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Trost 2

Kapitel 93-95

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 93

Das Wochenende ging recht turbulent weiter. Und das nicht nur wegen Lollis wilder Entschlossenheit, aus Jans geerbten Sachen den letzten Schrei in Sachen Möbeldesign zu machen, sondern auch wegen Bianca und Jans Entschlossenheit, seiner Ex mal die neue Beziehung zu zeigen.

Im LPP stellte sich heraus, dass Henrike tatsächlich auf Lena getroffen war, die sich wegen der mangelnden seelischen Unterstützung durch Lukas nicht hatte tätowieren lassen. Lena legte am Samstag auf, trug rückenfrei bei makellosem Rücken. Kai hatte den Thekendienst, wie in seinem Vertrag festgelegt. Henrike hatte auf der Galerie gekellnert und zwei andere Mädchen im restlichen Raum. Nachdem es eine Weile lang sehr hektisch gewesen war, kam gegen zwei Uhr, nachdem Lena aufgehört hatte, Musik zu machen, Ruhe in den Laden. Die Leute verkrümelten sich in andere Clubs oder nach Hause.

Der Abend war unruhig gewesen, die Leute waren zwar zufrieden, aber die Gruppen hatten sich nicht so gut ergänzt wie an den anderen Samstagen. Lena hatte so ihre Mühe gehabt, den Musikgeschmack der Anwesenden zu treffen, die Tanzfläche voll zu halten. Das gab sie Kai gegenüber zu, während er ihr das Wasser rüberreichte, das sie bei der Arbeit ausschließlich trank. "Ich musste sogar eine Runde Schlager spielen, davon wird mir immer so schlecht. Auch wenn ihr Schwulen das so so so toll findet." Kritisch blickte sie Kai an, als ob der schuld war.

Kai zog eine beleidigte Schnute wegen der Kritik an den Schlagern, die ihm selber auch gute Laune gemacht hatten. Die Spülmaschine durchlief zum xten Mal den Zyklus von Spülen und Trocknen, und er wischte derweilen die Glasplatten im Regal hinter sich. Es war kurz vor drei am Morgen und sie räumten eigentlich nur noch auf. Die Galerie war bereits leer, hinten im Loungebereich starrten sich einige betrunkene Partyleute mit den Goldfischen an. In der Ecke, in der sich die Mediziner sonst immer trafen, knutschten seit Stunden sicherlich schon Bianca und Thilo rum. Die zwei waren von ihrer Gruppe übergeblieben, die anderen waren zum Glück schon längst zu anderen Läden oder heimwärts gepilgert. Genervt wünschte Kai sich, dass die beiden mal eine Liebe für ihr Zuhause entwickelten, auch wenn es ihn freute, dass Bianca endlich jemandem anderes als Jan nachstellte.

Lena hatte ihre Plattenkisten und die Metallkoffer mit den CDs bereits in ihren alten Mercedes auf Leons Parkplatz geräumt. Ein dunkelrotes Stufenheck, das sie vom Opa geerbt hatte. Unzufrieden warf Lena sich auf einen Barhocker. "Der alte Mistbock läuft und läuft und läuft. Solange die Karre nicht aufsteckt, bekomm ich nie und nimmer das Geld für was neues von den Alten. Aber hat auch ein Gutes. Er kostet kaum was, weil er nie kaputtgeht. Seit Lukas mal mit einem Mechaniker geschlafen hat, der das wenige, das anfällt für fast lau macht, muss ich nur noch Haftpflicht und Diesel berappen."

Sie trank aus der Flasche und lehnte sich über den Tresen, zeigte mehr Busen im Dekolleté, als Kai lieb war, und ließ sich von ihm berichten, wie die Bambi-Krise abgelaufen war. Sie fragte ihn gekonnt nach Details aus. Die Eltern Fröhlich und wie die so drauf waren, das Bambi und ob er und Ansgar sich irgendwie ähnlich sein mochten. Und natürlich Lukas und wie er sich benommen hatte.

Dazu sagte sie erstaunlich frei heraus. "Ich hab Lukas verboten, mit dem Bambi zu flirten. Minderjährig... erst vierzehn sagst du! Ich glaub, es geht los! Er ist bei der Polizei. Reichte mir schon, dass er mir auf der Party meine ganzen Pusher weggefuttert hat, der Arsch."

"Deswegen war er so dicht?"

"Hm. Ich hatte die für einen Rave nächste Woche geplant. Für mich selber. Er meinte, dass er mich nur vor mir selber schützen wollte... letztes Mal hat er sie ins Klo gekippt, dieses Mal in sich selber. Große Brüder sind die Pest, die Cholera und die Krätze!"

Kai lachte und fragte beim Thema große Brüder verweilend seinerseits, ob Ansgar nun bald ausziehen würde. Lena zuckte mit den Schultern und steckte die weißblonden Haare neu hoch. "Der Typ hat Spaßfrei im Blut, aber er zahlt die Miete, klaut uns nicht die Sachen und hat eine echt geile Anlage." Sie seufzte. "Er kennt sich mit den neusten Musikprogrammen aus wie kein zweiter. In seinem Zimmer ist im Prinzip ein Tonstudio eingerichtet. Wer was abgemischt oder aufgenommen haben will, geht zu Ansgar, das ist klar. Er kennt sich saugut aus, hat einen haarfeinen Draht zu den Sachen, die in London gerade angesagt sind." Sie kniff Daumen und Zeigefinger zusammen und schielte niedlich darauf. "Er macht auch selber Musik. Die ganze Familie hat wohl so Musikergene. Die spielen jedenfalls lauter Instrumente."

"Bardo singt in einem Chor."

"Ja. Der ist das mit der geilen Stimme! Genau. Ansgar hat einmal Aufnahmen mit seinen Brüdern und seiner Schwester gemacht. Für seine Oma zu Weihnachten. Die CD hat er uns vorgeführt, ob alles gut klingt. Das war... ich glaub, ich musste heulen, so schön haben die gesungen." Nostalgisch seufzte sie einmal. "Ansgar ist außerdem nicht allergisch auf die Katze. Nee, der bleibt, da müssen wir alle durch seine spießige Art durch."

"Wie kommt der eigentlich dazu, bei euch zu wohnen?"

"Er hat die WG damals mit den anderen beiden gegründet. Er legt auch auf, privat vermehrt in so alternativen Läden, Heavy Metal Partys sind so sein Ding."

Das hätte Kai nicht gedacht, aber wollte sich auch nicht weiter über Ansgar oder Bardo mit Lena unterhalten. Henrike lehnte in der Nähe und beobachtete sie, sodass Kai sie mit einem Handzeichen auf die dreckigen Tische und die Uhrzeit aufmerksam machte. Hinter ihm wischte eines der anderen Mädchen am Tresen rum und starrte sich im Spiegel selber an. Genervt trat er zu ihr. "Ich mache die Theke allein klar. Die Maschine ist gleich durch, hol lieber die restlichen Gläser." Sie verzog missmutig den Mund, aber trabte wieder ab.

Lena lachte auf. "Du bist ja ein Sklaventreiber, Kai!"

"Ich schließe heute, und ich will mal langsam nach Hause. Das ist alles!"

"Zu deinem Loverboy? Ich habs auf der Party gesehen, aber verstehen muss ich es nicht. Lukas kann es auch nicht begreifen. Es ist kaum zu fassen, dass du den kleinen Megamacho ranlässt, wo du Lukas so kalt aus dem Bett rausgeworfen hast, Kai."

"Ich kann nicht glauben, dass du so etwas mit Lukas besprichst! Oder er mit dir!"

"Warum?"

"Seid ihr nicht Geschwister?"

Lena trank noch einen Schluck Wasser und drehte sich ein wenig besser ins Profil. "Er ist mein Lieblingsbruder, war schon immer so. Ist auch nur ein Jahr älter. Wir sind früher auf dem Dorf immer zusammen weg. Wenn Lukas mit war, durfte ich auch weg. Lukas hat mich nie verraten, wenn ich an der Ecke zur Bushaltestelle dann schon mit meinem jeweils angesagten Freund im Auto gar nicht zur Dorfkneipe, sondern in die Discos und Clubs in der Stadt gerauscht bin. Er hat sogar mein Fahrrad nachts wieder mit nach Haus gebracht, sodass Pa immer schön dachte, ich bin brav damit zurück." Sie lächelte. "Der perfekte Bruder eben."

Kai hätte sich so einen Bruder auch gewünscht, sehr gewünscht und nickte ein wenig neidisch. Ohne hinzusehen schraubte er die leeren Fässer für Cola und Wasser aus der Anlage und ärgerte sich, dass Bastian nicht da war, um ihm mit der Schlepperei zum Lager zu helfen.

Lena leerte ihre Flasche und seufzte. "Und endlich konnte ich mich dann irgendwann revanchieren. Ist halt so, dass ich zu ihm gehalten habe, als er das mit dem Schwulsein festgestellt hat. Das kam auch irgendwie durch die Clubs, in denen ich aufgelegt hab. Und dann hat er sich in Felix verknallt, und verknallt ist bei den beiden echt der richtige Ausdruck gewesen. Mannometer, hat das da immer gerappelt. Will nicht wissen, wie viel Versöhnungssex die zwei immer so hatten. Wegen Felix hat er sich endlich bei den Eltern daheim geoutet, da hab ich ihm die Hand gehalten. Vor ein paar Jahren. Es war eine harte Zeit für ihn, weil er schon mitten in der Polizeilaufbahn steckte. Aber seine Kollegen sind sehr cool damit umgegangen. Seit der Zeit sind wir so tight." Sie warf Henrike einen Blick hinterher, als diese mit einem Tablett davonging, um auf der Galerie die letzten Gläser einzusammeln.

Kai zerlegte die Espressomaschinen und warf die Reinigertabletten hinein. "Hat Henrike dich vom Tattoo abgehalten?"

"Nein. Die war zwar auch bei Tanja, aber nein. Irgendwas ist an dem Bild noch nicht richtig. Henrike hatte das aufgebracht und Tanja war auch der Meinung. Wir machen das in ein paar Wochen noch einmal."

"Sie steht auf dich."

"Tanja?"

"Henrike."

Lena blinzelte überrascht und folgte der kleinen Kellnerin mit Blicken die Galerie hinauf. Er zog die Brauen zusammen und folgte ihrem Blick. Er versuchte Henrike als Lustobjekt zu sehen, und das schlug komplett fehl. Henrike war wie immer. Ein energischer, sehr fröhlicher Zwerg, heute mit blondiertem Kurzhaarschnitt, was zu ihrem dunklen Teint exotisch aussah. Sie trug einen knappen schwarzen Rock zu stylisch zerrissenen Netzstrumpfhosen und Doc Martins. Das LPP-Shirt war heute dunkelrot, was Kai überhaupt nicht stand, aber an Henrike gut aussah.

"Ist sie lesbisch, oder will sie nur mal was ausprobieren?" Man konnte raushören, dass Lena Lust hatte, auf gleich was. Auch sie war Sex in konzentrierter Form. Musste in der Familie liegen.

Kai spürte, wie seine Ohren heiß wurden. "Woher soll ich das wissen?"

"Probieren wie Tini, meinte ich." Lenas Raubtierblick fuhr zu Kai herum, dann grinste sie. "Tini wollte aber nicht einfach rumprobieren. Sie wollte Heilung von diesem Trauma mit dem Ex, dessen Namen sie nicht mal spricht. Und von dir hat sie genau das bekommen."

"Bitte, keine Details. Mir ist auch so schon schlecht."

"Ja, sie meinte schon, dass du dich echt angestellt hast, bloß wegen Sex, bei dem, wenn ich das richtig mitbekommen habe, so ziemlich nichts gelaufen ist." Lena reichte Kai ihre leere Flasche rüber und umfing sein Handgelenk, als er nach ihr griff. "Ich hab sie ein wenig beneidet... dich einmal besitzen zu dürfen. Es ist wirklich genau wie Lukas gesagt hat. Man ist bereit, dich zu übergehen, nur um dich haben zu können." Mit schmalen Augen sah sie ihn an. "Jan weiß sicherlich nicht, wie viel Glück er hat."

"Ich hab Glück, dass ich ihn hab!" Genervt entriss Kai ihr sein Handgelenk. Lena und Lukas redeten definitiv zu viel miteinander.

Aber Lena auf Henrike hinzuweisen, schien nicht schlecht gewesen zu sein. Die beiden redeten noch an der Bar, als Kai mit schlechter Laune und dem Tablett für die Blumenvasen in die Lounge durchging, um alle rauszuwerfen. Henrike trug schon ihr eigenes Langarmshirt und kramte in ihrem Umhängebeutel, um Lena ihre Handynummer zu geben.

Bianca und Thilo waren zum Glück gerade dabei, sich in ihre Jacken zu verpacken. Bianca ließ es sich nicht nehmen, Kai einen dummen Spruch zu gönnen, aber sie stockte mitten im "Viel Spaß mit den Spülhänden...", weil Jan durch die Tür kam. Er entlastete sein Bein noch immer ein wenig.

Kai seufzte und nahm den beiden die halbvollen Gläser weg. "Gute Nacht."

Leider ließ Bianca Thilo für Jan sofort stehen und ging, energisch wie immer, zu ihm nach vorn durch, begrüßte ihn mit einem Kuss. "Na?"

Jan blickte sie misstrauisch an, dann sah er Thilo und grinste. "Und? Heff ick dat nich secht, min deern? He hett di dür."

Bianca hob die Schultern. "Hett du secht. Aver it is keen leeven, Jan. Nich mit mir." Sie tat betont cool, als hätte sie nicht eben gerade noch versucht, Thilos Mandeln mit ihrer Zunge zu finden. Genervt wandte Kai sich ab. Das war ja klar. Bianca sprach auch Plattdeutsch und konnte Jan verstehen, während er selber nach dem ersten Wort ausstieg und sich dumm vorkam. Nach einem Seitenblick stellte er fest, dass es Thilo auch so ging.

Kai stellte die Blumenvasen zur Spüle und legte die Blumen in das Obstfach des Kühlschranks, damit sie länger hielten. Dann trat er zu Thilo und Jan und fragte seinen Freund um Bianca herumgehend "Willst du noch was trinken? Ich bin heute mit Abschließen dran, dauert noch ein wenig."

"Danke nein. Ich warte einfach." Jan lehnte sich dichter, aber Kai flüchtete rasch mit dem Tablett weiter durch zu Lena und Henrike. Die beiden Kellnerinnen und der Koch gingen gerade und sie winkten einander rasch zu. Die Kellnerin mit einem etwas zickigen Ausdruck im Gesicht, weil er sie so gescheucht hatte. Kai machte mit Scheuchen gleich weiter. "Lena, Henrike, geht. Jetzt. Ich will zuschließen."

Lenas Finger spielten mit den Wagenschlüsseln. Sie hatte eine AIDS-Schleife aus Metall, eine Regenbogenfahne aus Gummi, zwei Weiblichkeitssymbole und zwei Männlichkeitssymbole, jeweils ineinander verschlungen, sowie ein Mäppchen mit Kondom daran. Alles zusammen hätte Kai den Schlüsselbund eher Lolli zugetraut, als Lena. "Ich kann dich mitnehmen, Henri. Ist kein Umweg." Ihr Blick war nun wirklich genau derselbe wie bei Lukas, wenn er Beute machen wollte.

Fast hätte Kai ihnen 'Viel Spaß' hinterhergerufen. Aber zum einen kam Bianca mit Thilo hinter Jan her auf seine Seite der Theke, und zum anderen wollte Kai sich die Sorte Spaß gar nicht vorstellen. Erschaudernd trank er sein Eiswasser aus und löschte die Lichter umher. Als er den Inhalt der Kasse in Leons Safe deponiert hatte, standen da noch immer drei Leute an der Bar. Zwei zu viel.

Bianca und Jan sprachen über seine Verletzung, sie gab ihm die Handynummer von einem Physiotherapeuten. Thilo stand hinter Bianca. Er konnte ihr zwar über die Schulter sehen, wirkte aber ein wenig abgeschoben. Kai nahm eindeutig wahr, dass Bianca ihn nicht richtig an sich ranlassen wollte. Es war, als ob sie gar nichts mit Thilo zu tun haben wollte, sobald Jan in der Nähe war.

Von dieser miesen Art genervt verschränkte er die Arme. "Könnt ihr bitte draußen warten?" Er sah Jan kurz an. "Wo stehst du? Ich komm einfach zum Wagen."

Jan schüttelte den Kopf. "Geht schon, geht schon. Viel Spaß noch!" Er schob Bianca regelrecht zur Tür raus.

Hastig legte Kai die Riegel vor die Glastüren und schloss aufatmend ab. "Gott, ich hasse es, wenn sie hier rumhängt. Komm mit durch, wir gehen hinten raus." Er machte die Alarmanlage scharf und zog sich das T-Shirt aus, nahm sich sein eigenes aus dem Schließfach. Am Wäschesack beim Personalklo zwischen dem Flur zur Hintertür und der Küche wurde Kai von Jan angefallen und in den Nacken gebissen.

"Jan! Scheiße, aua!"

Jan lachte leise. "Strafe muss sein. Immer ignorierst du mich. Gerade Bianca würde es mal gut tun, wenn sie wirklich auch sieht, dass wir zusammen sind, Baby." Mit den Händen strich Jan Kais nackten Oberkörper entlang, mit der Zunge zeichnete er eine Spur an der Halsseite zum Ohr hinauf.

Kai schloss erst die Augen, dann blinzelte er den Flur runter, erinnerte sich an die Überwachungskameras und zerrte Jan am Handgelenk rum und in die Personaltoilette hinein. Hastig schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Gleich darauf wurden seine Hände umfangen und er wurde gegen die Tür gepresst. Jan lehnte sich schwer gegen ihn, schob ein Knie zwischen seine Beine. Erst nach einer nicht gerade zarten Knutscherei, die mit einer Hand auf Kais Hosenstall schon fast zum Vorspiel wurde, und ihm dazu einige Knutschflecken auf der Schulter und am Nacken einbrachte, kam er wieder zu Atem. "Oh Gott... wenn du nicht gleich aufhörst..."

Jans Finger schoben sich vorn in Kais Jeans. "...dann?" Die Hose wurde mit einem ungeduldigen Ruck geöffnet und Jans Lippen, hier und dort auch seine Zähne, machten sich auf eine Wanderschaft seine Brust hinunter. Kai wurde heiß und kalt, gebannt verfolgte er, wie Jan ihn erkundete. Auf Höhe von Kais Bauchnabel blickte Jan zu ihm auf, bevor er sich, wegen seiner Prellung leise ächzend, weiter hinab bewegte. "Was ist dann?"

Kai schloss die Augen und verweigerte die Aussage. Er biss sich gleich drauf ohnehin auf die Fingerknöchel, um nicht laut zu stöhnen, als Jan bei seinem Schoß anlangte und ihn zu küssen und mit der Zungenspitze neckend zu streicheln begann. Seine Finger gruben sich fest in Kais Hüften, obwohl Kai an die Tür gepresst ohnehin nicht hätte ausweichen können. Mit seinem Glied in Jans Mund würde ihm so etwas auch nicht einfallen. Erst kurz vor dem Höhepunkt wurde Kai klar, dass sie es im LPP machten, auf der Arbeit. Aber da war es schon zu spät, Kai krallte die Finger in Jans dichte Haare und genoss die Gefühle. Er lehnte den Kopf aufatmend an die Tür zurück und ließ sich mit einem rauen Papiertuch abwischen. Jan zog ihm die Hose über den Hintern hoch, aber Kai wehrte seine Hände ab. "Scheiße, Jan."

Jan lachte. "Hilf mir mal auf, mir tut immer noch alles weh."

Kai zerrte ihn zu sich rauf und gleich in einen Zungenkuss, der ihnen beiden den Atem raubte. Mit Schwung schob er Jan gegen den Waschtisch weiter nach hinten durch und drängte sich zwischen seine Beine. Sie bewegten sich unwillkürlich gegeneinander. Kai wollte auf keinen Fall eine Pause einlegen, bevor Jan nicht auch gekommen war. Wenn er erst einmal innehielt beim Sex, kam er zu schwer wieder in Stimmung, das wusste er auch so. Doch Jan ließ ihn auch gar nicht zur Besinnung kommen, machte sofort mit. Eigentlich hatte Kai ein langsameres Tempo vor. Jan ließ ihn jedoch nicht einmal zu Atem kommen, sondern heizte ihn mit wilden Küssen an, umfing Kais Hintern mit fast schon schmerzhaft festem Griff. Von den Dingen, die er mit den Hüften tat, wurde Kai ohnehin ganz schwindelig.

Kais Finger waren bereits einen Moment später mit dem Reißverschluss von Jans Jeans befasst. Er hatte die Hose gerade weit genug auf und die enge Shorts runter gezerrt, um den harten Penis herauszubekommen und mit einer Hand zu umfassen, als Jan ihn gegen sich und herumzog. Kai wurde auf den Waschtisch geschoben und lehnte sich gegen den Spiegel zurück, ließ Jan zu, der sich gegen ihn zu reiben begann.

Kai schob seine Finger zwischen sie und umfing ihn fest mit einer Hand. Er spürte, dass er selber schon wieder hart wurde. Verdammter Jan! Musste der so geil aussehen und ihn immer so scharf machen? Verzweifelt biss er sich auf die Lippen, um ein zu lautes Keuchen zu unterdrücken. Hier im gekachelten Waschraum hallten ihre Stimmen so laut. Alle Rücksicht war gleich darauf natürlich vollkommen vergebens, als Jan sich unbesorgt laut stöhnend schneller gegen Kais Finger bewegte und mit einem heiseren Aufschrei kam.

Kai ließ seine Stirn an Jans Schulter sinken und versuchte sich wieder etwas abzuregen. Betont gefühllos und abweisend wischte er auf seinem Freund rum. Dummerweise lenkte das seinen Blick auf das noch leicht angespannte Muskelrelief auf Jans Bauch, zum Becken hin trafen die schrägen Bauchmuskeln perfekt definiert zusammen. Aus seinem Wischen wurde unbeabsichtigt ein Streicheln. Gott, musste das sein, dass sein Freund ausgerechnet sogar in diesem pissigen Neonlicht einfach nur geil aussah? Kai schloss die Augen und verfluchte, dass er so auf diesen Körper reagieren musste. Verdammt. Jetzt waren sie beide gekommen und er war schon wieder geil ohne Ende? Das würde echt doof auf der Heimfahrt werden.

Aber Jan lehnte sich seufzend der Länge nach gegen Kai und küsste ihn auf den Mund, dann grinste er und hielt Kai wie aus dem Nichts gezaubert zwischen zwei Fingern ein Kondom vor die Augen. Er rückte ein wenig von ihm ab, strich mit dem Päckchen auf Kais Bauch entlang, sodass er eben den Eigenreflex in der Bauchhaut auslöste, was Kai nicht bei der Geilheit half. Er schob Kai das Kondom in den Gummibund der Shorts. Mit flachen Händen fuhr er dann an Kais Seiten herum bis auf die Hüften und von dort auf den Hintern, zog ihn mit einem Ruck gegen sich. Er blickte ihm noch immer schwer atmend in die Augen. "Mehr." Das Wort war nur geflüstert, aber Kais Körper überzog sich sofort komplett mit einer Gänsehaut.

Sie kamen erst über eine Stunde später aus dem LPP heraus und Kai war sich sicher, dass er nun selber mindestens so einen Muskelkater haben würde wie Jan. Wozu brauchte er Sport? Er hatte einen Freund, der sexmanisch war und es an sehr kreativen Orten mit ihm treiben wollte. Zum Beispiel hätte Kai nie gedacht, dass die Tiefkühltruhe hinten in der Küche genau die richtige Höhe hatte. Außerdem war es ihm hinterher, als er sich wieder abgekühlt hatte und runtergekommen war, hochgradig peinlich, in der Küche Sex gehabt zu haben.

Ganz offensichtlich war es Jan nicht peinlich, der hatte es so was von nötig gehabt, dass Kai sich seinen hungrigen Blicken und der heiseren dunklen Bettstimme nicht hatte widersetzen können. Außerdem hatte Jan alles dabei gehabt, was man für wilden Sex brauchte. Misstrauisch warf Kai seinem hochzufriedenen Freund einen Blick zu.

Er sank am Golf angekommen auf den Beifahrersitz und ächzte leise. "Gott, musste das sein? Mir tut alles weh."

Jan grinste ihn an. "Das musste sein. Ich war geil und wollte nicht warten."

Kai schielte zu seinem Freund rüber. Immerhin tat ihm nicht der Hintern weh, Jan hatte unten gelegen. Schon wieder. "Wie hältst du das eigentlich aus? Dir tut es doch mehr weh als mir, oder? Ich meine... du weißt schon."

"Ach was! Okay, du warst eben ziemlich wild und unvorsichtig, Baby. Na klar zwiebelt das etwas, aber das ist es echt wert jedes Mal." Jan lachte sich fröhlich und ungemein befriedigt durch den ganzen Heimweg, der dank ausgeschalteter Ampelanlagen und einer deutlich zu hohen Geschwindigkeit nur halb so lang erschien.

Der Vorteil von all dem Sex war, dass Kai nach einer schnellen Dusche komplett entspannt und zufrieden einschlummerte und nicht erst noch runterkommen musste, wie sonst nach dem Jobben.

Jan verschwand am Sonntagmorgen zu irgendeinem Physiotherapeuten, als Kai noch versuchte, sich unter den Decken im Bett tot zu stellen. Nach der Behandlung humpelte Jan fast noch ein wenig mehr, aber Kai und er wollten fürs erste keinen Sex mehr nach den Eskapaden im LPP. Kai hatte Sexmuskelkater, das war offiziell. Sogar Lolli fiel das auf, als er zu ihnen kam, um den Hocker fertigzumachen. Vielleicht waren es aber auch die nicht so kleine Anzahl Knutschflecken, die Jan Kai in der Nacht verpasst hatte.

Kai ließ sich sehr vorsichtig am Esstisch vor seinen Büchern nieder und Lollis Blick bekam den Sternchenaspekt, vor dem sogar Lukas Angst hatte. "Kai, Kai, Kaichen. Ich sehe es und ich sehe es wieder, aber kapieren werde ich es nie. Dass du tatsächlich wen gefunden hast, der dich rumkriegt und so viel ins Bett, dass du so ausschaust am nächsten Tag. Maus, ich bin stolz auf dich."

Kai ächzte leise und verlagerte sein Gewicht. Die Märzsonne schien ihm auf den Rücken und machte ihm gute Laune, aber seine Muskeln in den Beinen und am Po schmerzten wie nach einer Bergwandertour. Er gönnte Lolli eine kleine Indiskretion, indem er murrte "Wenn es wenigstens ein Bett gewesen wäre. Jan wird irgendwann mein Tod sein, soviel ist klar."

Unbesorgt lachte Lolli und riss die Arme hoch. "Juhuu! Du musst nur fitter werden, du wilde Maus. Geh doch mal zum Unisport. Kostet nix und es laufen tonnenweise süße Boytoys da rum."

"Muss ich wirklich mal machen." Nachdenklich überlegte Kai, ob er sich einfach ein affenartig teures Funktionsshirt zulegen sollte, so wie Jan sie im Schrank liegen hatte, um sich durch diese Investition dann zum Sport zu zwingen. Müde beobachtete er Lolli bei der Arbeit. Mit etwas hellgrauem Lack und Stoff wurde der Hocker an das Sofa angepasst und endlich auch der Couchtisch schon mal abgelaugt und mit irgendwelchem Wachs auf antik getrimmt. Kai war richtig zufrieden, weil nun nur noch der indische Teppich weg musste, um ihre Wohnung richtig schön zu machen.

Und Lolli machte Fotos von den Möbeln, um damit irgendwo angeben zu können. Dann nähte er glücklich vor sich hin summend aus Reststoff und einem Rest Schaumstoff vom Polster rasend schnell noch zwei lange Kissen für die Sitzbänke am Esstisch, sodass sie wirklich ganz fantastisch eingerichtet waren nach nur zwei Tagen. Das gab sogar Jan zu, als er wieder zurückgehumpelt kam, um auf dem Sofa niederzusinken. Zum Schein nahm Jan sich das Histologieskript auf und döste weg, als Lolli eine Pause einlegte.

Zu seinem Krawall mit Ansgar gestand Lolli Kai über einer Tasse Kaffee mit Schuss Eierlikör, dass er in Wut geredet tatsächlich die Eltern vom Bambi ausgeblendet hatte. "Wenn du sie noch einmal sehen solltest, Kai, dann entschuldige dich doch mal in meinem Namen. War schon peinlich."

"Dir ist was peinlich? Ich mach gleich mal ein Kreuz in meinen Kalender."

"Blöde Kuh. Ich habe auch Gefühle." Lolli grinste und leckte den Löffel mit Eierlikörresten ab. "Wie auch immer, wenn ich mich entschuldigen fahre, kriegen Ansgar und seine Mutter einen Apoplex. Ich bin vieles, aber eine Mörderin bin ich nicht."

Lolli hatte sich sehr umfangreich mit Jan über HIV unterhalten. Jan hatte auch zu diesem Thema ein erstaunlich fundiertes Wissen. Auch was die Testmethoden und die möglichen Ursachen für einen falsch positiven Test anging. Kai lernte gerade Mikrobiologie und schlug nachdenklich in seinem Buch die HIV-Seiten auf. Er wollte das eigentlich gar nicht lesen. Eigentlich wollte er, speziell nach so einer wilden Nacht mit Jan, gar nicht über diese Dinge nachdenken. Ein wenig war er noch immer dankbar, dass Jan auf Kondome bestand. Die Sicherheit trotz der festen Beziehung tat Kai jetzt bei Licht betrachtet gut, auch wenn es gelegentlich umständlich war oder die Stimmung störte.

Er saß nach dem Kaffeetrinken wieder über seinem Stoff und blendete die beiden anderen aus und überließ sie dem nächsten Thema. Der Bardo-Krise und einer hitzigen Diskussion darüber, ob sie dem Jungen nun halfen oder ihn verpimpelten. Lolli nähte die Kissen, Jan lag auf dem Sofa mit seinem Skript und Zerrung und Prellung und sicherlich auch ein wenig Sexmuskelkater... jedenfalls wäre es nur fair. Der Kleine interessierte Lolli eigentlich weniger als seine eigene Frisur, aber er fühlte sich bemüßigt, Kai und Jan noch einmal vor der kriminellen Energie eines notgeilen Teenagers zu warnen.

"Passt bloß auf, meine Süßen. So ein Teeny in love, oder in lust vielmehr, ist echt hart zu verwalten. Der kleine Hase wird euch so richtig gegen die Eltern ausspielen und in den Wahnsinn treiben."

Kai nippte von seinem Milchkaffee und saß mit dem Buch am offenen Veluxfenster in der Küche, weil er von den Lackdämpfen Kopfweh bekam. "Wir werden ja wohl hoffentlich bald Schnee von gestern sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bambi sich weiter an uns hängt, wenn er zu ihm passende Jungs in seinem Alter kennengelernt hat. Der muss jetzt doch eh mit seiner Familie klarkommen. So schnell sehen wir den nicht wieder."

Natürlich war diese Prophezeiung komplett für den Arsch, als Bardo bereits am selben Abend in der Tür stand und Kai und Jan empfindlich mitten in einer ziemlich romantischen Massagestunde störte, die sich aus dem beiderseitigen Muskelkater ergeben hatte. Und etwas daran war sehr beängstigend. Bardo hatte eine große, sehr volle Sporttasche, seinen Schulrucksack und einen riesenhaften, kurvigen schwarzen Koffer mit. Sein Cello. Er blinzelte Kai und Jan hoffnungsvoll an. "Ich hab es nicht mehr ausgehalten. Dauernd wollten sie mit mir reden und Halvar hat... er hat mich..." Tränen stiegen in die Rehaugen auf und Jan seufzte leise.

Kai, in Shorts und dem hastig übergeworfenen T-Shirt von Jan, konnte gar nicht mehr so sauer starren, wie er sich fühlte. "Ach, Scheiße!" Er knallte wütend die Schlafzimmertür, um Jan die Sache zu überlassen. Hätte er das mal nicht gemacht. Jan ließ sich natürlich vom Bambi überreden, er ließ ihn bleiben.

Bardos Mutter und Jan führten ein Telefonat und der Kleine erhielt die Erlaubnis, ein paar Tage auszulagern. Der Anlass war wohl ein ziemlicher Krawall mit dem ältesten Bruder Ansgar gewesen. Und auch wenn Ansgar Spaßverderber nicht gerade gut auf alle schwulen Männer zu sprechen war, hatten er und Bardo sich ziemlich nahe gestanden. Und der Streit hatte Bardo sehr mitgenommen, wie auch der Umstand, dass Ansgar es nicht akzeptieren wollte, dass ausgerechnet sein Bruder zu den Perversen gehören sollte.

Offenbar waren zusätzlich die kleineren Brüder von Bardo gerade in einem Alter, in dem man den großen Bruder ärgerte. Der arme Bardo war in den Genuss sämtlicher Schimpfworte für Schwule geraten, die ein Fünftklässler so auf Lager hatte. Es waren, laut der Mutter, nicht wenige gewesen und die Kreativität wurde nur noch durch die verletzende Art überboten. Die Erlaubnis zu diesem Urlaub bei Jan wurde von den Ergebnissen von einer Lateinarbeit und einem Deutschreferat abhängig gemacht, die bei Bardo in der Woche anstanden.

Allerdings brachte Jans schlechtes Gewissen Kai in den Genuss von sehr nettem Überredungssex, bei dem Kai sich gar nicht bewegen musste, dann noch so einer Art Versöhnungssex, bei dem Kai sich glücklicherweise ein wenig bewegen musste, aber nur in seinem Interesse, und endlich einem Frühstück im Bett. "Damit wir noch ein wenig für uns sind, Baby, bevor die Woche wieder so durchstartet."

Kai blinzelte ihn misstrauisch an. "Hm."

Jan schob Kai einen großen Teller auf den Schoß, auf dem zwei Croissants lagen, und stellte einen Becher Milchkaffee auf den Nachttisch. Er schnappte eines der Croissants vom Teller und aß es fast in einem Stück, womit sein Frühstück im Bett schon wieder abgefeiert war. Während Jan einen Korb mit frischer Wäsche, vermutlich alles Sportklamotten, in seinen Schrank sortierte, wurde Kai erst einmal vorsichtig wach.

Jan legte Kai zwei T-Shirts auf den Schreibtisch. "Immerhin hast du in dieser Woche zwar Geburtstag, aber ich hab Donnerstag Klausur, du am Freitag und ich hab Freitag das elende Nachtestat von dem Fiasko in Histologie neulich. Da hat mich die blöde verklemmte Schnatze voll durchrauschen lassen."

Kai nippte von seinem Kaffee, bemerkte nun erst so richtig, dass er noch nackt war, und streckte sich. Jetzt tat ihm die ganze Muskelgruppe um die Hüften, Oberschenkel und den Hintern herum weh. Das war ein echt anstrengendes Wochenende gewesen. "Ist unser Bambi schon zur Schule gehoppelt?"

Jan nickte. "Er hat danach noch Cellospielen. Ich hab ihm gesagt, dass er sich dann bei dir im LPP melden und den Schlüssel dort von dir holen soll, wenn er noch meint, bei uns bleiben zu müssen. So haben wir ihn besser unter Kontrolle. Ich rede Mittwoch mal mit seinem Vater, damit das ein Ende hat mit unserem Jugendbetreuungsservice."

Kai seufzte leise. "Immerhin hat er uns das Wochenende nicht komplett versaut. Wie fühlst du dich? Immer noch Muskelkater?"

Jan ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder und drehte sich ein wenig. "Ist schon wieder ganz gut. Der ganze Sex war vielleicht kein schlechtes Erholungstraining. Freitagabend haben wir das Auswärtsspiel."

"Ich wollte vielleicht eine Runde shoppen gehen, brauch eine neue Hose."

"Is jut. Bei mir wird das spät. Danach bin ich noch im Verein. Das wird mit der Siegesfeier sicherlich dauern, das Team schlagen wir bestimmt. Wie wäre es, Kai, wenn wir uns am Samstag zusammen was überlegen? Willst du weggehen?"

Kai hob die Schultern. "Gott, eigentlich nicht. Nein. Ich wollte eigentlich lieber am Samstag im LPP vorarbeiten und..."

"Nee. Das ist doof, Kai."

"… und dann nächstes Wochenende frei machen wie geplant, dann könnten wir zum Ferienhaus fahren, oder? Geh du lieber mit Thilo weg oder so."

"Na gut. Aber irgendwie finde ich es blöd, gar nichts zusammen zu machen."

"Ich finde es gut." Er versenkte sich in seinen Becher und murmelte: „Will eh nicht dran erinnert werden, so ein Mist."

"Kai, du Depp! Du wirst doch nicht vierzig oder so!" Und damit wurde Jans Romantikabteilung geschlossen. Er sprang auf. "Wir sehen uns heute Abend."

Kai stellte seinen Becher hastig ab und schob sich vorsichtig aus dem Bett. "Kannst du mir Mittwoch mal mit meinem Fahrrad helfen? Die Reifen sind beide platt."

"Dann hol' du aber schon mal die neuen Schläuche. Vorn neben dem Bäcker ist ein Radladen, die sind vernünftig." Jan bemerkte in diesem Moment, dass Kai noch nackt war und grinste. "Hab ich dich mal geschafft gestern, Baby?" Er küsste Kai auf den Nacken und kniff ihn fies in den Po. Kai blickte sich verrenkend und sauer auf noch einen blauen Fleck an seinem Körper, als die Wohnungstür klappte.

Kapitel 94

Der Montagmorgen wurde für Kai nicht so erholsam, wie gewünscht. Und Lolli war indirekt daran schuld. Kai wollte sich gerade samt Milchkaffee in sein Lernpensum versenken, als das Handy ihm seinen Exmitbewohner anzeigte. Aufgeregt redete Lolli gleich los. "Maus! Du musst sofort ausrücken und dich zum Angriff bereit machen!"

"Bitte?"

"Ich bin im Laden und wir haben 'die' Teile für dich bekommen. Einfach nur scharf. Superscharf! Komm so schnell du kannst! Ich zeichne den Kram gerade aus und ich bin mir sicher, dass diese eine Hose... hach, ich leg dir das mal gleich zurück."

Kai blinzelte und überlegte. Eigentlich wollte er nicht so auf Befehl einkaufen gehen, aber er hatte gerade zwei Oberteile verwaschen und aussortiert und seine silberne Partyhose ausgemistet. Er brauchte dringend Ersatz dafür. In letzter Zeit hatte er sich gerade bei Partys im LPP nicht gut genug angezogen gefühlt. Gnädig ergab er sich dem Befehl. "Ich komme gleich. Soll ich dir so einen affenartig teuren Kaffee mitbringen, wenn ich am LPP vorbeigehe?"

"Au ja! Mit Haselnuss? Danke, du süßer Mauseschatz!"

Mühsam zog Kai sich die Schuhe an und nahm seinen Rucksack für die Uni und den letzten Vorrat an Trinkgeld gleich mit. Eigentlich sollte er ja für die Bücher sparen, aber Kai gab es zu. Irgendwie hatte er das Geld verdient und wollte sich davon auch mal etwas nur für sich kaufen. Etwas, das ihm Spaß machte.

Er ging im LPP vorbei und holte sich einen Haselnusskaffee für lau, weil Bastian schon da war und ihm den ausgab. Der nächste Weg führte ihn in den Klamottenladen, in dem Lolli einmal die Woche jobbte. Vermutlich tat Lolli das, weil er dort Prozente bekam und selbst einer der besten Kunden war, aber es hatte Kai schon einige sehr scharfe Oberteile und die silberne Hose eingebracht.

Der Laden war einer von der Sorte, die Kai sonst nie und nimmer betreten hätte. Ein Shop, in dem überall Spiegel hingen und die Klamotten irgendwie wirr zueinander sortiert waren. Die eigene Größe musste man sich von den Verkäufern raussuchen lassen, was nervig war. Gepiercte, megacoole Tussen an der Kasse bedienten eher widerwillig und die Preise entsprachen durchaus mal seiner Monatsmiete.

Jeden Montag aber jobbte Lolli dort eingehüllt in rasend laute Musik, Spiegel, gepiercte Tussen und ein Gewühl aus Partyklamotten. Und Lolli zitierte ihn gern einmal hin, wenn die neue Lieferung eintraf und er räumte Kai stets einen guten Rabatt ein. Lolli war beliebt bei den Kunden, weil er selber sich permanent aus der Kollektion einkleidete, jeden sofort komplett distanzlos anfiel und ungefragt beriet und weil er tatsächlich einen affenartig guten Geschmack hatte. Auch wenn er selber immer schrill gekleidet war, sah er sofort, was zu anderen passte.

Darum reichte er Kai auch nicht die rotglänzende Kreation, die der misstrauisch beäugt hatte, in die Kabine, in die er ihn nach einem Begrüßungsküsschen verfrachtete, sondern eine olivgrüne enge Hose mit Taschen an sehr interessanten Stellen auf den Beinen, dem Hintern und vorn im Schritt. Lolli schnippte dagegen "Für Kondome perfekt, oder? Geiles Teil, nicht? Du kriegst Prozente. Ich hol dir passende Oberteile, zieh bloß diesen ätzenden Pullover aus!"

Kai zerrte sich ein wenig gereizt seinen beigen Lieblingspullover über den Kopf. Er bemerkte mit ungutem Gefühl, dass er für diese Hose einen Schuhanzieher für den Hintern brauchte, aber einmal auf seinen Körper gepellt sah sie auch aus wie angeboren. Im Schritt saß sie angenehm locker, an den Beinen eng genug, ohne ihn dünn aussehen zu lassen. Es war in der Tat ein geiles Teil. Unsicher drehte er sich mit nacktem Oberkörper vor dem Spiegel hin und her. Lolli suchte ihn in der engen Kabine heim wie eine Invasion. "Oh... Oooohhooo, Maus! Wie geil! Gott, hat Jan dich vielleicht gebissen. Ihr seid mir vielleicht welche, ihr zwei." Er hopste einmal auf und nieder. "Tinihiiii, schau dir das mal an!"

Kai fuhr zu seinem Pullover herum, aber war zu langsam. Tini stapelte sich zu ihnen in die Kabine. "Morgen." Ihre Stimme klang dünn, etwas enttäuscht und empfindlich. Kai war schon genervt von ihr, bevor sie zu ihm aufrückte.

"Raus!"

Sie drehte ihn unbeeindruckt von sich weg, dann kicherte sie. "Scheiße, Kai! Die Hose ist so was von geil! Und ich will nicht wissen, wo diese ganzen Knutschflecken wieder herkommen."

"Die Fußballerhete ist eben ein ganz schön wildes Tier, nicht wahr, Maus? Vielleicht solltest du ihm diese Hose nicht zeigen."

"Hm. Jedenfalls sollte ich damit aufpassen, wenn ich Lukas treffen könnte." Kai seufzte. "Ich hoffe, dass ich die Hose überhaupt anziehen darf, wenn es sich mal lohnt."

"Armer Jan." Lolli lachte fies und überreichte ihm ein schwarzes Langarmhemd, das Kai nach Blick auf das applizierte Bild vorn gleich wieder zurückgab. "Okay, ich nehme die Hose... damit bin ich dann aber arm." Kritisch drehte Kai sich noch einmal und Lolli hopste davon, um noch nach weiteren Oberteilen zu fahnden, die er passend fand und die Kai dann vermutlich erst recht in die Armut treiben würden.

Kai verschränkte die Arme und sah Tini im Spiegel an. "Was machst du denn hier?"

"Klamotten shoppen. Lolli hat mich gerade angerufen, um mich über die neue Lieferung zu informieren. Wie findest du den Pulli?" Sie hielt ein zeltförmiges, weinrotes Etwas hoch.

Dass Lolli nicht mal bei Klamottentipps treu war, war ja klar. "Schlabberig."

Tini zog sich ihren Pulli über den Kopf und entblößte einen weißen Sport-BH. "Mal sehen. Wenn Lolli sagt, dass der geil ist, hat er meist recht."

"Sag mal, geht’s noch?!" Kai wurde zu seinem Glück von Tinis unfairerweise echt durchtrainiertem Körper abgelenkt, weil Lolli wieder zurückkam, um ihm drei Hemden und Pullis zur Wahl zu reichen. Dann beäugte Lolli Tini und nickte. "Hm. Das ist superschick, mein Schatz, endlich haste mal ein wenig was vor der Hütte. Du immer mit den Brustversteckmichsachen."

Und in der Tat, aus dem Schlabberzelt war an ihr ein irgendwie edles Teil geworden, das tatsächlich den Busen betonte. Konnte natürlich auch an der latenten Durchsichtigkeit liegen. Der weiße BH war deutlich auszumachen.

"Holger ist eh ein Po-Typ. Busen interessieren ihn nicht so sehr. Ein Glück, hab ja kaum was."

Kritisch legte Lolli den Kopf schief. "Echt? Er ist doch 'ne Paradehete, oder?"

"Hm. Auf jeden Fall!"

"Ich dachte immer, dass die alle an die Brüste wollen... komisch."

Eine Antwort zu diesem erhebenden Thema war nicht notwendig, Lolli entdeckte bei kurzem Kontrollblick über die Schulter einen gutaussehenden Kunden vor den Winterjacken und düste davon.

Tini drehte sich etwas hin und her und musste dabei Kais Ellenbogen ausweichen, weil er sich den ersten Pullover überstülpte. "Was meinst du, Kai?"

Kai beäugte sich selber im Spiegel, ein wenig mühselig um sie herumblickend und zerrte sich den ersten Pulli wieder über den Kopf. Er schob sie von sich fort. "Ich finde, dass du dir deine eigene Kabine suchen kannst."

"Den hier meine ich. Gut? Nicht so?" Unsicher starrte sie sich an. So war sie doch sonst nie... Kai fing ihren Blick im Spiegel auf und wandte sich ab. Er zerrte sich das T-Shirt über und blickte sich erneut kritisch an. Es war mattschwarz und nett eng, der Ausschnitt würde perfekt für die Kette mit der Blumenschnecke passen, und die Ärmel waren genau richtig bis eben auf die Oberarme. Ein kleines olivfarbenes Abzeichen auf dem linken Ärmel passte haargenau zu der Hose.

"Schaut gut aus." Sie zupfte den Stoff einmal hinten an seinen Schultern. "Die Länge ist gut zu dieser Hose."

Sie hatte recht. Mit dem Teil darüber sah die Hose noch einmal so geil aus. Der Blick wurde aber auch sofort auf seinen Hintern gelenkt. Das ging in Ordnung zum Ausgehen. Kai linste auf das Preisschild. Scheiße, der Preis nicht. Missmutig sah er sich wieder im Spiegel an. Dann fing er Tinis Blick erneut auf, sie wartete wirklich auf sein Urteil. Er drehte sich zu ihr um. "Schaut edel aus, passt gut. Der BH schaut durch."

Sie lachte und zupfte daran. "Den muss man sich wegdenken."

"Besser nicht."

Sie lachte noch mehr. "Du bist so süß!" Rasch knutschte sie ihn auf die Wange, als Lolli auch schon zu ihnen hereinsah. "Danke. Ich nehm den, Lolli!"

Lolli hopste davon und sie zog den Pullover wieder aus und ihren anderen an. Abwartend schob sie sich dann an den Spiegel hinter Kai und beobachtete, wie er sich das letzte Oberteil überzog. Es war auch schwarz, aber glänzte irgendwie aufdringlich, sodass er den Kopf schüttelte und sich wieder davon befreite. Sie legte den Kopf schief. "In schwarzen Sachen gefällst du mir immer am besten. Wie damals auf der einen Erstiparty." Sie seufzte nostalgisch.

Kai verdrehte die Augen und ergab sich ihren Blicken. "Was ist jetzt schon wieder?"

"Hm?"

"Du bist schon wieder komisch. Rück raus."

"Ich hab mich mit Holger gestritten. Er hat nächstes Wochenende irgendwie so merkwürdig abgesagt, wollte nicht sagen wieso. Hat mir aber quasi vorgeschrieben, dass wir am Freitag zusammen was machen."

"Wenn er die anderen Tage nicht kann..." Kai zog seinen Pullover für die Uni wieder an. Genervt versuchte er seine Haare wieder einigermaßen zu glätten, die waren eindeutig zu lang geworden. Gut, dass er an seinen Schaum gedacht hatte. Während er in seinen Rucksack tauchte, um die Frisur zu retten, fuhr er fort. "… wenn er nicht kann, dann ist es doch logisch, dass er dir vorschlägt, am Freitag was zu machen."

"Aber so von wegen 'ich kann nicht, darum musst du dich umstellen'.'"

"Willst du oder willst du nicht mit ihm zusammen sein?!" Kai nahm sich von seinem Haarschaum und verteilte ihn vorsichtig an den passenden Stellen. Sie nahm sich nach einem kurzem Seitenblick auch eine Handvoll. Gemeinsam fummelten sie an ihren Frisuren herum, bis ihm das auffiel. "Machst du mich jetzt nach oder was?!"

Sie lachte. "Nein, aber du schaust immer so geil aus, kein Haar aus der Spur. Ich versuch das jetzt auch mal. Perfekt zu sein... ist das nicht anstrengend?"

"Nein. Und jetzt?" Ohne darüber nachzudenken, schob er mit den Fingern ein paar Haarsträhnen an ihrem Ohr entlang in Reihe, dann räumte er sein Zeug in den Rucksack zurück.

"Ich hab mit Holger Schluss gemacht, weil ich nicht dauernd hinter ihm her organisieren wollte."

"Bitte?! Bist du bescheuert?"

"Irgendwie schon. War eine Kurzschlussreaktion. Ich hab Panik bekommen. Er ist immer so ernsthaft. Aber wie kann ich mich denn jetzt mit ihm vertragen?"

Kai seufzte abgrundtief und zog die Hose aus. "Kannst du mir einen Fünfziger für die Sachen leihen? Beides kann ich mir sonst nicht so leisten."

"Gib her den Kram. Ich leg dir das aus. Kannste mir zurückzahlen, wann du willst."

Sie wollte gerade aus der Kabine treten, als er ihren Arm umfing und festhielt. "Gib mir mal dein Handy."

Erstaunlicherweise fragte sie nicht nach, sondern zog das Handy aus ihrem Rucksack. Kaum war sie raus, als er schon Holgers Nummer aus der Liste suchte. Typisch Tini hatte sie ein Herz auf dem Display, als er die Nummer wählte. Holger ging sofort ran. "Hey, hier ist Kai. Es tut ihr leid. Sie ist bescheuert. Sie hat dich noch lieb. Wir sind in der Stadt beim LPP. Hol uns ab und vertrag dich mit ihr."

"Eh... Kai? Was...?"

"Das ist ein Befehl!"

Holger lachte am anderen Ende und rief "Jawoll! Bin gleich da!" Kai grinste, konnte ihn förmlich salutieren sehen.

Und Kai führte Tini nach einem Dank für die ausgelegten Klamotten zum LPP ab und gab ihr einen teuren Saft aus. Der Plan haute komplett hin. Holger kam angerollt, hielt im Parkverbot neben dem Laden und vertrug sich mit ihr noch bevor er aus der Jacke war. Da die beiden rumknutschen wollten, verabschiedete Kai sich schnell, entkam ihnen sogar und machte, dass er zur Uni zum Essen fuhr.

In der Mensa sah er Jan flüchtig mit Leuten aus seinem Kurs davonlaufen und musste allein essen. Aber die Hose war geil, das Oberteil war das Geld wert und somit hatte er sich seinen Geburtstag selber schon einmal schön gemacht. Wie ein Held hatte er den Heten ihr Liebesleben organisiert. Der Tag war eigentlich nicht verkehrt gelaufen. Fehlte natürlich noch der Abend. Und der wurde stressig, war ja klar.

Der Montag im LPP war wie jeder Montag. Es war fast leer an den Tischen, Kaffee to go wurde auch nicht oft geholt, die Galerie hatte Kai einfach so schon geschlossen. Im Loungebereich saßen zwei Gruppen mit Weingläsern und Kaffee vor sich. Der Koch packte um acht Uhr schon die Sachen fort, nachdem er Bastian und Kai jedem ein Sandwich gemacht hatte. Ein paar Theaterschüler waren auch noch da, die sich auf ihren Laptops Videoaufnahmen der letzten Proben zeigten und sich an ihren Biolimonaden festklammerten.

Und Leon war wieder da. Sein Wagen stand jedenfalls hinten auf dem Platz. Kai hatte ihn jedoch noch nicht zu Gesicht bekommen. Nervös schielte er hin und wieder zum Spannerfensterchen, wollte auf der Hut sein. Aber Leon überraschte ihn dennoch nur wenig später, als Kai in seiner Ecke der Theke lehnte und aus dem Fenster in den nebeligen Abend starrte. Eine sachte Berührung im Nacken ließ Kai erschaudern, gleich darauf beugte Leon sich dichter zu ihm und sah ihn von der Seite her an. "Na?"

Eine Hand am Herzen erstarrte Kai. "Gott! Mach das nicht. Du hast mich zehn Jahre meines Lebens gekostet!"

Leon ging nicht auf Abstand, obwohl Bastian gerade wieder zu ihnen hineinkam und mitten im Lied, das er pfiff, stockte.

"Du hast da, ich zähle mal nach..." Zwei Finger schoben sich unter seinen Hemdkragen. "...vier Knutschflecken. Wilde Nacht?"

Kai spürte Hitze in seinem Gesicht und konnte sich nicht rühren.

Henrike lehnte sich über die Theke und rief "Leon, das ist sexuelle Belästigung!"

Bastian trat dichter, schob einen Kasten mit Saft unter den Tresen und sagte mit leiser Stimme. "Außerdem kommt Felix gleich durch die Hintertür."

Die Warnung kam genau richtig. Leon war zwei Schritte von Kai zurückgetreten, als die Hintertür sich öffnete und Felix hereinkam. Schon wieder in schwarzen Klamotten, einer Lederhose. Er nickte Leon kurz zu und ging mit schnellen Schritten weiter nach hinten zum Büro durch.

Leon seufzte und fuhr sich mit der Hand einmal über den Mund. Dann blickte er scharf zu Bastian hinüber. "Danke. Mach uns mal einen Espresso. Ich nehme ein großes Glas heißes Wasser für meinen ekeligen Tee mit."

Bastian nickte nur und stellte das Gewünschte auf ein Tablett zusammen, Henrike trabte zum Aufräumen zu einem Tisch, von dem die Leute gerade aufgestanden waren. Kai sah zum Spannerfenster nach hinten durch und fragte leise: "Ist alles okay?"

Leons elegante Hand hob sich nur bis unterhalb des Tresens und zeigte eine kleine Schaukelbewegung. "So lala. Ich hab ein paar echt blöde Nebenwirkungen. Wunde Stellen im Mund überall. Von der Chemo. Aber mein Leben ist nicht uninteressant. Ich lösch dann mal die Kameraaufnahmen von gestern und vorgestern Nacht."

Kais Kopf fuhr hoch. "Ach du Scheiße!" Und er war sofort rot im Gesicht. Hitze flutete seinen Körper.

Leon lehnte sich neben ihm an und sah belustigt in sein Gesicht. "Wenn du eine Gehaltserhöhung willst, Kai, macht nächstes Mal doch gleich im Flur weiter." Er nahm das Tablett auf und ging mit der üblichen selbstbewussten, energischen Art durch den Laden davon.

Kai nahm sich hastig eine Handvoll Eiswürfel und rieb sich die Wangen damit einmal ab, um das unangenehme Hitzegefühl loszuwerden.

Bastian sah ihrem Chef hinterher und dann zu Kai hinüber. Nachdenklich kratzte er sich mit einem Barlöffel am Hals lang. "Oh Mann, ich will sowas von gar nicht wissen, worum das eben ging, Kai."

Kai nahm ihm entrüstet den Löffel weg und steckte den gleich in die Spülmaschine. "Nee, das willst du sowas von nicht wissen, klar." Dankbar lachte Kai mit ihm über sich selber und versuchte sich weiter abzukühlen.

Sie lachten noch, als das Bambi durch die Tür geschleppt kam. Das Cello hatte er auf den Rücken geschnallt. Er kam direkt zu Kai an den Tresen und gummerte ihn ein wenig an. "Hi."

In sozialer Stimmung nickte Kai ihm zu. "Na, Bambi? Willste nicht nach Hause?"

Bardo blickte auf seine Finger mit den kurzen Fingernägeln, dann schüttelte er den Kopf. Etwas heiser fragte er "Ist es okay? Ich hab meinen Eltern schon Bescheid gesagt."

Kai nickte und rückte einen Schlüssel raus. "Ja. Willst du gleich los, oder noch was trinken?"

Dankbar sah Bardo ihn kurz an. "Cola?"

Kai stellte ihm ein großes Glas Cola auf Eis hin. "Geht auf mich." Gewissenhaft zählte Kai das Geld dafür aus seinem Portemonnaie für die Trinkgelder heraus. Dann sah er zu Bastian rüber und stellte ihm das Bambi vor. "Bastian, mein Kollege. Bardo ist hin und wieder bei mir Zuhause, wenn er Streit mit den Eltern hat. Ist so ein soziales Projekt von Jan."

Bastian nickte wissend und lehnte sich zu Bardo hin, um ihm die Hand zu reichen. Dann fragte er, typisch Bastian, für alles offen "Spielst du das Ding? Das ist doch ein..."

"Cello. Ja."

"Gut?"

Bambi hob die Schultern. "Geht so. Meine Lehrerin ist nicht zufrieden." Er trank einen Schluck von der Cola. "Ich will eigentlich Musik studieren, müsste viel mehr üben."

"Und du musst in dieser Woche Deutsch und Latein schaffen, sonst macht Jan dich lang, mein Lieber. Und wenn du nicht im Zimmer aufräumst, dann bekomm 'ich' einen Anfall." Kai hob entsetzt eine Hand an die Stirn. "Gott, ich kann nicht glauben, dass ich das gerade gesagt habe."

Bardo lachte auf und hustete dann, bevor er immer noch etwas heiser sagte "Versprochen, ich räume auf."

"Und schlepp uns nicht auch noch so eine fiese Halspest an! Geh bloß nach Hause!"

Bardo grinste ihn optimistisch an und verabschiedete sich sehr bald. Bastian kommentierte die Lage nicht weiter. Überhaupt war Bastian erstaunlich tolerant gegen die alternativen Lebenswandel der Kollegen und seines Chefs im LPP. Kai wagte es nicht, den Mann danach zu fragen, warum er so gelassen neben lesbischen Kellnerinnen und einem schwulen Chef und Barmann vor sich hinarbeitete, wenn sein Hasi sich bislang noch nie zu mehr als dem Abholen nach der Schicht hatte blicken lassen. Im Gegensatz zu Bastian war das Hasi nämlich ganz und gar nicht tolerant eingestellt. Bastian hatte Kai sogar einmal gestanden, dass er nicht selten mit ihr diskutierte, um seinen Job zu behalten. Hasi wollte lieber, dass er nicht weiter in einer Bar arbeitete, die nicht zu ihm und ihr passte.

Aber die homosexuellen Kollegen waren komischerweise gar nicht das Thema. Bastian rieb sich bei der Rückfrage von Henrike die Augen und erklärte "Es ist die Musik und die Einrichtung. Wir hören natürlich privat ganz andere Sachen. Und dann ist Leon nicht die Art Chef, den sie kapiert. Sie kennt das anders. Raue Sitten und harte Kerle, Bier aus der Zapfanlage. All das Glas, die Spiegel und die Studenten machen Hasi ganz nervös. Ich kann das ab. Ich passe nicht rein, aber ich fühl mich wohl."

Kritisch blickte Kai Bastian einmal an, dann wandte er sich der Zapfanlage wieder zu, die er gerade polierte. "Natürlich passt du hierher! Du machst doch den besten Kaffee, den ich kenne."

Stolz strich Bastian über die Kaffeemaschinen und nickte leicht. "Keine Kunst, mit diesen Babys. Deswegen bin ich so gern hier. Leon spart nicht an den Maschinen. Die sind wirklich absolut erste Sahne."

Und auch wenn Kai es nicht zu sagen wagte, er konnte sich die Arbeit ohne den kräftigen ruhigen Bastian gar nicht so recht vorstellen. Ohne Bastian würde er selber die schweren Fässer rücken müssen, oder meckernden Kunden entgegentreten, oder meckernden Kellnerinnen. Daher hoffte er, dass Hasi sich abregte und einsah, wie passend der Job für ihren Basti war.

Als Kai gegen zwölf nach Hause kam, war natürlich noch nicht aufgeräumt, dafür stand Jan in der Küche und schrieb dem Bambi einen seiner Zettel mit Ausrufungszeichen. Kai grinste ein wenig in sich hinein. Wäre ja auch noch schöner, wenn nur er in den Genuss dieser speziellen Brieffreundschaft mit Jan geraten sollte.

Leider blieb Kais innigster Wunsch, dass Bardo nach Hause zurückkehren möge, bis zum Mittwoch unerfüllt. Der Tag wurde insgesamt der mieseste Mittwoch aller Zeiten. Und auch einer der längsten aller Zeiten. Er begann schon am Dienstagabend.

Jan hatte Lerngruppe in ihrer Wohnung. Und diese Lerngruppe bestand ausgerechnet aus Thilo, Matze und Bianca. Die drei waren schon am Abend recht früh bei ihnen aufgeschlagen, lange vor Jan, der erst nach neun Uhr vom Unisport kam. Sicherlich hatte er die Verabredung vergessen, verdrängt, oder sie war ihm egal. Typisch Jan war Sport immer wichtiger als alles andere. Bianca und Thilo hatten Matze in der Zwischenzeit mit einer rekordverdächtigen Knutscherei vollkommen angenervt und Kai war einfach nur er selbst, um Matze dazu noch auf hundertachtzig zu bekommen.

Als Kai dabei war, in seinem Zimmer die Bücher zusammenzuräumen, kam dazu noch Bardo von einem Treffen mit seinem Kumpel nach Hause und präsentierte Kai vor den anderen die Note 'gut' in der Lateinarbeit. Kai spürte die Blicke und Gedanken der anderen angesichts dieses Neuzugangs in ihrer Wohnung.

Da Bambi bei Kai im Zimmer schlief, musste Kai wohl oder übel tatsächlich in Jans Zimmer pennen. Da er vom Lernen und dem Abend mit einem Referat über Leberfunktionsstörungen müde und ohnehin genervt war und sich nicht weiter von Matze anstarren lassen wollte, ging Kai früher ins Bett als Jan überhaupt vom Sport heimkam.

Kai hörte die um Bardo entbrennende Diskussionsrunde im Wohnzimmer mit einem halben Ohr und einem unguten Gefühl in der Magengegend. Es kam zu einem heftigen Streitgespräch über Jugendarbeit, Schwule im Allgemeinen und Jans Schwulsein im Besonderen.

Bianca schaffte es hervorragend, mit Beschreibungen von Jans Fähigkeiten im Bett, Thilo die Stimmung zu versauen. Er begann daraufhin einen Streit mit ihr. Der Streit verlief kurz und heftig. Thilo warf Bianca vor, ihn nur vorzuschieben, um Jan wieder näherkommen zu können. Jan klinkte sich darauf sofort ein und trat eine Diskussion mit Bianca los, die auf Platt abgehalten wurde, was die anderen sicherlich nicht fröhlicher machte. Es wurde dermaßen laut, dass Bardo aus dem Zimmer gekrabbelt kam, um die anderen zu bitten, etwas leiser zu sein, weil er am Morgen eine wichtige Klausur hatte.

Jan schickte Bardo ziemlich harsch wieder ins Bett. Die anderen stiegen sofort wieder auf das Thema Minderjährige im Schwulenhaushalt ein und ließen Jan danach nicht mehr in Ruhe mit dem Jungen. Im Endeffekt waren Jan und Matze kurz davor, sich zu schlagen. Matze bezeichnete Jan als Perversen, Päderasten und Pädophilen. Danach gingen ihm die P-Worte aus und er stürzte aus der Wohnung. Er knallte die Tür derart heftig, dass Kai zusammenzuckte.

Thilo war der nächste, der die Tür knallte und Bianca war dann leider nicht die letzte. Sie war noch da, als Kai vorsichtig um die Ecke blickte. Sie saß neben Jan auf dem neuen Sofa und streichelte ihm über die Schultern, hörte seinen Ausführungen zu. Da sie mal wieder einen knappen Rock und tief ausgeschnittenen Pulli trug, war es nicht verwunderlich, dass Jans Blick mehr zwischen ihren Brüsten landete, als auf ihrem Gesicht.

Hilflos musste Kai zusehen, obwohl er eifersüchtig und wütend war und Bianca raus haben wollte. Er wollte eigentlich selber derjenige sein, der Jan von seiner Enttäuschung wegen der falsch gelaufenen Diskussionsrunde mit Matze beruhigte, aber Jan schickte ihn ebenso wie Bardo ins Bett, als sei er auch nur ein dummes kleines Kind. Wütend und unendlich beleidigt ging Kai mit seiner Bettdecke zu Bardo in sein Zimmer, schob den Kleinen mit einem knappen Spruch zur Seite und stellte sich dann mit verschränkten Armen schlafend.

Bardo lag unglaublich nervös und überrascht neben ihm, was Kai wiederum nervte. Und dann war er von Bardos Anwesenheit in seinem Zimmer genervt, in das er sich jetzt mitten im Streit mit Jan nicht mehr verkriechen konnte. Deswegen fuhr Kai Bardo an, dass er einfach schlafen und die Klappe halten solle, als Bardo zaghaft versuchte, mit ihm zu reden.

Bianca ging wohl erst, nachdem sie Jan noch einige absolut wahre aber vermutlich nicht sonderlich konstruktive Dinge über seine Zukunft mit Kai erzählt hatte. Vor dem Hintergrund der verlorenen Freundschaft mit Matze und vermutlich auch ausgerechnet Thilo, der Jan als Freund wohl einiges bedeutet hatte, waren diese Worte wie Salz in offene Wunden gewesen.

Jan war daraufhin dermaßen scheiße drauf gewesen, dass er noch in der Nacht mit Kai über seine Eifersucht, die affige Art, mit der Kai aus dem Schlafzimmer ausgezogen war und über das Aufräumen im Bad gestritten hatte. Dazu hatte er ihn bei Bardo aus dem Zimmer gezerrt. Der arme Junge, der hochgradig verwirrt wie auch ein wenig beleidigt neben Kai gelegen und ebenso wie er für eine gute Stunde sicherlich an die Decke gestarrt hatte, konnte bei dem folgenden Streit um Bianca und ihre Intentionen dann sicherlich erst recht nicht mehr schlafen.

Doch nachdem Kai sich so richtig ausgemährt und Jan eine ordentliche Runde angeschrien hatte, wurde er ruhiger. Endlich merkte er auch noch an, dass Bianca den armen Thilo wirklich und wahrhaftig vollkommen ausgenutzt und dazu noch mies behandelt hatte. Hierin stimmte Jan ihm wenigstens zu. Dann merkte Kai an, dass Biancas Klamotten aufreizender waren, als für eine Lerngruppe notwendig. Jan stimme ebenfalls zu, aber meinte, dass das ja auch für Thilo nicht uninteressant gewesen war. Dann lenkte Jan ein, was das Badezimmer anging, mit dem Bardo dran war.

Sie vertrugen sich und redeten bis nach Mitternacht noch im Schlafzimmer darüber, wie Jan mit Bianca reinen Tisch machen konnte und wie die Chancen standen, mit Thilo weiter befreundet zu sein. Im Endeffekt ging es später viel mehr darum, ob der Fußballtrainer Jan nun doch nicht mehr im Team haben wollte. Sie hatten neue Übungstrikots bekommen, die ausgerechnet, dank Sponsor, rosa waren. Diese wurden dann sofort die Schwuchtelhemden genannt. Jan hatte das als Angriff auf seine Person gewertet. Er gab zu, dass er vermutlich früher der erste gewesen wäre, der die rosa Dinger Schwuchtelhemd genannt hätte. Dank Kai war er mit einem Mal empfindlicher als nötig geworden. Im Team hatte er nicht streiten wollen und war deswegen auf hundertachtzig daheim angekommen. Er war von Grund auf schon zu gereizt gewesen, um einem komplett angenervten Matze, einem latent liebeskummerkranken Thilo und einer aufgebrezelten Bianca ruhig zu begegnen.

In der Nacht, so gegen zwei Uhr, klingelte Matze, angetrunken und nicht mehr so richtig auf Sendung, sie aus dem Bett, um sich bei Jan zu entschuldigen. Im Folgenden mussten Jan und Matze sich noch ein Weilchen unterhalten. Kai musste gegen halb vier am Morgen, nachdem Jan seinen Kumpel nach Hause gefahren hatte, die Ergebnisse aus dieser Unterhaltung anhören und bewerten. Jan war zu aufgedreht, um Kai bis zum Morgen mit diesem Thema in Ruhe zu lassen. Das führte dazu, dass Kai gerade mal drei Stunden geschlafen hatte, als Tini ihn weckte. Nur zwei davon am Stück.

Sie rief auf dem Festnetz an, da sie wusste, dass Kai sein Handy sicherlich nicht angeschaltet hatte. Jan ging ran und hielt Kai den Hörer hin, nachdem er den Anrufer auf dem Display gesehen hatte. "Morgen. Bist du heute Nachmittag daheim?" Kai, mit zusammengezogenen Brauen und kleinen Augen auf den Wecker starrend, giftete "Ja! Deswegen rufst du mich an?! Bist du irre? Weißt du, wie spät es ist?!"

Tini war unbeeindruckt. "Um halb neun hast du doch Geschichte der Medizin. Pflichtkurs, die Referate werden gehalten. Jedenfalls meinte Holger das gerade. Gehst du nicht hin?"

Kai warf sich ins Bett zurück. "Scheiße! Doch, ich komme!" Jan durfte natürlich ausschlafen. Mittwochs hatte er immer erst am Nachmittag Kurs.

Kai hechtete förmlich in die Dusche und konnte sich trotz eines erbitterten Kampfes gegen seine wirklich viel zu langen und damit unkontrolliert gelockten Haare nicht mehr gegen sie durchsetzen. Seine Frisur war echt nicht mehr auszuhalten, und das schrie nach Rettung durch professionelle Hand. Er rief noch auf dem Weg zum Bus bei Frank, dem Friseur und Kumpel von Lukas, an. Frank ging selber ran und hatte am Nachmittag natürlich noch Zeit für Kai. Nervig daran war, dass man Franks Stimme neugierige Häme anhörte. Warum wollte Kai eigentlich nicht wissen. Er war sich irgendwie aber sicher, dass er es erfahren würde, ob er wollte oder nicht.

Frank war Kai nie besonders sympathisch gewesen, aber er war froh, dass er mit ihm einen Friseur gefunden hatte, der wirklich ausgezeichnet mit seinen Haaren zurechtkam und dazu nicht sonderlich teuer war.

Der Kurs in Geschichte der Medizin fand im staubig riechenden Archiv statt. Es wurde abgedunkelt, damit die Leute ihre Präsentationen besser vorführen konnten. Die Dunkelheit und Wärme im Raum und die langweiligen Vorträge der Mitstudenten schafften es nicht, Kai gut wach zu halten. Mehrmals musste Holger Kai ein wenig in die Seite stupsen, damit er nicht komplett wegratzte. Sein eigenes Referat sollte zum Thema Narkosen in der nächsten Woche sein und ihm graute bereits davor. Davon einmal abgesehen, dass er das Thema noch gar nicht vorbereitet hatte.

Aber der Mittwoch aus der Hölle war noch lange nicht vorbei, er fing gerade erst an. In der Mensa traf Kai auf Bianca, Tini und Renate. Die drei Frauen waren eigentlich nicht seine Wunschkandidaten für das Essen, aber er fügte sich in Tinis wildes Winken, als er sich mit dem Tablett in die Stammecke schleppte.

Bianca war scheiße drauf, was ihn schon wieder ein wenig freute. Ihre schlechte Laune erklärte sich wenig später, als Jan weiter hinten mit Thilo und einigen anderen vorbei zu den Kurssälen ging. Jan winkte Kai kurz zu, aber Thilo verschränkte die Arme und wandte sich betont ab.

Tini lehnte sich vor und entblößte dabei mehr von ihrem Busen, als Kai sehen wollte. Genervt rückte er ab und sah zu einer Gruppe ziemlich niedlicher Zahnmediziner hinüber, die sich Fotos von ihren Wunschautos zeigten.

"Warst du nicht gestern noch mit Thilo zusammen?"

Biancas Finger spielten auf der Tischplatte Stakkato. "Zusammen, was heißt das schon! Wir haben mal geknutscht."

Als Kai den Blick wieder zu den Mädchen wandte, starrte Bianca ihn direkt an. Fast hätte er gefragt, was los war, als Tini nachdenklich meinte: "War wohl noch zu früh für dich, was? Ich meine, nach Jan. Vielleicht solltest du dich nicht so oft mit ihm treffen, such dir doch eine andere Lerngruppe."

Kai wurde rot, wünschte sich weit, weit weg und schob sein Essen von sich. Die Cola hielt ihn gerade so am Leben, aber er gähnte schon wieder und seine Augen brannten vor Müdigkeit.

Gereizt fuhr Bianca auf. "Nein. Jan ist schon ewig her! Ist ja auch lächerlich, von dem will ich echt nichts mehr."

Kai stand mühselig auf, aber blinzelte sie verärgert an. Am Abend zuvor war sie komplett in 'Nimm mich' Klamotten aufgetaucht und Jan fast auf den Schoß gekrochen. "Echt. Jaja, Bianca."

Bianca starrte ihn kurz wütend an, dann stand sie auch auf. Ihr Stuhl machte ein hässliches Geräusch auf dem Steinfußboden. "Nachdem er von so einer hinterfotzigen Schwuchtel komplett verdreht wurde, kann man eh nix mehr mit ihm anfangen!"

Kai hob sein Tablett auf und ging einfach weg. Solche Sprüche war er gewohnt und die Worte auch. Dagegen hatte er sich seinen Schutzpanzer zugelegt. Ignorieren. Einfach nichts sehen, nichts hören und auf gar keinen Fall antworten. Bianca überholte ihn sogar noch und knallte ihr Tablett mit so viel Wucht auf das Förderband, dass ihr Glas runtersprang und sich zwischen den Tabletts und dem Gummilaufband verkeilte.

Hastig stellte Kai sein Zeug ab und machte, dass er fortkam, bevor die mies gelaunten Mitarbeiter aus der Küche ankamen. Als er draußen an der Mensa vorbeiging, sah er Tini und Renate sehr eindringlich miteinander reden. Offenbar analysierten sie nun Biancas psychologische Verfassung.

Aber Kai hatte gleich darauf ganz andere Probleme. Seine Mutter rief ihn auf dem Handy an.

"Kai!"

"Du musst nicht schreien, Mama, ich hab ausgezeichneten Empfang hier." Neben Kai lachten zwei Mädchen laut auf und er wandte sich ärgerlich ab und ging ein paar Schritte weg.

Seine Mutter war schon fünf Sätze weiter, als Kai sich wieder so richtig auf sie konzentrieren konnte. "… werden wir dann so gegen fünf am Abend vorbeikommen. Ist das in Ordnung?"

"Eh."

"Wir schlafen im Hotel am Zoo, aber wir wollten natürlich mit dir essen gehen, Kai. Was sagst du?"

"Ihr kommt her? Warum?"

"Kai! Na hör mal! Du hast Geburtstag!"

"Und?"

"Ich hab am Freitag diesen kleinen Eingriff und dein Vater fährt mich Donnerstag her und am Samstag morgens nach Hause. Da können wir doch am..."

"Eingriff? Was für ein Eingriff?"

"Nichts so dolles, aber ich lass es in der Uni machen und..."

"Eine Operation, Mama?! Was hast du..."

Kais Mutter seufzte genervt auf und schnitt ihm das Wort erneut ab. "Das erkläre ich dir, wenn wir da sind. Ich möchte, dass du dich dann am Freitag mal ein wenig um deinen Vater kümmerst. Er macht sich Sorgen und kann die Ablenkung gebrauchen."

"Oh, ich..."

"Was ist denn mit deinem Geburtstag jetzt?"

"Ich hab erst Pflichtkurse an der Uni, dann arbeite ich von fünf am Abend bis gegen elf in der Nacht. Ich will das nicht feiern."

"Dann kommt Norbert am Freitagmorgen bei euch vorbei. Jan kann ja mit ihm über Fußball reden oder so."

"Geht nicht. Wir haben Testate am Morgen. Norbert soll zum Mittag oder Kaffeetrinken kommen, dann gehen wir zusammen essen. Mal sehen, was am Abend..." Und endlich gab es einen Silberstreifen am Himmel "Ein Glück! Jan hat ein Auswärtsspiel! Da fahren wir einfach zusammen hin." Wie es aussah, würde Kai wohl in den Genuss eines Fußballspiels mit Jan kommen. Erleichtert hörte er seine Mutter diesem Plan zustimmen. Dennoch war das Wochenende noch eine Spur stressiger geworden. Norbert kam. Ein Tag mit Norbert, der nicht im Garten stattfinden würde. Auweia. Und der Mittwoch war noch lange nicht vorbei.

Kapitel 95

Von der unerwarteten Attacke durch seine Eltern genervt ging Kai zu seinem Kurs rüber, wo er sich mit Holger und Matze konfrontiert sah. Histologie. Noch einmal im Dunkeln sitzen und noch einmal einer recht monotonen Stimme lauschen. Kai pennte gnadenlos auf seiner Tasche neben dem Mikroskop ein und wurde von Holger erst wieder wachgerüttelt, als die Testatrunde begann.

Zu Holgers und Matzes maßloser Verwirrung wusste Kai trotz seiner verquollenen Augen und einem peinlichen Abdruck der Tasche auf seiner Wange die Antworten. Die Assistentin fragte ihn nur zwei kleine Sachen, weil sie von ihm schon wusste, dass er es drauf hatte. Kai schaffte es sogar, Holger eine Antwort vorzusagen, was diesen vollkommen begeisterte. "Kein Wunder, dass Tini auf dich steht, Kai." Holger grinste. "Du bist so schlau, dass es schon wieder sexy ist."

Matze röchelte dazu ein wenig angeekelt, aber Holger ließ sich mal wieder nicht aus der Ruhe bringen.

Kai wurde rot, sah sich hektisch nach Tini zwei Reihen hinter ihm um, weil er ihr Skript kopieren wollte, und wurde von Biancas Blicken förmlich massakriert.

"Die hat ja eine miese Laune heute." Matze sah Kai am Mikroskop vorbei an. "Hat die gestern noch Aufstand gemacht?"

Kai senkte den Kopf und rieb sich die Wange. "Nee, aber Thilo hat gerafft, dass sie ihn benutzt hat, um wieder an Jan ranzukommen und hat Schluss gemacht." Er hielt erschrocken inne und schloss den Mund. Es war eigentlich nicht seine Art, so direkt zu sein. Aber Bianca hatte ihn eben Schwuchtel genannt, vor Tini dazu noch. Irgendwie hatte es sich sogar angefühlt, als ob Bianca damit Tini mehr hatte treffen wollen, als ihn.

In der Regel perlten diese Worte an ihm ab. Sie hinterließen kleine Verletzungen im Inneren. Kleine, wunde Stellen, die ein Weilchen heilen mussten, aber mehr nicht. Wenn er sich all diese Worte und auch Gesten von Kindern in der Schule, von Leuten auf der Straße, wenn er mit Lolli shoppen war, von Mitfahrern im Bus, von Kommilitonen in der Uni, zu Herzen nehmen würde, dann wäre er nie froh.

Aber es tat von Bianca weh. Es tat weh, weil sie das nur gesagt hatte, um ihm wehzutun. Um Tini wehzutun. Nicht, weil sie tatsächlich etwas dagegen hatte, dass er schwul war. Sie hatte verletzen wollen. Aus Rache, weil er ihr Jan weggenommen hatte. Am Abend zuvor hatte sie Jan verunsichert und Streit geschürt. Sie hatte sich an Jan rangemacht, auf die Tröster-Tour. 'Ich nehm dich in den Arm, die miese kleine Tucke in deinem Bett denkt doch eh nur an sich' und das war eine Nummer, die er ihr so schnell nicht verzeihen würde.

Holger hechtete sich auf Tini, bevor diese von ihrem Mikroskop hatte aufstehen können, und begann eine Überredungsrede den Abend betreffend, den er zusammen verbringen wollte. Es drehte sich vordergründig um das Lernen für die Donnerstagsklausur. Bianca ging mit schnellen Schritten und ohne die anderen noch einmal anzusehen aus dem Kurssaal raus. Renate folgte ihr nach einem Abschied und Tini schockierte Kai damit, dass sie Holger bat, sie von Kai abzuholen.

"Ich will am Nachmittag noch mit Kai für das Testat in Histologie morgen lernen. Er kann viel mehr als ich und ich hab die ganzen Knochenmarkszellen nicht gerafft."

Holger gummerte Tini an, stimmte natürlich freudig zu und erhielt einen Kuss für seine Mühe. Kai hingegen sah Tini auf dem Weg zum Bus sehr misstrauisch an und fragte: „Was sollte der Unsinn?"

"Was machst du jetzt?" Sie nahm sein Misstrauen hin und ignorierte seine Furcht, wie immer.

"Friseur. Dann fahre ich nach Hause und freue mich auf einen ruhigen Abend mit Jan und hoffentlich ohne das Bambi. Hey, wenn du mir mal einen Gefallen tun willst, nimm du ihn mit!"

"Geht nicht. Holgers Wohnung. Da kann ich nicht einfach einen schwulen Teenager einquartieren. Außerdem will ich mit Holger Versöhnungssex haben und hab keinen Bock, dass Bardo uns dabei hört oder so." Fröhlich küsste Tini Kai auf die Wange. "Bis nachher dann! Ich bin in einer Stunde bei dir."

Beim Friseur kam das nächste Kapitel in Sachen mieser Mittwoch. Kai trat durch die Glastür mit dem Gong und wurde gleich in das Gemisch aus süßen chemischen Gerüchen, warmem Dampf und Stimmen gehüllt. Frank stand gerade mit einer Kundin an der Kasse und winkte Kai, sich gleich in den nächsten Raum rüber zu setzen.

Als Kai seine Jacke ausgezogen hatte und weiter durchgegangen war, stand er unverhofft Pascal gegenüber. Sein Freund war noch mit seinem Anzug von der Arbeit bekleidet und sah fast genau so aus, wie an dem Tag, an dem Kai und er sich Weihnachten wieder getroffen hatten. Leider komplett mit der abweisend hochgestylten Frisur. "Passi!" Kai wollte sich gerade freuen, als Pascal mit schmalen Augen und sehr ablehnendem Blick die Arme verschränkte.

"Ist was?"

Pascal sah sich um. "Das fragst du jetzt noch?! Ich finde das echt unmöglich! Diese Nummer geht mich vielleicht nichts mehr an, aber auf mich als Freund musst du verzichten!"

"Hä?" Verwirrt starrte Kai, aber leider starrte er Pascal auch hinterher. Der war davongestürmt und Kai war auch viel zu müde, um ihm zu folgen. Frank kam in den Raum und schob ihn auf einen der Stühle vor den goldgerahmten Spiegel.

Im nächsten Moment ruinierte Frank seine restliche Laune, indem er Kai beim Umwickeln mit dem schwarzen Umhang unter den Kragen linste und fragte "Na, Süße? Wie sieht es aus bei dir? Das sind aber niedliche Plakate. Wilde Nacht? Ich hab schon gehört, dass du dir einen Ausgleich zu deiner Hete gesucht hast. Lukas mal wieder, hm?"

"Bitte?! Nein. Ich hab ihn seit Tagen kaum gesehen oder gesprochen."

"Oh? Auch eben gerade nicht?"

"Ich war bis eben in der Uni, Pflichtkurs. Ich weiß nicht, worum es geht, aber es ist ein dummes Gerücht."

Und dieses Gerücht hatte Pascal offenkundig aufgeschnappt und das hatte offenbar ihrer Freundschaft nun den Todesstoß verpasst. Kai beschloss, Passi gleich anzurufen, wenn er in der Wohnung war, um ihn darüber aufzuklären. Erst einmal überließ er sich Frank und war nach nur einer halben Stunde vollkommen zufrieden mit seiner Frisur und zudem komplett im Bilde, was alle Schwulen der Stadt so taten.

Frank wusste auch schon das Neuste über Geoffrey und Lolli. Er wusste sogar den Flug, den Lolli am Freitagmorgen nehmen wollte. Frank war eine Tratschtante, wie sie im Buche stand. Aber Kai nahm es ihm nicht übel, wenn er danach mit solchen vernünftigen Haaren in die Welt entlassen wurde. Er bildete sich ein, dass er vielleicht auch noch Schonzeit hatte, bevor Tini ihn überfallen wollte.

'Histologie lernen. Ja ja. Was will die nur wieder von mir?' Müde rieb Kai sich die Augen und wurde von seinem Handy erschreckt, als er sich gerade so richtig auf Jan freute.

Es war Jan. "Hey. Ich muss bei Bianca vorbei. Die will unbedingt noch eine Runde diskutieren. Ich versuche das kurz zu machen."

"Was? Och nee, heute ist Mittwoch! Kann die dich nicht mal in Ruhe lassen, verdammt noch mal?!"

"Es geht um Thilo. Ich bin mir sicher, dass wir das ausdiskutieren können. Ich bin bis spätestens zehn zurück, okay, Baby?"

Kai schloss grummelig und von den vielen Tiefschlägen des Tages und der vorangegangenen Nacht vollkommen ausgelaugt die Haustür auf. Er wollte jetzt nur noch in sein Bett. Allein in den dritten Stock hochzusteigen, war schon eine Zumutung. Ihm war klar, dass Jan bis zehn Uhr nie und nimmer bei Bianca rauskommen würde. 'Da kann ich vermutlich von Glück sagen, wenn Jan überhaupt davonkommt, ohne Sex haben zu müssen mit der verdammten Mistkuh!'

Und das war der Moment, in dem Kai in ihre Wohnung trat und ihm die laute Musik, irgendwelche aggressiven Metalklänge, entgegenhämmerte. Es roch Übelkeit erregend und eine böse Vorahnung stellte Kai die Nackenhaare auf. Als nächstes bog er um die Ecke in das Wohnzimmer und betrat ein Schlachtfeld, das sich vom Zentrum in ihrer Küche irgendwie in den Wohnraum ausbreitete. Mehl waberte in der Luft, hatte sich überall auf den Flächen niedergelassen und weißer Qualm drang aus dem Ofen, dessen Klappe offen stand. Es roch aus der Nähe bestialisch nach Verbranntem und mittendrin stand Bardo.

Kai explodierte noch bevor er sich so richtig besonnen hatte. "Bist du vollkommen verrückt geworden, du halbgarer, idiotischer Teenager?! Willst du die Wohnung ruinieren, oder was?! Soll das der Dank dafür sein, dass du dich in meinem Zimmer ausbreitest wie eine Seuche?!"

Bardo war den Tränen schon nahe, aber pampte ihn heiser an "Ja! Genau!"

Darauf tickte Kai komplett aus. Er schrie Bardo allen möglichen und unmöglichen Unsinn an den Kopf. Er zerrte ihn währenddessen komplett ausgerastet am T-Shirtkragen auf den Hausflur raus und warf ihm die Schultasche hinterher, über die sie auf dem Weg gestolpert waren. Er wurde schon auf dem kurzen Weg mit Mehl eingesaut, was seiner Stimmung den letzten Rest gab.

Als nächstes musste Kai ins Bad und gegen die Tränen ankämpfen, die dieser Hysterie folgten. Er stellte erst dann die Musik aus und ging mit schwachen Knien in die Küche zurück. 'Oh Gott. Jan wird einen Anfall kriegen.' "Scheiße!" Mehl bestäubte die Flächen großzügig, bildete an feuchten Stellen vor dem Tresen grauweißen Matsch und vermischte sich mit Abwaschwasser, das von der Spüle aus auf den Boden tropfte, Fußspuren führten hindurch bis in den Wohnraum, Schalen stapelten sich auf allen Flächen. Der Qualm ging von einem verkohlten Ding aus, das auf dem Herd stand. Kai blickte sich in dem Chaos um, sah die Schalen und Verpackungen und begriff dann mit einem Mal.

Er senkte den Kopf und stöhnte auf. "Scheiße!" 'Scheiße, Scheiße, Scheiße, ...'

In dem Augenblick, in dem Kai begriffen hatte, was los war, klingelte es an der Tür. Es waren Tini und ein in Tränen aufgelöstes Bambi, das ihn verletzt und auf der Flucht anstarrte. Wortlos wimmernd rannte der Junge hastig an Kai vorbei in die Küche und von dort auf die Dachterrasse hinaus. Das verkohlte, qualmende Ding nahm er mit.

Die offene Terrassentür half bei der Qualmkrise ganz enorm. Leider konnte man das restliche Chaos dadurch nur noch besser sehen.

Tini blinzelte einige Male, dann seufzte sie und rieb sich die Augen. "Ach du Scheiße, Kai."

"Hm." Kai lehnte sich an den Dielenschrank und blickte dem Bambi hinterher. "Ich geh gleich zu ihm."

Tini sah um die Ecke in den Wohnraum. "Ich weiß ja, wo ich warten kann... das heißt... von dem Geruch hier in der Wohnung wird mir irgendwie schlecht." Sie ging hastig an ihm vorbei auf die Dachterrasse raus und gesellte sich zu Bardo, um tief ein- und ausatmend stehenzubleiben.

Kai holte den Staubsauger und betäubte seine Gefühle mit dem Dröhnen und dem guten Gefühl, das Mehl verschwinden zu sehen. Tini und Bardo saßen auf der Dachterrasse nebeneinander auf der extrabreiten Holzsonnenliege und starrten gemeinsam auf die Kuchenform, die dampfend, oder vielmehr qualmend, vor ihnen auf dem Boden stand. Mit leerem Kopf und leichter Übelkeit wegen des Geruchs in der Wohnung saugte Kai das Wohnzimmer und die Küche komplett frei, dann trat er auf die Dachterrasse.

Der Junge blickte mit verschlossenem Gesicht und noch immer effektvoll tränenverhangenen Augen auf den Fußboden, die Arme um seinen schmalen Oberkörper geschlungen. Er trug nur eins seiner schrecklichen T-Shirts und dafür war es eigentlich zu kalt hier draußen. Tini stand auf und ging in die Wohnung zurück, Kai hörte, wie sie die Fenster öffnete, um Durchzug zu schaffen.

"Hey. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Es war nur..." Kai seufzte und rieb sich die müden Augen. Er fühlte sich zerschlagen. "Es war nach der letzten Nacht nur den ganzen Tag so grauenhaft. Irgendwie war das die Krönung für den miesesten Mittwoch, den ich je hatte."

Bambi blickte zu ihm auf und lächelte scheu und absolut hinreißend, dann entgegnete er heiser "Für mich auch."

Kai ging vor ihm in die Hocke und senkte den Blick auf die Kuchenform mit dem schwarzen Zeug darin. "Was sollte das werden?"

"Dein Geburtstagskuchen. Hab aus Versehen statt Umluft den Grill angestellt." Bardo flüsterte nur, den Blick starr auf die Kuchenform gerichtet. "Das Mehl ist mir eben irgendwie... explodiert."

"So sah es auch aus."

"Morgen Früh ist alles weg, versprochen. Nur bitte... bitte lass mich hier bleiben, bitte..." Seine Stimme kippte unschön und er umarmte sich selbst mit einem erstickten Laut noch eine Spur fester.

Kai hielt sich an Bardos Knie fest und sah ihm forschend ins Gesicht. Gott, der Junge war unglaublich niedlich. Vor allen Dingen, wenn er so hilflos aussah. Es machte, dass man ihn einfach trösten musste. "Du hattest genauso einen Tag wie ich?"

Bardo nickte leicht, Tränen stiegen wieder in seine Augen hoch, unwirsch wischte er sie fort. Heiser flüsterte er "Ich bin aus dem einen Chor raus."

"Was?!"

"Nicht wegen euch. Stimmbruch. Ich hab so Angst, dass die Stimme schrecklich wird und ich nie mehr singen kann." Bardo biss sich auf die Unterlippe. "Aber das war nicht das Schlimmste. Es war... in der Schule hat... Stefan mich..." Er brach ab und versteckte sein Gesicht in der Ellenbeuge.

Kai schloss gepeinigt die Augen. Er wusste doch auch so, was passiert war. Müde rieb er sich über das Gesicht. "Das war nicht das letzte Mal, dass du so etwas erlebst." Kai erhob sich ächzend und setzte sich neben Bardo auf die Holzliege.

"Er war mein bester Freund! Seit dem Kindergarten! Ich hab es ihm im Vertrauen gesagt, und er hat mich vor allen anderen... vor den anderen... hat er mich weggestoßen, als ob ich ein Zombie wäre. Als ob ich ihn anstecken könnte, wenn ich ihn nur berühre! Ich... bin so..." Er sprang in Tränen ausbrechend auf und wollte fortlaufen.

Reaktionsschnell umfing Kai sein Handgelenk und stand auch auf. "Ach, Bambi." Er gab sich nach einem Moment der Starre zwischen ihnen einen Ruck und legte den Arm um Bardo. Mit einer Hand auf dem Hinterkopf zog er ihn gegen seine Schulter. Als hätte er nur auf das Stichwort gewartet, erschlaffte Bardos Körper und er sank gegen Kai und vergrub sein Gesicht im Pulloverkragen. Kai zögerte kurz, dann legte er seinen anderen Arm auch um den schlanken Körper und umarmte Bardo fest.

Eigentlich hasste Kai es, anderen körperlich so nah zu sein. Allen anderen außer Jan. Bardo roch außerdem einfach nur grauenhaft nach Verbranntem und versaute ihm den Pullover. Aber zugleich fühlte es sich bei ihm richtig an. Es war, als würde er, tief innen, sein eigenes Selbst aus genau dieser Zeit trösten können. All die vielen kleinen wunden Stellen streicheln, während er ihm unsicher über die Haare und die Schultern strich. All die vielen kleinen Narben fortnehmen. Wie ganz früher, als seine Mutter noch das zerschrammte Knie gepustet hatte, das dann sofort nicht mehr wehtat. Magie auf eine Art.

Er wusste aber auch genau, was Bardo fühlte. Haargenau. Er hatte sich doch so oft schon genauso gefühlt. All die unbedachten Worte von seinem Vater, von seinen Schulkameraden oder von seiner Tante und später ganz besonders von seinem Cousin Jörg, hatten jedes Mal einen kleinen Stich gesetzt, einen kleinen Schnitt.

Jedes Mal hatte Kai einfach ein Stück kalte harte Schale darüber gelegt und sich noch mehr in sich zurückgezogen. Erst Lolli mit seiner süßen, optimistischen und endlos indiskreten Art hatte Kai da Stückchen für Stückchen mehr herauslocken können. Und erst Jan hatte es geschafft, in diese Schale einzudringen, zu Kai ganz tief innen, wo er fühlte und verletzlich war. Es machte ihm noch immer Angst zu wissen, wie viel Macht Jan über ihn hatte dadurch.

Bardo zu halten und zu trösten war dagegen sicher. Es reichte nicht so tief, aber fühlte sich warm an und gut. Es war zugleich schmerzlich für Kai und schön. Es war, wie er es damals gebraucht hätte, ließ ihn sich wehmütig fühlen. Er hatte so etwas nie gekannt. Einen Rückzugsort, einen Menschen, der warm war und nicht misstrauisch. Einen Menschen, der zugleich wusste, was man fühlte. Den wilden Wirbel aus Zweifel, Vorwurf, Unsicherheit und ganz schrecklich viel Angst.

Kai gähnte schließlich und seufzte Bardo ein wenig von sich schiebend. "Tut mir leid. Der Tag war die Hölle, Bambi. Lass uns doch rasch zusammen aufräumen und putzen, damit Jan uns nicht noch beiden einen Brief schreibt. Hm?"

Bardo nickte und lachte leise. "Danke." Seine Stimme war heiser und klang noch immer unglücklich, aber schon ein wenig stärker.

"Geh deine Eltern anrufen, dass du hier bist." Kai drehte sich um und blickte Jan ins Gesicht.

Jan lehnte, eine Bierflasche in der Hand, in der Terrassentür und lächelte Kai an, die Funken spielten in seinen Augen. Kai bekam weiche Knie und plumpste nach einem unbedachten Schritt rückwärts auf die Liege.

Bardo sah ebenfalls auf und senkte dann den Kopf rasch wieder. Er ging hastig an Jan vorbei in die Küche rüber. Gleich darauf konnte Kai Wasser laufen hören und Tinis Stimme, die Hilfe beim Putzen anbot.

"Hey, du." Jan ließ sich neben ihm nieder und stupste Kai mit der Schulter kurz an. Dann hielt er ihm das Bier hin. "Alles okay?"

Kai schüttelte den Kopf. "Nein. Der Tag war einfach nur grauenhaft." Er schloss die Augen und ließ sich hängen, die Unterarme auf den Knien und die Stirn auf die Arme gelegt. Er fühlte sich wirklich müde von all den Diskussionen und Problemen und Gefühlen. Doch mit einem Mal blinzelte Kai und er hob den Kopf. "Nein. Eigentlich ist er das gar nicht. Du bist hier und wir streiten nicht einmal mehr... Bardo und ich haben..." Ja, was hatten sie eigentlich? Sie hatten sich irgendwie geeinigt. Zwischen Mehl und verbranntem Kuchen und Bardos Tränen über den Stimmbruch machte ihre Beziehung mit einem Mal Sinn. "Ich bin todmüde, trägst du mich zum Bett?"

Jan lachte und half Kai aufzustehen. Gemeinsam gingen sie zum Badezimmer, wo Kai seine Kleidung von sich pellte. Den versauten Pullover warf er gleich in den Wäschekorb.

Jan küsste ihn auf den Nacken. "Du warst beim Friseur, jetzt kann man all die Knutschflecken von neulich im LPP sehen, Kai."

"Das hat Frank eben auch... hey! Erstaunlich. Du bemerkst es, wenn ich beim Friseur war?"

Jan sah ihn grinsend von der Seite her an. "Hmhm. Dann bin ich wohl so richtig in dich verliebt."

Romantisch fühlte Kai sich ganz und gar nicht und blickte nur mit schmalen Augen in Jans Gesicht. "Was war mit Bianca? Du bist erstaunlich früh wieder hier. Oder fährst du erst noch?" Kai kletterte in seine Schlafshorts und zerrte sich sein T-Shirt über den Kopf. Müde nahm er sich seine Zahnbürste.

Jan ließ sich hinter ihm auf dem Badewannenrand nieder. "Nein, es ging schneller als gedacht. Die wollte mit mir über Sex reden und Sex haben mit mir. Ich hab abgelehnt und ihr gesagt, dass sie sich wirklich jemanden Neues dafür suchen soll. Mann, da hat sie schon Thilo hinter sich hersabbern und schickt ihn für mich auf den Weg, obwohl sie doch echt so langsam raffen müsste, dass ich sie nicht mehr will."

Kai putzte seine Zähne zu Ende und spülte den Mund aus. "Wie kam die drauf, dass du Sex mit ihr haben willst?"

Jan trank noch einen Schluck Bier und zuckte mit den Schultern. Er hob einen Fuß und betrachtete seinen Latschen mit der sich lösenden Gummisohle mit kritischem Blick. "Das war fast ein wenig peinlich. Sie war zu der Ansicht gelangt, dass ich auf Analsex abfahre und hatte sich überlegt, dass sie das mal ausprobieren wollte."

Kai prustete das Wasser, das er hatte trinken wollen, hastig ins Waschbecken. "Was?!"

Jan stand auf und klopfte ihm grinsend auf den Rücken. Sie sahen sich im Spiegel in die Augen. "Ich hab ihr gesagt, dass sie sich dann wohl besser an dich wenden sollte, weil du meistens mit mir schläfst."

"Oh Gott, wenn die auf Ideen kommt, bist du so was von schuld!" Mit rotem Gesicht trocknete Kai sich ab und fluchte leise. In seinem Hirn baute die Abteilung für schwule Abartigkeiten einen neuen Stand auf, nur für den Fall, dass Bianca ihn nun auch noch überfallen sollte. Erschaudernd schob Kai diese Gedanken weit von sich.

Jan lachte laut auf und machte es schlimmer. "Und dann hab ich ihr noch gesagt, dass du darin auch unglaublich gut bist. Viel besser als ich."

"Was? Stimmt doch gar nicht!" Kai schlurfte träge in ihr Schlafzimmer rüber. In der Küche räumten Tini und Bardo noch immer an der Sauerei vom verunglückten Kuchen herum.

Jan folgte ihm und schloss die Schlafzimmertür. Auch hier roch es nach Verbranntem. Jan öffnete das Veluxfenster und zog das Rollo zu. "Doch. Du bist saugut im Bett. Vor allem wenn du oben liegst, Kai. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zwangsläufig nur mit mir so wäre."

"Gar nicht. Du bist viel besser, sicherer. Hast doch auch viel mehr Erfahrung als ich. Und außerdem, was ist daran groß zu können? Das ist doch echt Instinkt oder so. Du bist doch immer derjenige, der alles psychologisch erklärt." Kai war sich außerdem sicher, dass es viel mehr brauchte, um ein guter Bottom zu sein. Viel mehr Kommunikation, viel mehr Gefühl dafür, was ging und was nicht. Wenn Jan unten lag, gab er dennoch den Takt vor, setzte die Signale für den Ablauf. Das konnte Kai absolut nicht, weil er immer nur erstarrt stillhielt, wenn er sich einmal in der Rolle fand.

Jan fand das nicht. "Ich krieg den rechten Winkel nicht so schnell. Ich bin sofort auf hundertachtzig und kann mich kaum zurücknehmen. Ich komme viel zu schnell, weil es sich verdammt geil anfühlt." Er schob Kai tiefer unter seine Decke und warf sich daneben. "Du kannst unglaublich lange. Du... du kannst einfach weitermachen, auch wenn du gekommen bist. Das finde ich kaum auszuhalten! Wie du das machst, ist mir ein Rätsel."

Kai lachte leise. Wenn das nicht mal ein Kompliment war. "Ich muss dich nur ansehen, Jan. Das reicht mir immer. Außerdem muss ich wohl oder übel weitermachen. Wenn ich einmal aufhöre, will ich ganz aufhören, weißt du doch." Und nicht angefasst werden und nicht anfassen und niemandem nah sein, bis er wieder abgekühlt war.

Jan nickte, aber folgte seinem Gedankengang. "Außerdem weißt du immer genau, wie viel ich abkann. Du gehst nie zu weit, aber du gehst bis an die Grenze ran." Jan blickte ihn intensiv an, wie immer, wenn er in anstrengender Diskussionslaune war. "Du machst mich alle, aber so, dass ich das wieder und wieder will."

Kai gähnte, konnte das nicht verhindern. "Eh. Nee. Eher anders herum, Jan. Ich bin noch fix und fertig von der Aktion im LPP."

"Doch. Glaub es endlich, verdammt noch mal! Das liegt nicht an mir, Kai, dass ich so begeistert bin, das bist du. Und im LPP war Wahnsinn! Ich bin, glaube ich, dreimal gekommen und allein zweimal auf der Kühltruhe... "

"Und was hat Bianca dazu gesagt?" Kai wollte das Thema wechseln, bevor er noch geil wurde und zugleich zu müde, was dagegen zu tun. Es gelang.

Jan seufzte. "Dass ich dann offiziell schwul bin. Sie sagte, wer darauf steht, der ist nicht bi, der ist schwul. Und ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht... recht hat."

Kai streifte Jan mit einem Blick. Dass Jan schwul war und es noch nicht so richtig eingesehen hatte, war ihm klar. Aber sie sprachen nicht darüber. Noch immer war Kai nämlich auch klar, dass Jan sich tief im Inneren nach einer normalen Familie sehnte. Dass er Frau und Kinder und all das wollte. Irgendwann würde das sicherlich zum Störfaktor werden. Ein Störfaktor, über den er nicht nachdenken wollte. Nicht, wenn er so glücklich war.

Statt darauf einzugehen, sagte er deswegen. "Sie hat heute Schwuchtel zu mir gesagt. Irgendwie fand ich das ekelig von ihr. Einmal hat sie das nicht, weil sie homophob ist, sondern nur um mich blöde anzumachen und zum anderen hat sie das vor Tini gesagt. Wie um ihr wehzutun."

Jan lehnte sich zurück und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. "Bianca ist sauer, weil Tini so viel mit dir macht. Sie meinte, dass sie sich von ihrer Freundin hintergangen fühlt. Als ob ihre beste Freundin mit meiner neuen Freundin hinter ihrem Rücken rumkuscheln würde." Er schüttelte den Kopf. "Wirr, oder? Sie ist echt von der Rolle. Schon komisch. Ich hätte nie gedacht, dass Bianca von all meinen Exfreundinnen an der Uni diejenige sein würde, die mir Stress machen wird."

"Da war ich mir schon immer sicher. Die hat dich vom ersten Tag an dermaßen verfolgt, Jan."

"Stimmt. Am ersten Tag schon war ich informiert über ihre Telefonnummern, ihre Zimmernummer im Wohnheim und ihre BH-Größe. Die war auch echt an mir dran, obwohl ich damals an diese Maus aus dem Jahrgang über uns ran wollte, die ich beim Einschreiben in der Bibliothek kennengelernt hatte. Hat Bianca damals nicht gestört."

"Mich wundert bei der gaaahaaarnix meeeheeer." Kais Kiefer knackte bedenklich, als er dem Gähnen nachgab.

Jan lachte. "Ich geh und hör auf zu schnacken mit dir, bevor du dir noch den Unterkiefer aushakst. Ich werf eben Tini raus und steck Bardo ins Bettchen. Dann komm ich auch schlafen. Die letzte Nacht sitzt mir noch in den Knochen."

Jan war schon an der Tür und Kai fielen bereits die Augen zu, als er vernahm "Das war schön, euch beide da so zu sehen, Kai. Gut, dass du ihn hast trösten können."

Kai antwortete nicht mehr, aber fiel lächelnd in einen komatösen Tiefschlaf.

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