schwächeln prognostizierte Regen für den frühen Abend und befahl Kai, sich zu schonen und mit dem Bus zu fahren. Er hatte nur zu viel Angst, das Tini zu sagen, sodass er unsäglich froh war, als er sah, dass sein Rad nicht nur einen, sondern zwei platte Reifen hatte.

Als Kai sich umdrehte, um zurückzugehen, stand Tini direkt hinter ihm und besah sich den Schaden. "Oh. Aha, dann werden wir wohl Bus fahren. Wann geht denn der nächste?"

"Viertel vor von der Kirche. Wenn wir uns hetzen, schaffen wir vielleicht sogar den schnellen um zwanzig vor."

Grummelig schob Kai sich den Rucksackträger auf die Schulter und ging lustlos mit Tini die Straße rauf. An der Kirche sahen sie dem Bus zwanzig vor hinterher und Kai lehnte sich gegen eine Laterne. "Was willst du bereden?"

"Wieso?"

"Lolli hatte doch recht, oder?"

Tini hob die Schultern, dann schüttelte sie den Kopf. Endlich holte sie Luft "Du hast doch..." Ihr Handy ging, es war offensichtlich Holger. Ihre Stimme rutschte eine Oktave höher und sie sprach mit einem Mal Babysprache. Verwirrt starrte Kai sie an und schüttelte sich innerlich.

"Holger holt uns ab, dann sparen wir uns den Bus."

"Ich fahr auch gern Bus, wenn ihr zwei allein sein wollt." Kai hätte auch sagen können 'Bevor ich euch beim Knutschen sehen muss, fahr ich lieber Bus.' Aber Tini schüttelte den Kopf. "Unsinn, du störst uns doch nicht."

"Ihr stört mich!" Verärgert starrte Kai Holgers großem Auto entgegen. Holger verdiente durch seine Stelle bei der Bundeswehr schon während des Studiums Geld. Das sah man fast nie. Aber sein Auto, das war nicht gerade billig, oder typisch Studentenkarre. Ein dunkelgrüner Geländewagen. Holger sagte dazu immer nur, dass er so groß sei und auch ein großes Auto bräuchte. Kai dachte für sich, dass er ohnehin einen Geländewagen brauchen musste. Die Karre war nämlich immer ziemlich dreckig.

Holger lachte ihnen entgegen. "Gut, dass ich dich noch erwischt habe, Tini!" Er küsste sie dankenswerterweise nur sehr kurz. Dann nickte er Kai zu, der ins Heck krabbelte, aber sprach sie an. "Ich wollte dich noch fragen, was du heute und morgen Abend vorhast. Ich hätte eine Alternative vorzuschlagen."

Kai schnallte sich an und blickte aus dem Fenster, während Tini und Holger sich über das Wochenende zu einigen versuchten. Holger wollte sie natürlich vermehrt für sich haben. Tini war dies zwar recht, aber sie schien einen großen Bekanntenkreis mit zum Teil älteren Rechten zu haben. Es klang stressig mit den Terminen, die sie gemeinsam hineinstopfen wollten. Es schien, als hätten sie Kai vergessen, der sich auch nicht an der Unterhaltung beteiligen wollte.

Er selber hatte auch für sich allein schon genug vor. Er musste an diesem Abend das Bambi loswerden, am Samstagmorgen sicherlich Wäsche machen, davon abgesehen wollte er shoppen gehen und den Samstagabend musste er im LPP arbeiten. Am Sonntag wollte er für Jan da sein, wenn der vom Fußball kam. Damit war das Wochenende für ihn voll genug. Doch als sie an der Uni auf den Behelfsparkplatz rumpelten, drehte Tini sich zu Holger und verkündete "Ich fahr nachher mit Kai im Bus nach Hause. Mein Fahrrad will ich nicht die Nacht dort lassen. Soll wieder Regen geben." Womit Kais Wochenende neben 'Bambi loswerden' auch noch ein 'Tini loswerden' zu enthalten begann.

Schweigend fügte Kai sich in sein Schicksal und trottete hinter ihr und Bianca, die sie in der Cafeteria trafen, zum Kurs. Bianca war eine der Verpflichtungen, die Tini für das Wochenende erwähnt hatte. Aber als Tini ihr das sagte, schaute sie entsetzt und befahl Tini förmlich, bloß mit Holger im Bett zu bleiben. Ganz offensichtlich ging Bianca davon aus, dass Tini nach Sex nur so lechzen musste.

Als der Mikrobiologiekurs von der müden Assistentin beendet wurde, war Kai zwar schnell genug, um allein zur Bushaltestelle zu laufen, aber Tini holte ihn dort wieder ein. Wieder schwieg sie ihn an und knibbelte an ihrem Pulli rum. Von ihr, von seiner Müdigkeit und der Aussicht auf das Bambi in seinem Zimmer verärgert, fuhr er sie endlich an "Wenn du nicht gleich aufhörst mit dem Scheiß, fahr ich mit dem nächsten Bus!"

"Was?" Tini hob den Kopf. Dann senkte sie ihn und seufzte. "Tut mir leid. Ich... es ist Holger. Ich vergleiche euch dauernd."

"Bitte? Bist du bescheuert?" Der Bus kam und war voll. Genervt zögerte Kai, wollte aber irgendwie nicht noch länger auf die andere Linie warten. Sie quetschten sich mit in den Bus rein und Tini sah ihn beschwörend an. "Ich komm bei dir kurz mit hoch und erklär dir das."

Kai nickte nur und wandte sich zum Fenster, um in die graue Stadt zu starren. Der Bus war die doofe Linie, die erst am Zoo vorbei fuhr, bevor er in Richtung Stadtwald abbog. Die Strecke war zwar kürzer, aber am Zoo war immer wahnsinnig viel los. Zudem hielt der Bus kurz vor Kais Haltestelle immer an einer großen, alteingesessenen Tanzschule, sodass Kai und Tini eingepfercht zwischen lauter Kindern auf dem Rückweg vom Zoo und später Tanzstundenbesuchern fahren mussten.

Davon noch mehr genervt verschränkte Kai die Arme, als er sich rausgedrängelt hatte. "Ich hasse die Hundertzwölf! So eine stressige Linie! Erst muss man mit den bescheuerten Blagen fahren, die einem immer auf die Füße treten, einen mit Schokolade vollschmieren und rumkreischen und dann auch noch mit dem Tanzstundengeschwader."

Tini verschränkte ebenfalls die Arme und folgte ihm schweigend am Stadtwald hoch bis zum Haus. Dort war einiges los. Vor ihrem Haus standen etliche Autos, die Kai sonst noch nicht gesehen hatte. Ein dunkelblauer Kombi parkte auf dem Platz vom Anwalt, ein Kleinwagen stand quer auf dem Bordstein und gegenüber parkte ein rotes Cabrio, dahinter ein Streifenwagen der Polizei mit zwei Beamten drin, die telefonierten.

Verwirrt und mit ungutem Gefühl in der Magengegend kletterte Kai die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Tini folgte ihm schweigend, in ihre eigenen Gedanken vertieft, wie es schien. Das ungute Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Dort oben tobte das wahre Chaos. In Form von dem Bambi und ganz offensichtlich den Bambi-Eltern. Und natürlich samt Ansgar, dem verdammten Spaßverderber.

Kapitel 92

Kai schloss auf und stolperte gleich über das Bambi, in Jacke und mit einem Rucksack im Arm. Er hing in den Klauen eines ebenfalls hochgewachsenen Typen, der ihm ähnlich sah, nur mit mieser Laune und einem echt schlechten Geschmack in Sachen Klamotten. Eindeutig. Ansgar, der Spaßverderber.

"Kai!" Das Bambi sah gehetzt aus und noch mehr wie ein scheues Reh.

Ansgar trat wichtig auf Kai zu. "Bist du der Wohnungsbesitzer?"

"Nein. Ich..."

Er kam nicht weiter. Ein hochgewachsener, etwas hagerer Mann in Cordhosen und einem dunklen Oberhemd und eine dralle blonde Frau stürzten in den Flur. Er hatte seinen Söhnen offenbar die geilen kastanienfarbenen, dichten Haare und die Sommersprossen vererbt. Sie war merkwürdig asymmetrisch angezogen und trug auffälligen esoterischen Schmuck, sprach schnell und sehr laut. "Bardo! Jetzt reicht es wirklich! Wir werden das Zuhause besprechen, da kannst du sicher sein, aber nicht hier! Du kommst jetzt sofort..." Die Frau unterbrach sich und starrte Kai und Tini an.

Während sie von einem zum anderen blickte, drehte sie die Ringe an ihren Fingern nervös hin und her. "Aha. Ist 'das' der Wohnungsbesitzer?!" Ihr rundes Gesicht nahm einen aggressiven Ausdruck an. "Sie haben unseren Sohn betrunken gemacht, verführt und dazu aufgehetzt, von Zuhause wegzulaufen! Drogen waren auch mit im Spiel! Er ist noch ein halbes Kind! Ich kann nicht glauben, dass so etwas uns passiert! Uns! Perverse entführen unseren Sohn und verdrehen ihn auch noch vollständig!" Sie zeigte mit dem Finger auf Kai und ihre Stimme klang mit einem Mal sehr schrill in seinen Ohren.

Er kniff verwirrt die Augen zusammen, sein Hirn brachte ein 'Miep' zustande, dann schaltete es sich aus.

Die Frau nahm Fahrt auf. "Man liest so etwas ja immer mal wieder in Zeitungen. Man hört auch so einiges aus Familien mit sozialen Problemen, aber das kann doch nicht wirklich wahr sein bei uns! Am eigenen Leibe, bei den eigenen Kindern solche Dinge zu erleiden, ist grausam, ein Alptraum! Sind Sie sich im Klaren, welche Ängste wir seit gestern ausgestanden haben?! Bardo mag sich der Gefahren nicht vollkommen bewusst sein. Aber jemand in Ihrem Alter sollte ja wohl verantwortungsbewusster sein! Wenn Sie Ihre Moral nicht im Griff haben, dann ist es ja wohl Ihre Sache! Aber unschuldige kleine Jungs verführen und wohlmöglich noch zum Drogenmissbrauch anzuhalten! Schämen Sie sich denn gar nicht?!"

Tini mischte sich nicht direkt ein, aber begrüßte Bardo mit einem kleinen Lächeln und tätschelte seine Schulter einmal. Sie nahm Kai die Tasche und seine Jacke ab und stopfte beides in den Dielenschrank. Noch während die Frau lamentierte, zog Tini ihre Stiefel aus und den knappen Schottenrock zurecht, den sie Holger gegönnt hatte. Ihre Stimme klang nüchtern, ein wenig genervt wegen der Unterbrechung. Fast als sei ein doofer Nachbar vorbeigekommen, um Milch zu borgen und nicht etwa Bardos hysterische Mutter. "Ich warte besser in deinem Zimmer." Mit einer nebensächlichen Bewegung umfing sie Kais Nacken und küsste ihn auf den Mundwinkel, bevor sie zu den Leuten ging. "Dann störe ich hier nicht."

Die Frau murmelte tonlos "Oh." und sank in sich zusammen.

Bardo drückte sich an die Tür und keifte, um auch mal wieder etwas zu sagen "Gott, bist du peinlich! Kai hat dir doch gar nichts getan! Und mir schon erst recht nicht! Ich geh nicht mit euch mit! Nie im Leben!"

Bardos Vater hatte stumm von einem zum anderen gesehen, Autoschlüssel in der einen und ein Handy in der anderen Hand, während die Frau erst Tini hinterher und dann wieder zu Kai starrte. Sie trat zu Kai und hob das Kinn mit einer sturen Geste. "Dann sind Sie also nicht der Wohnungsbesitzer?"

"Nein!" Kai zog die Brauen zusammen und wollte gerade sein Handy anschalten, um Jan an der Sache teilhaben zu lassen, als er von der Türklingel unterbrochen wurde.

Es war die Polizei. Die Uniformierten aus dem Streifenwagen. Die beiden Polizisten, ein etwas kräftigerer Mann mit Vollbart und eine energische junge Frau mit kurzen blonden Haaren, standen bereits vor der Wohnungstür. "N'Abend. Wir sind angerufen worden." Die Frau trat dichter und blickte Kai an, der sein Handy noch in der Hand hatte. "Waren Sie das?"

Bardos Vater hob mit einer eher matten Geste seine Hand, versehentlich die mit dem Autoschlüssel. Verwirrt starrte er darauf und sagte etwas verlangsamt "Das war ich."

Die Polizistin trat ein, begutachtete Bardo. "Ist das der junge Mann, den Sie vermisst gemeldet haben?"

Ansgar nickte und die Mutter stellte sich, ihren Mann, Ansgar und Bardo wortreich vor. Die Polizistin nickte den anderen zu und betrachtete das Bambi dann eingehender. "Geht es dir gut?"

Pampig fuhr Bardo sie an. "Nein. Seh ich so aus?!"

Genervt hätte Kai ihm am liebsten ein paar verpasst. Aber die Uniformen der Polizisten mit den Dienstwaffen am Gürtel, mit den schweren Schuhen und sogar Handschellen machten gemeinsam mit der selbstbewussten Haltung der Beamten die Miep-Abteilung in seinem Gehirn noch stärker. Er bekam die Worte nicht einmal zu Ende gedacht, um Bardo mit den Eltern auf den Weg zu schicken.

Nervös schwieg er, während die Polizistin lächelte, als ob sie Bardo amüsant fände. Sie lehnte sich neben ihm gegen den Dielenschrank. Offensichtlich bewusst so, dass sie den Eltern den Rücken kehrte. "Bist du weggelaufen? Gab es einen Anlass?"

Ihr Kollege sah sich ein wenig gelangweilt die Wohnungstür an und schrieb Kais und Jans Namen von dem Klingelschild in einen kleinen Notizblock, dann trat er auch ein und lehnte die Wohnungstür an.

"Ich..."

Ansgar fiel Bardo ins Wort. "Seit er mit diesen Leuten Kontakt hatte, meint er, schwul sein zu müssen! Er hat unsere Eltern belogen, ist das Wochenende auf diese verdammte Feier in meiner Wohnung gegangen, die sicherlich nichts für ihn war! Ich bin extra weg von dort, weil die Feiern von dieser Lena, meiner Mitbewohnerin, immer so abartig verlaufen. Männer in Frauensachen und halbnackte, wildgewordene Tussis und Drogen und Alkohol waren auch im Spiel!" Pathetisch raufte er sich die Haare. "Ich wünschte, ich hätte nie davon angefangen, zuhause. Wenn ich nicht von den ganzen Perversen in Lenas Freundeskreis erzählt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen!"

"So ein Blödsinn! Du spinnst doch, wenn du glaubst, dass..." Bardo wurde von der Polizistin mit einer kleinen Handbewegung unterbrochen. "Du bist also nicht weggelaufen, sondern nur unerlaubt auf einer Feier gewesen. In der Wohnung deines Bruders." Bardo nickte stur. "Der war aber nicht dort. Wusstest du, dass er nicht dort sein würde?" Bardo nickte erneut und verschränkte die Arme. "Hast du dort Drogen genommen?"

Bardo riss die Augen auf und schüttelte heftig mit dem Kopf. "Nein!"

Sie legte den Kopf schief, ihr Kollege schrieb mit und blätterte um. "Bist du freiwillig hier?"

Bardo nickte und blickte unsicher zu Kai rüber. "Sie wollen, dass ich wieder gehe. Ich störe... überall störe ich nur." Es klang verdächtig den Tränen nahe. Die Polizistin hörte das genau wie Kai und wandte sich mit einem 'Danke, Bardo.' von dem Bambi ab, als sei der Teil der Befragung zu ihrer Zufriedenheit verlaufen.

Sie runzelte die Stirn, ignorierte Ansgar und trat einen Schritt auf Kai zu. "Es verhält sich so. Wir sind gerufen worden, weil der Verdacht bestand, dass Sie einen Minderjährigen hier festhalten, vielleicht durch Erpressung und zu Drogenkonsum und sexuellen Handlungen nötigen. Einen Jungen, der gestern von seinen Eltern als vermisst gemeldet worden ist."

"Bitte?" Empört starrte Kai das Bambi an. "Das ist ja wohl das Letzte!" Sein Ärger hatte die Abteilung 'Miep' im Gehirn ausgeschaltet. Das Gekeife der Mutter hatte ihn schon unheimlich geärgert, aber das war noch eine Nummer stärker. "Bardo ist ausgerückt daheim und wir haben ihn in der Nacht aufgenommen, obwohl wir wussten, wo er wohnt. Aber er war so aufgeregt und hat sich geweigert, wieder zu gehen, und wir haben ihn gleich gezwungen, sich bei den Eltern zu melden! Jan hat doch selber deswegen telefoniert, oder?" Er blickte scharf zu Bardo rüber, der mit rotem Gesicht am Dielenschrank lehnte. "Wir haben über Lena auch seinem Bruder am nächsten Morgen Bescheid gegeben. Und was die anderen Vorwürfe angeht, ich rauche nicht mal. Drogen hab ich noch nie genommen!"

"Die Vorwürfe sind von Herrn Ansgar Fröhlich aufgebracht worden. Wo haben Sie denn den Verdacht gewonnen? Gibt es Beweise?"

"Ich habe die Fotos von der Party doch gesehen! Da sieht man es eindeutig!"

"Und haben Sie die dabei?"

Ansgar schüttelte den Kopf. "Lena hat sie auf ihrem Computer."

Kai schnaubte. "Ich hab die Bilder auch gesehen. Da sind sicherlich keine Drogen drauf. Alkohol sieht man schon, aber das ist ja wohl nicht verboten!" In Gedanken fügte er hinzu, dass man auf den Fotos ja auch nicht sehen konnte, wie dicht sich Lukas gezogen hatte.

Die Mutter hob den Kopf. "Unsere Kinder konsumieren keinen Alkohol! Bardo, zu lügen, um auf eine Party zu gehen, auf die du nicht einmal eingeladen warst! So haben wir dich nicht erzogen! Und es geht nicht nur darum! Erst spricht Bardo uns auf den Anrufbeantworter, dass er bei Freunden ist. Wir rufen alle seine Freunde an und er ist nirgends! Dann ruft er noch einmal an und sagt so verstörende Dinge!"

Der Mann nickte und erklärte mit leiser Stimme "Er hat uns am Telefon gesagt, dass er bei Männern wohnen darf, die es ihm nicht vorwerfen oder ihn auslachen, wenn er... ehm..." unsicher stockte er.

Die Polizistin hob die Brauen "...wenn er homosexuell ist?" half sie nach.

Bardo hob die Hände vor sein Gesicht und drehte sich von ihnen weg. Kai befand, dass er es verdient hatte, so peinliche Eltern zu haben. Auch wenn für ihn selber gerade akutes Fremdschämen angesagt war.

Bardos Mutter holte angestrengt Luft. "Und dann sagt er noch, dass sie ihn 'gut' behandeln, dass sie so 'nett' zu ihm sind. Was das heißen sollte, das ist ja wohl klar! Und dann finden wir ihn dank Ansgar auch hier... hier!" Sie deutete in der Wohnung umher, die zwar wenig aufgeräumt war, aber ansonsten nicht wirklich verwerflich wirkte.

"Was soll das denn heißen? Hier?" Rot im Gesicht ließ Kai zwei Paar Schuhe im Dielenschrank verschwinden und schob die Fußmatte gerade. Er war auf die Wohnung stolz und fühlte sich beleidigt.

Lolli kam jedoch in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer um die Ecke und wedelte mit seiner einen Hand, die er gerade vom Gummihandschuh befreit hatte. Er trug noch sein geblümtes Haarband und hatte Prosecco an Bord, jedenfalls hatte er ein leeres Sektglas in der Hand. Das erklärte das 'hier' natürlich zu genüge. Kai hätte fast laut aufgestöhnt.

Lolli kam zu ihm. "Es tut mir so leid, Maus! Oh Gott, oh Gott! Ich wusste nicht, dass es ausgerechnet diese vollkommen verrückt gewordenen Leute sind, als es klingelte. Und dann auch noch Ansgar, der Spaßverderber! Heiliges Blechle, mir ist noch ganz flau in der Mitte! Die sind hier rein getrampelt wie eine Stampede, haben mich angeschrien und das Bambi erst einmal! Und sie glauben mir nicht, dass ich hier nicht wohne! Da bin ich erst einmal auf den Balkon geflüchtet, um mich zu beruhigen." Er hob das Glas an.

Die Polizistin hob die Brauen schon wieder und grinste. Ihr Kollege stöhnte leise auf und blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um. "Und Sie sind wer?"

Lolli pflückte sich das Haarband vom Kopf. "Peter Lorenz. Ich wohne nicht hier, ich arbeite nur das Sofa auf. Ich bin der Dekorateur. Das war auch bitter nötig, sage ich Ihnen. Sie hätten diesen Alptraum mal sehen müssen. Mahagoni zu kirschrotem Samt! Uha... kann nicht einmal daran denken." Er ging mit für Kais Instinkten zu heftigem Hüftschwung zu seiner Tasche aus gallegrünem Kunstrasen, um seinen Ausweis hervorzuholen. Kurz sah er zu Kai zurück. "Ach, dass diese Bambigeschichte zu Ärger führt, hab ich ja gleich gesagt! Aber bei Jan und dir kann man ja reden und reden und reden. Ihr hört eben nicht, wenn ihr eure Adoptionsträume bekommt!" Er reichte der Polizistin seinen Ausweis, die diesen verwirrt nahm und ihrem Kollegen gab.

"Das ist ja so ein Chaos, aber mal ehrlich." Lolli schwang seinen Hintern zu der schockierten Mutter von Bardo herum. "Warum nehmen Sie ihren süßen Sohn nicht einfach mit und wir haben unsere Ruhe, meine Liebe?"

Bardos Mutter drehte an den Ringen auf ihren Fingern und öffnete und schloss den Mund, vollkommen überfordert.

Bardo raffte seinen Rucksack an sich und kreischte los. "Ich will nicht! Sie wollen mich doch nur einsperren und bestimmen, was ich darf und was nicht und..."

"Und genau das ist auch richtig so, Bambilein." Lolli lächelte, schnippte Bambis Kinn mit einem eleganten Zeigefinger und fügte zu seinem Lächeln unpassend beleidigend an "Das, mein oberverblödetes Dummerchen, sind deine Eltern. Es ist ihr gutes Recht, dich rumzukommandieren." Lolli wandte sich ab und machte eine lässige Geste. "Jedenfalls für die nächste Zeit. Komm so in zehn Jahren wieder her, dann ist mit dir auch was anzufangen."

Kai nickte einmal und schob Bardo in Richtung seiner Mutter. "Mach mal in Ruhe deine Schule zu Ende und dann kannst du immer noch wild geworden ausziehen und solchen Blödsinn starten."

Ansgar reckte sich. "Ach. Durch euch ist er doch erst auf diesen Weg gebracht worden! Allein dieser schreckliche unmögliche Mensch hier! Der Gedanke, dass Bardo sich in seinem Alter von solchen perversen, grauenhaft gekleideten Individuen beeinflussen lässt, Alkohol trinkt und Drogen nimmt!"

Lolli holte Luft "Grauenhaft gekleidet?! Wenn jemand keinerlei Geschmack hat, ist das wohl nicht der Fehler der stylischen Leute!"

"Das nennst du Geschmack? Da wird mir ja übel!"

"Mir auch! Schon mal in den Spiegel gesehen? Die Fashion-Polizei sollte dich gleich mitnehmen!" Lolli fuhr zu der Polizistin herum. "Nichts gegen euch natürlich, übrigens finde ich diese neuen Uniformen superscharf!"

Ansgar starrte ihn an und ballte eine Hand zur Faust. "Und mit dieser tuckigen Art kommst du bei mir nicht durch!"

Lolli sah wütend zurück. "Allein deine miese Laune dauernd! Das macht, dass ich bei dir gar nichts will, Ansgar-Spaßverderber! Und dann diese hinterfotzige Art in der WG bei Lena, kaum zu ertragen. Wieso haben die anderen dir nicht längst gekündigt? Es ist mir ein Rätsel." Lolli hob resigniert die Hände. "Ich brauch noch einen Prosecco, sonst drehe ich durch!"

"Ich zahle Miete und im Gegensatz zu Lena verpeste ich nicht dauernd mit Drogen die Wohnung!" Aufgebracht startete Ansgar durch und trat zu Lolli. "Und ich verkuppele keine Minderjährigen mit Perversen."

"Du Spießervereinsvorsitzender! Du hast Lena doch schon immer nur Ärger und nichts als Ärger gemacht! Allein als du die Polizei gerufen hast, nur weil sie Stripper für den Junggesellenabschied bestellt hatte! Spaßfreier geht es ja wohl kaum!"

Kai bekam mit, dass Ansgar offenbar so zu seinem Titel gekommen war. Allerdings war er gerade damit befasst, Jan eine Nachricht zu tippen 'SOS, beeil dich!'.

Ansgar trat noch einen Schritt auf Lolli zu, der mit einer wegwerfenden Geste um die Ecke bog. Die zwei drifteten in das Wohnzimmer durch, aber schrien sich laut genug an, dass alle etwas davon hatten. "Ich habe die Polizei gerufen, weil diese Stripper lauter verbogene Schwuchteln in Kleidern waren! Ekelhaft!"

"Ekelhaft? Das war Spaß. Deinen Humor haste wohl verkauft, oder was?! Gab es da nicht mal einen Film? Haste dir wohl zu Herzen genommen."

"Tunten in Kleidern, und dann auch noch hässliche! Das war kein Spaß, das war Umweltverschmutzung!"

"Oh! Deine übertriebene Moralapostelei, das ist Umweltverschmutzung! Du Miesepeterolympiasieger hast doch damals alles kaputtgemacht und dich dann noch gefreut! Wie kann man heutzutage noch so verbogen sein im Hirn, dass man einer jungen Frau den Junggesellenabschied ruiniert?!"

Lolli kam mit frischem Prosecco im Glas zurück, Ansgar war ihm auf den Fersen. "Ich verbogen?! Du hast doch auch dauernd Frauenkleider an und Schminke im Gesicht, du perverse Tucke!"

"Lieber mit Stil nach Spießermeinung pervers als gar kein Geschmack und vollkommen verklemmt!" Lolli tippte einen Finger in seinen Prosecco und leckte den ab. Ansgar lief vor Wut rot an.

Lolli grinste. "Verklemmt! Eine rostige Gartenpforte ist gar nichts dagegen. Quietsch quietsch! Hattest du überhaupt schon mal Sex? Vielleicht ist das ja dein Problem! Der Bömmel vorn ist nicht nur zum Pieschen. Jahaaa. Da staunst du, was? Darauf warste nicht gekommen?"

"Nicht jeder denkt nur mit dem einen Organ, du notgeile Tunte!"

Unbeeindruckt kicherte Lolli. "Oh mein Gott! Das muss es sein. Du hast es noch nie getan? Na, ich sach mal, kein Wunder. Ist sicherlich auch als Hetero nicht so einfach, wen zu finden, der so was wie dich entjungfern will!"

"Das ist ja wohl..."

"Verzeihung. Darf ich? Ich wohne hier." Die Köpfe aller Anwesenden fuhren vom Wohnzimmerdurchgang zurück zur Tür. Kai war noch nie so froh gewesen, seinen Freund zu sehen. Natürlich sah er ihn trotzdem nur grätzig an. Jan trat in den Flur, gefolgt von Lukas. Jan trug sein vollkommen eingesautes Fußballzeug und eine Trainingsjacke. Er trat sich die Schuhe von den Füßen und ließ den Blick erstaunt über die versammelte Gemeinde gleiten.

Lukas blickte mit schmalen Augen auf die beiden Polizisten und nickte ihnen zu. Er trug Arbeitskleidung. Jeans, die nicht zu sexy eng geschnitten waren und ein dunkles zugeknöpftes Hemd, darüber eine dicke Steppweste, die jedoch seine Dienstwaffe nicht verbarg, weil er sie offen trug.

Die Polizistin hatte der Show fasziniert und breit grinsend zugesehen, ihr Kollege hatte Lollis Ausweis in die Kunstrasentasche zurückgelegt und danach eher versucht, die Aufmerksamkeit seiner Kollegin zu erhaschen, um einen Abflug zu machen.

Mit einem Mal kam ein wenig Leben in sie. Mit scharfem Blick sah der Polizist an der Tür zu seiner Kollegin, diese erwiderten den Blick, dann sprach sie Lukas an. "Oberkommissar Kramer, sind Sie auch gerufen worden? Dann stimmt es doch mit den Drogenvorwürfen?"

Lukas sah von einem zum anderen, schaltete in Lichtgeschwindigkeit und schüttelte den Kopf. "Nein, private Angelegenheit zwischen Ansgar Fröhlich und mir. Ich kenne die Familie ein wenig. Ihr könnt fahren. Ich schreibe den Bericht, keine Sorge."

Ansgar schnappte nach Luft und vergaß, sich weiter mit Lolli anzukeifen. Bardos Eltern blinzelten dumm, Bardo schwieg rot im Gesicht und linste zu Lukas rüber. Die Polizisten und Lukas traten in den Hausflur zurück. Wenig später klappte die Tür, Lukas trat wieder ein und die Polizisten waren verschwunden.

Jan sah von einem zum anderen und stellte seine Sporttasche ab, dann übernahm er die Regie. "Jan Bawenhop, sind Sie die Eltern von Bardo? Das trifft sich gut."

Der Vater von Bardo regte sich, starrte Jan in seinen Fußballklamotten etwas misstrauisch an, dann reichte er ihm die Hand. Während seine Frau noch immer wegen Lolli eher hysterisch nach Luft schnappte, drückte der schlanke Mann erst Jan die Hand und stellte sich dann bei Lukas vor.

Lukas reichte ihm ebenfalls die Hand und erklärte, dass er eigentlich gekommen war, um Bardo nach Hause zu bringen. Gelassen zog er seine Weste aus und gab sie Kai. Der starrte betäubt auf die schwarze Schusswaffe, die Lukas in einem Halfter trug und spürte, wie ihm heiß wurde. Scheiße, war der Mann geil. Musste der noch geiler aussehen, wenn er auch noch eine Waffe bei sich trug? Verwirrt hängte Kai die Weste weg, dann blickte er flehend zu Jan.

"Sie sind bei der Polizei." Bardos Vater blickte Lukas offensichtlich auch ein wenig eingeschüchtert an.

Bardos Mutter hingegen starrte ihren Sohn an und wirklich... Kai hätte sich fast an den Kopf gefasst... Bardo fehlte nur noch das Sabbern, um komplett drauf hinzuweisen, dass er voll auf Lukas abgefahren war. Kai konnte es verstehen, er selber war kurz davor zu sabbern, aber konnte Bardo nicht, als Selbstschutz wenigstens, damit aufhören?

Ansgar und Lolli zickten sich im Hintergrund wieder an und waren kurz davor, in den Nahkampf überzugehen, als Jan sie gereizt um Ruhe bat. Lolli verstummte sofort mitten im Satz und Ansgar schwieg beleidigt.

Lukas lächelte leicht und nickte. "Ja. Ich bin bei der Kriminalpolizei, komme von der Arbeit, daher..." er hob leicht die Schultern. "Aber eigentlich bin ich privat hier. Auch ich war auf der Party. Es handelte sich um den Geburtstag meiner Schwester. Ich war auf den betreffenden Fotos von der Feier mit ihrem Sohn zusammen abgebildet, weil Lena ihn mir als den kleinen Bruder ihres Mitbewohners vorgestellt hat." Er sah zu Bardo hin. "Es war eine ausgelassene Party, Bardo ist erst recht spät dort aufgetaucht. Wir alle dachten, dass er durch Ansgar eingeladen war."

Jan ging zum Wohnraum vor und bat die Familie mit durch. Voller Erleichterung atmete Kai auf, als sie tatsächlich alle in das Wohnzimmer trampten und sich um ihren Esstisch herum niederließen. Die Eltern auf die eine Seite, Bardo und Lukas auf die andere Seite, Ansgar am Fenster. Jan lehnte sich an den Tresen zur Küche. Seine Bewegungen wirkten ein wenig mühsam, er schien mal wieder etwas abbekommen zu haben. Lolli kniete neben dem Sofa nieder, wo er noch mit dem Stoff und Lack beschäftigt gewesen war.

Noch ein wenig vom Streiten mit Ansgar erhitzt wischte Lolli sich die Haare aus der Stirn, dann schraubte er seine Gläser mit Chemikalien zu und räumte das Werkzeug in den Kasten. Kai blickte zum Sofa hin. Man konnte es nicht wiedererkennen. Der Holzrahmen war nun matt grau gebeizt mit silbernen Effekten an den schnörkeligen Elementen und der Bezug war aus staubfarbenem, grobgewebtem Stoff, der andere Stoff, der deutlich heller gewesen war, schimmerte hier und dort an effektvoll aufgeschabten Stellen durch. Es sah ganz und gar nicht mehr nach Oma aus, sondern sehr schick und maskulin. Das hätte er nie erwartet. Vor allem von Lolli nicht.

Lolli blickte nervös zu Jan hin. "Ich hab es neu aufgepolstert. Der Lack ist gewagt, ich hätte euch das erst zeigen sollen, das weiß ich. Es ist so über mich gekommen heute Nachmittag. Und?"

Jan erlöste ihn und grinste ein wenig. "Was meinst du Kai?" Kai nickte nur, aber Jan fuhr fort. "Das sieht total gut aus! Wann können wir das Sofa wieder benutzen?"

Lolli seufzte erfreut. "Ich bin ein Genie, Jan, sag es ruhig. Heute und morgen noch nicht. Ich muss den Bezug noch einmal nachspannen und dann endgültig festnageln." Rasch räumte er seine Nähmaschine etwas zur Seite, um mehr Platz für die neuen Gäste zu schaffen. "Morgen komm ich nochmal her. Dann ist das Sofa fertig. Vielleicht schaffe ich den Hocker auch noch. Soll ich beim Bettgestell weitermachen?"

Jan nickte, aber sagte "Vielleicht. Schauen wir mal." Er bot ihren Gästen etwas zu trinken an. "Tut mir leid, dass ich so aussehe." Er deutete einmal an seinem verdreckten Trainingszeug und den auch nicht gerade sauberen Shorts herunter. "Ich komme gerade vom Fußballspiel."

Die Strümpfe hatte er die kräftigen Beine runter geschoben. Darunter waren seine Schienenbeine mal wieder lädiert. Kai konnte gar nicht hinsehen.

Ansgar lehnte mit verschränkten Armen an der Balkontür und schnaubte verächtlich. "Was soll diese ganze verlogene Show?! Ich hab die Bilder gesehen! Auch von dem hier. Auf der Party! Alles Schwuchteln! Von wegen Fußball und von wegen der dort ist nur Dekorateur! Der war wie eine Frau geschminkt und im Kleid, die beiden haben sich vor allen Leuten aufeinander gewälzt und..."

Lukas stand auf, aber Jan kam ihm zuvor. Er zeigte auf Ansgar und sagte unbeeindruckt "Wir kennen uns nicht, das wird sich heute auch nicht ändern. Du bist hier überflüssig." Dann nickte er zum Ausgang.

Lolli grinste und klappte die Hände einmal zusammen. "Genau. Ansgar Spaßverderber darf gern schon mal abschieben und..."

Jan hob den Kopf. "… du auch gleich!"

"Ups. Bin still. Kai, ich nehm noch einen Prosecco auf den Weg. Ich ruf Benni gleich mal an, dass er mich abholt."

Entrüstet wollte Ansgar sich zur Wehr setzen, aber sein Vater bat ihn ebenfalls zu gehen. Er hatte leise gesprochen, aber Ansgar hörte sofort. Beeindruckt blickte Kai den Mann einmal an. Er sah so weich und langweilig aus, ein wenig träge vielleicht. Aber das war er offensichtlich nicht immer.

Jan sah Ansgar noch nach, aber fragte dann verständnislos "Davon mal abgesehen, was ist an Fußball denn nun bitte so ungewöhnlich?"

Bardos Vater hob die Schultern, die Mutter öffnete den Mund, schloss ihn dann rasch wieder und Lolli lachte auf. "Du bist eben nicht so perfekt schwul wie ich, mein Süßer! Wie sollen Heten das begreifen?" Lollis Hände umfingen seine Gestalt. "Schau dich nur an! Es kann eben keiner verstehen, dass du beides magst. Fuß-ball und Män-ner." Mit den Händen hatte er Waagschalen angedeutet.

Kai schloss gepeinigt die Augen und Lukas senkte den Kopf, um ein Grinsen zu verstecken. Bardo war damit beschäftigt, Lukas anzugummern, oder mit rotem Gesicht auf seine Finger zu starren. Jan verlagerte leise ächzend sein Gewicht und zog sich die Trainingsjacke aus. Er trug noch sein ebenfalls verdrecktes, verschwitztes Trikot und Kai lächelte ihm dankbar zu. Jan hatte sich wirklich beeilt.

Wie um von dem Thema abzulenken, fragte Bardos Vater nach einem Moment der peinlichen Stille "In welchem Verein spielen Sie denn?"

Jan blickte zu Kai und nickte in die Küche rüber, damit Kai endlich mal seine Gastgeberroutine startete. "Ich spiele seit gut zwei Jahren beim SC in der A-Mannschaft im Sturm. Bezirksliga, aber immerhin haben wir unseren Tabellenplatz deutlich verbessern können. Eben haben wir gegen Eintracht gespielt und gewonnen. Ein Lokalderby könnte man sagen. Ich wollte das eigentlich feiern, aber man kann seinen Abend auch anders verbringen. Übrigens, Kai, Gruß von Bastian." Jan blickte von Kai, der gerade hastig Gläser und Getränke aus der Küche auf den Tresen stellte, wieder zu der Fröhlich-Familie. "Und warum wir unsere Möbel nicht aufarbeiten lassen sollen, ist mir auch schleierhaft."

Die Frau schnaubte. "Also hören Sie mal. Sie sind Studenten! Das hat Bardo doch eben gesagt. Und Sie schauen mir auch noch recht jung aus."

"Na und? Wir studieren Medizin, aber haben Sie schon mal überlegt, dass Studenten, die in diesem Haus wohnen, nicht unter Geldsorgen leiden?" Die Frau schwieg verwirrt. Ihr Mann warf einen forschenden Blick umher.

Kai war damit beschäftigt gewesen, Getränke zu verteilen. Lolli ein Prosecco, Jan und Lukas jeder ein Bier, für Lukas alkoholfrei, Bardo ein giftiger Blick und die Eltern bekamen eine Flasche Wasser und zwei Gläser vor die Nase. Unsicher blickte er von Bardo zu den Eltern, zu Jan und zu Lolli. Dann blieb er einfach in der Nähe des Fluchtweges stehen.

Jan dehnte seine Schultern leicht und schlug vor. "Fassen wir zusammen. Bardo ist letztes Wochenende auf eine Party gegangen, auf der er homosexuelle Männer kennenlernen wollte, weil er den Verdacht hat, dass er selber auch homosexuell ist." Er nippte von seinem Bier und blickte Bardo an. "Ehrlich gesagt, den Verdacht hab ich auch. Dann ist sein Bruder in der Woche in die Lage geraten, Fotos von der Feier zu sehen, hat ihn auf den Bildern Arm in Arm mit Männern gesehen und hat seinen kleinen Bruder verpfiffen. Natürlich war es nicht in Ordnung, seine Eltern anzulügen. Andererseits hätte Bardo die Party vergessen können, wenn er ehrlich gewesen wäre. Welche Eltern, die was auf sich halten, erlauben ihren Kindern, zu so einer Party zu gehen? Und, das muss man mal sagen, er hat sein Ziel gut erreicht und eine ganze Menge schwuler Männer getroffen. Unter anderem uns."

"Waren Sie nicht eben noch mit einer Frau zusammen?" Irritiert blickte die Frau Kai ins Gesicht. Kai wurde rot, das war nicht zu verhindern.

Jan grinste. "Ach, war Tini hier?"

"Sie ist es noch."

Jan wischte den Einwand fort. "Na gut, wir sind nicht ausschließlich schwul. Das ist auch kein Verbrechen. Und jetzt ist Bardo, nachdem sein Bruder ihn verpfiffen hat, von Ihnen mit Stubenarrest bedacht worden, und Taschengeldentzug und Fernsehverbot und bestimmt auch Internetverbot. Und wenn Sie jetzt ehrlich sind, wäre ihm das bei jeder Party passiert, auf der er unerlaubt war und auf der Alkohol getrunken wurde."

Bardo hob den Kopf "Woher weißt du das?"

"Ich war auch mal in dem Alter. So was ändert sich nicht in den paar Jahren. Leider ist Bardo kein so kleines Kind mehr und daher hat das nicht hingehauen mit den ganzen Maßnahmen. Er ist ausgerückt und hier gelandet. Vielleicht war ich schuld daran. Ich hab ihm angeboten, dass er sich bei Fragen oder Problemen an uns wenden kann. Jederzeit. Ich hatte irgendwie nicht damit gerechnet, dass er hier quasi einzieht. Einmal geht das meinetwegen, das ist jedoch keine Dauerlösung. Aber ich habe das ernst gemeint. Ich bin froh, dass er zu uns gekommen ist. Immerhin hätte auch sonst was passieren können."

Der Vater nickte einmal und sprach zum ersten Mal länger. Seine Stimme war leise und gleichmäßig. "Tatsächlich tut es ganz gut, diese ruhige Aufzählung zu hören. Aber nicht alles war so wie bei einer normalen Feier. Das müssen Sie auch zugeben. Seien Sie einmal ehrlich, der Schock und diese Reaktion stehen uns zu. Auf einer 'normalen Feier', von Freunden meinetwegen, wäre er sicherlich nicht auf eine Gruppe Studierender oder..." er blickte zu Lukas rüber "berufstätiger Männer getroffen. Auch nicht auf..." Unsicher blickte er zu Lolli rüber und endete "Männer, die sich als Frau verkleiden. Bardo ist zwar vielleicht kein kleiner Junge mehr, aber er ist noch lange nicht alt genug, um sich mit Ihnen auf Partys zu treffen und Alkohol zu trinken."

Kai blinzelte. "Moment mal."

"Bardo, wie alt bist du?" Lukas Stimme enthielt das 'Uhoh', das sie alle dachten, ganz deutlich.

Bardo senkte den Kopf und murmelte etwas.

Seine Mutter starrte giftig und übersetzte das Genuschel. "Vierzehn! Er ist vierzehn!"

Ihr Mann tätschelte ihren Handrücken einmal leicht. "Verstehen Sie jetzt?"

Kai trank einen Schluck Cola, um nicht laut aufzustöhnen. Die Rechtsabteilung seines Gehirns überprüfte hastig, welche Gesetze sie alle gebrochen hatten, indem sie auf der Party überhaupt mit Bardo geredet hatten. Lolli hatte ihm einen Cocktail gegeben!

Jan grinste unbeeindruckt. "Du erinnerst mich an mich früher."

Leider machte Bardos Mutter die recht entspannte Atmosphäre zunichte, als es doch gerade so aussah, als hätte die Familie eine Chance, ihren Sohn mitzunehmen. "Das ist ja wohl unerhört! Jetzt so zu tun, als wäre es das Normalste der Welt, wenn unser Sohn sich mit einer Gruppe Homosexueller rumtreibt. Wenn er auf eine Feier geht, auf der halbnackte Unzucht treiben, Alkohol und Drogen konsumieren! Päderasten ihn..."

"Du bist so bescheuert und kleinkariert und ich hasse euch! Ich gehe nie nie nie wieder nach Hause! Ihr blöden Spießer seid selber Perverse!" Bardo war aufgesprungen und hatte das geschrien.

Jan hob den Kopf, sah Bardo mit schmalen Augen an und wies mit dem Daumen hinter sich. "Raus! Komm wieder, wenn du dich abgeregt hast."

Bardo machte ein ersticktes Geräusch und stürmte in Kais Zimmer. Er knallte die Tür, dass es nur so schepperte.

Jan lehnte sich vor, aber Lukas kam ihm zuvor. "Donnerwetter, Jan. Und Sie passen Ihr Vokabular an, sonst helfen wir Ihnen nicht mehr. Dann ist es nächstes Mal wirklich die Polizei, die Ihren Sohn nach Hause bringt, nachdem er vielleicht dann doch mal auf die falschen 'Perversen' getroffen ist."

Bardos Vater legte erneut die Finger auf die Hand seiner Frau. "Er hat recht, Merle. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Anschuldigungen helfen nicht."

Ab dem Moment kühlten die Eltern sich deutlich runter. Die Mutter schwieg mit düsterem Gesicht und der Vater entschuldigte sich und fragte, was sie denn nun mit Bardo anfangen sollten. Es schien, als sei die Lage in der Tat festgefahren. Bardo daheim einsperren, war nicht so leicht. Ihm das Taschengeld streichen, das Fernsehen, Internet oder gar den Chor, der ihm wohl viel bedeutete. Diese Strafen führten unter Umständen nur dazu, dass er sich erst recht verschloss und noch mehr lügen oder verheimlichen würde. Erstaunt hörte Kai, wie Jan vor ausgerechnet diesem Problem warnte und damit die Hauptangst der Eltern traf. Noch erstaunter hörte Kai, dass Jan sogar vorschlug, Bardo doch zu ihnen flüchten zu lassen.

Jan verwendete Worte, die nach und nach Bardos Mutter auf seine Seite zogen. Er nannte Bardo intelligent, kreativ, sozial und engagiert, wies auf seine musikalische Begabung und die introvertierte, empfindsame Art hin. Verwirrt wechselten Kai und Lukas Blicke, als Jan so richtig mit seinem Wissen zu den Problemen loslegte. Er hatte eindeutig zu viele psychologische Bücher gelesen. Er sprach schon fast psychiatrisches Fachjargon.

Jans Fachwissen, wie immer, wenn er wirklich was verstehen wollte, war kaum zu erschöpfen. Auf jede Attacke der Mutter hatte er eine Antwort. Und die sprach genau wie er psychiatrisches Fachjargon. Offenbar war sie wirklich Therapeutin für irgendwas. Kai war unendlich froh, dass Jan sie überhaupt verstand.

Jan holte seinen Laptop und zeigte den Eltern Beratungsseiten, Fakten und Zahlen zu Jugendlichen in Bardos Lage und Alter. Er zeigte die Berichte aus Jugendgruppen, von privaten Seiten, von der Statistik, wie viel gefährdeter homosexuelle Jugendliche waren, von der Rate der Selbstmordversuche, weil sie sich gerade in diesem labilen Alter nicht akzeptiert fühlten und auch und gerade in der eigenen Familie niemanden hatten, dem sie sich anvertrauen konnten. Gekonnt würgte Jan Ansgar in diesem Zusammenhang noch mal einen rein für den Verrat.

Kai konnte sich mit einem Mal vorstellen, wie Jan sich im letzten Sommer durch all diese Seiten im Internet gelesen hatte. Wie er sich gefragt hatte, ob das nun alles auf ihn zutraf oder nicht. Kai selber lernte Dinge, die er vorher nie gewusst oder geahnt hatte, auch wenn er sich durch die Worte an seine eigene Teenagerzeit erinnert fühlte. Ja. Er war selber in der Tat nicht selten einsam gewesen, außen vor. Er hatte das Glück, dass seine Mutter zu ihm hielt und durch ihr Engagement sogar versuchte, Normalität aus ihrem Leben zu machen, aber er hatte oft abends im Bett gelegen und sich nach jemandem zum Reden gesehnt.

Auch Lukas war natürlich sehr gut informiert und kam Jan bei Fragen zur rechtlichen Lage zu Hilfe, hielt sich aber weitestgehend raus. Bardo kam nicht wieder zu ihnen, aber das hätte auch eher gestört.

Lolli verabschiedete sich sehr rasch nach Hause, nachdem er keine weiteren interessanten Showelemente mehr geboten bekam und Benni an der Tür klingelte, um ihn abzuholen. Kai brachte ihn umständlich zur Tür, ging noch ins Bad und versuchte dort, Zeit totzuschlagen. Aber Jan, Lukas und die Eltern redeten immer noch, als er wieder zu ihnen trat.

Nach einer guten Stunde trafen sie dann eine sehr kuriose Einigung. Bardos Vater fasste zusammen. "Eigentlich ist er zu jung, aber wir erlauben ihm, Sie zu besuchen und mit Ihnen auf kleinere private Feiern zu gehen, wenn er eingeladen ist und dafür verspricht, uns immer Bescheid zu sagen, was er wann mit wem macht. Im Gegenzug passen Sie auf ihn auf und verhindern, dass er Drogen nimmt und... was sonst noch so schief gehen kann."

Das Wort Sex stand in Neonlettern über den Köpfen der Eltern, auch wenn weder sie noch Jan überhaupt darauf zu sprechen gekommen waren. Im Gegenteil hatte Jan über Freundschaften, Akzeptanz, die Veränderungen in der Pubertät und normales Leben als Jugendlicher gesprochen, über die Zeit zwischen Kindsein und Erwachsenensein. Er hatte alles wissenschaftlich, langweilig und irgendwie sicher ausgedrückt.

Bardos Mutter las sich seit fast einer Stunde schon auf Jans Laptop schockiert durch die Seite einer Selbsthilfegruppe ähnlich der, die Kais Mutter am Anfang besucht hatte. Sie war sehr schweigsam geworden, nachdem Jan ihr die Selbstmordrate bei homosexuellen Teenagern gezeigt hatte.

Kai erinnerte sich. Er war ungefähr im gleichen Alter gewesen wie Bardo, als Pascal und er sich zum ersten Mal geküsst hatten, als sein Vater so schockierend reagiert hatte. Der Gedanke, sterben zu wollen, war ihm in dieser Regennacht vor Jahren durchaus in den Sinn gekommen.

Das Ende vom Lied war, dass Bardo gerufen wurde und missmutig, aber deutlich ruhiger angezuckelt kam. Sein Vater teilte ihm den Deal mit. Fassungslos starrte Bardo von Jan zu seinen Eltern. Typisch Teenager überspannte er den Bogen sofort noch ein Stück weiter. "Darf ich dann auch hin und wieder hier übernachten?" Die Eltern nickten unsicher.

Jan sah Kai an und der nickte, wenn auch genervt. Jan stimmte nun ebenfalls zu. "Aber wir können dich hier nicht nonstop brauchen, kapiert? Wir sind kein Hotel. Und wenn du uns anlügst, oder deine Eltern denken, dass du hier bist und du bist es nicht, Bardo, dann wird es duster, verstanden?"

Und danach war der Familienname Fröhlich fast schon wieder Programm. Bardos Mutter war noch immer nicht versöhnt mit dem Gedanken, dass sie ihren Sohn nicht wirklich aufhalten konnte, aber immerhin wollten die Eltern ihn nicht rauswerfen. Im Gegenteil wollten sie ihn nun erst recht nach Hause abführen. Bardo wurde von Jan mit einem Klaps auf die Schulter verabschiedet. Er warf noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf Lukas, der neben Kai stand, ihn ignorierte und auf seinem Handy herumtippte, dann schob die Familie ab.

Lukas folgte ihnen dicht auf. "Ich mach mich mal über Ansgar her. Langsam reicht es mir mit seiner Einmischung."

Kai blickte Lukas in die Augen. "Hast das Bambi aber ganz schön kühl behandelt, Lukas."

Lukas grinste. "Ich wollte seine armen Eltern nicht vollkommen fertigmachen. Ich hab ihm schon eine passende SMS geschickt."

Kai stöhnte auf. Auf Lukas war wirklich Verlass, wenn es darum ging, einen Vierzehnjährigen vor seinen Eltern anzuflirten, sodass die das nicht mitbekamen.

Jan gähnte und streckte sich. "Ich muss duschen. Mann, mich hat der eine Typ so fies umgegrätscht, ich bin vielleicht alle. Bardos Eltern sind echt vernünftig. Ich hätte nicht gedacht, dass sie diesen Deal mitmachen."

Kai grummelte ein wenig. "Es ist ja eure Idee, aber habt ihr schon mal daran gedacht, dass er dann immer in meinem Zimmer pennt?"

Lukas küsste ihn auf die Wange. "Besser als bei mir. Bis die Tage, Kai. Wenn das Bambi wieder Ärger macht, dann meldet euch."

"Ach, warte mal! Was ist denn jetzt mit dem Urlaub in Spanien? Wann sollen oder können wir denn vorbeikommen?"

Lukas zog sich seine Weste über und schloss die Knöpfe. "Das ist mir egal. Nach den Sommerferien und vor den Herbstferien. Meine Partner haben beide Kinder und daher gehe ich immer außerhalb der Ferienzeiten in den Urlaub. Ich hab auch genug Schlüssel, selbst wenn wir uns um einen Tag oder so verpassen, ist das kein Ding. Sagt mir einfach, wann ihr fliegen wollt. Ich werde vermutlich mit dem Bulli fahren, der macht es nicht mehr lange, dann lasse ich ihn lieber im warmen Spanien den Lebensabend genießen."

Jan verzog den Mund kritisch. "Das machste nur, weil es dort keinen TÜV gibt, oder?"

Lukas lachte. "Erwischt." Sein Handy tüdelte. Er blickte drauf und grinste erfreut. "Okay. Ich muss..."

Gleich danach waren Kai und Jan für einen schönen Moment allein, dann fiel Kai Tini wieder ein. "Scheiße! Tini ist ja auch noch da! Was macht die eigentlich?"

"Oh, mir tut alles weh! Ein Glück hab ich an diesem Wochenende nichts vor!" Jan schob sich die Shorts die Beine runter und besah sich seinen Po, wo sich tatsächlich schon die Schatten eines Hämatoms zeigten.

Kai besah sich Jans Po ebenfalls einen Moment lang. "Ich geh Tini mal rauswerfen."

Jan zog sich auf dem Weg zum Bad die Shorts ganz aus, um ächzend sein Bein zu begutachten. "Kai, ich geh in die Wanne, kannst du mich gleich mal mit der Hirudinsalbe einreiben?"

Kai sah ihn voller Vorfreude an. "Aber natürlich. Darf ich aussuchen, wo?"

"Nein, aber ich glaube, dass ich einen blauen Fleck genau am richtigen Ort habe, nur für dich." Das Radio wurde im Bad eingeschaltet, gleich drauf rauschte das Badewasser. Es roch nach Jans Muskelentspannungsbad und Jan pfiff mit dem Radio mit.

Kai wanderte zu seinem Zimmer und öffnete vorsichtig die Tür. Tini lag auf seinem Bett und starrte auf ein Foto. Es war das Bild von ihr und ihm zusammen auf der Party. Ein Papierausdruck davon. "Was machst du denn noch hier? Bist du eingepennt, oder was?"

Sie gähnte und reckte sich ein wenig. "Kannst eigentlich auch mal Danke sagen. Ich habe das Bambi getröstet. Er war ganz hysterisch, weil Jan und seine Eltern so über ihn bestimmt haben."

"Ach, der kann von Glück sagen, dass Jan da war, und dass seine Eltern so relaxte Leute sind. Er ist erst vierzehn! Herrgott, da hat Jan uns was eingebrockt!"

"Du hast mitgemacht, Kai. Er ist dir nicht egal, gib es doch zu."

"Ich hab nicht solche komischen Vatergefühle entwickeln müssen wie Jan." Genervt verschränkte Kai die Arme. "Mein Vater hätte nicht zugehört oder erlaubt, dass wir das Bambi adoptieren, sondern ihn nach Haus geschleift und tüchtig vermöbelt."

Tini rollte herum. "Unsinn, Kai..." Sie stockte. "Oh. Er hat, nicht?"

Kai sah ihr schweigend in die Augen. Das Thema war er wirklich leid.

"Tut mir so leid. War es schlimm?"

Er zuckte mit den Achseln. "Ich hab früher immer überlegt, wie es wäre, wenn er wie bei Pascals Eltern einfach keine Ahnung hätte."

"Die wissen das nicht? Er sollte dann aber langsam mal mit offenen Karten spielen. Was war denn nun? Das war ja ein Geschrei da draußen, hab mich gar nicht mehr getraut, zu euch zu gehen. Und dann kam Bardo hier an und hat rumgeheult, dass Jan so gemein zu ihm ist."

Kai erzählte Tini einen kurzen Abriss des Abends mit Bambis Eltern und ließ sich von ihr auslachen, weil er nun vermutlich dauernd sein Zimmer würde hergeben müssen für den Teenager auf der Flucht.

"Aber sieh es mal so. Es ist wirklich besser, als wenn so ein fieser Typ das Bambi in einer Disco aufgabelt, ihm Drogen gibt und dann... was weiß ich noch mit ihm macht, ihn wohlmöglich vergewaltigt."

Kai nickte, fühlte sich an sein erstes Mal erinnert und schob das Thema von sich. Er seufzte leise und suchte sich frische Schlafsachen raus. "Okay, Tini. Du bist komisch. Schieb ab, oder sag, was los ist."

"Ich kann damit nicht aufhören. Ich bin immer am Rumdenken, wie im Kreis, was wäre wenn."

"Wenn was?"

"Wenn wir... du, meine ich..." Sie seufzte. "Tut mir leid. Ich bin bescheuert. Ich höre schon auf, Kai." Sie rollte wieder auf den Bauch und starrte auf das Foto.

Kai ließ sich neben ihr nieder und rieb sich seufzend die Augen. Ihre Haare waren wieder ziemlich lang geworden, so absolut jungsmäßig hatte ihm ihre Frisur auch nicht sonderlich gefallen. Er stützte sich neben ihrem Kopf auf und zupfte mit der anderen Hand ein paar Haarsträhnen unter ihrem Pulli hervor. "Wenn was? Wenn ich nicht schwul wäre? Meine Eltern wären jedenfalls glücklich. Ich würd' endlich das tun, was alle anderen Jungs tun. Ein paar Mädchen anschleppen, irgendwann mit Enkeln angeschoben kommen, ihrem Leben einen neuen Sinn geben."

Tini hob den Kopf, dann drehte sie sich um und sah ihn von unten her an. "Mit mir?"

Kai schüttelte den Kopf. "Definitiv nicht. Zu anstrengend."

Sie lachte auf. "Aber du hast dich an mich gewöhnt. Immerhin."

Fasziniert bemerkte Kai, dass sie recht hatte. Dass sie ihm kaum noch Angst machte. Ihre Gefühle und die anstrengende Art, in der sie immer alles gleich besprechen musste. Er war es gewohnt mittlerweile. Ihr Körper und wie sie sich immer an ihn heranmachen musste, wie sie ihn permanent berühren musste. Es gehörte mittlerweile einfach zu ihr dazu.

"Ich kann mich noch so an dich gewöhnt haben, es ist nichts weiter als Gewöhnung, Tini. Es wird nie was anderes werden. Und selbst wenn, Tini. Selbst wenn du ein Mann wärst. Die Möglichkeit gibt es auch, immerhin. Selbst dann wäre ich noch immer von vorn bis hinten in Jan verschossen. Ich will keinen anderen."

"Ich weiß. Ich beobachte euch schon ein Weilchen. Das ist ja mein Problem. Verstehst du?"

"Nein."

"Bei euch schaut es so leicht aus. War doch bestimmt auch noch Liebe auf den ersten Blick, so'n richtiges Klischee."

"Leicht? Bist du irre?"

Tini lachte auf. "Okay, hast recht. Leicht und Jan in einem Satz passt nicht wirklich."

Kai seufzte. "Ich glaube nicht, dass man Gefühle wirklich so einfach anschalten kann... oder abschalten." Und das konnte man bei Tini ja deutlich sehen.

"Das weiß ich, Kai. Und das ist ja so schrecklich. Bei dir war es so. Erst warst du nur schön und arrogant. Ich weiß noch, wie ich Bianca zuliebe überhaupt mit dir geredet habe. Dann, mit einem Mal, warst du nicht nur arrogant, sondern irgendwie auf kühle Art über den Dingen. In allen Kursen volle Punktzahl, immer so ordentlich und stylisch angezogen, immer so geheimnisvoll und still. Und dann... von einem Tag auf den nächsten hatte ich dich dauernd im Kopf, konnte an nix anderes mehr denken. Und jetzt? Ich warte wie verrückt darauf, dass ich zu lieben anfange. Holger zu lieben, wie ich dich liebe! Und dann ist da noch ein Problem. Ich liebe dich und ich kann es nicht abschalten! Was mache ich nur mit Holger? Gott, ich hab ihn so gern, so so so gern." Sie ließ den Kopf hängen.

Kai schüttelte den Kopf und zog seine Hand etwas zurück. "Hysterische Kuh. Geh und tu dich mit Lolli zusammen, Tini. Du machst vielleicht ein Drama. Ganz ehrlich. Du hast einen Freund, der dir sogar verzeiht, wenn du ständig mit einem anderen zusammen bist. Haste ihm denn wenigstens schon von der Sextherapie erzählt?"

"Nein. Das werd ich auch nicht."

Kai verzog den Mund und sah sie genervt an. "Er steht auf dich und du bist sicherlich auch nicht gerade abgeneigt. Immerhin hast du die Geschichte mit dem Sex für ihn in Angriff genommen. Was willst du eigentlich mehr?"

Tini nagte am Daumennagel und Kai seufzte genervt. Er umfing ihre Hand und zog den Daumen von ihrem Mund weg. "Das ist ekelig, hör damit auf. Ich will jetzt mit meinem Freund zusammen sein. Verschwinde. Wenn du es nicht lassen kannst, mich zu verfolgen, komm einfach Samstag ins LPP. Lena legt auf, wenn sie sich noch rühren kann nach der Tätowieraktion."

Tini lächelte ihn gerade an und sagte, dass sie etwas besseres vorhabe, als Jan ins Zimmer gehumpelt kam. Nackt bis auf ein eher knappes Handtuch um die Hüften, mit nassen Haaren und grummeligem Gesichtsausdruck. Am linken Schienenbein zog sich eine frische Schramme entlang, bereits mit Sprühverband abgedeckt. Kai lehnte noch über Tini, die auf dem Bett lag, er hielt noch immer ihre Hand.

Jan stöhnte auf, dann wies er mit dem Daumen hinter sich. "Schieb sofort ab, Tini! Wenn ich einen Dreier will, melde ich mich wieder."

Tini lachte, dann rollte sie unter Kais Arm durch und stand auf. Sie blickte einmal an Jans Körper entlang. "Bah. Nein danke." Kai lachte noch, als Jan ihn auf das Bett presste und küsste, während im Hintergrund die Tür ins Schloss fiel.

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