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Trost 2

Kapitel 85-88

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Informationen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 85

Tini hatte sich schnell mit der Küche vertraut gemacht. Sie lobte Hannahs Ausstattung mit Geschirr und hatte, noch bevor Kai mit dem Anziehen fertig war, Kaffee und Teewasser aufgesetzt. Jan deckte den Tisch, Kai suchte ihre Vorräte zusammen und Lukas stand mit dem Bambi draußen auf der Dachterrasse und rauchte eine und ließ sich geduldig anhimmeln. Endlich saßen sie zusammen bei Brötchen, Hannahs Geschirr mit Rosendekor, Kaffee und Tee und langen, müden Gesichtern.

Das Unterhaltungsthema am Tisch waren die Vorurteile Schwulen gegenüber und Klischees und welche davon wer am allerbesten bediente. Tini hatte es offenbar auf sich genommen, den armen Bardo ein wenig anzulernen, wie man schwulen Männern am besten auf den Geist ging. Aber das Thema war lustig und sie stiegen bald alle drauf ein. Lolli, so fand Kai, schoss den Vogel ab. Zudem war Pascal mit seinem Designtick und der lieben Art, wie auch dem Umstand, dass er Vegetarier war, kein schlechter Kandidat.

Tini meinte, dass Kai selber nicht so schlecht dastand mit seiner Frauenphobie und Arroganz. Der schlug wieder Lukas vor mit seiner Eitelkeit, dem ewigen Fitnesstraining und der doch überbordenden Anzahl Lover. Jan grinste sich durch zwei Brötchen und eine halbe Kanne Tee. Ihm selber konnte man kein einziges Klischee anhängen. Das mussten sogar seine Feinde Lukas und Tini zugeben. Carl tauchte müde zum Frühstücken auf und bekam gleich seine Klischees, den peinlichen Humor und oberflächliche, oberniedliche Boyfriends, aufgetischt.

Die Meiersche war immer schon erstaunlich cool gewesen und gähnte dazu nur nickend. "Lukas raucht, Kai hält sich einen Fußballer und ich hab meine Süßen. Jedem sein Laster. Ich geh mal Pascal rauswerfen und mein Handy suchen. Lolli hat mich bestimmt schon vermisst gemeldet."

Pascal erschien schließlich frisch geduscht und rasiert und superordentlich und teuer angezogen, als sie durch eine Kanne Kaffee waren und die Croissants zu Krümeln reduziert hatten. Er machte sich bei Kai beliebt, indem er sich von seinem Schaden erholte. Er begann sein Frühstück zu ihrer aller Glück mit einer zerknirschten Entschuldigung wegen seines Verhaltens am Abend zuvor. Er blickte Lukas direkt an und brachte seine Entschuldigung ohne Anschuldigungen und dankenswerterweise auch ohne Tränen rüber.

Carl hörte der Entschuldigung mit gen Himmel verdrehten Augen zu, nickte das gütlich tantenartig grinsend ab und war ansonsten nicht sein übliches lustiges Selbst. Lollis Prophezeiung schien zu stimmen. Carlchen hatte die Nacht über getröstet und getröstet und war nun vollkommen ausgelaugt und lustlos. Pascal und er mieden sich mit Blicken. Nach so einer Heulaktionsnacht nicht vollkommen verwunderlich.

Kai nippte von seinem Kaffee und blickte statt des Problems von gestern dem von morgen, Bardo ihm gegenüber nämlich, in das süße Gesicht. Im blassen Sonnenschein waren seine Haare von satter Kastanienfarbe und über die kleine Nase und die Wangen gestreut lagen nicht wenige Sommersprossen. Seine braunen Augen wurden von sehr dichten Wimpern gesäumt, daher der Bambiblick. Dauernd waren seine Wangen von einem roten Hauch überzogen. Das war kein Wunder. Er saß neben Lukas, der mal wieder voll und ganz er selbst war. Sexy, von sich selbst überzeugt und ganz und gar nicht berührungsängstlich. Der Junge war verteufelt niedlich und offensichtlich war er in Lukas ein wenig verschossen. Oh weh. Er hatte zudem gerafft, dass auch Pascal das war und der wiederum hatte gerafft, dass er in dem Bambi eine Art Konkurrenten hatte.

Die beiden zickten sich auf niedrigem Niveau sehr gepflegt an. Pascal, indem er Bardos Alter und Unerfahrenheit wieder und wieder zum Thema machte, und Bardo, indem er seine neugewonnene Freundschaft mit Tini voll auskostete, sich von Lukas knuddeln und necken ließ und sich zu seiner eigenen Person zurückhaltend ausschwieg. Er konnte sogar Carls Neugierde widerstehen, was eine starke Leistung war. Tini selber war ganz gut gelaunt. Sie ließ sich von Bardo und Pascal nicht aus der Ruhe bringen, aß ihr Brötchen mit Appetit und flirtete hemmungslos mit Kai, neben den sie sich natürlich gesetzt hatte, auch wenn er sich von ihr ab und Jan zugewandt hatte.

Nachdem Jan und Carl zusammen abgeräumt und Kai die Spülmaschine in Gang gesetzt hatte, verabschiedete Lukas sich. Bardo fragte sofort, ob sie gemeinsam zu Lenas Wohnung gehen könnten, was Pascal wütend machte. Insbesondere, weil Lukas den Arm um den Jungen legte und ihn anlächelte. "Klar! Ich bringe dich besser ganz nach Haus, Bambi. Wo wohnst du denn eigentlich?"

"Goetheplatz." Das Bambi erglühte niedlich und flüchtete sich zum Dielenschrank, um seine Jacke rauszuholen.

"Das ist ja gleich um die Ecke vom LPP in Richtung Dichterviertel. Geile Gegend. Ihr wohnt mitten in der Stadt?"

"Hm. Mein Vater hat die Apotheke am Goetheplatz, wir wohnen in den zwei Etagen darüber."

"Die Fröhlich-Apotheke?"

Bardo nickte und holte sein Handy aus der Jackentasche, um nach Nachrichten zu sehen.

"Heißt du dann etwa Bardo Fröhlich?" Lukas grinste, dann lachte er laut heraus, aber Bardo hob den Blick und nickte erneut vollkommen unbeeindruckt. Auf den Nachnamen ging er gar nicht ein, sondern erklärte "Man gewöhnt sich dran. Meine Brüder heißen Ansgar, Nantwin und Halvar. Meine Schwester hat es meiner Meinung nach am schlimmsten getroffen, die heißt Ortrud."

Tini mischte sich ein. "Dann bedeuten die Namen sicherlich lauter dolle Sachen, oder?"

"Hm. Mein Name leitet sich von Bardulf ab und bedeutet sowohl Wolf als auch Streitaxt."

Lukas streckte sich, sehr zu seinem Vorteil, und sagte dann. "Na sieh einer mal an. Das Bambi ist ein Wolf."

Bambi ignorierte ihn. "Halvar bedeutet Fels, oder kann auch der Hüter bedeuten. Nantwin heißt Mut und Freundschaft je nach Sprachstamm oder so. Ansgar bedeutet Gottes Speer, Ortrud Schwertspitze. Passt gar nicht zu ihr, die ist total peacig. Weil die Namen so ungewöhnlich sind, muss ich dauernd über ihre Bedeutung sprechen."

Kai seufzte. Die Namen waren megabeknackt, die Kinder hatten sein Mitleid. Aber Bardos Stimme war noch immer der Hammer, auch nüchtern betrachtet. Tini schien das auch zu finden. "Kannst du eigentlich gut singen oder so?"

Überrascht blickte Bardo zu ihr zurück. "Ich singe im Chor der Oper, meine Mutter leitet den Kinderchor dort, da hat sich das ergeben."

Pascal schnaubte und ging in Kais Zimmer, um seine Sachen zu packen, aber Carl fragte nun auch interessiert "Spielst du auch ein Instrument, Bambilein?"

"Klavier kann ich ganz gut und dann spiele ich Cello. Ich will vielleicht mal Musik studieren, wenn... wenn die mich lassen."

"Die? Deine Eltern?" Lukas erhob sich und holte seine Jacke ebenfalls.

"Ja. Sie wollen, dass ich was vernünftiges mache. Am besten natürlich Apotheker werden."

"Aber deine Mutter macht doch Musik, oder nicht?"

"Musiktherapie und Kindergruppen. Ja, aber es geht darum, dass einer die Apotheke kriegen soll, die hat Papa schon von seinem Vater geerbt."

Bardo blickte sich von der Aufmerksamkeit durch die Umstehenden etwas rot geworden um und erklärte: "Ansgar wird Informatiker, der kann die Apotheke schon mal nicht erben. Ortrud wird bestimmt Pastorin, weiß der Himmel, wie die darauf gekommen ist. Nantwin und Halvar sind noch jünger, vielleicht haben sie ja bei den beiden Glück. Allerdings ist Nantwin total auf Ballett abgefahren, sieht schlecht aus bei dem."

Kai musste lachen, weil ihm schwante, dass die Familie Fröhlich bald ganz fröhlich voller schwuler Jungs zu sein schien. Wenn Nantwin tatsächlich ein Balletttänzer werden wollte, klang das verteufelt nach Klischee.

Lukas grinste vermutlich ebenfalls aus dem Grund und sagte dann locker. "Ist ja man gut, dass es dein Leben ist. Du wirst schon rausfinden, was dir Spaß macht."

Jan blickte von dem lockeren Tonfall augenscheinlich etwas verärgert von Lukas zu Bambi und bot an "Wenn du Stress hast oder Fragen, dann komm jederzeit bei uns vorbei, Bardo. Jederzeit, okay? Ich geb dir mal meine Handynummer."

Kai verschränkte die Arme und dachte bei sich, dass er nicht den Babysitter machen wollte, wenn dann Eltern angerollt kamen, die sich in etwa so verhielten wie sein eigener Vater vor nicht so vielen Jahren. Lukas knutschte ihn gleich drauf zum Abschied auf die Wange und Carl verabschiedete sich mit zwei Küsschen, um sich von Lukas zu Lolli rumfahren zu lassen.

Ein Handygespräch hatte geklärt, dass Benni und Lolli erst am Nachmittag zum Tätowieren wollten und Carl war doch scharf drauf, mit ihnen zu gehen. "Um schlimmstes zu verhindern, natürlich. Ich habe keine Ahnung, was Benni haben will, ist mir auch egal, aber Lolita muss man ein wenig vor sich selber schützen. Das Teddybild mit Regenbogenfahne von gestern früh will ich nicht auf ihrem Hinterteil sehen müssen."

Unter Lukas' Lachen und Bambis verwirrt gestressten Blicken gingen die ersten Teile der Frühstücksgesellschaft ihrer Wege. Tini blieb leider einfach auf der Bank sitzen und verkündete, dass sie auf Holger warten wollte, der mit Jan in der Wohnung verabredet war.

Frustriert überlegte Kai, dass er dann ja wirklich auch joggen gehen sollte, um ihr zu entgehen. Jedenfalls war sie ziemlich anstrengend und aufgedreht. Vermutlich noch die Nachwirkungen ihres Sextherapeutenplans.

Pascal lenkte ihn für ein Weilchen davon ab. Sie trafen in Kais Zimmer aufeinander, wo Passi deprimiert seufzend damit beschäftigt war, das Bett abzuziehen und Kai nach dem Rechten sehen und sein Bügelbrett holen wollte. Pascal sah übernächtigt aus und seufzte erneut leise und reizte Kai damit mehr. "Scheiße, Passi. Bitte hör endlich auf damit! Du machst uns alle schon ganz aggressiv. Und Carl hast du vollkommen ausgelaugt. Der Ärmste ist sicherlich für Wochen komplett depri wegen dir!"

Pascal seufzte noch einmal und ließ den Kopf hängen. "Das tut mir auch so leid. Ich werde ihn auf jeden Fall heute Abend anrufen, wenn er wieder bei sich in der Wohnung ist. Ich wundere mich, wie er das überhaupt mit mir aushalten konnte."

Das fand Kai auch und vergab Pascal ein Stück weit, weil dieser sich mittlerweile so realistisch zeigte. Natürlich zickte er trotzdem weiter. "Na, wie wohl? Du bist süß und durchtrainiert und schaust auch verheult nicht allzu schrecklich aus. War für ihn sicherlich nicht so schlimm. Außerdem passt du mit deinem Aussehen und deinen Problemen genau in sein Beuteschema: niedliche Boytoys in distresse. Helferkomplex halt."

Pascal wurde rot und sah Kai missmutig an. "Na danke."

Ablenkend meckerte Kai weiter. "Ich wundere mich nur, wie Lukas das aushalten kann, ohne dich zu hauen!"

"Er ist es gewohnt. Hast doch das Bambi gesehen mit den großen Rehaugen. Will gar nicht wissen, wie alt der ist... oder auch nicht ist." Pascal warf die Bettwäsche auf den Boden und ließ sich auf der kahlen Matratze nieder. "Er kann doch haben, wen er will. Sogar dich hat er bekommen und du warst sicherlich kein leichter Fang."

"Doch. Ein sehr leichter. Ich war extrem unglücklich in Jan verliebt, der zu der Zeit noch mit Bianca zusammen war. Ich wollte endlich auch mal Sex haben, statt nur Lolli und Frank zuzuhören und Lolli und Frank haben mich an Lukas quasi verraten und verkauft, damit ich endlich mal mein erstes Mal hinter mich bringe." Erschrocken bemerkte Kai, dass er Pascal von etwas erzählte, das er eigentlich nie im Leben wieder mit jemandem besprechen wollte und zudem auch mit Jan noch nie besprochen hatte.

Er schloss die Augen und stöhnte auf, als Pascal ihn erstaunt fragte. "Auf dem Rave, das erste Mal. Das war Lukas?!"

'Scheiße!' "Ja. Ich hatte ihn ungefähr eine Stunde vorher kennengelernt." Kai ließ den Kopf hängen und ließ sich von seinem Gewissen verhöhnen. Wie damals verliehen ihm böse kleine Miesepeter einen Orden für das beste Bedienen eines Schwulenklischees. Noch immer konnte Kai nicht fassen, dass ihm solch eine Idiotie damals passiert war. "Ich weiß bis heute nicht, wie das hatte passieren können."

Pascal sah ihn von unten her an. "Erzählst du mir davon?"

"Nein."

Tinis Stimme ließ ihn zusammenfahren. "Mir auch nicht?"

"Dir erst recht nicht! Scheiße, lasst mich alle mal zufrieden! Ich geh jetzt und leg mich ins Bett und lern für Physiologie."

"Ich komm mit." Tini sah kämpferisch aus und Kai beschloss, sie einfach zu ignorieren. Zu seinem Glück kam Holger genau in diesem Moment zu ihnen in die Wohnung rauf und beschäftigte Tini mit einer tüchtigen Knutscherei. Kräftig war Holger tatsächlich. Jedenfalls sah es nicht sonderlich mühselig aus, als er sie hochhob und an sich drückte.

Mit gemischten Gefühlen blickten Passi und Kai beide auf die knutschenden Heteros im Flur, bis Jan sie erlöste. "Können wir dann langsam mal? Willst du einen Gepäcklauf machen?"

Sie lachten und Tini wurde fürsorglich abgestellt, dann winke Jan kurz und bereits über die Fußballergebnisse der letzten Spiele diskutierend liefen Holger und er die Treppen runter. Pascal schloss sich den beiden Sportfanatikern zum Glück an und zog sich seine Jacke an, noch während Kai Jan hinterherblickte.

Ihr Abschied blieb irgendwie kühl. Pascal umarmte Kai nicht einmal, sondern blickte ihn nur deprimiert und noch immer eifersüchtig an. Traurig und zugleich genervt wurde Kai gerade klar, dass es eine Weile dauern konnte, bis Pascal und er sich wieder miteinander unterhalten würden, ohne dass Lukas oder Pascals Neid in dem Gespräch eine Rolle spielen würden.

Als die Tür sich hinter Passi schloss, fehlte er Kai, wie auch zuvor schon. So gern hätte er mal wieder jemanden gehabt, dem er sich auch einmal anvertrauen konnte. Kai war an diesem Tag aber richtig froh, dass er nur noch Tini loswerden musste, um in Ruhe mit Jan zusammen sein zu können, wenn der wieder da war.

Tini lag mit Leggins und weitem Pulli bekleidet auf dem Riesenbett und blickte Kai interessiert ins Gesicht. "Dein erstes Mal."

"Vergiss es." Kai warf sein Physiologiebuch auf das Bett hinter sie und stellte das Bügelbrett zwischen sich und Tini als Schutzwall auf. Er nahm sich den Wäschekorb mit den sauberen Sachen und begann seine T-Shirts und Hosen rauszufischen, um sie zum Bügeln beiseitezulegen.

"Ich hab dir meins erzählt." Tini rückte ein wenig zur Seite, um Platz für die Wäsche von Jan zu machen, die Kai aufs Bett warf.

"Ja. Erinnere mich bloß nicht daran!" Kai steckte das Bügeleisen ein und wartete auf die kleine rote Lampe. Vorsichtig füllte er das Bügelwasser in den Tank.

"Du bügelst?"

Irritiert sah Kai zu ihr rüber und nahm sich das erste T-Shirt und sein Bügelspray. "Was dagegen?"

"Nein, natürlich nicht. Das erklärt, warum du immer so ordentlich ausschaust. Du bügelst alles? Sogar Jeans?" Offensichtlich fasziniert beobachtete Tini ihn bei der Arbeit.

"Ja. Natürlich." Er bügelte sogar gern, auch wenn er das nur unter Folter zugeben würde. Es war eine friedliche, monotone Tätigkeit, deren Erfolge man aber sofort sehen konnte. Glatter Stoff, der sich warm und weich anfühlte und nach Bügelhilfe duftete, war für ihn nahezu synonym für einen entspannten Morgen zuhause. Er bügelte auch die Bettwäsche, auch wenn Jan ihn dafür auslachte. Normalerweise würde er sich Musik oder den Fernseher anmachen dazu, aber Tini lag noch hier rum und würde vermutlich für Unterhaltung sorgen.

Kai legte das erste Hemd und nahm sich das nächste, kam in seinen Rhythmus rein, blendete sie ein Weilchen lang aus. Müde legte er alles immer gleich nach dem Bügeln in den Wandschrank rein oder hängte es auf. Wenn er den Kram rumliegen ließ, bekam Jan sonst immer einen Anfall, warf ihm das Zeug unter Umständen sogar aufs Bett und zerknüllte alles wieder.

Tini beobachtete ihn eine Weile, vermutlich auch müde, doch sie hatte das Thema ihres Interesses nicht vergessen. "Du bist also seit Lukas nicht mehr Jungfrau?"

Unglücklich kniff Kai einmal die Augen, dann sprühte er das nächste Hemd mit Bügelhilfe ein. Es war eines der bescheuerten karierten Hemden von Jan, Kai überlegte kurz, ob er das besser nicht bügeln sollte, weil es bei Jan egal war, dann machte er einfach weiter. "Du weißt doch eh alles von Lena, oder? Ich kann nicht glauben, dass Lukas so dermaßen indiskret war und sie dir dann auch noch alles weitererzählt hat."

"Lena weiß fast alles über mich, sie hat mir in einer schweren Zeit geholfen und daher weiß ich sehr viel über sie. Sie und Lukas wissen alles übereinander. Wir hatten mal einen Abend, da haben wir alle drei miteinander getrunken und geredet, da warst du eindeutig ein Thema für Lukas. Aber keine Sorge, ich würde so was nie im Leben mit anderen besprechen. Mit Leuten, die es nichts angeht."

"Ich will auch nichts davon hören!" Kai hängte das Hemd in den Schrank und nahm sich das nächste Teil. Überlegend blickte er zum Fernseher. Ob sie Ruhe gab, wenn er irgendwelche schwachsinnigen Serien laufen ließ? "Dein Sexleben geht mich ebenso wenig an, wie dich meines was angeht, verstanden?!"

Natürlich ließ Tini so was nicht gelten. "Wie macht ihr das eigentlich? Ich meine den Verkehr. Tut das nicht weh?" Tini kaute intensiv auf sein Gesicht starrend auf ihrem Daumennagel.

Kai rollte mit den Augen, aber ergab sich endlich, auch wenn ihn die Abteilung schwule Abartigkeiten eindringlich vor Tini und Sex warnte, gleich in welchem Zusammenhang. "Geht so."

"Klingt ja nicht gerade begeistert. Magst du das etwa gar nicht?"

"Nicht sonderlich. Ist ja wohl auch keine Pflicht."

"Lukas meinte das ja auch..." Sie legte ihr Gesicht auf die Unterarme und sah ihn neugierig an. "Ganz ehrlich, Kai. Wie geht ihr dabei vor?"

"Willst du es etwa versuchen?" Kritisch blickte er sie an, dann legte er das T-Shirt und nahm sich das nächste, leider das letzte. Eigentlich hatte er sie damit wegbeißen wollen. Klappte natürlich nicht, erst recht nicht, seit sie diese Sextherapeutenidee im Kopf hatte.

Tini machte ein betont wissenschaftliches Gesicht. "Nun ja. Analverkehr ist ja kein Exklusivrecht für Schwule, nicht wahr? Aber nein. Erst mal nicht. Eigentlich überlege ich nur, weil... naja, weil ich so bei mir denke, dass es recht eng sein dürfte und vermutlich nicht so angenehm. So, wie in meiner Erwartung Sex für mich sein wird mit Holger... normaler Sex."

Kai schloss gepeinigt die Augen. "Du wirst mich damit nicht in Ruhe lassen, richtig?" Er packte die Sachen weg und zog beim Bügeleisen den Stecker. Seufzend stellte er alles aus dem Weg und ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder, um seine Socken aus dem Wäschekorb zusammenzusuchen.

"Mit wem soll ich sonst darüber reden? Meine Freundinnen aus der Schulzeit stehen mir nicht mehr so nah. Mit Freunden vom Sport kann ich wohl kaum so intime Sachen besprechen und Lena und ich stehen uns auch nicht nahe genug für... naja, doch. Mit ihr kann ich so was besprechen, aber sie ist immer so larifari dabei. Nimmt nichts ernst. Ich vertraue ihrem Urteil nicht. Schau dir ihren Lebenswandel an. Mich macht das irre, wie die mit ihrer Gesundheit umgeht. Allein die letzte Abtreibung!"

"Im Grunde ist es mir egal, wen du nimmst, nur lass mich endlich zufrieden!"

Tini ignorierte Kais verzweifelten Ausbruch und beendete ihre Auflistung. "Mit Bianca geht es nicht, die weiß das alles nicht so und... wenn die rausfände, dass wir miteinander..."

"Vergiss das miteinander! 'Du' hast was gemacht. 'Ich' war sternhagelvoll und hab mich nicht genug gewehrt. Scheiße!" Wütend warf er ein Paar Socken gegen den Schrank.

"Das ist nicht wahr, Kai. Und ganz ehrlich, mit wem soll ich denn eher über Sex reden als mit dir, mit dem ich Sex hatte? Du hast dich von mir überreden lassen, ja, aber du hast einiges gemacht. Unbewusst vielleicht? Du erinnerst dich wirklich gar nicht mehr, oder?" Sie rollte neben ihm auf dem Rücken herum und sah zur Decke hoch. "Du hast mich nicht irgendwie befummelt, keine Bange. Es gab weder Knutscherei, noch Kuscheln, noch Petting oder so, nein. Alles war hübsch kalt und unromantisch, genau wie du es gern hast."

"Was soll das denn wieder heißen?!"

Sie lachte. "Du bist eben so. Ausdruckslos und abweisend. Warst du auch an dem Abend. Sogar im nackten Zustand warst du das." Sie schmollte ein wenig. "Das bist du immer, nur bei Jan nicht..."

"Na eben, na bitte! Also lass mich in Ruhe!"

"Das meinte ich nicht. Du warst abweisend und irgendwie hast du so getan, als würdest du unter meinem Körper leiden, aber als wir... als 'ich' mit dir geschlafen habe, währenddessen hast du mich gehalten. Wir waren nackt zusammen, sehr eng zusammen und damit meine ich nicht den Teil mit dem Geschlechtsverkehr. Unsere Gesichter haben sich berührt, unsere Oberkörper. Ich weiß noch genau, wo ich deine Hände gespürt habe. Es war..."

"Es war eine saumäßig dumme und darüber hinaus einmalige Sache, die ich nie wieder machen würde und ganz ehrlich, über die ich nie wieder was hören will!" Kai war rot geworden und verfluchte wieder und wieder, dass Tini ihn so hatte überzeugen können. Und blöderweise hatte ihre Beschreibung seiner Erinnerung geholfen. Er wusste noch, wie sie da nebeneinandergesessen hatten, wie sie ihn gestreichelt hatte, seinen Penis erstaunlich unbefangen und fast unangenehm fest gestreichelt. Und in dem Augenblick erinnerte er sich, dass er an ausgerechnet Lukas gedacht hatte währenddessen und sie fast komplett hatte ausblenden können.

Die Abteilung für schwule Abartigkeiten erwachte genau in diesem Augenblick erneut in seinem Kopf, aber nur für eine Runde des milden Verhöhnens. Kai stöhnte auf. "Wirklich. Nie wieder!"

Tini ignorierte ihn. "Es war schön, trotz allem. Es war mit wem und wie ich es mir erträumt hatte... mit weniger Alkohol vielleicht. Ich weiß, dass du Frauen nicht abkannst. Ich gestehe auch, dass ich ziemlich stolz darauf bin, dass du mich schon so locker an dich ran lässt." Sie lächelte. "Es ist keine Liebe, wie man sie sich vorstellt, eher ist es wie eine Sucht. Eine Sehnsucht. Herrgott, ich muss nur dran denken, schon bin ich scharf auf dich!"

Hektisch rückte Kai ab. "Holger! Nimm ihn und tu es bald, damit ich dich endlich los bin!"

"Wie? Hilf mir!"

Kai seufzte abgrundtief, dann blinzelte er erstaunt, als er eine Eingebung hatte. Er rutschte zu seinem Nachttisch rüber und holte das Gleitgel heraus, die kleine Tube. Sogar ein richtiges aus der Drogerie und nicht das Ultraschallgel, das Jan gern von seinem Vater aus der Klinik mitbrachte. "Versuch es damit. Gibt es an jeder Ecke. Je mehr man davon nimmt, desto besser. Kann ich bestätigen." Oder Jan vielmehr. Seit Wochen hatte Kai sich nicht mehr von Jan ficken lassen. Es war ihm einfach zu unangenehm. Er konnte sich im nüchternen Zustand noch immer nicht genug lockermachen und Jan ließ ihn in Frieden... nur wenn Kai was getrunken hatte, fragte er gern einmal nach, wie die Chancen standen.

Tini nahm die Tube mit spitzen Fingern entgegen und starrte darauf. Dann nickte sie und lachte auf. "Danke! Wirklich!"

"Dafür schuldest du mir. Ich will jetzt meine Ruhe und lernen. Also schwirr ab!"

"Ich warte hier auf Holger, aber wir können zusammen lernen." Sie legte die Tube auf den Nachttisch. "Kann ich die... haben? Vielleicht probieren wir das heute Abend gleich aus."

"Ja. Ist okay, wir haben sicherlich irgendwo noch eine davon rumliegen." Im Bad, im Spiegelschrank oben links, um genau zu sein. Die musste er dringend ins Schlafzimmer schaffen, bevor er mit Jan allein hier war.

"Moment mal. Oh mein Gott! Ihr braucht das Zeug wirklich? Ich meine... ist es wirklich wahr, Kai?"

"Was?"

"Habt ihr wirklich Sex? Jan und du? Ihr seid zusammen, okay. Aber ich dachte eher, dass ihr mehr wie enge Freunde seid. Dass ihr vielleicht mehr nur so fummelt? Es ist nicht nur so eine Kuschelsache, Petting oder was auch immer Männer tun? Ich meine, ihr tut es?"

"Was sonst?" Irritiert starrte Kai sie an.

"Naja. Jan mit dir im Bett..."

"Und?" Das war ein Gedanke, der Kai gerade sehr gut gefiel.

"Ich versuche es, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Jan mit dir schläft."

"Dann lass es sein." Technisch hatte sie recht. Kai schlief in der Regel mit Jan, aber das würde sie noch viel weniger raffen, oder? Genervt starrte Kai zum Wecker auf seinem Nachttisch. Die anderen waren noch keine Stunde weg. "Ich dachte, dass dich das scharfmacht... wie so vieles. Ist mir schleierhaft, wieso du nicht dauernd Sex hast."

Tini seufzte. "Der Gedanke ist scharf, ihr zwei zusammen. Ihr habt so eine... intensive Chemie. Er muss dich nur ansehen. Ich weiß noch wie Bianca wahnsinnig geworden ist davon, dass es zwischen Jan und dir so geknistert hat. Dass man euch zwei zusammen nur ansehen musste, besonders wenn ihr Streit hattet. Du warst dann immer so eine Art Eisplatte. Kalt und komplett ausdruckslos. Und auf der Eisplatte konnte man die Gefühle von Jan nur so kochen sehen. Er hat es nie besonders gut aushalten können, wenn du auf ihn sauer warst."

Bianca. Kai erinnerte sich daran, wie sie ihn heimgesucht hatte. Nach ihrem ersten Kuss und der ersten ehrlichen Aussprache mit Jan. Das war es also gewesen. Man hatte es ihm nicht angemerkt, aber Jan schon. Er ergab sich Tinis intensivem Blick. "Wir tun es wirklich, Tini. Wozu bräuchten wir sonst all das Zeug? Und damit ist die Informationsveranstaltung beendet."

"Ihr schlaft miteinander." Sie blickte die Tube erneut an. "Wow, wenn ich das vor einem Jahr von jemandem gehört hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Vor einem Jahr war Jan für mich ein Mega-Chauvi mit Fußballmeise. Ich konnte nicht raffen, wie Bianca auf ihn abfahren konnte. Aber sie war wirklich scharf auf ihn und meinte sogar mal, dass die Sprüche und seine rücksichtslose Art, seine ganzen Fußballtermine vom Sex mit ihm aufgewogen werden. Ja, ich weiß noch, wie Franka ihr da zugestimmt hat auf der letzten Party! Das war vielleicht peinlich. Da reden zwei Frauen über einen Mann, mit dem sie beide geschlafen haben."

"Er ist echt gut im Bett. Finde ich auch. Chauvisprüche können mich ehrlich gesagt nicht stören." Im Gegenteil war er oft der gleichen Meinung und zudem fragte Kai sich nicht selten, wie Frauen das anmachen konnte.

Tini lachte auf. "Echt krass. Er steht dann ja offiziell auf beides. Hat er gestern ja auch auf der Party gesagt. Das war, als er mit einigen Mädels geflirtet hat. Seine Sprüche waren aber ganz schön herb. Irgend so ein Ökotyp aus Lenas Seminar hat ihn angemacht, dass er ja wohl echt 'ne Nummer zu macho drauf ist."

"Hm. Und?"

"Und Jan meinte nur, dass er nicht genau weiß, was mit der Bezeichnung gemeint sein soll. Gleich drauf ist er zu dir und hat dich von oben bis unten abgeknutscht. Gleich am Anfang von der Party." Tini kicherte. "Dem Typen ist fast das Bier aus dem Gesicht gefallen. Sehr lustig. Und wenig später hat Jan nicht gerade zurückhaltend mit dieser Melanie vom Sport getanzt."

"Woher kennst du die denn bitte?!"

"Unisport. Am Dienstag ist Jan immer auch für eine Stunde im Kraftraum, wenn er vom Fußball kommt. Melanie betreut den Raum in der Zeit. Passt auf, dass sich niemand daneben benimmt. Ich mache Spinning im Raum nebenan. Komm doch auch mal hin." Tini grinste etwas fies. "Da laufen tonnenweise süße Jungs rum."

"Das ist nichts für mich. Ich mag nicht schwitzig sein und..."

Es klingelte an der Tür, als Jan und Holger Kai bereits erlösten. Holger hatte sich den Fuß vertreten und sie hatten deswegen nur die kleine Runde geschafft. Da er und Tini sofort zu ihr fuhren, kamen Kai und Jan endlich zu ihrem ruhigen Nachmittag zu zweit.

Jan lachte sich scheckig über Tini und das Gleitgel und nahm sich peinlicherweise vor, Holger nach dem Erfolg zu fragen. Aber es hatte den Vorteil, dass Kai und er das Thema Gleitgel dann auch für ihre eigenen Interessen weiter verfolgten. Sowohl das Sexgen als auch das Kuschelgen konnten sich im Folgenden komplett ausleben. So zufrieden wie an diesem Abend war Kai schon lange nicht mehr gewesen, nicht einmal die Erinnerung an Pascals Eifersucht oder die Abteilung für schwule Abartigkeiten konnten Kai den Tag noch vermiesen.

Kapitel 86

Kai hatte eigentlich einen ruhigen Montag geplant. Mit ein wenig Lernen und im Biochemiekurs dösen, der nicht sonderlich aufregend gestaltet war. Dann im LPP arbeiten. Montage waren sehr träge, da konnte er sich eher erholen, als dass er sich totmachen würde. Da Jan an Montagen immer erst Training im Verein hatte, danach noch Krafttraining und hinterher meistens noch ein Treffen mit Freunden oder seiner Lerngruppe, sah Kai ihn ohnehin nicht. Er wollte lieber nach der Arbeit gleich ins Bett und ausschlafen.

Daraus wurde nichts. Es begann in Biochemie schon damit, dass er für Tini mitschreiben musste. Sie fühlte sich nicht wohl und Bianca konnte dank voller Punkte in den letzten beiden Klausuren schwänzen. Daher besuchte sie auch den Kurs nur noch mit Anwesenheit, aber nicht Aufmerksamkeit. Tini wollte mit ihm reden, aber Kai war spät dran und würgte sie am Telefon ab. Er versprach, sie noch einmal anzurufen. "Wenn es nicht zu spät wird heute."

Danach erfuhr er beim Mittagessen, dass sein Geburtstag auf einen Donnerstag mit einer schweren Klausur in Mikrobiologie für den Freitagmorgen drauf fallen würde. Er arbeitete zudem und im LPP war wieder eine Studentenparty geplant. Eine Party wie die, bei der Jan ihn geoutet hatte. Kai war nur bis elf eingeteilt, aber so ein Abend war sicherlich anstrengender als andere und bestimmt würde er länger machen müssen.

Er besprach rasch mit Jan, dass sie seinen Geburtstag einfach ausfallen lassen sollten. Ihm war ohnehin nicht schon wieder nach einer Feier. Schon gerade nicht, wenn er auf der Arbeit eine zu überstehen hatte.

Sie lehnten neben dem schwarzen Brett in einer relativ stillen Ecke hinter der Cafeteria, sodass Kai sich dichter an seinen Freund heranwagte und ihm sogar länger in die Augen sah. "Wir können doch stattdessen etwas später, wenn es wärmer ist, die Einweihungsfeier auf der Dachterrasse abhalten. Wäre das nicht eine gute Idee?"

Jan pulte an einem Faden, der sich von seiner Jeans verabschiedete. "Das klingt echt gut! Ich hab schon mit den Jungs vom Fußball hin und her überlegt, was wir am besten machen! Den Grill könnten wir dann auch gleich einweihen. Au ja! Wir machen eine Grillparty. Das ist gut."

"Genau. Und mein Geburtstag ist dieses Jahr mit der Klausur und der Arbeit und deinem Auswärtsspiel am Freitagabend doch nur im Weg."

Jan überlegte kurz. "Hast Recht. Hey, du hast meinen Spielplan gelesen?"

Kai nickte. "Dann weiß ich ungefähr, wo du so steckst."

"Heel goot. Wir fahren dann das nächste Wochenende ans Meer hoch ins Ferienhaus. Ich hab das Wochenende frei, dann können wir Freitag gleich nach den Klausuren los. Was wünschst du dir eigentlich von mir? Durch den Umzug und den ganzen Stress die Tage bin ich noch gar nicht dazu gekommen, dich zu fragen."

Kai hob die Schultern, dann lächelte er vorsichtig. "Ich hab doch alles, was ich mir wünsche, Jan. Geschenke interessieren mich nicht."

Kritisch sah Jan ihn an. "Hm. Ich find schon was, Baby."

Vom Baby-Titel genervt wandte Kai sich ab. Keinen Moment zu früh. Bianca erschien hinter ihnen, um sich zu den letzten Klausurergebnissen zu informieren. Zufrieden streckte sie sich. "Moin, Jan. In Mibi und Anatomie kann ich auch schwänzen ab heute. Und?"

Jan grinste sie an, knutschte sie einmal auf die Wange und starrte ihr in den Ausschnitt des sicherlich eine Nummer zu engen Pullis. "Hattest du Testat bei dem Meier, oder warum bist du aufgesext?"

Bianca grinste zufrieden. "Hmhm, dem wird immer so niedlich heiß, wenn ich mich über den Tisch beuge mit diesem Pulli."

Kai dachte 'Blarg' und hockte sich bei seinem Rucksack hin, um seinen Kalender mit den Arbeitsterminen wegzupacken.

Jan streckte sich und gähnte. "Ich muss noch in allen Fächern hin. Wäre ich bloß mal früher drauf gekommen, dass man sich die letzten Klausuren sparen kann!"

Bianca grinste ihn an. "Du hast dien Köpp auch nur fürn Frisör, Jan."

Er lachte. "Fuulheit lat los, oder ick fang an to arbeiten!"

"Das schon eher. Der Herr lässt sich lieber vom Lover durchschleifen."

"Gah mi af, Bianca. Kai lass mal raus dabei!"

Kai erstarrte und drehte sich zu ihr um. Er hasste es, wenn die zwei ihr Kauderwelsch miteinander sprachen. Jan sprach eigentlich nur mit seinem Vater so und auch das nicht, wenn Kai dabei war und es nicht verstand. Nur, wenn er es nicht verstehen sollte. Daher hasste Kai diese komische Sprache auch nahezu, fühlte sich sofort angemacht allein davon, dass er seinen Freund nicht verstehen konnte.

Außerdem sah Bianca ihn unangenehm direkt an. Die Abteilung für kreative Beleidigungen gab ihr ein paar Sonderpunkte, weil sie Kai unter der Hand unterstellt hatte, dass er so dumm war und Jan für Sex im Studium half. Unglücklich überlegte Kai, ob sie recht hatte oder nicht.

Jan blickte zu Kai und dann zu ihr zurück. "Unsinn. Wäre ja noch schöner, wenn Kai unter meiner Faulheit leidet. Bis heute Abend, ja?" Typisch für einen Abschied in der Uni winkte Jan ihm nur locker zu und verschwand.

Kai sah ihnen grübelnd hinterher. Misstrauisch beobachtete er, wie Bianca sich zu Jan hin lehnte, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Gleich drauf lachte Jan auf und klopfte ihr einmal mit der flachen Hand auf den Hintern. Mit schmalen Augen verfolgte Kai ihren Weg bis zur Cafeteria.

Bianca hatte noch immer den Schlüsselanhänger, den heiligen Christophorus. Den hatte Jan ihr mal geschenkt und der Umstand, dass sie ihn nicht weggetan hatte, zeigte doch eindeutig, dass Bianca noch was von Jan wollte, oder? 'Scheiße! Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.' Kai dachte diesen Spruch von seiner Oma auf dem Weg zu seinem Kurs noch zwei Male, dann hatte er sich abgeregt. Sollte Jan der doofen Schnatze doch auf den Hintern und den Busen schauen. Immerhin war er nicht mit ihr zusammengezogen!

Als Kai am Nachmittag nach dem Biochemiekurs, zu dem Tini auch nicht erschienen war, sein Handy anschaltete, hatte er einen panischen Anruf von Lolli drauf, der ihn unter Tränen, was nicht ungewöhnlich war, um ganz dringenden Rückruf bat. Er versuchte es, aber Lolli ging nicht ran. Seufzend sprach Kai ihm aufs Band, dass er im LPP sei. "Wenn es so wichtig ist, komm vorbei, oder ruf morgen an." Lolli ließ sich nicht blicken und meldete sich auch nicht wieder.

Auf der Arbeit bat Bastian Kai dann, ob er nicht abschließen könne. "Hasi und ich sind heute Abend verabredet, sie will mich gleich abholen kommen."

Kai hatte Bastian schon beim Abschließen geholfen und nickte dazu nur. Im Grunde war er froh, mit sich und seinen Gedanken ein wenig allein sein zu können, auch wenn er damit später rauskommen würde. Es war bei Nieselregen am Montagabend fast leer. In der letzten Stunde gab Kai noch zwei Kaffee raus und langweilte sich, bis der Moment zum Abschließen gekommen war.

Als er die große Glastür vorn gesichert und das Licht im Raum gelöscht hatte, bemerkte er den Lichtstreifen in Leons Spannerfensterchen. Zwischen den großen Aquarien hinten im Raum hatte Leon ein schmales getöntes Fenster eingebaut, das es ihm ermöglichte, aus seinem Büro in den Raum und auf die Bar zu blicken. Wenn es im Raum hell war, sah man das Fenster gar nicht so richtig. Aber jetzt leuchtete ein Lichtschimmer Kai zwischen den dunklen Aquarien entgegen.

Natürlich gab es ringsum auch noch Kameras, aber das Fenster war einer der Gründe für Leons schnelles Erscheinen, wenn es vorn am Tresen mal Ärger gab. Er wusste daher sicherlich auch, wer wann zu spät zur Arbeit kam, oder wenn die Mädchen gerade alle gleichzeitig meinten, rauchen zu müssen.

Kai sah, dass im Büro das Licht noch brannte, und ging nach kurzem Zögern doch nach hinten durch, um es auszuschalten. Leon hatte er den ganzen Nachmittag nicht zu Gesicht bekommen. Bastian hatte ihn auch nicht gesehen und war davon ausgegangen, dass der nach der Abrechnung am Morgen wieder fort war. Kai warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass er den Bus um zwanzig nach nicht mehr schaffen würde. Seufzend öffnete er die zwei gepolsterten Türen und stockte in der Bewegung in Richtung des Schreibtischs, als er Leon erblickte.

Leon hockte in seinen schwarzen teuren Klamotten auf seinem schwarzen Designersofa, weswegen er gut getarnt war, und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Er wirkte zusammengesunken, ausgelaugt und unglücklich. Kai blinzelte und gab sich einen Ruck. "Ich wollte nicht stören. Ich hab nicht gewusst, dass du noch hier bist. Vorn ist alles abgeschlossen. Bastian hat mich gebeten, den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen, ist das okay?"

Leon hatte bei seinem Eintreten nicht einmal den Kopf gehoben, doch jetzt sah er kurz auf und Kai bekam den Eindruck, dass er geweint hatte. Außerdem war Leon betrunken. 'Ach du Scheiße.' Kai zog die Brauen zusammen. "Ist was passiert? Ist alles in Ordnung?"

Leon schüttelte unwillkürlich den Kopf, dann blickte er Kai forschend an. "Du bist doch Medizinstudent." Seine Stimme war heiser, mitgenommen, sein Blick leicht verschwommen.

"Ja. Viertes Semester aber erst. Ich kann noch nicht viel." Abwehrend umschlang Kai seinen Oberkörper mit den Armen und wünschte nun, dass ihm das Licht nicht mehr aufgefallen wäre.

"Aber Krankenhäuser und so machen dir keine Angst."

"Nein. Natürlich nicht. Ich hab schon oft im Krankenhaus gearbeitet, Praktika gemacht."

"Hast du morgen Früh was vor?"

"Uni, aber kein Pflichtkurs. Erst ab vierzehn Uhr."

"Dann kannst du mich morgen früh um halb acht begleiten." Es klang weniger wie eine Frage denn wie ein Befehl. Unsicher nickte Kai.

Leon erhob sich und seufzte. "Ich bin nicht verrückt geworden. Es ist nur so..." Er schaltete das Licht aus und schob Kai zur Tür raus. "Ich nehm dich mit nach Haus, im Wagen reden wir. Eh... du fährst wohl besser."

Kai blinzelte. "Wollten wir das nicht bleiben lassen?"

"Es ist ein Notfall, außerdem brauche ich den Wagen morgen früh." Leon schloss die Außentür ab und warf den Schlüssel in den Briefkasten. Sein schwerer Geländewagen stand im Hof und ließ sich per Funk öffnen, die Lichter im Inneren dimmten sich hoch. Kai kletterte auf den Fahrersitz und sah sich um. Kein Vergleich mit dem altersschwachen Jetta seiner Eltern oder dem auch nicht gerade jungen Golf von Jan.

Der Wagen roch noch nach Fabrik. Die hellen Ledersitze zeigten kaum Gebrauchsspuren. Kai erblickte Regler für die Sitzheizung. Überhaupt gab es blinkende Knöpfe und ein eingebautes Navigationsgerät, das sich ausklappte, sobald Leon den Schlüssel platzierte. Alles elektrisch verstellbar. Kai fuhr sich mit dem Sitz nach vorn, bis er das Gaspedal gut traf, und schaltete die Sitzheizung ein, bevor er an den Spiegeln rückte. Dann streckte er sein linkes Bein aus und landete im Leeren.

Leon schnallte sich an. "Automatik, fährt sich easy. Ich helf dir." Er stellte das Radio aus und legte für Kai den Schaltknopf um. Kai lenkte den Wagen ängstlich blinzelnd vom Hof auf die Straße raus. Die Kupplung fehlte ihm eine Weile lang.

Leon befahl gleich drauf. "Fahr über den Stadtring raus."

Es war eine Strecke, die Kai umständlich fand. Aber vermutlich wollte Leon nicht im Stadtverkehr mit ihm reden. Unsicher verstellte Kai die Spiegel noch ein wenig.

"Ich hab Krebs." Leon blickte aus dem Fenster. Seine Stimme klang leise und hohl zu Kai rüber. "Darmkrebs. Es ist laut der Ärzte in der Uni alles halb so schlimm." Humorlos lachte er. "Das wird schon wieder, sagen sie. Die haben das ja auch nicht." Er blickte kurz zu Kai rüber. "Sie haben mich einer Therapie zugewiesen, bei der ich erst Chemotherapie bekomme und Bestrahlung und danach operiert werde. Morgen ist mein erster Termin. Chemo und Bestrahlung."

"Oh." Was sollte man dazu sagen? Kai blickte unsicher auf die feuchte Straße vor ihnen und wagte es nicht, einen Laster zu überholen, weil die nächste Ausfahrt ihre war. Leon schwieg eine kleine Weile, bis Kai vom Ring runter gebogen war und die Straße am Stadtwald entlang fuhr.

Kurz vor ihrem Haus sah Leon Kai direkt an. "Es ist nicht die Krankheit allein, es ist Felix. Er kann das nicht. Er will nicht dabei sein. Er ist vollkommen fertig deswegen und ist sogar weggefahren. Auf Urlaub. Als ob er mir nicht irgendwann doch mal in die Augen sehen müsste." Leon beobachtete Kai, der den Wagen auf ihre Auffahrt manövrierte. "Und ich? Hab eine Scheißangst! Soviel Angst hab ich noch nie gehabt in meinem Leben. Vor morgen, vor den Maschinen, davor..." Leon atmete einmal tief durch.

Kai nickte. Diese Angst kannte er gut. Von seinen Alten im Heim, von den Menschen, denen er im Praktikum begegnet war. Es war das Ausgeliefert sein. Aber er fühlte sich der Rolle, die ihm gerade zugeschoben wurde, nicht unbedingt gewachsen. Er kannte Leon doch gar nicht so gut. "Was ist denn mit Pascal?"

Überrascht blickte Leon Kai an. "Was?"

"Na, ich dachte, dass ihr euch gut kennt."

"Ach so. Wir waren im Urlaub mal im Bett, aber haben sonst kaum Kontakt. Wären wir nicht zufällig in derselben Stadt gelandet, wir hätten uns im Leben nie wieder gesehen."

"Oh." Das klang verteufelt unromantisch. Irgendwie aber zugleich sehr passend zu Pascals Selbstbild.

Kai bremste in einem sehr ungünstigen Winkel zwischen zwei Parkplätzen. Musste die Tiefgarage so eng sein? Die Einparkhilfe pfiff ihn wütend an und er wurde rot.

Leon stieg aus. "Rück rüber, ich parke lieber selber ein."

Kai gehorchte sofort, aber sprang gleich ganz aus dem Auto raus. Leon parkte den Wagen auf dem für ihn reservierten Platz und stieg hastig aus, als wollte er vor dem Gespräch im Wagen davon laufen.

Ausdruckslos blickte er Kai an. "Ich bekomm in engen Räumen schnell Panik, besonders bei solchen medizinischen Sachen. Es gibt da Tabletten gegen, aber wenn ich die nehme, werde ich dösig, dann kann ich nicht mehr fahren. Deswegen brauche ich wen, der da ist. Du bist immer so nüchtern, so kühl. Du bist Mediziner. Kommst du morgen mit und...?"

"Ja." Kai ging vor Leon her, um ihn nicht ansehen zu müssen. "Halb acht?"

"Sieben."

"Ist gut. Ich werde auf sein und warte dann in der Wohnung." Sie kletterten die Treppen rauf. Leon schloss seine Tür auf, Kai gegenüber ebenso. "Gute Nacht, Kai. Danke."

Schweigend ging Kai die Wohnungstür zuwerfend zum Dielenschrank und zog seine Jacke aus. Er stellte seine Schuhe rein, obwohl die Bewegung Mühe machte. Im Bad stolperte er über einen Wäschehaufen mit einem Zettel von Jan, dass er den Scheiß wegräumen und die Küche nicht vergessen solle. Mit Ausrufungszeichen.

Müde, mit schweren Gliedern räumte Kai sein Handtuch weg, schluffte nach dem Zähneputzen zur Küche rüber und stellte seine benutzen Teller und Becher in die Spülmaschine. Lustlos räumte er Töpfe und Gläser in den Schrank. Den Müll würde er nicht mehr schaffen, das musste Jan verstehen. Er warf den Zettel weg und schob die dreckige Wäsche auf einen neuen Haufen zusammen, um sie am nächsten Tag mal in den Keller zu schleppen.

Kai warf sich auf das Bett. Leon war krank... er hatte die Tage schon immer so besorgt und müde ausgesehen. Er hatte Krebs. Kein Wunder. Und war das Felix' Problem? War Felix deswegen zu Lukas gerannt? Kai überlegte, was er tun würde, wenn sein Freund mit einem Mal schwer krank werden würde. Sich Jan nicht als energisch und unglaublich gesund vorzustellen, fiel ihm schwer. Es tat weh, darüber nachzudenken.

Aber Felix war ein Weichei und machte sich bei Kai nicht gerade beliebt. Zu Lukas Ehre musste man sagen, dass der wohl auch ein wenig genervt war von der Dramaqueen. Da war sein Freund, sein Lebensgefährte krank und er ließ ihn im Regen stehen? Ließ Leon mit seiner Angst allein? Oder hatte Felix vielleicht Angst, Leon mit seinen Gefühlen zu schaden?

Kai erinnerte sich daran, wie Jan nach dem Überfall, nachdem er genäht und geröntgt werden musste, zu ihm gekommen war. Wie er leise und heiser zu ihm gesagt hatte "… ich wär ausgerastet, vor allen Leuten." Und Kai hatte damals Dankbarkeit gefühlt, dass Jans Gefühle nicht auch noch auf ihm gelastet hatten. Lukas nüchterner Bericht über die Verhaftung der Schläger hatte ihm in dem Moment gut getan. Jans Panik und Wut hätten ihn angestrengt. Und vielleicht dachte Felix jetzt auch so?

Jan kam durch die Tür und ließ seine Sporttasche vor dem Schrank fallen, nachdem er sah, dass Kai noch auf war. "Du machst morgen den Müll, Kai, oder ich werd ernsthaft böse."

Kai rollte sich aus dem Bett und ging wortlos zu ihm hin, um ihn von hinten zu umarmen. Er schmiegte sein Gesicht zwischen die Schulterblätter und drückte Jan fest an sich. Schweigend presste er sich an Jans warmen Körper und schloss die Augen. Gott, es tat so unheimlich gut, diesen lebendigen, wundervollen Körper zu spüren. Zu spüren, dass sein Freund da war. Er gähnte und nickte dann. "Mach ich morgen, okay?"

"Was war das jetzt?" Verwirrt nahm Jan sein nasses Handtuch aus der Tasche, um es aufzuhängen.

Kai wurde ein wenig rot. "Nur so." Er nahm sich vor, Leon zu fragen, ob es okay war, wenn er mit Jan über seine Krankheit redete.

Jan lächelte. "Du bist romantisch heute, ist was? Alles in Ordnung?"

Kai lachte auf. "Das ist das Alter, Geburtstage machen mich immer so matschig." Er trollte sich wieder ins Bett, um dort auf Jan zu warten, den er noch in der Küche und später im Badezimmer kramen hörte. Kai wollte Jan eigentlich noch sagen, dass er den Wecker sehr früh hatte stellen müssen, aber er war eingeschlafen, bevor Jan wieder zu ihm gekommen war.

Kai war vor seinem Wecker wach und schlich sich zum Duschen und Anziehen ins Badezimmer und später in sein Zimmer. Es war schon irgendwie praktisch, dass er zwei Schränke hatte. Jan hatte nicht so viele Klamotten, das meiste waren Sportsachen und T-Shirts. Daher konnte Kai einen Teil vom Einbauschrank im großen Schlafzimmer auch noch belegen. Allerdings waren in seinem Zimmer auch noch Wintersachen, Jans Skiklamotten und Bettdecken und seine Bettwäsche. In Jans Zimmer waren die teils sehr hässlichen Sachen von Hannah. Kai hatte sich systematisch chaotisch in beiden Schränken eingerichtet und genoss den Platz, auch wenn er die meiste Zeit nicht mehr wusste, welche Sachen er wo lagerte.

Deswegen trug er auch eine enge dunkelblaue Jeans, die er nicht so gern mochte, weil sie nach drei Wäschen immer noch abfärbte und einen Pullover von Jan, in dem er sich verstecken wollte. Um sieben zog er sich seine Schuhe und nach einem Blick aus dem Fenster die dicke Jacke an. Es klopfte um kurz nach sieben einmal scharf an der Wohnungstür. Kai sprang auf und ging hastig zu Leon hinaus in den Flur. Er hatte an den verdammten Müll gedacht und war stolz auf sich selber. Allerdings war Aufräumen und an den Müll denken auch purer Selbsterhaltungstrieb, wenn Jan einmal mit den Ausrufungszeichen angefangen hatte. Müde folgte Kai Leon zum Wagen in die Garage. Um Worte verlegen schwiegen sie beide auf der kurzen Fahrt.

Die Praxis verfügte über eine Tiefgarage, aus der man mit einem Fahrstuhl direkt vor die Tür fahren konnte. Leon trat, sich unsicher umblickend, durch die Milchglastür ein und auf eine dicke Sprechstundenhilfe zu. Diese war unglaublich schnell am Computer, gab die noch fehlenden Daten ein und wies Leon und Kai den Weg zum Wartezimmer. Die ganze Zeit über hielt sie eine freundliche, nichtssagende Konversation über das unsägliche Wetter und die kommenden Osterferien aufrecht.

Das Wartezimmer kombinierte edles dunkles Parkett mit Lederstühlen. Beeindruckt sah Kai sich um. Blumenbilder und freundliche Wandfarben schufen gemeinsam mit den teuren Sesseln eher den Eindruck, dass man in einer Lounge wartete und nicht einer Praxis. Leon wurde schon nach zehn Minuten aufgerufen. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz winkte ihn gut gelaunt in einen weiter hinten gelegenen Raum durch. Das Personal war mit dunkelgrünen Polohemden und weißen Hosen uniformiert, ohne zu sehr nach Klinik auszusehen.

Sie ging mit zügigen Schritten voran, aber Leon verharrte auf der Türschwelle zum ersten Raum, der dann doch nach Klinik aussah. Es gab Infusionsständer, Blutabnahmesets und eine Liege. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln erinnerten Kai an seine vielen Tage in der Unfallambulanz. Anders als normale Kinder hatte Kai seine Mutter wie zu einem Hobby zur Arbeit begleitet. Er liebte das Krankenhaus, mochte die Distanz und Nähe zwischen Personal und Patienten und er liebte die Arbeit dort. Nähen, Versorgen, rasch helfen, schnell entscheiden. Er freute sich jeden Tag im Studium auf die Arbeit später.

Leon zeigte hingegen erste Zeichen von Unbehagen und einer irgendwie störrischen und zugleich überheblichen Angst. "Ich habe einen Fahrer für mich mitgebracht, falls ich das nicht so gut vertrage. Er darf mit reinkommen, oder?"

Die junge Frau stellte sich im nächsten Moment bei Kai auch noch einmal mit Namen vor und versicherte, dass Besuch sogar erwünscht sei. Ihr Blick von Kai zu Leon und zurück in Kais Gesicht war aber irgendwie unangenehm. "Dann vergeht Ihnen die Wartezeit rascher, Herr Pranitz. Nehmen Sie doch einfach am Fenster Platz."

Sie waren in ein Zimmer getreten, in dem elektrisch verstellbare Polstersessel im Kreis standen. Zwei der sechs Sessel waren bereits belegt. Eine kleine Oma und eine dicke Frau mittleren Alters, beide mit kahlen Köpfen, unterhielten sich leise und blätterten nebenher in Illustrierten. Die eine hatte eine Wollmütze auf dem Knie liegen, die andere ihre Perücke locker neben sich auf den Tisch gelegt.

Leon ging nach kurzem Stocken, als er die kahlen Frauen erblickte, in seiner energischen Art zu einem der freien Sessel hindurch, die Frauen und er tauschten ein leises 'Guten Morgen' aus und die Krankenschwester brachte einen Hocker für Kai, damit er sich zu ihm setzen konnte, bevor sie verschwand. Sie kehrte samt fröhlich wippendem Pferdeschwanz mit einem Blutentnahmeset zu Leon zurück und mit einer Auswahl Portnadeln. Kai erkannte die kuriose Form der Nadeln und erschauderte. "Dann wollen wir mal loslegen. Machen sie den Port frei, dann spülen wir ihn erst einmal an und nehmen dann auch gleich Blut ab. Hatten Sie Probleme damit in den letzten Tagen?"

"Nein." Leon knöpfte mit den für ihn typischen eleganten Bewegungen einhändig das dunkelblaue Oberhemd auf und schob es zur Seite. Tatsächlich sah Kai auf seiner rechten Brustseite die Narbe. Er trug den Port bereits etwas länger, die Narbe sah gut aus. Wie lang hatte er die Diagnose? War das auch schon der Grund für den Streit mit Felix gewesen? Der Grund für Felix' Flucht in die Sauna und zu Lukas? Kai nahm es mittlerweile an.

Schweigend sah er zu, wie die Schwester die eingeschweißten Utensilien abstellte und alles in der richtigen Reihenfolge bereitlegte. Im nächsten Moment kam ein kleiner, etwas übergewichtiger Mann mit freundlichem, rundem Gesicht herein. Er trug einen weißen gestärkten Arztkittel, aber dank seines Bauchumfangs musste er den offen stehen lassen. Darunter trug er ein ziemlich geschmackloses Oberhemd und Jeans. "Guten Morgen, Herr Pranitz. Alles da? Wie schön. Geht es Ihnen gut? Alles in Ordnung?" Er rieb sich die Finger und nickte dann den anderen beiden Patienten zu, begrüßte sie mit Namen. Er erwartete keine Antwort und Kai hätte das auch nicht angesichts Leons versteinerten Gesichts.

Gleich drauf ließ der Arzt sich auf einen Rollhocker nieder und schob sich mit ziemlich lustigen Bewegungen zu ihnen hinüber. Effizient und geübt versenkte er nach einigem Desinfizieren die Portnadel in Leons Brust. Nachdem er Blut abgezogen hatte, winkte er der Schwester. "Wir warten mit der Chemo noch die Werte ab, aber spülen den Port erst mal mit ein wenig Kochsalz. Hängen wir doch eine 250er an." An Leon gewandt verkündete der Arzt zufrieden: „Er läuft gut zurück und schaut sauber eingeheilt aus. Alles in Ordnung."

Leon nickte, aber blickte ausdruckslos und nervös zugleich in Kais Gesicht wie auf ein Bild, das er sich zur Ablenkung ansah, seine Finger lagen verkrampft auf seinem Oberschenkel. Kai konnte seinem intensiven Blick nicht standhalten und schaute schweigend aus dem Fenster. Erst als die Schwester fort war und die beiden anderen Patienten sich murmelnd in Berichte über ihre Vorerkrankungen versenkten, sah Kai Leon wieder in das Gesicht. "Alles okay, oder?" Es klang auch in seinen Ohren nach einem 'Dann kann ich ja gehen.'

Leon schüttelte fast unmerklich den Kopf und sagte heiser. "Der schlimmste Teil kommt noch."

Es dauerte noch eine kleine Ewigkeit, dann kam die fröhliche Schwester Susanne wieder rein und schraubte eine kleine Flasche mit Doppelkammer mit klarer Flüssigkeit im Inneren an den Schlauch an der Portnadel. Es sah aus wie Wasser. Auf dem Etikett stand der Name der Chemo, die genaue Menge und Leons Name und sein Geburtsdatum, Kai erschauderte. Leon hatte in knapp drei Wochen Geburtstag und er würde, Kai rechnete träge überlegend nach, achtundvierzig. Dafür hatte sich der Mann verdammt gut gehalten.

Die Schwester verklebte derweilen die Portnadel mit durchsichtigem Pflaster. "So. Das ist Ihre Pumpe. Hier im Inneren ist die Chemo drin. Die läuft jetzt die nächsten fünf Tage kontinuierlich durch. Der Beutel sollte daher leerer werden, die Flasche können Sie überall mit hinnehmen. Duschen ist auch möglich, wir kleben den Port gut ab und machen das dann jeden Tag neu. Hier ist die Tasche für die Pumpe."

Leon ließ sich noch einmal zeigen, woran er sah, dass alles in Ordnung war und wurde von der Schwester dann zum Loungewarteraum zurückgeschickt. Dort warteten er und Kai nur noch wenige Minuten, bevor eine weitere junge Frau sie aufrief. Auch dieses Mal bat Leon darum, Kai dabei haben zu können. Auch dieses Mal kam weder Verwirrung noch Rückfrage, aber auch dieses Mal dieser Blick. Zu Kai, zu Leon, zurück zu Kai.

Kai bekam gezeigt, wo er jenseits einer Umkleidekabine auf Leon warten konnte. Die junge Frau stellte sich als 'Frau Bauer' vor und als die betreuende MTA. Sie übersetzte es mit 'Technische Assistentin hier in der Bestrahlung', dann erteilte sie Leon den Auftrag, sich in einer Umkleidekabine von der Hose und den Schuhen zu befreien und dann auf der anderen Seite zu ihnen zu kommen. Der Arzt mit dem Bäuchlein und dem lieben Gesicht trat wieder dazu und gemeinsam gingen sie in den Behandlungsraum. Kai wurde vom Arzt sogar sofort gebeten, mit ihnen zu kommen und sich alles anzusehen.

Verwirrt folgte Kai der MTA, dem Arzt und Leon durch ein beängstigend dickes Metalltor und einen gewundenen Gang entlang. Im Inneren waren einige Monitore und eine riesenhafte Maschine mit kreisförmig um eine Liege angebrachten flachen Platten und Bildschirmen an den Wänden dahinter. Kai kannte Geräte für Untersuchungen und war sogar schon einmal in einem Kernspin gewesen, aber diese Maschine flößte ihm dann doch reichlich Respekt ein. Er konnte Leons Panik verstehen. Der restliche Raum war edel mit dunklem Holz ausgestattet, Milchglasscheiben wurden von hinten beleuchtet und gaukelten Fenster vor. Leon musste sich auf die Liege setzen, das Handtuch zum Darunterlegen nahm die MTA aus einem Regal. Dann forderte Frau Bauer Leon auf, sich hinzulegen und schob ihm eine Kopfstütze aus gelbem Schaumstoff zurecht.

In diesem Moment zeigte Leon tatsächlich seine Angst. Er blieb sitzen, verschränkte die Arme, dann blickte er von Kai zu Frau Bauer und zum Arzt. Endlich gab er mit leiser Stimme zu "Ich bekomme in engen Räumen Panik. Der Gedanke, dass ich hier allein mit diesem Ding sein muss... ich..."

Unwillkürlich trat Kai auf ihn zu und umfasste schweigend seine Hand. Er umfing Leons Handgelenk bei dem helleren Hautstreifen, wo er sonst seine Uhr trug und konnte fast sofort den zu schnellen Puls tasten. Leon ließ ihn zu und ließ sogar sofort zu, dass Kai die Hand ein wenig löste und zu sich zog. Sachte strich Kai das Handgelenk mit zwei Fingern entlang, als wollte er den Puls tasten. Genau wie er es im Altenheim schon so oft getan hatte, oder in der Notaufnahme vom Krankenhaus. Leon wurde tatsächlich nach einer kleinen Weile schon ruhiger.

Frau Bauer hingegen war sofort etwas zurückgetreten. Hatte ihnen Raum gelassen. Sie war es offenbar gewohnt, dass Leute so reagierten. Als Leons Blick weniger gehetzt wirkte und er sich entspannter zurechtrückte, begann sie zu sprechen. "Das CT haben Sie so wundervoll gemeistert, Herr Pranitz. Legen Sie sich doch erst einmal hier auf die Liege. Vielleicht gefällt Ihnen die Aussicht dann ja doch so sehr, dass Sie es gar nicht so schlimm finden."

Kai folgte ihrer Geste und sah an die Decke. Oben war ein von hinten beleuchtetes Bild von einem Waldweg zu sehen. Kleine Tiere versteckten sich zwischen den Büschen und Baumstämmen. Ein interessantes Bild, das man gern ansah, aber man musste den Hals ganz schön verrenken. Tatsächlich konnte man es im Liegen auf dem Behandlungstisch am besten betrachten.

Der Arzt trat auf sie zu. "Denken Sie daran, regelmäßig, nicht zu tief zu atmen, sich auf das Atmen zu konzentrieren. Wie im CT. Wir sind gleich nebenan. Zwei Kameras sind auf Sie gerichtet und Sie können jederzeit, wirklich jederzeit die Hand heben und wir brechen ab, kommen zu Ihnen herein."

Leon ließ sich auf den Tisch bugsieren. Kai hatte das Gefühl, auch mal wieder was sagen zu müssen. "Ich bin gleich draußen und..." Unsicher blickte er zu den Kameras, dann ließ er Leons Hand gehen. Die Finger hatten sich unangenehm kühl und unsicher angefühlt.

Frau Bauer half ihm weiter. "Ihre Begleitung kann Sie über die Kameras sehen und wenn Sie mögen auch mit Ihnen sprechen. Wir können Sie auch hören. Legen Sie sich noch ein wenig weiter nach rechts rüber. Danke. So. Ich ziehe die Unterhose noch ein wenig herunter bis zu der Markierung. Gute Güte, ich wünschte, ich wäre so fit wie Sie! Jetzt wäre es wichtig, dass sie sich schwer machen, nicht mithelfen und uns an ihrem Körper rücken lassen. Genau..."

Sie redete weiter auf Leon ein, schob ihm eine Knierolle unter, richtete seinen Körper gerade aus und rückte mit recht energischen Bewegungen an seinem Becken. Ein kleiner Blickwechsel zwischen Arzt und Assistentin zeigte Kai, dass sie erleichtert waren, dass Leon seine Panik so rasch überwunden hatte. Tatsächlich richtete Frau Bauer Leon anhand von kleinen Markierungen aus, die sich auf seinen Hüften befanden.

Als sie fast fertig war, trat der Arzt dazu, den Blick auf einen der Bildschirme gerichtet und Kai ging kurz an das Kopfende und sagte leise. "Ich warte gleich draußen.", bevor er die Flucht ergriff. Er folgte dem gewundenen Flur hinaus und wurde von einem männlichen Mitarbeiter überrascht, der ihn kurz anlächelte und in den Schalterraum winkte. Computerbildschirme flimmerten zugleich mit den Bildschirmen, die verschiedene Kamerabilder zeigten. Leon war zu sehen, von zwei Winkeln aus, wie er leicht verkrampft, aber friedlich mitmachend auf der Liege lag. Man konnte über eine Gegensprechanlage gut verstehen, was drinnen gesprochen wurde. Die MTA und der Arzt redeten miteinander. Es ging um die passende Ausrichtung.

Der männliche MTA trug seine dunkelblonden Haare sehr kurz geraspelt, an den Seiten mit hineinrasierten Mustern. Er hatte links zwei und rechts einen Ohrring. Rechts in Form eines kleinen goldenen Teddys. Er machte eine verteufelt gute Figur in dem dunkelgrünen Polohemd, das hier alle trugen und stellte sich mit einem unkomplizierten "Ich bin der Kai." vor.

Kai lachte. "Ich auch."

Der MTA tippte auf dem Keyboard des einen Computers herum, dann beugte er sich in einen Schrank, um eine Akte rauszuholen, was einen ausgezeichneten Blick auf seinen knackigen Hintern bot, dann wies er Kai einen Stuhl neben seinem.

"Ah. Seid ihr zwei..." Er sah Kai an und zögerte, sein Gesicht wurde von einem süßen Lächeln erhellt, das Kai erwiderte, ohne es zu wollen.

"Kollegen? Ich arbeite in seinem Café, bin der Fahrer für den Fall, dass es ihm nicht gut geht." Kai sah sich um. Die Wände waren mit Postkarten verziert. Die typischen Karten, die Schwestern und Ärzte gern an ihren Wänden hatten. Der Frosch, der dem ihn verspeisenden Storch den Hals zuhielt mit der Überschrift 'Niemals aufgeben!' Der kleine plärrende Vogel im Nest mit der Überschrift 'Der frühe Vogel kann mich mal'. Eine Schale mit Süßigkeiten quoll über, kleine Briefe mit Danksagungen und zwei Schachteln Merci-Schokolade taten ihr Übriges, um dieses Team anzupreisen.

Offenbar fühlten die Patienten sich hier recht bald trotz der Therapie und der beängstigenden Technik umher wohl. Kai auch. Es war regelrecht gemütlich, trotz der vielen Maschinen, der Messgeräte, die Strahlung anzeigten und der Schilder, die einen Kontrollbereich mit dem Flügelrad auswiesen, das man von Atomkraftgegnerautos kannte. Aber Kai hatte sich in Krankenhäusern schon immer wohlgefühlt. Krankenschwestern und anderes medizinisches Personal machten ihm keine Angst. Der Mangel an Intimsphäre, den man durch eigene Distanziertheit wettmachen konnte, kam ihm entgegen.

Der MTA-Kai nippte von seinem Kaffee und startete die Maschine mit einer Kombination aus Befehlen von einer speziellen Tastatur in dem Moment, in dem der Arzt und seine Kollegin das schwere Tor geschlossen hatten. Kai verfolgte, wie das Gerät automatisch einige Messplatten ausfuhr. Die Maschine drehte sich um Leons Liege, röhrte laut und spuckte dann auf einem der Computer ein Bild aus. Der Arzt blickte konzentriert auf die grünen und roten Felder und Knochendarstellungen, dann nickte er. "Ist best, auf geht das!" Gleich darauf ging er von ihnen fort an einen Schreibtisch weiter hinten.

Die MTAs starteten die Maschine noch einmal und nun tackerte sie sich im Kreis um Leon herum. Immer mal wieder redete Frau Bauer mit Leon über die Gegensprechanlage und erklärte ihm, dass jetzt ein Bild gemacht würde, jetzt die erste Bestrahlung stattfinden würde, jetzt eine Umstellung. Zwei Mal ging sie in den Raum und fuhr die Maschine von drinnen weiter. Es geschah alles freundlich, routiniert. Leon war kein besonderer Fall. Der Arzt streckte sich gähnend und besah sich nebenher schon einige Akten anderer Patienten.

MTA-Kai nickte zu Kai hin. "Sein Kollege", sagte er dann und grinst frech. Frau Bauer schlug ihn mit der flachen Hand auf den Kopf. Dann blickte sie in eine Behandlungsliste und rief draußen auf dem Flur eine Frau Scholz als nächste Patientin auf, bevor sie sich wieder im Türrahmen zum Schalterraum anlehnte.

Kai fühlte sich in der Stimmung, Felix und Leon eine reinzuhauen und rutschte etwas dichter. "Sein Lebensgefährte kann heute nicht. Ich arbeite in seinem Café und studiere Medizin. Daher dachte er wohl, dass ich ihm im Falle einer Panik helfen kann."

MTA-Kai starrte, blinzelte und nickte dann mit wissendem Grinsen. Frau Bauer seufzte. "War ja klar. Wenn ein unverheirateter Mann freundlich ist, gutes Benehmen hat und Geld, dann ist er schwul."

Ihr Kollege seufzte noch mehr "Und dann ist er auch noch vergeben."

Sie lachten beide und Frau Bauer lief gleich drauf wieder in den Behandlungsraum davon.

MTA-Kai sagte leise lachend. "Die sucht schon so lange nach dem richtigen Mann fürs Leben, sie hat sogar schon hier bei den Patienten angefangen."

Der Arzt bestellte sich Leon in sein Zimmer und MTA-Kai versprach, den Patienten auf den richtigen Weg zu schicken. Er legte den Kopf schief und blickte zu Kai auf. Seine Augen verrieten ein Lächeln, als er meinte. "Man begegnet sich ja vielleicht mal wieder. Ich hab dich neulich im Stroboskop gesehen. Bist du mit Lukas zusammen?"

Kai stöhnte auf. "Scheiße! Nein."

"Echt nicht? Hab da so ein Gerücht gehört."

"Woher kennst du ihn denn?"

MTA-Kai zuckte mit den Achseln. "Man sieht sich gelegentlich, mal mehr, mal weniger. Mehr wäre mir lieber, aber es hieß in letzter Zeit immer, dass er vergeben sei. An einen überirdischen Typen." Er deutete an Kai auf und nieder. "Die Beschreibung passte. Ich dachte, ich frage mal nach."

Kai lachte auf. Solche Komplimente waren dann doch den ganzen Stress mit Leon wert. "Wir sind nur Freunde, er und ich, und ich bin mir sicher, dass er vor zwei Tagen noch single war."

"Na. Das sind doch Aussichten. Bis die Tage dann also." MTA-Kai erhob sich und reichte der nächsten Patientin, der kahlen Oma aus dem Chemoraum zuvor, galant den Arm. "Meine Lieblingspatientin! Wie geht Ihnen das heute?"

"Na, wenn ich Sie sehe doch immer gut, mein lieber Kai“, scherzte sie zurück und ließ sich in den Raum bringen.

Kai durfte im Wartezimmer hocken, bis Leon sein Gespräch mit dem Arzt hinter sich gebracht hatte. Er gähnte und war entsprechend genervt von der ganzen Geschichte. "Der MTA am Schalter vorn ist schwul", verkündete er Leon, als sie in den großen Wagen kletterten.

Unbeeindruckt sah Leon ihn einmal an, dann setzte er zurück. "Ja, weiß ich. Nicht mein Fall."

Verwirrt überlegte Kai, ob Leon nun dachte, dass er ihm einen neuen Freund und Händchenhalter besorgen wollte. "So meinte ich das auch nicht. War nur informativ. Der steht ausgerechnet auf Lukas."

"Die Welt ist klein."

"Brauchst du mich jetzt überhaupt noch mal für diese Tour? Ich meine, es ging doch, oder?"

Leon seufzte leise. "Nein. Es tut mir leid, dass ich dich überhaupt dazu gebracht hab. War eine Paniksache gestern. Hätte ich nüchtern vielleicht auch nicht gemacht."

Leon stoppte den Wagen, um eine alte Frau mit ihrem weißen Polo an den Schranken vorzulassen.

"Schon okay. Irgendwie war ich ja nützlich auf eine Art."

Leon lächelte dünn. "Felix schuldet dir jetzt was."

Kai verschränkte die Arme und starrte auf den Sylt-Aufkleber am Poloheck. "Und wohin ist er überhaupt geflüchtet?"

Die Oma musste ihren Polo zwei Mal vor- und zurücksetzen, um nahe genug an den Ticketautomaten zu gelangen. Leon beobachtete sie dabei, seine Finger schlossen sich fest um das Lenkrad. Endlich schloss er kurz die Augen, als habe er Schmerzen. "Spanien."

Der Gesichtsausdruck war es, Kai raffte es sofort. "Zu Lukas' Wohnung dort?"

Leon fuhr vor, schob sein Parkticket in den Automaten und starrte die Schranke an. Er fuhr durch und hielt an der großen Straße hinter dem Polo. Die Dame fand keine Lücke, die groß genug war, um sie rauszulassen.

Leon schlug derart heftig auf das Lenkrad, dass Kai zusammenzuckte und sich auf die Zunge biss. "Er fehlt mir, diese verdammte hysterische Tucke! Er fehlt mir mit seinem Affentanz, den er wegen jedem Mist macht, mit seinen komischen Ideen, mit seinen zweihunderttausend Allergien. Er fehlt mir sogar mit seiner Untreue und seiner veganen Macke, mit seiner überemotionalen Show! Er fehlt mir mit... allem. Mit allem!"

Kai starrte von dem Ausbruch verwirrt auf die regennasse Frontscheibe. Und ihm wurde klar, wie Leon Felix halten konnte. Er war so richtig in ihn verknallt und er machte seinen Tanz mit, aber nicht ohne auch Felix tanzen zu lassen. Das war klar. Die zwei verdienten einander und es war augenscheinlich harte Arbeit.

Leon war auf der Auffahrt stehen geblieben, obwohl der Polo lange verschwunden war und hatte den Kopf auf das Lenkrad gesenkt. Kai schloss genervt die Augen. Mit dem Zeigefinger tastete er seine Zunge lang, aber es war nichts zu fühlen. Dann ballte er eine Hand zur Faust, drehte sich zu Leon und sah ihn an. "Dann hol' ihn dir doch zurück, verdammt!"

Kapitel 87

Als Leon Kai vor dem Haus absetzte, war Jan der erste, den sie beide sahen. Nach Kais Ausbruch hatte Leon sich zum Glück abgeregt, ihm irgendwie unsicher wirkend zugestimmt, dass er Felix mal wieder heranschaffen sollte und war zügig nach Hause gefahren.

Jan kam gerade mit seinem Wagen aus der Tiefgarage geschossen und legte auf der Auffahrt eine Vollbremsung hin, als Kai auf der anderen Straßenseite aus Leons Auto kletterte. Leon fuhr nach kurzem Nicken davon.

Jan lehnte sich rüber und öffnete Kai die Beifahrertür. Misstrauisch und besorgt beobachtete er Kai. "Das war Leon. Ist alles okay?"

Kai ließ sich auf den Beifahrersitz neben Jan fallen und vermisste die Sitzheizung. Er hatte seine Tasche mit den Unisachen dabei und schob sie zusammen mit seiner Jacke zwischen seine Beine in den Fußraum.

Jan blickte ihn schräg an. "Aha. Da ist mein Pulli hin. Wenn du so weiter machst, Kai, hab ich bald keine Pullover mehr."

Fröstelnd zog Kai seine dicke Jacke um sich. Jans Pullover rochen immer so gut, nach Jan, nach seinem Deo, nach seiner Haut. Kai würde das aber nie im Leben zugeben. "Hm. Ich hab den nur geliehen. Fährst du zur Uni? Dann erzähle ich unterwegs."

Kai angelte den Gurt um sich her und Jan fuhr an. "Nein, wir fahren zur WG, aber erzähl unterwegs."

Nachdem Kai von seinem Morgen berichtet und Jan ihn nach medizinischen Details ausgefragt hatte, die Kai entgangen waren, fragte Kai wiederum, was sie in seiner alten WG unternehmen wollten.

Jan bog in die Straße ab und setzte den Golf mit zwei knappen Zügen in eine derart enge Lücke, es sah hinterher aus, als sei der Wagen seitwärts hineingekrabbelt. "Lolli hat eine Krise. Du sollst ihm helfen. Er hat ausdrücklich nach dir gefragt. Eigentlich dachte ich, dass du schon bei ihm bist und wollte dich da rausholen." Jan grinste und warf seine Brille achtlos auf die Ablage. "Heute ist wohl dein Tag der seelischen Unterstützung."

Kai schloss die Augen und grollte "Und das vor dem Frühstück. Ich hatte bislang nicht mal einen Kaffee."

Sie stapften zur Wohnung hoch und Kai klingelte und klopfte oben an die Tür, bevor er aufschloss.

Lolli kam ihnen in einer engen geblümten Bluse und einer hellgrünen Schlaghose bekleidet entgegen und sah genauso verheult aus wie Leon am Abend zuvor wenn nicht schlimmer. "Es ist so schrecklich und unglaublich, Kai! Dass mir das mal passieren muss. Mir! Ich kann es kaum fassen, Maus! Ich bin ja so glücklich, dass du gekommen bist. Lass uns gleich losfahren und es hinter uns bringen."

"Wohin?"

"Na, zur Blutspende natürlich!" Lolli wedelte mit den Armen und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. "Benni kommt mit. Lukas muss arbeiten, geht nicht an sein Handy ran. Wir treffen uns mit Tanja vor der Ambulanz. Die kommt natürlich auch!"

Tanja war eine lesbische Freundin von Lolli. Eine der Frauen, die Kai nicht sehr lange aushalten konnte. Sie war recht mollig mit beängstigend viel Busen, was er nicht abkonnte. Sie trug einige Tätowierungen an den Oberarmen und hatte an der Augenbraue und im Mundwinkel Piercings, die ihm ein wenig Angst bereiteten. Sie war anstrengend, blickte ihn aggressiv an und sie fühlte sich von Jan nach nur zwei Sätzen angemacht. Ungemütlich erinnerte Kai sich, wie Jan und diese Tanja sich auf einem Videoabend mal zwei Stunden am Stück auf hohem Niveau durch alle Themen der Neuzeit diskutiert hatten. Sie waren bei keinem einzigen Thema auf einen Nenner gekommen.

Kai blickte zu Benni rüber, der an diesem Tag sehr normal gekleidet war. Cordhosen, ein Rollkragenpulli. Er sah wieder etwas molliger und weicher aus als noch vor ein paar Wochen. Also ging es ihm gut. Er sah auch zufrieden aus. Seine vielen Flirts schienen ihm gut zu tun.

Jan war seinem Blick gefolgt, aber fragte passend für ihn etwas logisches, während Kais Hirn noch im Chaos meanderte. "Darfst du mit deinem Zucker überhaupt spenden?"

Benni zog sich Turnschuhe im Retrolook an. "Das Rote Kreuz nimmt mich nicht mehr an, aber in der Uni darf ich Thrombozyten spenden. Ich mach das regelmäßig. Deswegen hatte ich diese Idee auch."

Kai fand es erstaunlich, dass sie alle so ruhig blieben, obwohl Lolli offenbar verrückt geworden war.

Er hob die Hände und rief: "Bitte. Bitte, lieber Peter Lorenz, sag mal, worum es geht?"

Lolli blinzelte, dann seufzte er theatralisch und lief in sein Zimmer, um sich ein Taschentuch zu holen, weil er anfangen musste zu heulen.

Bennis düstere Stimme unterbrach Kai in einem nahen Wutanfall. "Lolli ist doch ziemlich viel mit Geoffrey rumgezogen die Tage. Der hatte ihn neulich versetzt. Kommt raus, dass ein Exfreund von Geoffrey HIV-positiv getestet wurde. Geoffrey hat Lolli das nicht sagen wollen, weil er irgendwie noch nicht dachte, dass es wichtig sei. Aber er und alle Freunde sind gleich mal hin und haben sich aus dem Anlass testen lassen. Doch jetzt stellte sich heraus, dass es doch wichtig war. Gestern Nachmittag, um es genau zu sagen, kam heraus, dass Geoffrey selber vielleicht auch positiv ist. Da läuft noch ein Wiederholungstest oder so. Jetzt fahren wir alle in die Blutspende in der Uni, um uns testen zu lassen und Blut zu spenden."

Lolli kam schniefend aus seinem Zimmer. "Ihr macht mit, oder?"

Kai runzelte die Stirn, dann nickte er ergeben. "Okay, ich kann gern mitmachen. Ich spende Blut alle sechs Monate ohnehin. Das wäre bald wieder dran. Dann ziehe ich das eben vor."

Jan schüttelte den Kopf. "Ich kann erst nach der Saison. Wenn ich jetzt spende, geht das zu sehr auf die Kondition. Aber ich komme gern mit und halte eure Hände, wenn das notwendig ist."

"Willst du dich nicht auch mal testen lassen?!" Lolli war entsetzt.

"Nein. Mein letzter Test ist vom Februar. Ich arbeite derzeit nicht mit Blut oder Blutprodukten, und ich schlafe nur mit Kai und nur safe. Ich muss nicht nach einem Monat schon wieder hin. Würde keinen Sinn machen."

"Du hast einen HIV-Test machen lassen?" Erstaunt blickte Kai ihn an.

"Zuhause lasse ich mich einmal im Jahr durchsehen, wegen meines Herzens. Da hab ich den Kardiologen gebeten, HIV und meinen Titer für Hepatitis B mitzumachen. Nicht wegen dir, sondern einfach weil ich im Pflegepraktikum viel mit Blut und so weiter zu tun bekommen hab."

Kai hörte den Satz 'wegen meines Herzens' in seinem Hinterkopf wie ein dröhnendes Echo, machte sich sofort hysterisch Sorgen, konnte das nicht vor den anderen aussprechen oder zeigen und starrte Jan daher weggetreten an, während die anderen sich unterhielten.

Lolli hatte sich wieder ein wenig abgeregt und besah sich im Garderobenspiegel den Tränenschaden an seinem Gesicht. "Janilein, du bist immer so herrlich ruhig. Mein Fels in der Brandung. Kannst du uns vielleicht fahren?" Wäre Lollis Fels in der Brandung nicht knapp einen Kopf kleiner als er gewesen, hätte es vielleicht passender ausgesehen, als er sich an Jan heran lehnte.

Jan schälte ihn von seiner Schulter und ging zur Tür. "Klar. Ich will sowieso zum Mittagessen in die Uni."

"Essen klingt gut. Bin dabei." Benni rieb sich die Hände.

"Hört auf so ekelig realistisch und dumm zu sein! Da ist jemand schwerst krank und ihr..."

"Und wir fahren zur Blutspende. Das könnte immerhin sein, dass die Spende auch jemandem hilft. Auf geht es." Benni schob Lolli zur Tür.

Jan zögerte. "Du willst so zum Spenden hin?"

Lolli blickte verwirrt an seiner geblümten Rüschenbluse und der engen Schlaghose hinunter. "Oh mein Gott, Jan! Du hast recht!" Er lief in sein Zimmer und kam mit einem Gürtel aus glitzernden Blumen wieder. "Gut, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Die Hose ohne Gürtel ist ein Fauxpas sondergleichen!"

Jan konnte bis zum Auto nicht mehr mit dem Lachen aufhören.

Benni und Lolli zeigten sich gleich darauf von Jans Fahrstil beeindruckt. Lolli, der wegen seiner langen Beine vorn saß, hielt sich die Augen zu und sagte dauernd 'Ras doch nicht so. Oh nein. Oh nein.' Und Benni meinte, als sie aus dem Wagen kletterten "Fährt er immer so?"

Kai war noch nie aufgefallen, dass Jan einen zu gewagten Fahrstil hatte. Er fühlte sich sicher mit seinem Freund am Steuer und meinte deswegen. "Mit dem alten Ding kann man doch gar nicht rasen, Lolli übertreibt."

Sein Handy bimmelte und er ließ Lolli und Benni den Vortritt, um noch draußen zu reden. Jan winkte ihm einmal zu und fuhr auf den Behelfsparkplatz hinter der Mensa durch. Vor der Tür zur Ambulanz umarmte Lollis Freundin Tanja ihn und Benni. Sie war ganz offensichtlich schon vollkommen Ohr für die Dramen in Lollis Leben. Kai wurde von ihr gar nicht wahrgenommen, sodass er erfreut hinter einem Hinweisschild in Deckung ging und sein Telefon raus kramte.

Es war Tini. "Hi, bist du an der Uni?"

"Hm. Lolli hat mich zum Blutspenden überredet. Willst du auch mitmachen?"

"Nein. Ich bin zuhause. Kannst du Bianca bitten, mir mal ein paar Skripte zu kopieren? Ich erreiche sie nicht. Die hat ihr Handy bestimmt leerlaufen lassen."

"Kann ich auch machen. Biochemie von gestern hab ich eh für dich und Physiologie heute ist nicht so schlimm, Leber ist dran." Tini die Sachen zu kopieren schlug jede Unterhaltung mit Bianca um Längen. Er blickte kurz zur Ambulanz rüber. Lolli und Benni verschwanden im Eingang und Kai hatte die Hoffnung, dass man sie gar nicht zusammen sehen würde.

Tini bedankte sich mit zu dünner Stimme, was ihn ohne Ende reizte. "Bist du schon wieder krank, oder was?" Er schaffte es, ihr einen Vorwurf daraus zu machen.

"Nein. Ich bin morgen wieder da. Ich hatte eine allergische Reaktion, das Antihistamin von Renate hat mich total matschig gemacht. Ich muss gleich noch mal zu meiner Ärztin hin. Vielleicht muss ich noch Cortison nehmen oder so."

"Allergie? Wogegen denn?"

Sie hustete einmal, dann fluchte sie leise. "Latex."

Kai war am Eingang der Ambulanz angekommen und hatte grad 'Okay. Bis morgen' sagen wollen, als er begriff. Er grinste erst, dann lachte er. "Nein! So eine Scheiße!"

"Hör auf! Es ist nicht lustig!"

Er versuchte, nicht mehr zu lachen, aber grinste sich durch den Abschied. "Bis morgen oder nachher dann. Ich geh jetzt Blut spenden."

Tini grummelte einen Fluch und legte auf.

Bei der Blutspende war alles wie immer. Der nüchterne Raum mit den grün-weißen Vorhängen vorn, die einige Kabinen mit Tischchen abteilten. Weiter durch die Kisten mit Fragebögen, ob man sich gesund fühlen würde, ob man gerade eine Fernreise unternommen hatte oder dergleichen und hinten in einem ungemütlichen Raum die Liegen und der medizinische Begleitkram zum Spenden. Auf der Seite zum Parkplatz der kleine Frühstücksraum mit dem Büffet, aus dem es nach leckerem Kaffee roch.

Kai hatte schweinisches Glück. Die Schwester, die ihn befragte, schickte ihn zuerst zum Essen, als sie erfuhr, dass er das Frühstück verpasst hatte. So kam Kai erst wieder mit Lolli und Benni zusammen, als er sich nach dem Spenden noch einen Kaffee und ein zweites Brötchen holen wollte. Tanja war nach einer Kontrolle ihres Hb-Wertes rausgeflogen und schon zur Arbeit gefahren.

Lolli erzählte über ihrem zweiten Frühstück dann in aller Ruhe, wie sein Jiffi ihn endlich erreicht und sich mit ihm ausgesöhnt hatte, nachdem er schon dachte, dass der ihn nicht mehr wiedersehen würde. Doch das Wiedersehen war nicht fröhlich geworden, wie Lolli sich das wünschte. Es war ein Heulfest geworden. Das war Bennis Ausdruck dafür.

Jiffis Ex hatte seine Infektion erst schwer erkrankt erfahren. Eine Hirnhautentzündung, die ihn auf die Intensivstation beförderte war der Anlass für den Test gewesen. Die Therapie schlug bei ihm auch nicht sonderlich gut an. Jiffi selber war einer Panik nahe gewesen, als er das eigene Urteil erhalten hatte. Aber er war, und das musste Kai ihm sehr hoch anrechnen, sofort los, um seine Sexualkontakte darüber zu informieren. Das war sicherlich nicht leicht. Es waren wohl einige neben Lolli, den dies nicht sonderlich zu berühren schien.

"Er ist so sexy und lieb und kommt dauernd rum, und dann ist da auch noch diese total niedliche Steward-Uniform. Die sind doch alle süß und lieb und allein in Hotelzimmern. Na klar hat er dauernd Sex. War auch unverschämt gut darin." Lolli seufzte in seinen Kaffeebecher.

Benni enthielt sich stoisch seiner Meinung und Kai wunderte sich mittlerweile noch mehr darüber, dass Benni sein Lechzen nach Lolli schon abgelegt hatte. Aber immerhin war Benni fürsorglich zu Lolli, hielt ihm die Hand und verwaltete den Taschentuchvorrat. Benni war es auch, der mit seiner nüchternen Art ein weiteres Heulfest verhinderte. Sehr zu Kais Erleichterung.

Kai fand es nicht sonderlich klar, dass Jiffi so viele Sexualpartner haben musste und war noch einmal froh, dass Jan und er nun zusammenlebten und miteinander schliefen, aber nicht mit anderen. Der Satz von Jan, nebensächlich, aber ihm doch total wichtig, fiel ihm wieder ein: 'Ich schlafe nur mit Kai...'. Genau der Satz machte, dass er am allerliebsten sofort zu ihrer Wohnung fahren und wie durch ein Wunder dort auf Jan treffen würde, damit sie dann in ihrem Bett versinken und sich lieben konnten. Träumerisch freute Kai sich auf den Abend. Es war Mittwoch. In der Regel waren sie beide früher daheim und konnten den Abend über zusammen sein.

Benni war noch immer aus der Behörde für Realismus abgestellt und riss Kai aus der rosa Wolke heraus. "Was ist eigentlich mit Jans Herz? Hat er was?"

"Nein. Jedenfalls nimmt er keine Medikamente deswegen." Kai war sich nicht sicher, was er selber davon halten sollte. Wenn er nur daran dachte, dass Jan etwas haben könnte, bekam er selber Herzschmerzen. Eins war klar, es machte ihm Panik zu denken, dass Jan krank sein könnte. Schiere Panik. Ein Gefühl, mit dem er sich absolut nicht wohlfühlte.

Während er sich in Physiologie bemühte, auf die Versuche zu achten, dachte er über die Physiologie des Herzens nach. Während er auf die halb versteckten Hinweise auf die nächsten Testate zu achten versuchte, ging er seine Erinnerungen an Jans Äußerungen zu seiner Gesundheit durch. Später, als er Tini alles noch einmal kopierte, nachdem er ihre Unterschrift für den Kurs gefälscht hatte, ging ihm die Frage, was denn zum Kuckuck mit dem Herzen nicht in Ordnung sein mochte, nicht aus dem Kopf. Seinen Freund selber bekam er auch nicht zu Gesicht, so dass er ärgerlicherweise mit der Bahn in die Stadt fahren musste, um Tini seine Kopien vorbeizubringen.

Kai trat sich hinterher selber, dass er sie nicht einfach Renate mitgegeben hatte, aber irgendwie hatten der ganze Stress mit Leon, Lollis hysterische Aktion am Morgen und der Blutverlust durch die Spende vielleicht auch seine Denkfähigkeit eingeschränkt. Außerdem hatte Kai das Essen in der Mensa verpasst, weil er so lange noch mit Lolli und Benni in der Blutspende gehockt hatte.

Ärgerlich, hungrig und müde kämpfte er sich in die fünfte Etage zur Mädchen-WG hoch. Tini öffnete in ihren dicken Kuschelpulli versteckt und sah wirklich müde aus, mit Ringen unter den Augen. Sie wirkte anders als sonst auch nicht sonderlich fit und auch sie kam rüber, als hätte sie geheult. Die Statistikabteilung in seinem Kopf errechnete Kai, dass er dem Gesetz der Drei anheimgefallen sein musste. Mit Leon, Lolli und Tini war nun aber hoffentlich seine Serie heulender kranker Leute voll.

Tini blieb in der Tür stehen. Sie hielt sich am Türrahmen fest, als wollte sie verhindern, dass er rein kam. Sie versuchte nicht einmal, ihn abzuknutschen. Misstrauisch reichte Kai ihr die Kopien durch die Wohnungstür. Kurzatmig fragte er statt einer Begrüßung dann "Ich hab für dich unterschrieben. Alles wieder in Ordnung?"

Sie hob den Kopf, dann schüttelte sie ihn und presste die Kopien an sich. "Ich bin... platt. Ist es okay, wenn ich dich nicht reinbitte?"

"Vollkommen. Kommst du morgen zum Histologieseminar, oder soll ich das auch kopieren?"

"Nein, ich komme. Bis morgen." Sie schloss die Tür noch, bevor er sich vernünftig verabschiedet hatte.

Kai fühlte erst ein wenig Ärger, weil sie ihn abservierte, was sie sonst nie tat. Dann fühlte er Mitleid, wusste nicht so recht weswegen und er wusste auch nicht so recht, ob er es überhaupt wissen wollte. Mit gemischten Gefühlen und von den vielen traurigen Leuten in seinem Leben erschöpft schleppte Kai sich zum Bus und genoss die Ruhe auf dem letzten Wegstück zu ihrer Wohnung.

Kai schloss die Tür auf und wie durch ein Wunder begann der Tag endlich eine gute Wendung zu nehmen. Jan hatte gekocht. Nudeln natürlich, weil er nichts anderes konnte. Und Jan hatte schon einen leeren Teller vor sich stehen, weil er sein Essen immer sofort inhalierte, wenn es fertig war. Aber es gab warmes Essen und Jans warmen Körper, weil Kai sich gleich zu ihm auf den Schoß setzte. Es gab vor allen Dingen aber auch Ruhe vor diesen schrecklich emotionalen Menschen, die alle ihr Unglück auf Kai abwälzen wollten.

Jan legte die Zeitung weg, in der er gelesen hatte, und drückte Kai einmal an sich. Er schob sein Gesicht gegen Kais Hals. "Hm. Du bist schon wieder so kuschelig. Nun mal ehrlich, was ist los, Kai?"

Kai stand auf, füllte in der Küche einen Teller und reichte ihn Jan über den Tresen rüber. "Erst Nahrung. Später reden." Abschätzend blickte er zwischen Wein und Cola hin und her. Der Wein gewann. Er schob Jan dafür eine Bierflasche rüber.

Jan lachte. "Ist gut. Du essen, ich reden?"

Kai lachte auch und ließ sich seufzend vor dem Essen nieder. Sie saßen nebeneinander auf der Bank mit Blick auf die Dachterrasse. Kai kuschelte sich an Jan heran und ließ sich von ihm hin und wieder ein paar Nudeln klauen. Mit der freien Hand streichelte Jan ihm über den Rücken. So zu essen war schon fast der Himmel.

Jan erzählte ihm belanglose Sachen von seinem Tag in der Uni. Er hatte bereits Histologie gehabt und warnte Kai, dass es saumäßig langweilig werden würde. "Und dunkel! Thilo ist auf dem Mikroskop eingeschlafen und sah nachher aus wie ein Waschbär, wir haben uns bepisst vor Lachen!"

Kai lachte auf, wünschte sich kurzfristig, dass er dabei gewesen sein könnte. Die Nudeln fanden ihren Weg in seinen Mund, ohne dass er darüber groß nachdenken musste. Endlich, als sein Teller nur noch halb voll war, wagte er es und fragte leise "Was ist mit deinem Herzen? Du bist doch gesund, oder?"

Kapitel 88

"Ob ich gesund bin? Ach so!" Jan hob die Augenbrauen. "Klar bin ich das. Aber ich mache schon so lange so intensiv Sport, dass mein Herz zu groß ist. Hab Rhythmusstörungen gehabt, als ich im Abitur war. Mein Vater kennt sich mit so was gut aus, aber wollte, dass ich das von einem Spezialisten abklären lasse. Im Endeffekt ist es okay, ich muss nichts nehmen und kann unbesorgt Leistungssport machen. Mein Ruhepuls ist halt sehr niedrig, gut unter fünfzig Schlägen und ich muss aufpassen, wenn ich irgendwann einmal weniger machen sollte. Um nichts zu verpassen, und um meine Eltern zu beruhigen, gehe ich jetzt einmal im Jahr zu einem Kardiologen und dann noch zu einem Sportarzt."

Erleichtert futterte Kai ein wenig weiter, aber überließ Jan schließlich seine Reste. "Es war ein verrückter Tag. Alle waren sie krank heute. Nicht nur Jiffi, auch wenn ich das heftig fand. Der arme Kerl. Und Lolli war richtig hysterisch. Aber auch Leon mit seinem Krebs und der Therapie war stressig. Felix ist doch tatsächlich in Lukas' Wohnung nach Spanien gefahren. Ist echt ganz schön mies, oder? Seinen Freund so hängen zu lassen? Ich meine, ist das jetzt Panik wegen der Krankheit, oder ist es eine dumme Ausrede, um sich den Problemen nicht stellen zu müssen?"

Jan kaute aus und zog Kai mit einem Arm fester an sich. "Ich würde wahnsinnig werden, wenn dir was passiert und das weißt du." Seine Augen suchten in Kais Gesicht nach einer Antwort, dann lächelte er. "Und wie du heute ausgesehen hast, als ich 'Kardiologe' gesagt habe, wie du mich eben gefragt hast, weiß ich, dass es dir auch so geht."

"Ich würde nicht weglaufen." Kai wollte die Arme verschränken, aber schmiegte sich lieber dichter an seinen Freund.

"Wir sind Krankenhäuser gewohnt."

"Darum geht es nicht! Es geht nicht um die Krankheit, sondern darum zu jemandem zu halten, obwohl es mal nicht leicht ist!"

Jan lachte auf. "Und darin haben wir schon jetzt verdammt viel Übung, nicht wahr, Baby? Mit dir kann es wirklich niemals langweilig werden!"

Kai blinzelte Jan an, dann grinste er. "Immerhin hab ich mich besser gehalten als deine letzten Freundinnen. Da waren doch schon wenigstens drei, seit ich dich kenne, oder?" Und jede einzelne hatte Kai gequält, einfach durch ihre Nähe zu Jan. Und sie hatten noch nie darüber gesprochen. Kai hatte diese Art Unterhaltung, über Jans Ex und über seine Ex immer abgeblockt.

Jan schob ihn von sich, um aufzustehen. Kai sah ihm träge zu, wie er den Teller zur Küche rüber brachte und noch mehr Wein für ihn holte. "Stimmt. Du hast dich wirklich so langsam besser gehalten, als alle meine Freundinnen."

Mutig geworden sah Kai ihn an. "Was hat dich eigentlich so rasch gestört an ihnen? Weswegen hast du immer so schnell Schluss gemacht?"

Jan ließ sich rittlings auf der Bank nieder und sah Kai nachdenklich an. "Ich war das gar nicht mal. Meistens haben sie Schluss gemacht. In der Regel, weil ich nicht mehr genug Aufmerksamkeit hab springen lassen. Das erste Interesse aneinander war abgeflaut und ich hab mich nicht mehr reingehängt." Er hob die Schultern. "Ich hab sie nicht mitgenommen zu einer Party, was ja wohl unerhört war. Ich hab auf einer Feier mit einer anderen geflirtet oder getanzt, was wohl nicht erlaubt war. Ich war beim Fußball anstelle auf der Geburtstagsfeier ihrer besten Freundin, was wohl gefühllos war. Es gab bislang immer so viele Regeln, die ich nicht verstanden hab. Regeln, die mir eine Beziehung dann immer unbequem und zur Last werden ließen. Wenn ich das dann ausdiskutieren wollte, kam es irgendwie statt zu einer Unterhaltung zu Streit, nicht selten zum Schluss. Meist schon nach ein paar Monaten oder mal auch nur Wochen." Er seufzte. "Nicht selten, das geb ich zu, war ich dann erleichtert."

Kai rückte an Jan heran und lehnte den Kopf gegen seine Schulter, vielleicht auch, um nicht mehr seinem Blick standhalten zu müssen. "Mich wundert, dass du es so oft wieder versucht hast. War das nicht nervig?"

"Die erste Zeit der Verliebtheit, das war immer sehr schön und hat es aufgewogen. Mir hat mal ein Kumpel gesagt, dass es so eine Hormonphase gibt, wenn man frisch verliebt ist. Nach etwa drei Monaten erst fallen einem die Fehler am anderen auf. Vorher ist man durch Verliebthormone vollkommen blöd oder will dauernd Sex haben." Jan lachte auf. "Deswegen war ich immer so schnell wieder solo. Nach drei Monaten fielen meine Fehler wohl so richtig ins Gewicht. Leider nicht selten noch bevor sie mich ran gelassen hatte. So ein Mist!"

"Welche Fehler denn?" Verwirrt fragte Kai sich, ob er nur unglaublich vergebend war, oder Jan seine Hormonphase noch nicht ausgereizt hatte.

Jan zuckte mit den Achseln. "Ich kann da schon eine Liste erstellen. Fußball steht auf den ersten drei Plätzen, jedenfalls wenn es nach meinen Ex geht." Er blickte nachdenklich auf die Dachterrasse raus. "Und warum ich es immer wieder versucht habe? Ist ja irgendwie klar. Ich bin einfach nicht gern allein, wer ist das schon? Ich hab gern eine Beziehung. Jemanden besonderes, mit dem ich meine Gedanken teilen kann. Jemanden, mit dem ich... intim sein kann. Ich bin gern zu zweit zwischen all den Sachen, die ich mit dem Fußballteam oder jetzt in der Uni in großen Gruppen mache."

Das war genau der zwiegespaltene Jan, in den Kai sich am ersten Tag der Uni verliebt hatte. Tadelnd sagte er dennoch "Jan, das nennt man Freund oder meinetwegen besten Kumpel oder so, dazu muss man doch keine Beziehung haben."

Intim und zu zweit war Kai auch sehr gern. Auch und vor allen Dingen liebte er es, dass sie nur zu zweit intim waren. Es reichte ihm schon, wenn Jan vor seinen schwulen Freunden aufgetaut war. Er mochte es eigentlich nicht, wenn Jan vor allen anderen sein Freund war, in der Öffentlichkeit knutschen wollte. Das mochte Kai nur, wenn er sich kuschelig getrunken hatte oder sie in eindeutig schwuler Gesellschaft waren. "Aber ich weiß, was du meinst."

Jan erriet seine Gedanken. "Das mag ich so an dir, Kai. Du bist gern mit mir zusammen. Wir haben eine Beziehung, die ich als sehr intim bezeichnen würde. Ich bin mir aber sicher, dass du es nicht so gut finden würdest, wenn ich dich vor und nach jedem Kurs, vor der Mensa, beim Sport und abends beim Studentenkino abknutsche oder deine Hand unausgesetzt festhalten muss."

"Danke. Nein. Ich finde es auch super, dass wir meistens getrennt ausgehen."

"Ich ehrlich gesagt auch. Mit meinen Kumpeln vom Fußball kann ich doof sein, blöde Sprüche machen. Wenn du dabei wärst, dann würde ich mir die Hälfte der Zeit verlogen vorkommen. Ich kann das Verstellen und Verschweigen nicht so gut, nicht so wie du. Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter über dich geredet hab, als sie noch denken sollte, dass du nur ein Freund bist. Mann, das war schwer."

"Sie denkt doch sicherlich noch heute, dass du mit mir nur mal was ausprobieren willst."

Jan seufzte. "Sie hat mir sogar gesagt, dass ich mir zum Ausprobieren einen wirklich hübschen Jungen gesucht habe." Er legte den Kopf ein wenig schief, dann zupfte er Kai durch die Haare. "Das finde ich auch. Ich hab das von Anfang an gedacht. Ich weiß noch, wie ich dich das erste Mal gesehen habe und gedacht habe 'Das ist vielleicht ein hübscher Junge.' Meine Güte, es erscheint mir Jahrzehnte her."

"Ich weiß auch noch genau, wie wir uns kennengelernt haben. Am allerersten Tag in der Uni, nicht? Aber dann kamen ja erst einmal... 'keine Ahnung, Name vergessen', Franka und... Bianca." Kai schloss die Augen und erinnerte sich an die Feier im Fußballclubhaus. An die fürchterliche Musik, die besoffenen Jungs und die Tussis, die sich da an ihn ranschmeißen wollten. "Ich erinnere mich noch genau an diese schreckliche Party."

Jan erinnerte sich auch daran. "Ach, die Feier! Bianca hat mir vorher noch gesagt, sie hätte Tini für dich eingeladen. Sie wollte, dass ich dafür sorge, dass du für Tini kommst. Und ich weiß es noch, ich dachte sofort, dass du auf die nicht abfährst, dass die Weiber doof sind. Aber das wollten die nicht hören."

"War aber so. Frauen sind nicht mein Ding!"

"Außer Tini. Gibt es sonst noch Frauen, die du abkannst?"

"Meine Oma, meine Mutter. Insgesamt mag ich Krankenschwestern, die meisten wollen mich bemuttern, und das kenne ich von meiner Mutter. Das ist dann auch okay. Und dann war da noch eine Kindergärtnerin, die ich wohl als Junge mal gemocht haben soll. Aber ich glaube, dass die nicht mehr lebt. Außerdem mag ich Tini nicht."

"Lüg' dir nicht auch noch was vor. Du magst sie, du machst dir Gedanken um sie, du bringst ihr Kopien mit, du lässt dich von ihr anfassen, ankuscheln, abknutschen. Ihr wart nackt zusammen. Ihr hattet sogar so etwas wie Sex miteinander... und das, obwohl ich ihr verboten hab, dich anzufassen und du bemerkst es, wenn sie beim Friseur war. Frisuren waren schon immer ein Schwachpunkt von mir." Jan wuschelte sich durch seine Haare. "Ich weiß noch, wie ich Biancas neuen Haare mal übersehen hatte... heiliger Bimbam, die hat mich lang gemacht deswegen!"

Kai lachte auf. "Die hat sogar mich lang gemacht, weil du ihre Haare nicht bemerkt hast, aber meinen neuen Rucksack."

"Ach ja. Stimmt. Das war aber, weil du so sauer auf mich warst und wir nicht geredet haben und du mir gefehlt hast. Hat mich einige Runden Oralsex gekostet, um sie wieder runterzuholen von dem Trip."

Kai hob abwehrend die Hände. "Mental Image! Bitte nicht!"

Jan lachte. "Ach, aber wenn ich dabei von dir spreche, wirst du ganz hellhörig."

"Aber ich weiß noch, dass du Bianca", lenkte Kai hastig ab. "abserviert hast, und zwar so, dass deine Eltern das auffällig fanden. Das war eine sehr anstrengende Diskussion damals im Ferienhaus. Überhaupt waren das anstrengende Tage."

"Stimmt. Ich war so durcheinander wegen dir, dass ich mit ihr als allererster Freundin am Telefon Schluss gemacht hab. Ausgerechnet. Natürlich hat sie das so nicht hingenommen, und meine Eltern fanden es sehr verdächtig. Zudem wusste meine Mutter vermutlich von dem Augenblick an, in dem sie dich gesehen hat, dass da was nicht stimmen kann. Du schaust nun mal ganz und gar nicht aus wie meine anderen Kumpel."

"Was? Warum?" Kai wusste es auch so. Er sah nicht aus wie einer, der dauernd Fußball spielte. Er war viel zu unsportlich.

Jan meinte aber etwas anderes. "Du bist zu hübsch, Kai."

"Ach, hör doch auf! Grade ich mit den doofen Haaren und der doofen Haut! Thilo ist viel hübscher als ich, oder nicht?" Thilo hatte jedenfalls einen attraktiven Gesichtsschnitt, aufregende, grüne Augen und einen sehr schönen Körper, was Kai durch den Fummelkurs wusste.

"Thilo? Auf keinen Fall! Genau das macht deinen Reiz aus. Du merkst das nicht mal, oder? Du findest dich selber überhaupt nicht attraktiv, nicht wahr?"

"Geht so. Manchmal finde ich mich okay." Im Gegensatz zu Jan hatte Kai sein Selbstwertgefühl nicht wirklich gut im Griff. An den meisten Tagen fand er sich gerade so okay.

Jan schüttelte fassungslos den Kopf. "Bin ich manchmal froh, dass du nicht zu wissen scheinst, wie hübsch du bist, Kai. Gott, und das ist noch untertrieben! Das ist nicht nur so eine Äußerlichkeit. Deine totale Ignoranz gegen jeden, der dir mal ein Kompliment macht. Deine pissige Art, sobald jemand sich an dich ranmachen will, das macht dich irgendwie wertvoll. Und wenn wir zusammen sind, dann... wie sage ich das jetzt?" Jan seufzte, dann hob er den Kopf. "Es ist nicht wie du aussiehst, sondern wie du mich ansiehst. Ich fasse es immer noch nicht, wenn du morgens neben mir aufwachst und mich anschaust allein. So eine Art Blick nur für mich. Wie neulich auf der Party. Da kannst du noch so eng mit deinem Mallorcaschreck tanzen. Wenn du mich anschaust, einmal durch den ganzen Raum die Scheinwerfer anwirfst, nur für mich, das ist einfach nur geil."

Kai versteckte ein Lächeln und verschränkte die Arme. "Hör auf mich zu ärgern, Jan. Ich bin einfach nur mit blauen Augen versehen. Mehr gibt es nicht zu sagen. Davon abgesehen hab ich rotblonde Haare, die doof aussehen, gleich was ich tue. Ich hab kein besonderes Gesicht und ich bin zu klein und unsportlich. Außerdem waren wir bei dir. Hast du echt mit deinen Eltern über deine Freundinnen geredet?" Das Konzept Vertrauen in die Eltern kam Kai noch immer sehr merkwürdig vor.

"Klar! Immer! Meine Eltern mussten sich schon immer anhören, wie ich mich gerechtfertigt habe, wenn es mal wieder aus war. Mal waren unsere Zukunftspläne falsch, mal haben wir zu verschiedene Meinungen vertreten, mal wollte sie zu viel meiner Zeit... das war nicht selten der Grund. Meist waren es Kleinigkeiten, die sich addiert haben, sie hat meinen Fußballverein oder meine Freunde nicht respektiert, oder es war der Geschmack in Musik, je nach dem Alter."

"Alter?"

"Hatte mit dreizehn die erste Freundin... um genau zu sein, an meinem dreizehnten Geburtstag. Irgendwie war ich seitdem nie lang allein." Jan grinste anzüglich. "Sex hatte ich auch in etwa in dem Alter zum ersten Mal, wenn Fummeln zählt. Gut, in dem Alter kommt man so schnell und von so merkwürdigen Dingen, da kann man das fast nicht Sex nennen."

"Aha?" Kai schenkte sich ein halbes Glas Wein nach und dachte säuerlich, dass er als verdammter Spätzünder dastand, wenn er sich mit Jan verglich.

Jan machte es schlimmer. Er streckte sich und blickte Kai lächelnd an. "Sex war ja immer schon eine Sache, die mir Spaß gemacht hat. Ich hab nicht mit jeder meiner Freundinnen geschlafen, aber mit vielen. Die Entscheidung, ob und was wir tun, habe ich gern ihnen überlassen."

Jan legte den Kopf schief. "Außer bei dir, da konnte ich mich nicht beherrschen. Und Bianca wollte mir ehrlich gesagt viel zu schnell ran, da hab ich die Bremse gezogen, das weiß ich noch. Aber auch sonst mochte ich das erste Mal Knutschen oder Fummeln. Es war wie eine fremde Welt. Der eigene Körper hat nicht immer mitmachen wollen, aber wenn man mit Übung besser wurde, das war genauso toll, wie wenn es beim Fußball nach dem Training immer besser klappte."

Jan stand auf und streckte sich. Mit Schwung zog er Kai hoch. "Überhaupt das Zusammensein fand ich spannend. Das erste Mal einen anderen Körper spüren. Ich fand es nie peinlich, immer schon prickelnd und aufregend. Ich hatte Lust drauf und fühlte mich sicher, trotz oder gerade weil ich unsicher war. Aber ich weiß noch, wie unerwartet schwer ich das fand, mich von Mädchen auf Mann umzustellen... und dann auch noch auf dich."

"Wieso? Auch noch mich?"

"Weil... ich so ziemlich der erste war bei dir. Ich war nervös, weil du so nervös warst. Weil du nie was sagst, Kai. Ich musste immer lauschen wie wild, um herauszubekommen, was dir gefällt. Außerdem hab ich am Anfang dabei immer noch wie wild gelauscht, was mir selber gefällt. Ich meine, es ist ja schon ein kleiner Schock, wenn man als Mann mit einem Mal rausfindet, dass die Sorte Sex, über die man höchstens in peinlichen Witzen mal gehört hat, das geilste ist, was einem passieren konnte."

Kai trank einen großen Schluck Wein und hustete, weil er sich verschluckt hatte. "Du hast alles auf jeden Fall sehr gut rausgefunden."

Jan nickte zufrieden. "Und du bist mittlerweile auch sensationell im Bett. Gut, dass ich dir das mit dem Oralsex hab beibiegen können. Ich glaube, so zufrieden bin ich noch nie gewesen. Mit den Frauen war da immer so ein unsicheres Gefühl. Das fing bei ihrem Selbstbild an. Wie ist mein Busen? Was ist mit meinem Bauch? Ist mein Hintern nicht zu … irgendwas. Herrgott, das ging mir schon auf den Geist. Man ist gerade so richtig scharf und schon am Fummeln und dann kommt so eine total unwichtige Frage? Wen interessiert denn bitte, wie ein Arsch ausschaut, wenn er sich toll anfühlt? Frauen können das nicht raffen. Und hinterher die Fragen im eigenen Kopf. Ist sie jetzt auch gekommen? War alles okay? War ich zu schnell dabei? Hab ich vielleicht zu sehr an mich gedacht? Mochte sie das nicht? Hat sie das etwa nur gemacht, um mir einen Gefallen zu tun?" Anstrengend ehrlich sah Jan Kai in die Augen. "Das gibt es bei dir nicht. Bei dir gibt es andere Probleme, ja, aber ich bin mir sicher, dass wir das noch hinbekommen. Beim Sex bin ich dir wichtiger als du dir selber, so fühlt es sich immer an für mich. Du schaust mich so intensiv an, gehst immer auf jedes Zeichen gleich ein, scheinst nie dich selber zuerst zu sehen. Wenn du was nicht magst, sehe ich es sofort an deinem Gesichtsausdruck oder an deiner Körperhaltung."

"Ich hörte, dass du auch bei Frauen gut sein sollst. Bianca soll laut Tini hin und weg gewesen sein", unterstützte Kai Jans Ego.

"Das ist meiner Meinung nach der Grund, warum die noch hinter mir her hechelt. Meine Güte war die immer rattig." Jan blickte zur Uhr am Fernseher. "Es machte zwar unheimlich Spaß, wenn man mit seiner Mühe richtig liegt. Aber es war eben oft genau das, eine Mühe. Nicht so entspannt wie mit dir. Bianca war in der Hinsicht nicht so schwierig. Die hat wirklich frei herausgesagt, was sie geil findet und was sie nervt und sie war von sich derart überzeugt, dass sie sich in ihrem Körper wohlgefühlt hat. Aber weißt du, was so falsch war mit meinen Freundinnen?"

"Nein, was?" Kai hoffte doch sehr, dass Jan langsam mal einsah, dass Frauen eben nichts für ihn waren. Aber Jan widmete sich dieser Frage ernsthaft und durchdacht. Die Frage war natürlich nicht neu für ihn. Er stellte sich ein Bier auf den Couchtisch und legte den Kopf schief, legte sich die Worte zurecht. "Sie haben immer alle, wirklich alle, versucht aus einem 'ich und du' ein 'wir' zu machen. Es musste, kaum waren wir ein paar Wochen zusammen, irgendwie alles geteilt werden.

Ich musste ihnen all meine Freunde vorstellen, all meine Gedanken mit ihnen bereden. Täglich sollte ich auf der Matte stehen, immer anrufen, wenn ich nicht vorbeikommen konnte. Ehrlich. Ich finde es sehr wichtig, zu reden. Aber miteinander, nicht dauernd übereinander.

Sie wollten zum Training, zu den Spielen mit, sie wollten hinterher auf ein Bier mit den Teamkollegen mit, immer meine Hand halten. Sie wollten jede freie Minute mit mir verbringen, mich immer irgendwie festhalten." Er fuhr sich durch die Haare. "Und nicht selten kam noch Phase zwei. Das Anpassen. Sie wollten, dass ich andere Klamotten anziehe, dass ich andere Musik höre, auf einer Party kein Bier trinke, irgendwie sollte ich anders Auto fahren, die Höhe waren immer Weiberfilme im Kino ansehen und dann auch noch gut finden. Das Endspiel der Bundesliga für eine Party sausen lassen."

Kai stand mühsam auf und streckte sich. "Auweia. Gut, dass du das sagst. Ich hatte schon überlegt, ob ich nicht mal zu einem Spiel mit hingehen sollte. Bastian meinte, dass du so ein toller Spieler wärst und das, hatte ich gedacht, sollte ich mal gesehen haben. Aber dann spare ich mir das lieber."

Jan lachte. "Typisch, dass du wieder deinen Vorteil daraus ziehst." Er zog Kai mit sich vor den Fernseher und schaltete die Nachrichten ein. Die Werbung lief noch und Jan stellte den Ton stumm. Kai streckte sich auf der Couch aus und nahm sich seinen Wein für einen Schluck, bevor er das Glas wegstellte. Müde aber nicht unzufrieden lehnte er sich gegen die steife Lehne zurück.

Jan blickte auf sein Bier und schabte mit dem Daumennagel die Silberfolie vom Flaschenhals. "Die Frauen wollten immer viel mehr von mir haben und doch fühlte es sich nie an, als könnte ich ihnen dadurch nah sein. Bianca zum Beispiel. Sie hat sich wirklich für mich interessiert, für meine Probleme und Gedanken, für meinen Sport und für meine Ansichten. Aber ich fühlte mich nicht, als würde sie sich wirklich, ganz innen drin für mich interessieren.

Eher für den Partner, den Teil eines Ganzen, das ohne sie nicht komplett genug ist. Das Bild, das sie von mir hatte, war mir selber irgendwie fremd. Auch wenn wir im Bett waren, enger zusammen geht es körperlich dann ja nicht, auch dann fühlte ich mich ihr nie nahe." Er blickte zu Kai rüber und hob eine Hand, um ihn dichter zu sich zu ziehen.

Kai folgte der Aufforderung und legte den Kopf in Jans Schoß. Er schloss die Augen halb, als Jans Finger sofort begannen, durch seine Haare zu zupfen. Mutig geworden fragte er endlich "Und bei mir?"

"Bei dir war es schon immer genau das Gegenteil. Du siehst irgendwie nur mich, innen drin, ohne alles, was mich umgibt. Du willst gar nicht richtig in mein Leben rein: Fußball findest du scheiße, Sport findest du zu anstrengend, Frauen und Discos sind nichts für dich und Diskussionen, eine Meinung vertreten, ist dir zu mühsam. Zugleich bist du immer so großzügig. Ich muss nie auf Fußball verzichten, noch nie hab ich wegen dir ein Spiel im Fernsehen verpasst. Meine Freunde akzeptierst du unbesehen, obwohl sie weder dich akzeptieren noch wofür du in meinem Leben stehst."

"Wofür ich in deinem Leben stehe?"

"Eine Beziehung mit einem Mann. Sie nennen dich, wirklich und wahrhaftig, den Mitbewohner. Die Jungs im Team ohnehin. Aber Thilo hat das heute auch wieder gesagt." Jan senkte den Kopf. "Und ich bin es leid und korrigiere das nicht mehr."

"Und das ist auch gut so. Wenn Thilo sich damit wohler fühlt, mich stört das nicht."

"So bist du immer, Kai. Immer um alle Hindernisse herum, allen Diskussionen ausweichen. So warst du schon immer. Du bist von Anfang an für mich da gewesen, aber zugleich weit weg. In einer geheimen Welt, von der ich nicht Teil sein konnte. Das hat mich früher immer irre gemacht. Als ich nicht einmal wusste, dass du schwul bist, hab ich mich so oft von dir ausgesperrt gefühlt, weil du in deine Welt verschwunden bist und mich nicht mitgenommen hast."

Nachdenklich blickte Jan auf Kais Gesicht herab. "Ich will mich dir immer näher fühlen, als ich es kann. Von Anfang an war ich freier bei dir, als ich sein wollte. Es ist verhext. Je freier du mich sein lässt, beim Weggehen, beim Sport, bei allem, desto weniger will ich es sein. Deswegen musstest du hier einziehen, Kai. Ich wollte dir gern die gleiche Freiheit einräumen, aber das... das hat mich wahnsinnig gemacht."

"Ich wohne gern mit dir zusammen, Jan. Passt doch auch gut, oder? Und ganz ehrlich fühle ich mich kein Stück unfrei. Aber ich will nicht, dass du und ich dadurch jetzt irgendwie so ein Konglomerat werden. Ich finde es sogar aufregend und schöner, wenn wir jeder das eigene Leben haben. Wir sind dadurch nur für uns viel dichter zusammen, wenn wir zwei allein sind, als wir es wären, wenn wir jeden Mist gemeinsam machen würden. Unser Mittwoch zum Beispiel. Der ist mir viel wert. Verstehst du? Die Zeit mit dir bedeutet viel mehr, wenn ich sie auch wirklich nur mit dir verbringe."

"Wow, Kai." Jan lachte.

Kai öffnete die Augen. Sie sahen sich an. Die goldenen Funken in Jans Augen glänzten Kai neckend an. "Also, es hat zwei schwerkranke Männer und einen mit Nervenzusammenbruch gebraucht, damit Kai Hellmann einmal über seine Beziehung mit mir spricht."

Kai stöhnte auf und schloss die Augen wieder. "Idiot." Jan küsste ihn noch immer grinsend auf den Mund, schmuste sein Gesicht gegen Kais und neckte ihn mit den Lippen. Seine Finger streichelten ihm durch die Haare an den Schläfen, bis Kai zuließ, dass er den Kuss vertiefte, sodass ihre Zungen sich begegneten.

Jan schmeckte nach Bier und das passte nicht zu Kais Wein, aber es war ihm egal. Vorsichtig schob er seine Finger in Jans Wuschelhaare und zog ihn ein wenig weiter herunter, neckte mit der Zungenspitze über Jans Lippen. Doch Jan brach den Kuss gleich darauf ab und stellte den Ton an, als der Bildschirm den altbekannten Grünton annahm und die Sportreporterin begann, irgendwelche Fußballspiele zu kommentieren.

Seufzend erhob Kai sich, um für den Kurs am nächsten Nachmittag ein wenig zu lernen. Sein Blick fiel noch einmal auf Jan zurück, der entspannt auf dem hässlichen Sofa von Hannah saß und sehr offensichtlich zufrieden verfolgte, was auf dem Fernseher ablief.

Kai schlich sich um Jan herum, kniete sich auf das Sofa und schlang einen Arm um seine Brust. Atemlos ertastete er Jans Herzschlag und zählte mit. Tatsächlich. Es war ihm nie aufgefallen. Jans Herz schlug um einiges langsamer als sein eigenes. Kai lehnte sich an Jan an und der umfing seine Hand aus Reflex, aber beachtete ihn erst wieder, als der nächste Werbeblock die Sportnachrichten unterbrach.

Jan drehte sein Gesicht und blickte forschend in Kais Augen. "Hm? Willst du gar nicht lernen wie ein Verrückter? Wollen wir vielleicht eine Runde im Bett kuscheln?"

Kai legte den Kopf schief und blickte Jan in die Augen. "Hör gut zu, weil so oft werd ich das nicht machen, okay?"

"Hm?" Verwirrt sah Jan ihn an.

"Ich liebe dich." Kai drückte Jan noch einmal fest an sich, dann stand er auf und ging, froh die Arme schwingend, zu seinem Zimmer.

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