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Trost

Kapitel 35-38

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 35

Kais Montag begann anstrengend. Tini lauerte ihm auf. Sie war gesund, sie war mit einer rotbraunen Schlaghose und wildgemusterter Bluse sehr auffällig angezogen und sie war ein wenig sauer auf ihn. Na gut, ein wenig sehr sauer. "Wieso?!"

Kai starrte sie verwirrt an und wiederholte etwas lahm "Wieso?"

"Wieso sagst du, dass du auf Holgers Party gehst, aber fährst dann zu dem Geburtstag deiner Oma, der ja nun wirklich jedes Jahr an diesem Tag ist?!"

Kai seufzte, dann holte er leicht errötend Luft, aber eine Stimme hinter ihnen erklärte gelassen "Weil es nicht klar war, dass sie gesund genug ist in diesem Jahr, nicht?"

Kai wurde noch röter, aber nickte ergeben, während Holger zu ihnen trat. "War die Party ohne Kai so schlimm?" fragte er dann hinterhältig und nun errötete neben Kai auch Tini und schüttelte an ihrer Unterlippe nagend den Kopf.

"Nein, natürlich nicht, aber ich hatte zwei Skripte und ein Buch umsonst mitgeschleppt", knatschte sie zurück, dann fragte sie an Kai gewandt "Geht es deiner Oma denn wieder gut?"

"Ja, es ging." Kai blickte unentschlossen zur Tür des Hörsaals, doch dort wurde gerade ein Zettel angehängt, dass die ersten zwei Vorlesungen ausfallen würden und somit erledigte sich seine Entschuldigung, mit der er gehen wollte.

Jan kam durch die trägen Schwingtüren vor der Cafeteria gelatscht und sah grantelig aus, ein wenig erkältet und irgendwie nicht zufrieden. Kai blickte ihm forschend für einen Moment in das Gesicht, aber er konnte nicht ausmachen, was Jan nervte.

Sein Freund trat aber mit deutlich schlechter Laune zu ihnen und blaffte in die Runde "Was steht ihr hier noch rum?!"

Holger lachte auf und ignorierte Jans Tötungsblick, um ihm stattdessen den Hinweis zu geben "Schau doch mal zur Tür vom Hörsaal."

Jan drehte sich halb herum und kniff die Augen einmal zusammen. "Ja, und?"

Tini blinzelte ihn an, dann fragte sie neckend "Brauchst du eine Brille oder was, Jan?"

"Was?! Ich? Nein."

Kai sprang ein. "Die ersten beiden Lesungen fallen aus. Ich überlege gerade, ob ich in die Stadt zurück fahren soll, oder… "

"Komm mit zu mir, ich wollte dich noch was fragen." Jan drehte sich schon wieder weg und ging zum Ausgang.

Tini starrte seinen Rücken giftig an und bemerkte spitz "Danke, bitte, Guten Morgen, Auf Wiedersehen! Idiot!", womit sie sich ebenfalls abwendete und Kai und Holger etwas leiser "Bis später, ich fahre auch noch mal heim." sagte.

Kai fand kaum Zeit, um den anderen zuzunicken, bevor er hinter Jan herlaufen musste, weil dieser schon um die Ecke verschwand. 'Was hat er denn? Ist was mit ihm?' "Jan?" Vorsichtig blickte Kai seinem Freund ins Gesicht, der mit einem auf die Straße gesenkten Blick vor sich hintrottete.

Jan antwortete erst, als sie im Wohnheim in seinem Zimmer ankamen und er die Tür hinter ihnen schloss "Ich wollte mich entschuldigen, wegen des Wochenendes."

"Wieso?" Jan schnippte mit einer nebensächlichen Bewegung den Wasserkocher an und streifte seine Schuhe von den Füßen. Kai zog sich auch die Schuhe aus und warf seine Jacke auf den einzigen Stuhl.

Langsam ließ er sich auf dem Bett von Jan nieder und zog die Füße an, lehnte sich an die Wand zurück und beobachtete, wie Jan Tee in eine Kanne gab und Milch und Zucker auf den Schreibtisch neben die zwei Becher stellte, die zu seinem für genau zwei Personen ausgelegten Geschirr gehörten.

"Du warst doch da und das fand ich schön. Wofür musst du dich denn entschuldigen?"

"Ich hab mir mehr davon versprochen. Ich war so nervös, wollte so viel beweisen. Und, was haben wir getan?"

"Nichts, das ist doch…"

"Genau! Nichts! Wir haben bei deiner Tante nicht mal auf einem Sofa gesessen, haben uns kaum angesehen, sind so… brav gewesen. Die haben doch gedacht, dass…" Kai seufzte und Jan hielt irritiert inne. "Was?!"

"Sie haben gesehen und gedacht, was sie wollten, Jan. Du musst nichts beweisen, nicht für die. Das ist es nicht wert."

Jan trat gegen seine Jacke, die dadurch vom Stuhl rutschte und rief hitzig "Nicht für 'die', Kai! Verdammt noch mal! Für dich…"

Es war einige Atemzüge lang still, dann schaltete der Wasserkocher sich mit einem leisen 'Ping' aus und Kai schreckte hoch. "Aber das brauchst du nicht, ich weiß doch, dass du…" Er zögerte ''Dass du mich liebst?' Klingt kitschig und abgefuckt.'

Jan goss das Wasser in die Kanne und der herbe Teeduft durchzog den Raum sofort. "So? Weißt du das wirklich, Kai?" enthob er ihn einer Ausführung.

Langsam setzte Jan sich neben Kai hin, aber lehnte sich nicht an, sondern stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ den Kopf hängen. "Ich betrüge dich doch jedes Wochenende." Kai zuckte zusammen, aber Jan redete schon weiter, ließ ihn nicht fragen. "Jeden Freitag und Samstag, wenn ich mit den Jungs was trinken gehe. Wenn ich mit ihnen in die Dissen ziehe, wenn wir da rumstehen und natürlich über Mädchen reden. Es gibt wenig andere Themen für einige von denen." Er seufzte und rieb sich mit einer Hand einmal über den Nacken.

"Mit Holger rede ich mehr über Basketball und über die Uni, man kann auch gut über Politik diskutieren mit ihm, aber mit den anderen geht es um Autos, das interessiert mich nicht, um die Uni, das nervt nach 'ner Zeit und dann natürlich auch über Fußball, aber auch darüber kann man nicht unendlich reden und spätestens nach dem zweiten, dritten Bier fangen sie damit an. Über die Mädchen, über diesen Busen, jenen Arsch, über die Beine der einen, die Augen der anderen. Sie unterhalten sich wer wen gevögelt hat und ich… ich…"

Kai saß bewegungslos da und konnte nur auf das blaue Jeanshemd starren, konnte nur zusehen, wie Jan vor sich selber zusammensank, wie er zum ersten Mal, seit sie zusammen waren, begann zu zeigen, dass er es nicht aushielt. Das Verstecken, das Lügen, all die Dinge, die er befürchtet hatte. Ganz deutlich meinte Kai das Gewicht sehen zu können, das auf Jans Schultern lastete, das er sich selber auferlegte.

"Jan… du…"

"Ich belüge die anderen und mich, Kai. Ich mache da mit, um meine Ruhe zu haben. Jeder Abend mit den Jungs, der früher ein Spaß war, wird heute zur Strafe, zum Muss, zu einem Hürdenlauf um verräterische Sachen. Ich wage es nicht, 'wir' zu sagen, aus Angst, dass man mich nach 'meiner Freundin' fragt. Ich wage es nicht, von dir zu erzählen, aus Angst, die anderen könnten hören, was ich fühle. Aus der Stimme, aus den Worten, ich weiß nicht! Ich bin so genervt und ängstlich mittlerweile, obwohl ich es doch war, der alles sagen wollte. Ehrlich sein! Ich hätte nicht gedacht, dass es so verdammt, verdammt schwer ist! Dass es einem die Luft so abdrückt!"

Jans Stimme klang auch erstickt und Kai begann sich unwohl zu fühlen. Jan konnte so grauenhaft emotional sein. Es erschreckte Kai immer wieder, wenn sein Freund so war, so etwas tat. Einfach rumbrüllen, wenn etwas schief ging, einfach mit der Faust gegen eine Wand schlagen, wenn etwas misslang, gegen die Wagenreifen treten, wenn sie sich stritten. Er konnte einfach weinen, wenn er verzweifelt war. Einfach fühlen. So wie jetzt.

Unsicher stand Kai auf und goss den Tee durch ein Sieb in Jans Becher. 'Etwas Milch, viel Zucker. Jetzt nichts falsch machen. Jetzt herausfinden, was er hat, ihn trösten, ihn zurückholen zu mir. Wie ist das nur passiert mit ihm, ohne dass ich es merke? Wie ist der Stress nur gekommen? Woher? So plötzlich?'

Kai presste den warmen Becher in Jans schlaffe Hand und legte seine Finger darum, um ihn zu stützen. Jan starrte in die hellbraune Flüssigkeit, dann schnüffelte er leicht und erklärte "Ich habe gedacht, dass ich bei dir Zuhause, mit den Nachbarn und deiner Tante… üben kann. Für die anderen üben. Ich habe darin versagt."

"Das ist nicht wahr, Jan. Das ist nicht wahr und du weißt es!" Erschrocken wurde Kai sich bewusst, dass er seinen Freund anschrie.

Jan blinzelte. "Weißt du, es klingt alles immer so leicht. 'Geh doch hin und sag es deinen Eltern.' 'Wahre Freunde werden das akzeptieren'." Jan trank einen kleinen Schluck, dann stellte er den Becher auf den Nachttisch und flüsterte heiser "Aber das ist es nicht… das… ist es eben nicht."

Kai schloss die Augen und flehte Jan im Geiste an 'Bitte… nicht weinen. Bitte Jan, hör auf, meinetwegen zu leiden, dich meinetwegen so zu… quälen… bittebitte…' Er brachte kein Wort heraus, aber kniete sich vor seinen Freund hin und zog dessen Gesicht an seine Schulter, begann durch die Haare zu streichen, langsam und beruhigend gedacht.

Jans kräftiger Körper konnte sich schwach anfühlen, weich und schutzlos, wenn er so dasaß und traurig war. "Bitte… hör damit auf, Jan. Ich verlange nicht von dir, dass du es allen erzählst, dass du mutig bist, dass du deine Freunde meinetwegen so ver… störst. Hör du jetzt auf, immer alles auf einmal machen zu wollen. Das kann kein Mensch, auch du nicht."  

Jan grinste leicht und umfasste Kais Schultern langsam, dann murmelte er leise "Nicht einmal ich?"

"Nein, du Dummchen. Du erst recht nicht. Du musst abwarten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Mit solchen Neuigkeiten überfällt man Leute nicht so einfach. Du wirst einen guten Weg finden. Bei deinen Eltern doch auch auf jeden Fall."

Jan seufzte. "Weihnachten ist jedenfalls nicht der richtige Moment, Kai."

"Nein. Aber wenn du aus dem Skiurlaub wiederkommst, dann kannst du bestimmt mal ein Wochenende finden und dann…" 'Was dann, verdammt?! Egal. Erst mal dann gar nichts. Was dann werden wird, sehen wir schon!'

Ungemütlich dachte Kai daran, wie einschüchternd die Eltern von Jan waren. Sein Vater mit dem wissenden, geduldigen Blick, seine Mutter mit der offenen Art, mit der komplizierten Redeweise, mit ihrer Intelligenz. Würden sie Kai wohlmöglich einfach nur nicht akzeptieren, weil er ihnen unabhängig von seinem falschen Geschlecht für ihren Sohn nicht passend erschien?

Kai verdrängte diese Gedanken resolut und verschob jegliche Grübelei zugunsten einer Knutscherei mit Jan, der ihn bereits geschickt zu sich auf das Bett gezogen hatte. "Weißt du, Baby. Es ist doch egal. Es ist alles wert mit dir. Wenn wir zusammen sind, ist es alles klar und alles sieht leicht aus und darauf kommt es doch an, nicht?"

Jan blickte ihn optimistisch an und Kai nickte drämelig und schwieg dazu. Es kam ihm hinterher so vor, als hätte sein Freund die Bedenken auf ihn abgewälzt, denn als sie zur Uni zurückgingen, pfiff Jan einen Ohrwurm vom Radio, während Kai seine Fußspitzen betrachtete.

Jans Depression wegen seiner Zwiespältigkeit den Freunden gegenüber stellte sich zum Glück in der nächsten Zeit nicht mehr wieder ein. Als sie zwei Tage vor Weihnachten den letzten Kurstag hatten und deswegen zusammen zu Kai fuhren, um sich zu verabschieden, war Jan regelrecht optimistisch und fröhlich gestimmt. Er freute sich auf die Skifahrt und ignorierte Kais Genörgel.

Kai hingegen hatte einige Tiefschläge wegzustecken, weswegen es ihm nach einer Weile so vorkam, als hätte er Jans Depression assimiliert. In der Zeit vor Weihnachten hatte er sich deswegen immer mehr in die Grübelei verkrochen, die Jan zuvor immer ausgezeichnet hatte, während dieser ihn geradezu mit guter Laune nervte.

Der erste Tiefschlag war, dass Lolli mit Frank über Silvester in London sein würde, was dieser ihm zu Weihnachten schenkte, sich aber aus Versehen verriet. Damit erübrigte sich die Silvesterparty für Kai irgendwie.

Während Lolli dann in der letzten Woche vor Weihnachten wie ein Verrückter gute Laune und kitschige Deko in der Wohnung verteilte, begann Kai immer genervter zu werden. Er hatte ja einmal angenommen, dass er Weihnachtsdekoration gern sehen mochte, aber pinkfarbene Weihnachtsmänner stritten sich über ihrem Esstisch mit giftgrünen Kunsttannenzweigen, in denen gelbe und hellblaue Engelchen baumelten. Außerdem hatte Lolli noch überall Kunstschneefiguren an die Fenster gesprüht und zum guten Abschluss noch eine blinkende Tanne im Wohnraum platziert, deren Lichter permanent brannten, was Kai dann doch an die Stromrechnung denken ließ.

Der zweite Tiefschlag war, dass Jan ihn auf einem Unikinoabend, auf dem die 'Feuerzangenbowle' gezeigt und getrunken werden sollte, einfach sitzen ließ. Er gab mitten im Film an, Höllenkopfweh zu haben und wollte nach Hause.

Er knurrte Kai zu, dass dieser ja zu ihm kommen könne, was Kai nicht wollte, weil er das Wohnheim nahezu hasste, man von dort aber nachts ohne Auto nicht mehr wegkam. Kai hatte vor dem Beginn der Vorstellung ahnungslos schon einen Glühwein getrunken und konnte gar nicht mehr fahren.

Jan diskutierte nicht, sondern verschwand einfach. Kai blinzelte ihm überrascht hinterher, aber konnte ihm nicht schnell genug folgen, als Jan quasi wie auf der Flucht den Vorführraum verließ, mit kleinen Augen und eine Hand an der Stirn gepresst, was Kai zu der Annahme brachte, dass sein Freund tatsächlich Kopfweh hatte, woher auch immer. In seiner geheimen Vermutung musste das an den Alkoholdämpfen liegen, die sie in dem Vorführraum schon fast betäubend umwaberten.

Der dritte Tiefschlag war, dass Tini mitbekam, dass Kais Silvester gerade falsch gelaufen war und ihn prompt zu sich einlud. Er wollte nicht wirklich zusagen, aber sie bestand darauf und erklärte recht spitz, dass sie nun wirklich nicht beißen würde. Kai schämte sich, weil sie ihn trotz seiner deutlichen Ablehnung noch immer und immer wieder einlud und noch immer freundlich war zu ihm und sich nicht abschrecken ließ von seiner knurrigen Art.

Holger fiel Kai gleich nach der Einladung taktisch in den Rücken, indem er die Idee von Tini als unheimlich toll und lustig anpries und am Ende war Kai nicht nur bei Tinis Party dabei, sondern war auf magische Art und Weise auch noch dazu auserkoren worden, mit Tini zusammen einkaufen zu gehen.

Während Tini und Holger voller Begeisterung mit einigen Mädchen aus ihrem Semester über Champagner und Sekt und über die Wahl der Speisen diskutierten, litt Kai darunter, dass er nur dachte, dass Silvester seiner Meinung nach in diesem Jahr gut und gerne ausfallen konnte.

Der tiefste Tiefschlag der Vorweihnachtszeit bescherte ihm zugleich einen fetten Streit mit Jan, als er nämlich herausbekam, dass Bianca auch auf der Skifreizeit dabei sein würde. Jan tat so, als hätte er nichts davon gewusst, dabei hing die Liste der Teilnehmer doch im Sportreferat für alle aus. Dort hatte Kai es auch gesehen und hatte Jan gleich am Abend am Telefon zusammen gemeckert, ausgefragt und war an ihm verzweifelt, weil Jan natürlich nur diskutieren, nicht richtig streiten wollte. Kai, vermutlich auch noch von der Tini-Affäre gereizt, konnte kein Ende finden und sie hörten erst auf, sich zu streiten, als Jan auflegte, um zu ihm zu fahren.

Nachts um halb zwölf nutzten sie dann die Zeit, um sich erst anzuschreien, bis Lolli sich beschwerte, dann schwieg Kai Jan eine halbe Stunde lang an, der dies mit ebensolchem Schweigen beantwortete.

Danach, gegen halb zwei nachts, beschloss Kai, dass Jan ihn nicht lieben konnte, wenn er mit Bianca zusammen auf diese Skifreizeit fuhr. Er machte Schluss, begann zu heulen und wollte sich in seinem Zimmer verkriechen, am besten gleich sterben. All der Stress aus der letzten Zeit hatte ihn vermutlich anfälliger und empfindlicher gemacht.

Jan beschloss ungefähr zu derselben Zeit, dass er schlafen wollte, und zwar mit Kai, der ihm im hitzigen Streit noch attraktiver erschienen war. Das erzählte er Kai erst später. Sie mussten sich natürlich vorher mühsam und über einige Diskussionen und Versprechungen hinweg vertragen und tatsächlich landeten sie miteinander im Bett, zu wirklich ausgezeichnetem Versöhnungssex.

Als sie damit durch waren, war es halb fünf und sie schliefen vollkommen erledigt ein, konnten am nächsten Morgen nicht mehr an der Vorlesung teilnehmen und verschoben den nächsten Unitag dann schlauerweise komplett in das Bett von Kai. Jan versprach Kai, dass er sich eher eine Hand abhacken würde, als mit Bianca noch einmal etwas anzufangen und Kai glaubte ihm, durch die Ereignisse der Nacht bestätigt, nun auch wieder.

Jan war unglaublich süß und regelrecht romantisch mit einem Mal. Er kochte Kai Kaffee und holte Brötchen, strich diese sogar fertig mit Kais, von seiner Mutter selbst gekochten Lieblingsmarmelade, während Kai noch über die Nachteile vom Sex und das merkwürdige Gefühl, dass man es nie wieder tun wollte, rummährte.

Dann brachte Jan ihm auch noch das Frühstück ans Bett und betüdelte ihn von vorn bis hinten, umschmuste ihn zärtlich und verwickelte ihn endlich in eine wilde Knutscherei. Er ließ sogar zu, dass Kai mit ihm schlief. Was für ein perfekter Morgen. Kai begann die Weihnachtszeit mit einem Mal wieder herrlich zu finden. Ausgezeichnet geeignet, um im Bett zu liegen und zu kuscheln, während es draußen kalt und grau war. Regelrecht überrascht wurde Kai von dem Päckchen, das Jan ihm zum Abschied unter die Nase hielt, als sie noch im Bett saßen.

"Das ist dein Weihnachtsgeschenk, Baby. Ich warne dich. Wenn du es zu früh aufmachst, dann bringe ich dich um, klar?!"

Kai wurde rot und schämte sich, weil er zwar ein Geschenk hatte für Jan, aber es sich dabei nur um ein nettes T-Shirt handelte, von dem er nicht einmal sicher wusste, ob es Jans Ding sein würde.

Erst als Jan schon weggefahren war, wagte Kai es, noch einmal eine genaue Untersuchung des Geschenkes zu beginnen. Das Päckchen fühlte sich schwer an, schwerer als es aussah und es war kein Buch. Nachdenklich blieb Kai mit lauerndem Blick auf das dunkelgrüne Einwickelpapier sitzen und konnte sich auf keinen richtigen Gedanken konzentrieren.

Jan war zwei Tage vor Weihnachten schon nach Hause gefahren, um mit seinen Eltern den Baum schlagen zu gehen. Das war bei ihnen anscheinend Tradition. Kai hingegen musste am Heiligabend noch den Frühdienst im Altenheim hinter sich bringen, bevor er auch zu Heringssalat und Gewürzkuchen zu seinen Eltern fahren konnte.

Als er seine Tasche dann zum Bahnhof schleppte, waren seine Gedanken immer nur bei der einen Frage 'Ist es peinlich, was er mir schenkt? Kann ich es wagen, es vor meinen Eltern aufzumachen? Was wenn da… ja, was denkst du denn, Kai?! Idiot. Jan wird dir bestimmt nichts blödes schenken.'

Kai schleppte sich samt zu voller Tasche auf den Bahnsteig und war viel zu früh dran, aber wollte nicht alles wieder zurückschleppen. Es war kalt auf dem Bahnsteig und hektisch. Menschen rannten an ihm vorbei, während der Zug, der vor seinem ankommen sollte, mit fünfzehn Minuten Verspätung einrollte.

Fluchend schlug Kai den Kragen seiner Jacke hoch und überlegte, ob er seine Handschuhe anziehen sollte, die er, unpraktisch veranlagt wie immer, vermutlich weiter unten gepackt hatte. Nachdenklich hockte er sich neben die Tasche und zog den Reißverschluss auf, um das Päckchen noch einmal anzustarren.

Da lag es auf den Socken. Dunkelgrün, buchartig aussehend, kein Buch enthaltend. Kai streckte gerade die Finger danach aus, als ihn eine weiche Stimme relativ überrascht und ein wenig schüchtern ansprach "Kai?"

Kai hob den Kopf und erstarrte in der Bewegung. Nur mit Mühe schaffte er es aus der Hocke aufzustehen, seine eingeschlafenen Füße sendeten Nadelstiche des Protestes durch seine Beine, aber er hatte andere Sorgen.

Verwirrt blickte er dem anderen in das freundliche, und nebenbei bemerkt auch hübsche, Gesicht vor ihm. Hell, ernsthaft, von blonden Haaren umgeben, die sorgfältig frisiert wirkten. Graue Augen sahen ihn forschend an. Endlich, viel zu spät erst, erkannte er ihn.

"Passi! Ich hab dich…" Kai unterbrach sich selber und sah ein wenig peinlich berührt auf seine Tasche runter.

Sein Schulfreund errötete ein wenig und klopfte gegen seinen grauen Anzug, über den er einen dunklen Mantel offen hängen hatte. "Ich hab mich seriös verkleidet, kein Wunder, dass niemand mich erkennt. Nicht einmal du, Kai."

'Verdammt!' Pascals Stimme klang so vertraut, so leise und irgendwie intim. Allein, wie er Kais Namen aussprach.

Pascal lächelte jedoch unverbindlich und betrachtete Kai, ein wenig forschend wie es schien, dann gab er sich einen deutlichen Ruck und trat noch einen Schritt näher, um Kai einmal schnell zu umarmen.

Kai schloss die Augen und drückte seine Schultern leicht. Mit einem Mal begann er sich über das Wiedersehen zu freuen.

Pascal, er roch ein wenig anders, nach teurem Aftershave, seine Klamotten waren wirklich wie eine Verkleidung, aber ansonsten… 'Neue Frisur hat er auch, den Pony so hochfrisiert, sieht nett aus, frecher. Er ist älter geworden, erwachsener irgendwie. Wieso hab ich vergessen, dass er so hübsch ist? Ah, das ist es! Keine Brille mehr!'

Sie standen wieder voreinander und sahen sich kurz abschätzend an. "Du trägst deine Brille nicht mehr, deswegen."

Pascal nickte. "Kontaktlinsen. Ich hätte nicht gedacht, dass es soviel ausmacht."

Kai lächelte, war um eine schlaue, und dabei nicht peinliche, Antwort verlegen. Er spürte, dass die Situation irgendwie schwierig war, aber wusste nicht, wieso genau.

Dann holte Pascal Luft und fragte "Wie geht es dir denn so? Was machst du?" Damit begann er eine lebhafte Unterhaltung, die auch auf der gesamten Zugfahrt nicht mehr endete. Es war fast wie früher, sie konnten einfach gut miteinander reden. Das war schon im ersten Moment so gewesen.

Neugierig versuchte Kai durch Beobachtung mehr über Passi herauszufinden, während dieser ihm ein wenig erzählte, wie schwierig er es bei der Wohnungssuche gehabt hatte. Natürlich war er mal wieder anspruchsvoll und umständlich gewesen. Wie früher. Wieso Dinge einfach machen, wenn man sie auch um drei Ecken total kompliziert und langwierig erledigen konnte war immer schon sein Motto gewesen.  

Kai unterbreitete Pascal voller Eifer all die Gerüchte, die er doch gerade erst frisch von seinem Cousin aufgelesen hatte. Sein ehemaliger Freund lachte fröhlich und schüttelte den Kopf. "Nein, was die alle reden! Ich war tatsächlich in England bei einer Versicherung und hab dort ein Praktikum gemacht. In den USA war ich nur auf Urlaub. Ich bin jetzt in die Abteilung Anlageberatung und Versicherungen bei der Bank hier in der Stadt eingetreten."

"Wahnsinn, du bist schon fertig? Bei mir wird das noch Ewigkeiten dauern."

Kai rollte mit den Augen und erzählte vom Studium. Es war anstrengend und nervig irgendwie, aber er schaffte es tatsächlich, Jan außen vor zu lassen. Es kam ihm irgendwie peinlich vor, dem Jungen, der ihn als erster geküsst hatte, der ihm seine Vorlieben klar gemacht hatte, von seiner Beziehung zu erzählen.

All seine Zurückhaltung hatte sich jedoch erledigt, als Kais Mutter aus dem Wagen stieg und Pascal anbot, ihn zu seinen Eltern vorbeizubringen, da dieser ein Taxi nehmen wollte.

Umständlich erklärte Pascal, dass sein Auto kaputt war und er auch nur deswegen überhaupt mit dem Zug hatte fahren müssen.

Kais Mutter unterbrach seine höflich ablehnenden Worte energisch und unkompliziert. "Ach was! Komm schon, Pascal. Steig ein!"

Betont burschikos öffnete sie die Kofferraumklappe des alten Jetta und ließ weder Pascal noch Kai eine wirkliche Wahl. Kaum saßen sie im überheizten Auto und schnallten sich an, als Kais Mutter auch schon, nachdem sie einmal einen Busfahrer mit Flüchen belegt hatte, nach Jan fragte.

Kai starb innerhalb der nächsten Sekunden schon einige Tode und wurde knallrot, da war er sich sicher. Seine Mutter fragte nicht irgendwas nach Jan, sie fragte alles.

Kai lief rot an und litt; unter den Fragen nach Jans Laune, nach seiner Gesundheit, nach dem Kater, den er sicherlich gehabt hatte nach dem Wochenende mit Mirabellenschnaps und natürlich auch, ob Pascal ihn schon kennen würde.

Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte es Kai. Pascal war auch rot, ob von der Hitze, oder weil es ihm unangenehm war, von Kais Mutter nach dessen Freund gefragt zu werden, wusste Kai nicht so ganz. Er schaffte es immerhin, seiner Mutter zu sagen, dass er und Kai sich ja auch gerade eben erst wiedergetroffen hatten und zunächst nur über die Uni geredet hatten.

Kai war es mehr als peinlich und er rächte sich, indem er an Feinwebers Haus zu seiner Mutter sagte "Ich steig hier auch aus, ich geh das letzte Stück zu Fuß, Mama." Er kletterte dann auch gleich mit Pascal zusammen aus dem Auto.

Sie standen eine Weile lang schweigend im beißend kalten Wind, der durch die Straße gegen ihre Beine wehte und starrten dem Wagen noch hinterher, als er schon um die Ecke gebogen war. Endlich fragte Pascal leise "Jan, hm?"

Kai nickte und senkte den Kopf. "Ich hasse meine Mutter, das ist schon mal klar", grummelte er endlich.

Daraufhin mussten sie beide lachen. Schließlich sagte Pascal leise "Das freut mich so, dass jetzt alles… einfacher ist für dich." Kai verdrehte die Augen und dachte an ihren Streit, an Diskussionen, an Jan insgesamt. "Einfacher ist nicht das richtige Wort, nicht für Jan jedenfalls."

Pascal lachte auf und fragte als nächstes bereits ablenkend "Was machst du morgen? Wollen wir uns mal treffen?" Die Freude, die Kai durch den Magen sprudelte, zeigte ihm, dass er Pascal wirklich gern hatte. Noch immer sehr gern, als Freund. Sie waren Freunde.

Sie verabredeten, dass er zu Pascal gehen würde, sobald er wach war und sie zusammen frühstücken und sich weiter unterhalten konnten. Auf seinem Weg die zwei Straßen zu dem Haus seiner Eltern entlang, dachte Kai lächelnd daran, dass er sich einen Freund gewünscht hatte. Er hatte in der letzten Zeit so oft jemanden gebraucht, mit dem er reden konnte, der ihm zuhörte, zu dem er auch Vertrauen hatte.  

Lolli war das nicht. Jan ging nicht, denn über den wollte er ja reden und sonst hatte er niemanden. Lukas wollte nicht reden, der wollte andere Dinge und konnte seine Probleme auch nicht verstehen, aber Pascal… Kai war viel zu fröhlich darüber, Pascal wiedergetroffen zu haben, um sich noch über die Indiskretion seiner Mutter aufregen zu können. Und das Geschenk von Jan vergaß er darüber ebenso.

Kapitel 36

Als Kai durchgefroren auf die Auffahrt kam, war sein Vater gerade dabei, eine erstaunlich kleine Blautanne für ihren alten gusseisernen Fuß passend zu hacken. Mit präzisen Bewegungen bewegte er das Beil und Kai konnte nicht umhin, das Geschick seines Vaters ein wenig zu bewundern. Er würde es niemals schaffen, mit einem Beil auch nur einen Ast durchzuschlagen.

Er nickte Norbert jedoch nur kurz zu und holte sich hastig den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett im Flur, um seine Tasche aus dem Wagen zu bergen. Seine Eltern hatten es, wie sich die Situation darstellte, noch nicht geschafft, den Baum zu schmücken. Kai wollte ohnehin noch duschen und sich noch ein wenig in alten Fotos von Pascal vergraben, mit einem Mal fühlte er sich nostalgisch.

"Bin jetzt da, Mama! Aber ich will noch duschen."

Kais Mutter kam sofort aus der Küche geschossen, Dampfwolken vom Braten, den sie vermutlich schon für den ersten Weihnachtstag vorbereitete, umgaben ihre Gestalt. "Was? Mach aber schnell, wir essen in einer halben Stunde! Es wird ja schon dunkel!"

Kai verdrehte die Augen und entgegnete "Es ist doch nicht mal fünf und ihr müsst den Baum noch schmücken!"

Seine Mutter lief bereits die Kellertreppe hinunter, aber rief zurück "Kai, das ist der Baum für Oma! Meinst du, dass wir einen so kleinen Baum haben, und den dann auch noch erst am Heiligabend schmücken?" Sie schien wirklich entsetzt zu sein.

Kai schüttelte müde den Kopf und erwiderte resigniert "Ich zieh mich um." Im Geiste verabschiedete er sich von seinen Plänen, sich dieses Jahr einmal nicht über seine Eltern aufzuregen, bevor er sich schnell in sein Zimmer verkroch.

Seine Mutter schickte ihm ein "Beeil dich, das Essen ist schon auf dem Tisch!" hinterher.

"Heringssalat, als ob der noch kalt werden könnte", brummelte Kai und schleppte seine viel zu schwere Tasche die Treppe hinauf.

Seine Mutter kam aus dem Keller schon wieder hochgelaufen und verkündete "Wir wollen nachher außerdem noch zur Kirche!"

Kai schloss die Tür zu seinem Zimmer schnell und ließ den Rollladen runter. 'Kirche? Als ob ich da mitgehen werde. Die spinnen doch! Eher sterbe ich ja wohl! Als ob ich mich da noch hinhocken würde, nachdem ich jetzt ausgetreten bin.' Knurrig und von dem Stress, den seine Mutter immer verbreitete, genervt, begann Kai sich langsam auszuziehen.

Er war der Steuern wegen aus der Kirche ausgetreten. Außerdem machte es für ihn wirklich keinen Sinn. Er würde gewiss nicht in einer Kirche heiraten wollen und war schon seit Jahren nur an Weihnachten hingegangen.

Als Kai aus der Dusche in sein Zimmer zurück huschte, erklangen vom Wohnzimmer her bereits die Wiener Sängerknaben. Kai zog sich nach einiger Überlegung die schwarze Stoffhose wieder an, die er schon zum Geburtstag seiner Oma getragen hatte. Dazu kramte er sich seinen derzeitigen Lieblingsrollkragenpullover aus der Sporttasche. Das Geschenk von Jan legte er zusammen mit den Geschenken für seine Eltern auf das Bett.

Er hatte noch nicht einmal seine Socken an, als seine Mutter ihn schon zum Essen hinunter kommandierte. Hastig griff Kai sich die Geschenke für die Eltern, schupste das Päckchen von Jan unter sein Kopfkissen und lief ins Wohnzimmer.

Sein Vater trug einen guten Pullover über eines seiner langweiligen, weißen Hemden und seine Mutter trug eine neue, schwarz-beige gestreifte Seidenbluse, die ihr richtig gut stand. Kai lächelte ihr über die Schale mit dem Heringssalat zu und sagte leise "Du siehst festlich aus, Mama. Ich hoffe, dass mein Pulli damit konkurrieren kann."

Während seine Mutter das Lächeln erwiderte und ihm kurz über den Arm streichelte, senkte sein Vater den Blick stumm auf den Teller und schob seinen Salat zusammen. Schon wieder hatte Kai das Gefühl, als hätte er sich falsch benommen. Zu seinem Glück lösten sie das Essen sehr bald auf und tauschten die Geschenke aus.

Kai wurde vollkommen von der neuen Winterjacke überrascht, die seine Mutter ihm gekauft hatte. Schwarz, dick gefüttert und genau wie er sie gern hatte haben wollen. Erstaunt und wirklich sprachlos starrte er die Jacke einige Momente zu lang an. Dies brachte seine Mutter sofort dazu verlegen zu sagen "Du kannst sie gern umtauschen, Kai. Mir gefiel sie und ich wollte dir nicht nur Geld schenken."

"Nein! Die ist toll! So eine wollte ich wirklich haben!" Er umarmte seine Mutter spontan und kam sich mit einem Mal ein wenig schäbig vor, weil er seinen Eltern nur die üblichen Verlegenheitsgeschenke machte. Natürlich freuten sie sich, aber es war dennoch ein schlechtes Gefühl, weil er wusste, dass er nicht wirklich gelauscht hatte, nicht versucht hatte, etwas für sie zu finden, sondern nur irgendetwas nettes, nichtssagendes gekauft hatte.  

Dieses schlechte Gewissen begleitete Kai über die nächsten Stunden so sehr, dass er davon gelähmt natürlich in den alten Jetta krabbelte, um mit seinen Eltern zur Kirche rüber zu fahren. Er verfluchte seine Feigheit, sein schlechtes Gewissen und die Trägheit, die ihn dazu brachte, sich doch tatsächlich noch immer mit seinen Eltern zur Nachtmesse an Weihnachten in die Kirche zu setzen.

Setzen war gut. Quetschen schon eher. Die Kirche war mal wieder so voll, dass bereits als sie eintrafen, eine ganze Reihe Leute hinten stand. Doch Kais Tante Hella war natürlich auch da und hatte ihnen Plätze frei gehalten. Es war ihr Job, sich an Heilig Abend um die Oma zu kümmern und während im Hintergrund der Organist sein Lieblingsstück zur Begrüßung zum Besten gab, informierte Hella Kais Mutter über die neusten Geschehnisse und um das Weihnachtsmenü im Altenheim.

Kai hockte wie erstarrt neben ihnen und träumte mit offenen Augen vor sich hin. Seine Gedanken wanderten zu Pascal zurück. Er hätte sich so gern noch ein paar Bilder angesehen, um sich an die Zeiten zu erinnern. Nachdem sein Vater sie erwischt hatte, hatte sein Schock so tief gesessen, dass er alle Dinge, die ihn daran erinnern konnten, dass er und Pascal mehr als nur Freunde gewesen waren, in einen Karton in den Keller verbannte und diesen nie wieder ansehen wollte. Nicht mehr ansehen, aber auch nicht wegwerfen.

Mit einem Mal wollte Kai den Karton wieder öffnen, wollte all die alten Gefühle und Bilder aus der Zeit hervorholen. Er wusste auch so schon, dass es nicht ohne schmerzhafte Erinnerungen von sich gehen würde, aber in dem Moment, in dem er sich in der Kirche umsah und einige der Gesichter wiedererkannte, wollte er sich auch an diese schrecklichen Dinge erinnern. Es fühlte sich mit einem Mal an, als würde er sich damit befreien können.

'Dann weiß ich noch viel mehr, dass das jetzt hinter mir liegt! Ja, jetzt bin ich doch endlich frei von all diesen Gedanken. Jetzt habe ich Jan.' Zufrieden begann er sogar zu lächeln, obwohl sein Cousin sich neben ihn setzte und ihm nebenbei die Narbe zeigte, die von der Naht geblieben war.

Der Pastor erschien mit einem Chor aus dem Dorf, Kerzen wurden entzündet und nach den ersten Gebeten begann er sogleich wie in jedem Jahr, die Weihnachtsgeschichte zu erzählen. Die Worte waren doch immer wieder die gleichen, die Lieder weckten ein Gefühl von déjà-vu in Kai, während er sich standhaft weigerte mitzusingen. Er kannte sie zwar auswendig, aber döste dennoch lieber mit starrem Blick auf die große Krippe fort.

Der Pastor kletterte auf die Kanzel hinauf und nahm ausgerechnet die Krippe mit den lebensechten Holzfiguren als Anker für seine diesjährige Rede. Der Wert der Familie in diesen Zeiten wurde angepriesen. Der Wert der Familie, und der Beständigkeit. Kais Lächeln wurde bitter.

'Ja, klar. Die perfekte Familie… so wollen doch alle, dass ich werde, nicht? Meine Mutter, mein Vater, alle. Sie wollen, dass ich mich anpasse und nachmache, was alle schon immer so toll gefunden haben. Josef… Ein Kerl, dessen Tussi ein Kind bekommt, bevor die beiden miteinander ins Bett sind.

Wenn ich so eine finden würde, dann könnte ich es vielleicht schaffen, auch einen auf Familie zu machen. Machen… Familie machen, das ist gut, guter Witz, oder… Wie diese Krippe, vielleicht kann man die perfekte Familie ja schnitzen, einfach ein paar Menschen nehmen und sie umschnitzen, bis sie wieder passen und dann… Hey! Moment mal! Bin ich denn schon total bescheuert? Gott, ich sollte nicht soviel rumgrübeln, schon gerade nicht in einer Kirche! Scheiße!'

Kais Gehirn machte sich mal wieder über ihn lustig. Er hatte zwar nur ein Glas Glühwein getrunken, aber der schien mit seiner Müdigkeit zusammen seinen Zustand der Nostalgie und Nachdenklichkeit zu verursachen.

Kais Füße wurden allmählich zu Eisklumpen, seine Lider waren zu schwer, um noch oben zu bleiben und sein Po tat von der harten Holzbank zu weh, um noch mit angezogenen Beinen hocken zu bleiben, wie er es für die vergangene Stunde versucht hatte, als der Pastor endlich die magischen Entlassungsworte sprach.

Natürlich mussten sie vor der Kirche stehen bleiben und Zigmillionen Kolleginnen von seiner Mutter begrüßen, sowie Tante Hella ertragen. Kai blendete die Gesprächsfetzen aus, die zu ihm durchdrangen und starrte auf die Straßenlaterne, in deren blassem Licht einige vereinzelte Schneeflocken trudelnd zu Boden fielen.

Er wollte gerade anfangen, nervig zu sein, dichter zu seiner Mutter aufzurücken, die zu einer Unterhaltung mit einem Ehepaar aus der Gartensiedlung übergegangen war, als eine Hand seinen Ellenbogen berührte "Kai, so ein Zufall." Die Stimme klang eine Spur zu leise, zu intim für den Massenauflauf, in dem sie rumstanden.

Kai drehte sich aufgeschreckt um und sah Pascal zum zweiten Mal an diesem Tag ins Gesicht. Sein Freund vergrub seine Hände tief in die Taschen seiner dunkelblauen Winterjacke zurück und lächelte schüchtern. "Ich hab meine Oma und meine Eltern zum ersten Mal seit Ewigkeiten zu der späten Messe begleitet. War so ein nostalgisches Weihnachten."

Kai erwiderte das Lächeln und rückte dichter zu Pascal auf. Er war irgendwie ein Lichtblick an diesem rundum grauenhaften Kirchenabend. In dem Moment fiel Kai auf, wieso er Pascal zuvor nicht sofort wiedererkannt hatte. Sein Schulfreund sah schmal und blass aus, das machte ihn älter. Sein spitzes Gesicht wirkte in dem schummerigen Licht von den Kirchfenstern und Straßenlaternen sogar ein wenig zynisch und misstrauisch, wie er zu den Menschengruppen um sie herum rüber sah. Doch seine Stimme war gleichmäßig freundlich, wie am Nachmittag, als er leise begann "Ich wusste gar nicht, dass wir in derselben Kirche sind."

Es klang nach leichter, unverfänglicher Konversation und Kai machte von seinen Bedenken um Kirchenbesuche erlöst mit. "Das wusste ich auch nicht. Ich muss schon seit Jahren mit meinen Eltern hin. Kann mich da leider nicht entziehen."

Er gähnte nur wenig verhalten und Pascal grinste, dann nickte er rüber zu den Parkplätzen "Bist du auch zu Fuß gekommen, oder seid ihr gefahren?"

Kai starrte ihn entsetzt an. "Gefahren natürlich!"

"Wir gehen immer zu Fuß, durch den Stadtpark, da lassen sie die Laternen ja an, dann kommt man an der Grundschule raus und kann durch die Schrebergärten zu uns quer durchlaufen."

Kai nickte. "Ja, stimmt."

Pascal lächelte und hob eine Hand an die Stirn. Seine Finger sahen merkwürdig hell aus gegen seine dunklen Ärmel, als seien sie erfroren. "Ach ja, ihr habt ja einen Garten, du kennst dich bestimmt noch besser aus als ich."

Kai erinnerte sich, wie Pascal und er gemeinsam auf der Bank vor der Hütte seiner Eltern gesessen und Kirschen oder Erdbeeren gegessen hatten. Wusste Passi das nicht mehr? Neugierig hob er den Blick und schrak zusammen, weil Pascal ihm in dem Moment ebenfalls direkt in die Augen sah.  

Kai spürte, dass er errötete und sah zugleich, dass Pascal ein wenig zusammenzuckte und den Blick rasch senkte.

Sie schwiegen einen kleinen Augenblick lang, dann fragte Pascal "Wollen wir vielleicht einfach schon gehen? Meine Eltern scheinen sich nicht losreißen zu können, und deine Mutter redet gerade mit unserer Grundschullehrerin."

Kai drehte sich entsetzt einmal um, zuckte zusammen, als seine Mutter lächelnd auf ihn deutete. Er nickte hastig. "Gute Idee, schnell weg hier! Die erzählen nur wieder alle peinlichen Erinnerungen aus meiner Kindheit!"

Er rief seinen Eltern nur über die Schulter hinweg zu, dass er schon mal nach Hause laufen würde und wendete sich ab, bevor diese protestieren konnten. Er merkte erst, dass er schon fast rannte, als Pascal seinen Arm umfasste und ihn festhielt. "Hey, ich bin zu vollgefuttert und durchgefroren. Ich kann nicht so schnell laufen, Kai!"

Kai seufzte und blieb am Eingang zum Park kurz stehen. "Entschuldige, mir war so kalt."

Pascal nickte, obwohl er diesen Spruch doch sicherlich nicht glauben konnte. Er lehnte den Kopf kurz in den Nacken, seine Haare wirkten im Licht der Straßenlaterne beinahe silbern, dann entgegnete er unverbindlich freundlich. "Ja, es ist wirklich kälter geworden. Ist es nicht immer so? Regen zu Weihnachten und sobald man es nicht mehr braucht, fängt es an zu schneien, grausam ist die Welt. Ein Glück, dass ich die Winterreifen… Kai?"

Kai war eigentlich stehen geblieben, um auf Pascal zu warten, doch mit einem Mal schien es ihm, als könne er keinen weiteren Schritt mehr in den dunklen Weg durch den Park setzen. Pascal war seinen Jackenkragen hochschlagend an ihm vorbeigegangen und bemerkte erst an der nächsten Laterne, dass Kai noch immer an der Straße stand und ihm hinterher blickte.

Kai schloss die Augen kurz, dann starrte er wieder auf Pascal und versuchte vorwärts zu gehen. 'Ich kann das! Hör auf so albern zu sein, Kai! Hör auf… geh schon! Du musst nur den Fuß heben und dann… Los doch!' Statt vorwärts zu gehen, begann Kai ein wenig zu zittern und es war nicht die Kälte, die ihm in dem Moment zu schaffen machte.

"Kai? Ist etwas?" Pascals Stimme klang ungewohnt hell und besorgt, wie ein Appell. Als befürchtete er, dass er etwas falsch gemacht hatte. Kai schüttelte hastig den Kopf und lief, unter mühevollem Aufbringen seiner Kräfte, auf ihn zu.

"Es ist… kompliziert zu erklären." Unsicher sah er seinen Schulfreund an, dann entschied er sich und sagte leise, gerade für Pascal hörbar "Ich bin vor ein paar Monaten von zwei Autoknackern überfallen worden. Sie haben mir nur ein blaues Auge verpasst, aber seitdem kann ich mich irgendwie immer schwerer dazu bringen, durch dunkle Straßen zu gehen. Es wird eher schlimmer als besser. Ich fühle mich manchmal sogar in unserem Hausflur schon unwohl." Es klang beschämt und so fühlte Kai auch. Er schämte sich für seine irrationalen Gefühle.

Er hatte es nicht einmal Jan verraten, aber seit einiger Zeit, eigentlich seitdem es immerzu winterlich dunkel war, wenn er von der Uni heimkehrte, hatte Kai regelrechte Panik, dass die Zeitschaltuhr das Licht im Flur einmal löschen könnte, bevor er es bis in ihre Wohnung geschafft hatte.

Pascal riss seine hellen Augen auf und nestelte unsicher an seinem beigen Schal herum, dann sah er noch einmal kurz zurück in den Park, als würde er überprüfen, was er bei dem Gedanken empfand, diesen Weg zwischen den Rhododendren entlangzugehen.

Schließlich umfing er Kais Arm mit leichtem Druck und zog ihn mit sich zur Straße zurück. "So viel weiter ist dieser Weg nicht. Außerdem wollte ich mir die neuen Geschäfte an der Hauptstraße einmal ansehen", erklärte er einige Meter weiter.

Kai betrachtete das Gesicht seines Freundes von der Seite her, dann murmelte er ein tonloses 'Danke' von dem er nicht sicher war, ob Pascal es hörte. Sie schwiegen den weiteren Weg, jeder in seine Gedanken vertieft. Endlich kamen sie vor dem Haus von Pascals Eltern an. Der von dichten Büschen zugewucherte Garten erschien düster, aber im ersten Stock brannte ein Badezimmerlicht.

"Meine Eltern haben uns überholt." Pascal zögerte und sah die Straße entlang. "Weißt du, ich nehme eben den Wagen und bring dich nach Hause, hm?"

Kai sah unentschlossen bis zur nächsten Kurve, an der ein kitschiger blinkender Weihnachtsbaum den Weg in die Schrebergärten wies. "Wollen wir vielleicht noch etwas zusammen trinken?" Kai erschrak über die Festigkeit seiner eigenen Stimme, und weil er sich mit einem Mal fühlte, als würde er Pascal bedrängen, doch dieser ging sofort zum Gartentor und winkte Kai, ihm zu folgen. "Super Idee! Ich bin eh zu aufgekratzt, um schon schlafen zu gehen."

Pascals Eltern bauten den Dachboden auf der einen Seite für Gäste aus, weswegen sie im Flur um Tapetenrollen und zwei Waschbecken herumgehen mussten. An ihrem Dachboden gebaut hatten Passis Eltern eigentlich schon immer. Kai kannte sie nicht anders, als in Berechnungen von Material, oder in Gespräche über Fliesen, Parkett und Gipsplatten vertieft.

Als Kai und Pascal damals in der Schule gewesen waren, hatten dessen Eltern sich jedes Wochenende damit beschäftigt, für Pascal und dessen älteren Bruder Zimmer auf der anderen Seite herzurichten. Die beiden Jungs hatten oben sogar ihr eigenes Badezimmer und einen Wohnraum mit Fernseher und einer gemütlichen, abgesessenen Couchecke.

Pascal tappte durch den Flur und löschte hinter Kai und sich das Licht, nachdem sie einen kleinen Raubbau am Weinkeller und Kühlschrank seiner Eltern betrieben hatten. Er trug einen hellbeigen Pullover, über einem dazu passenden blauen Hemd und Kai zupfte ärgerlich an seinem Rolli herum und kam sich underdressed vor.

"Zieh deine Schuhe bitte hier vor der Treppe aus, Kai. Ich hab doch diesen hellen Holzfußboden. Ich geb dir ein Paar dicke Skisocken, wenn du magst."

Schon bald hockten sie nebeneinander auf dem hellbeigen Sofa, jeder hatte ein Glas Rotwein in der Hand und sie starrten stumm auf den Fernseher. MTV lief, altbekannte Musikvideos. Keiner von beiden sagte ein Wort. Keiner von ihnen schien überhaupt nur fähig, den anderen anzusehen. Unausgesprochen hing die Erinnerung zwischen ihnen, so jedenfalls empfand Kai es.

Als er nach einer halben Stunde, oder auch knapp zehn Videos, sein Glas geleert, aber auch schon nachgeschenkt hatte, und sie stumpf auf das 'Last Christmas'-Video von Wham gafften, reichte es Kai. Er drehte er sich zu Pascal um und sah ihn prüfend an. "Wie geht es dir?"

Kai spürte, dass der Wein ihn doch allmählich mitnahm, denn seine Wangen fühlten sich warm an und es wurde weich um ihn her. Seine Gedanken begannen zu wandern. Dennoch trank er munter weiter. Mit Pascal war es ihm egal. 'Er ist mein Freund. Das ist doch jemand, mit dem man sich betrinken, danebenbenehmen und trotzdem wohlfühlen kann.'

Pascal schenkte sich nun auch einmal nach und nahm ein Stück von dem zerbröselten Weihnachtsstollen mit spitzen Fingern auf. Er stellte nebenbei den Ton am Fernseher so weit herunter, dass man die Musik schon fast nicht mehr ausmachen konnte, dann erwiderte er leise und ernst "Ich hab mich nie entschuldigt bei dir."

Ein Schauer rieselte über Kais Rücken und er begann sich in der Situation, in der er sich eben gerade noch in Sicherheit wähnte, unwohl zu fühlen. "Das habe ich nie gewollt. Ich hätte mich dann auch entschuldigen müssen, dafür hatte ich… keine Gelegenheit." 'Und ich hatte keinen Mut. Das kann man auch zugeben, Kai! Scheiße! Ruhe jetzt!'

Kai spürte, dass seine Wangen noch heißer wurden, aber Pascal senkte den Kopf und entgegnete "Es tut mir trotzdem noch immer leid, dass ich…"

"Ich wäre auch weggelaufen!" Erschrocken klappte Kai den Mund zu. So deutlich hatte er es nicht formulieren wollen.

Pascal sah auf und begegnete Kais Blick für den Bruchteil einer Sekunde, dann entgegnete er nachsichtig "Es war nicht, dass ich weggelaufen bin… damals. Das war es nicht. Es war schlimmer, dass ich nie… ich bin nie zurückgekommen. Entschuldige."

Kai blinzelte einige Male, von dem Gesagten vollkommen erschlagen, dann stellte er sein Glas auf der geschmacklosen Steinplatte vom dunkelbraunen Couchtisch ab und umarmte Pascal. Über seine eigenen Gefühle erschrocken konnte Kai sich dann jedoch nicht mehr rühren, konnte nichts mehr sagen. Also saßen sie schweigend aneinandergepresst da und Kai kam sich ein wenig unbehaglich vor, aber wollte zugleich auch nicht loslassen. Sein Freund fühlte sich nicht mehr so weich an, wie in seiner Erinnerung, das nahm er zu seiner Verwirrung sofort wahr.

Über Pascals Schulter blickend, seine Wärme genießend murmelte Kai schließlich "Das war okay. Es war… verständlich." Es fühlte sich gut an, Pascals schmaleren, drahtigen Körper an sich zu drücken. Kai seufzte leise, aber ließ seinen Freund doch rasch genug wieder los, um zu vermeiden, dass die Situation peinlicher wurde, als sie schon war.

Pascal lächelte wieder. Er wirkte erleichtert als er erwiderte "Ich bin froh, dass wir uns wieder unterhalten können. Ich hab damals einen ganz schönen Schock bekommen, vor allem, als ich dann gehört habe, dass du im Krankenhaus liegst. Erst dachte ich, dass… dein Vater…"

Erschrocken schüttelte Kai den Kopf. "Nein, er hat mich nicht sehr verhauen. Ich hab mich mehr geschämt, als dass ich es schmerzhaft fand. Seine Reaktion… ich hab mich nicht meinetwegen geschämt, sondern seinetwegen."

Pascal senkte den Blick auf sein Glas und erklärte nach einem zu schnellen, tiefen Schluck unter Krächzen und Husten "Meine Eltern… wissen es nicht. Immer… noch nicht." Pascal stand hastig auf, hustete angestrengt mit rotem Gesicht. "Ich bin… gleich wieder…" Schon war er durch die Tür zum Bad verschwunden.

Kai starrte unsicher auf den Fernsehbildschirm. Ein Elvis-Video lief. Es kam ihm unpassend vor, als würde er in der Zeit zurückkatapultiert. Seine Gedanken drifteten zu den Schultagen mit Pascal, Bilder kamen ihm in Erinnerung, Stimmen, Pascals altes Ich tauchte vor ihm auf. Noch mit dunkleren Haaren, mit hellen, fragenden Augen hinter runden Brillengläsern. Ein viel weicheres, jüngeres Gesicht. Das Video verschwamm und Kai konnte sich wieder an den Abend zurückversetzen, an dem alles kaputtgegangen war.

Deutlich erinnerte er sich an diesen Abend mit Pascal. Sie hatten nicht viel getan. Sie hatten beide Shorts anbehalten und die T-Shirts. Es war eigentlich nichts passiert und doch hatte alles sich verändert an dem Abend. In der Nacht.

Es war am Regnen gewesen. Sie hatten gelernt, dann hatten sie sich unterhalten, waren einander näher gekommen. Wie beim ersten Treffen, bei Pascal, hatten sie sich viel Zeit genommen, keiner von beiden war so richtig gewillt, den Anfang zu machen.

Kai schloss die Augen und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Ja, er sah alles deutlich vor sich, roch alles wieder, hörte alles. Pascal, seine dunkelblonden Fransen, die ihm in die Augen fielen, weil er seine Frisur unbedingt grob in Richtung cooler ändern wollte. Es hatte alles damit angefangen, dass Passi seine Haare immer wieder aus dem Gesicht wischen musste.

Irgendwann war es passiert, Kai hatte den Pony für ihn aus der Stirn gestreift, gestreichelt. Die Haare fühlten sich herrlich weich an und die Stirn darunter angenehm warm, eine runde Form, nur leicht von fragendem Runzeln verzogen, als Kai seine Handfläche dagegen gelegt hatte.

Kai hatte nichts weiter sagen müssen, nur leicht gegen Passis Stirn drücken, um ihn neben sich zum Liegen zu bringen. Gleich darauf hatte sein Freund schon die Augen geschlossen, die Lippen waren entspannt zu einem kleinen Lächeln gehoben.

Pascals Mund war ohnehin schon immer so einladend gewesen, ein schöner Mund. Weiche, hellrote Lippen, die immer schüchtern zu lächeln schienen und wunderschöne weiße, gerade Zähne. Beim Küssen hatten sie sich unter seiner Zungenspitze glatt und kühl angefühlt, zugleich ebenso rund wie die Stirn, wie Pascals Fingerkuppen, wie alles an ihm, einladend und freundlich auf eine Art, die es Kai leicht machte, ihn zu wollen, ihm das zu zeigen.

Kai hörte Pascal wieder ins Zimmer kommen und schnappte aus seinem Traumbild von dessen Mund heraus, aber weigerte sich, die Augen zu öffnen, die neue Situation zuzugeben. Nicht das Traumbild stand neben ihm im Zimmer, sondern der echte Pascal. Eigentlich machte es alles leichter, dennoch auch wieder schwerer.

Es klimperte, als Tassen auf die Steinplatte vor ihm abgestellt wurden. "Ich brauche jetzt Kaffee, sonst bin ich gleich eingeschlafen."

Kai öffnete die Augen noch immer nicht, hob den Kopf nicht, den er auf die Sofalehne hatte zurückfallen lassen. In dieser Position war er eigentlich maximal angreifbar, aber gerade das ließ ihn sich mit Pascal sicher und überlegen fühlen.

"Kann ich hier schlafen, Passi?" Seine Stimme unterbrach eine längere Stille. Kai wusste, dass er Pascal um etwas Ungeheuerliches bat. Dass dieser ihn überrascht und vielleicht auch verwirrt ansah. Instinktiv spürte Kai, dass Pascals Blick über sein Gesicht gewandert war, genau wie er sich damals Pascals süßes, angenehmes Gesicht ganz genau angesehen hatte, sobald dieser vertrauensvoll und einladend die Augen geschlossen hatte.

Nach einigen langen Sekunden raschelte es neben ihm, als Pascal sich langsam auf der Couch niederließ. Endlich erwiderte er merkwürdig gelassen "Gern. Jetzt hab ich aber schon Kaffee getrunken, jetzt müssen wir uns noch ein wenig unterhalten, oder bist du zu müde, Kai?"

Kai ließ den Kopf zur Seite rollen, um Pascal forschend ins Gesicht zu sehen. Nein. Sein Freund war nicht mehr einladend rund, was auch immer ihm widerfahren war, man konnte es sehen, spüren. In den letzten Jahren hatte er sich eine Vielzahl abweisender Ecken und Spitzen zugelegt. Allein die hochfrisierten Haare wirkten wie ein zackiger Zaun auf seinem Kopf, wie um andere vom Streicheln abzuhalten.

Pascal betrachtete ihn aufmerksam, schien den Versuch zu unternehmen, ihn verstehen zu wollen.

"Nein, lass uns noch ein wenig reden." Kai stützte den Kopf auf seinen Arm, den er auf der Sofalehne ausgestreckt hatte und fragte ohne nachzudenken "Und? Hast du auch einen Freund?"

Es war einige Sekunden lang totenstill, diese Zeit nutzte Pascal, um zu erröten, dann schüttelte er den Kopf. "Nein, nicht… mehr. Es war auch nicht…"

"Nichts richtiges?" Es war erfrischend mit jemandem zu reden, der nicht sofort von den Clubs mit Darkroom zu schwärmen begann, der einem keine Kondommarke empfahl und einen Meetingpoint für anregende Treffen.

Pascal begann seine Finger zu begutachten und Kai tat es leid, dass er so taktlos gewesen war. "Tut mir leid. Soll ich dir lieber von mir erzählen?"

Pascal schüttelte den Kopf und holte Luft. "Nein, ist schon okay. Ich finde es nicht ruhmesreich, aber ich kann ja mal von… interessiert dich das überhaupt?"

Kai beeilte sich, begeistert zu nicken. "Klar. Erzähl. Ich finde selten Gelegenheit, mit anderen wirklich zu reden."

Pascal seufzte und erzählte ein wenig zu monoton, um wirklich überzeugend gelangweilt zu sein "Das ganze fing an, als unsere Ausbildungseinheit in der Bank mit unserem vorgesetzten Ausbilder auf die Messe gefahren ist. Auf Einladung einiger Firmen hin, die uns Vorträge über Geldanlagen und Aktiengeschäfte gehalten haben. Am Abend, bevor wir im Hotel übernachten und dann zurückfahren wollten, sind wir in einer dieser Kneipen mit Bierbörse gewesen. Kennste doch bestimmt auch, wo das Bier entsprechend der Nachfrage im Preis mal günstig und mal teuer ist."

Kai nickte, auch wenn er noch nie in so einer Kneipe war, so hatte Jan ihm schon einmal von einem seiner Streifzüge davon berichtet, dass eine Bierbörse auch in ihrer Stadt gleich neben dem Kino eröffnet worden war.

Pascal erzählte schnell weiter, als wollte er es hinter sich bringen. "Dort sind wir auf eine Gruppe betrunkener Männer getroffen, ein dreißigjähriger Geburtstag, oder… ein Junggesellenabschied, so was in der Art. Ich kann mich nicht mehr so erinnern. Jedenfalls komplett mit peinlichem T-Shirt und dummen Aufgaben, die einer von denen erledigen musste. Wir haben die kennengelernt, weil einer der Typen versuchen sollte, den BH meiner Kollegin zu kaufen.

Jedenfalls saßen die sternhagelvoll bereits nach fünf Minuten mit an unserem Tisch. Es gab eine Runde nach der nächsten und ich war schon betrunken dort angekommen, weil wir auf der Messe soviel Sekt bekommen hatten. Ein Typ aus der Gruppe saß direkt neben mir und der begann mich ziemlich auffällig anzugraben, was ich total merkwürdig fand. Ich hatte nie gefunden, dass ich schwul wirke, aber er schien es gleich zu spüren."

Kai erinnerte sich an Lukas und seufzte. "Vielleicht Erfahrung?"

"Hm. Er war schon älter als ich, aber so… naja, vielleicht. Jedenfalls hat er mich angefummelt und ich… war so betrunken, dass ich das auch noch schmeichelhaft fand. Schmeichelhaft! Ich war ein Idiot!"

Pascal trank einen Schluck Kaffee und betrachtete Kais Gesicht, dann erzählte er nüchtern "Der Kerl ist mir zum Klo gefolgt, hat mich dort in die hintere Zelle gezerrt und mir wenig Wahl gelassen, als mitzumachen, zum Glück nichts Wilderes, nur ein wenig Gefummel."

Kai grinste und erinnerte sich nun erst recht an Lukas. "Da kann man sich schwer wehren, wenn man betrunken ist, ne?"

"Hm. Ja. Ich hab ihn zum Glück noch vor dem Nachhausefahren loswerden können und hab ein Taxi zum Hotel genommen, zwei von unserer Gruppe sind noch mitgefahren. Ich dachte, dass niemand es mitbekommen hatte, aber damit fing alles erst an."

Kapitel 37

Kai starrte Pascal an, während das, was sein Freund ihm gerade gesagt hatte, in seinem Kopf widerhallte. 'Damit fing alles erst an?! Alles? Er ist so… cool. Und ich Idiot kam mir vor, als hätte ich Erfahrungen? Was er wohl erlebt hat? Hoffentlich…' Kais Gedanken zerbröselten zu Sorge, die er aus seinem Blick nicht fernhalten konnte.

Sein Freund, den er als sanft und optimistisch kennengelernt hatte. Den er schüchtern geliebt hatte, weil jede Form von Aggression ihn nur verschreckt hätte, sah in dem Moment düster aus. Kai betete, dass niemand Pascal verletzt hatte. "Was hat angefangen, Passi?!"

Pascal seufzte und rieb sich die Augen. Beruhigend lächelte er Kai zu, aber erzählte genauso monoton wie zuvor weiter "Am nächsten Morgen hat mein vorgesetzter Ausbilder beim Frühstück, bei dem wir zwei allein waren, weil die anderen ihren Kater noch ausschlafen mussten, mit einem Mal durchblicken lassen, dass er es weiß. Was hat er noch einmal gesagt? Es war so hintenherum, dass ich damals schon hätte ahnen müssen, was kommt!"

Pascal zerraufte sich die blondierten Haare, die, ursprünglich einmal mit Festiger hochfrisiert, nun wild in seine Stirn hingen. "Ja, er sagte: 'Da ist es ja kein Wunder, dass Sie das Interesse von Ihrer Kollegin nicht bemerkt haben. Ich konnte sie so gut verstehen und habe sie beneidet. Aber das war nicht nötig, was für ein Glück.'"

Pascal verdrehte die Augen. "So schleimig! Und als ob er jemals dazu hätte stehen wollen! Zu der Zeit war ich natürlich geplättet und beeindruckt. Ich hab mich sofort verschossen in ihn. Das Gefühl, dass jemand, der… sozusagen über mir steht, mein Chef, auf mich abfahren könnte, hat mir einen Schub für mein Ego gegeben. Ich fühlte mich weniger überfahren, als von den Komplimenten umgehauen und hab das Gefühl der Aufregung und des Neuen dann natürlich mit Zuneigung verwechselt.

Wir haben uns an dem Tag, auf der Fahrt im Fahrstuhl zu den Zimmern zurück geküsst, mehr war nicht. Er hat sich auch sonst zunächst wirklich Zeit genommen. Es folgten so einige Einladungen. Zuerst zum Essen mittags, dann zu einem Squashtreffen, dann auch mal zu einem Abend im Weinkeller, dann endlich auf sein Segelboot über ein Wochenende. Der Kerl war auch nicht so hässlich. Mitte vierzig, sportlich und gepflegt, schweinereich. Es gab da aber ein paar Fallstricke.

Der eine war, dass er Ehefrau und zwei Kinder hatte, und es ihm mit mir nur um den Sex ging, an ausgewählten Wochenenden und Abenden in der Woche, je nach Bedarf. Er dachte gar nicht daran, das Leben mit seiner Frau aufzugeben.

Das andere war, dass er trotz meines Einverständnisses mit wirklich allem, zu Beginn bereits begann, mich darauf hinzuweisen, dass ich in keiner Position war, die Regeln der Beziehung zu bestimmen, da er als Vorsitzender immerhin mein Leben in der Hand hatte. Ich hab es erst immer wie einen Scherz betrachtet. Zuerst hab ich immer gelacht und gesagt, dass er das nicht nötig hat. Aber er schien darüber anders zu denken."

Kai wurde kalt. Er starrte Pascal an, der solche Ungeheuerlichkeiten so gelassen erzählen konnte. "Er… hat dich erpresst?! Passi, das ist ja wohl… konntest du denn gar nicht… ich meine, hast du ihn nicht einfach sitzen lassen können?!"

Pascal schloss kurz die Augen. "Am Anfang wollte ich das doch gar nicht. Es war aufregend mit ihm. Er hat mir teure Geschenke gemacht, vor allem, wenn ich zu Ausgefallenem bereit gewesen war. Er hat immer bezahlt, wenn wir in seinem teuren Fitnessklub zum Squashen und in die Sauna gegangen sind. Er hat mir meine Wohnung neu eingerichtet und ich hab wirklich permanent neue Klamotten bekommen. Wir waren einmal im Monat für das Wochenende auf seinem Boot. Er hat seiner Frau wohl erzählt, dass er das bei seinem stressigen Job brauche würde."

Kai stöhnte auf. "Das ist so auffällig. Hat die denn nichts gemerkt?"

"Wollte sie vielleicht auch nicht. Wer weiß?" Pascal schien diesen Gedanken nicht interessant zu finden, während Kai sich grauste, wenn er daran dachte, dass es Betrug war, mit Methode. Doch Pascal erzählte weiter, eher an den stummen Fernseher gerichtet, als an Kai.

"Seine Frau hat das Boot nicht betreten, weil sie seekrank wurde, wenn sie auch nur darauf schauen musste. Deswegen konnte er sich da auch sicher sein, und hatte entsprechend eine recht ausgedehnte Pornosammlung in der einen Bootskiste angesammelt."

Pascal zog die Lippen zu einem abweisenden Strich zusammen und lehnte sich nach vorn. Er blinzelte in seine Tasse und fügte, mühsam Teilnahmslosigkeit vortäuschend, an "Ich kann behaupten, dass ich schon so ziemlich jeden verdammten Porno gesehen habe, der in den letzten Jahren produziert worden ist!" Seine helle Stimme klang vor Ekel stumpf.

Kai erschauderte, weil er mit einem Mal zu begreifen begann. Leise gestand er von Pascals Kühle eingeschüchtert "Ich komme gerade mal auf drei Stück, oder vier, die ich mit meinem Mitbewohner und dessen Freund angesehen habe."

Pascal gönnte ihm ein humorloses Lächeln, das ihn sich noch unerfahrener fühlen ließ. "Du hast nichts verpasst. Aber dadurch, dass er dann mehr und mehr Sachen versuchen wollte, zu denen ich keine Lust hatte, kam es zu Spannungen.

Die Spannungen führten endlich dazu, dass er mir gedroht hat und mit der Erpressung begann. Von da an bemerkte ich, dass er es die gesamte Zeit so gesehen hatte.

Er hatte es nicht mit Liebe verwechselt, so wie ich, sondern schon von Anfang an von der Erpressung gewusst, die es für mich dann auch schließlich wurde. Das Schlimmste an der Erpressung war, dass gerade das ihn daran angemacht hat. Dass er mich kaufen kann, erpressen kann, dass er mich in der Hand hat. Ich hab mitgemacht, aber mich damit gerächt, dass ich immer teurere Dinge wollte. Ich wollte ihm schaden, wenigstens was das Geld anging.

Ich hab im Endeffekt nur noch mit ihm geschlafen, weil er mir angedroht hat, dass ich die Prüfung nicht bestehen würde, wenn ich auch nur ein Wort sage. Deswegen bin ich so schnell von der Bank fort und zu der Versicherung gewechselt, als ich bestanden habe. Gleich nach der Prüfung hab ich seiner Frau aus Rache einen Brief geschrieben und hab die Stelle gekündigt."

Pascal ließ den Kopf hängen. "Es war der Frau gegenüber unfair, aber ich hab einfach gedacht, dass es keinen Zweiten so treffen soll wie mich. Dieser Kerl soll niemanden mehr so behandeln!"

Kai legte seine Hand auf Pascals Schulter. Mit einem Mal wirkte Pascal älter als er, abgeklärter und nun wusste Kai auch, wieso sein Schulfreund so angespannt und abweisend aussah.

'Es ist noch nicht lange her, nicht wahr? Du bist ja eben erst umgezogen, oder? Wie kann ich dir nur helfen, wie kann ich nur…? Mistkerl! Wie konnte dieses Arschloch meinen Pascal… meinen… Wie konnte er nur?!'

Kai hatte gar nicht gewusst, dass er so wütend sein konnte, aber was ihn noch mehr überraschte war, dass er es zu verbergen wusste, weil seine Wut Pascal nicht helfen würde. Unnatürlich ruhig murmelte er anstelle einer Attacke "Das ist zwar schrecklich, Passi. Es tut mir so unheimlich leid, aber ich bin stolz auf dich. Ich bin froh, dass du es geschafft hast, ihn abzuservieren… ich…"

Er wurde unterbrochen, weil Pascal ihn umarmte, sich gegen ihn warf und Kai instinktiv reagierte, indem er seine Arme zum zweiten Mal an diesem Abend um seine Schultern schloss. Die Stimme seines Freundes klang nach einer Weile, die er ihn entsetzt nur an sich gedrückt gehalten hatte, ein wenig gedämpft zu ihm hervor.

"Weißt du, erst mit ihm hab ich den Unterschied so richtig bemerkt. Dein Vater hat uns auseinandergetrieben damals, aber es war trotzdem richtig. Es war richtig, wie wir es gemacht haben. Das, was ich danach erlebt habe, ist alles so falsch gewesen. Es war nicht ein einziger guter Moment dabei. Nicht ein einziger Moment, an den ich so gern zurückdenke, wie an den Nachmittag, als ich die Schokoriesen mitgebracht habe."

Kai erschauderte und schob seine Hand über Pascals Rücken bis zu dessen Nacken hoch, um am Rückgrat entlang wieder abwärts zu streicheln. Ja, Passi hatte verdammt Recht. Es war richtig, was sie gemacht hatten, und auch wie sie es gemacht hatten stimmte. Jeder Schritt war gut gewesen für sie, hatte ihren Mut gestärkt. Ihre Gefühle dabei, die Art, wie sie einander gezeigt hatten, was sie schon in der kurzen Zeit gelernt hatten, hatte Kai gut getan.

Zerknirscht gab er zu "Du hast Recht. Ich habe seitdem aber auch einiges falsch gemacht, Passi.", und bemerkte erschrocken, dass er es laut ausgesprochen hatte.

"Ja?" Zögerlich schob Pascal ihn wieder von sich fort, aber blieb direkt neben Kai sitzen.

Kai errötete, weil er merkte, dass es an ihm war. Er würde erzählen müssen, auch wenn alles, was er beitragen konnte, nichtig wirkte gegen die Geschichte, die Pascal erlebt hatte. Kai seufzte ein wenig über sich selber verärgert, dann erzählte er so schlicht er konnte, wie er Lolli kennengelernt hatte, wie er sich in Jan verknallt hatte und natürlich erzählte er, wie aus Jan und ihm ein Paar geworden war, wenn auch über einige Umwege.

Er gab vor Pascal zu, dass er sein erstes Mal auf einem Rave, in einem Auto wirklich nicht genossen hatte, aber er ließ sich nicht weiter über den Streit mit Lukas aus, weil die Gedanken daran ihn selber noch immer mitnahmen.

Schließlich endete Kai damit zuzugeben, dass er wegen Bianca eifersüchtig war. In dem Moment fiel es ihm erst ein. "Oh mein Gott! Das Päckchen! Ich hab das Geschenk von Jan noch gar nicht aufgemacht! Scheiße."

Pascal lachte hell auf und warf sich im Sofa zurück. "Du hast es so lange ausgehalten? Und das bei deiner Neugierde?"

Kai grummelte und gab dann grinsend zu "Du hast mich abgelenkt."

Pascal kicherte und legte den Kopf ein wenig schief. Seine Frisur war zerzaust und der Pony hing ihm wieder in die Augen. "Immerhin war ich zu etwas gut, nicht Kai?"

Kai sah ihn lächelnd an und gab der Versuchung ohne einen weiteren Gedanken nach. Er strich mit den Fingerspitzen durch Pascals Haare, über seine runde Stirn, dann murmelte er über seinen Kopf streichelnd "Immerhin zu etwas, Passi."

Pascal wurde rot, aber erwiderte den Blick, den Kai nicht mehr von ihm abwenden konnte mit großen Augen. Es kam Kai wie eine Ewigkeit vor, dann beugte Pascal sich leicht vor und berührte seine Wange dicht an seinem Ohr mit den Lippen, um ihm zuzuflüstern "Komm, lass uns lieber schlafen gehen."

Es war wirklich nur geflüstert, aber die Worte hallten noch lange danach in Kais Kopf, als sie schon längst nebeneinander in dem gemütlichen Bett von Pascal lagen und zur Holzdecke hoch starrten. Kai hatte Pascal nicht beim Umziehen zusehen können, weil sein Freund schon umgezogen aus dem Bad kam und ihm auch kaum Gelegenheit zu weiteren Fragen gab, sondern ihn mit einer Zahnbürste versorgt fortschickte, während er eine zweite Decke bezog und nach einem Kissen suchte.

'Lieber schlafen gehen, anstatt was? Anstatt uns zu küssen vielleicht? Wie kann ich nur so etwas denken, verdammt?! Wie? Ganz leicht. Man muss seinen Mund nur ansehen. Wer Pascal nicht küssen will, der muss ein totaler Klotz sein… oder schon tot, oder…'

Energisch hatte Kai seine Zähne gebürstet und sich selber im Spiegel angestarrt. 'Ich bin natürlich mal wieder… ein totaler Idiot! Ich hab ihm von Jan erzählt, und er ist schon genug betrogen worden. Natürlich! Er will nicht noch einmal hintergangen werden, will nichts mit einem Betrüger zu tun haben. Das ist es! Ich sollte mich zusammenreißen, verdammt noch mal! Aber er ist so… süß. Allein diese… Scheiße! Scheißescheißeschei… verdammt, wieso passiert so was immer mir?!'

Neben Pascal zu liegen, sein Atmen zu hören, die Wärme seines schmalen Körpers zu spüren, machte die Lage nicht leichter für Kai. Ärgerlich wendete Kai sich zur Wand ab, um nicht in Pascals Gesicht sehen zu müssen.

Eine höhnische Stimme teilte Kai gerade fröhlich mit 'Das alles passiert, weil du ein Idiot bist, Kai Hellmann, das ist so, war so und wird auf ewig so bleiben!', als Pascal leise "Gute Nacht, Kai" sagte und ihn vor sich selber rettete.

Pascal löschte das Licht, dann erst drehte er sich auf die Seite und sah Kai an, das hörte und spürte er, weil ihn der warme Atem von Pascal im Nacken streifte und zum Erschaudern brachte.

"Danke, Kai."

Kai ließ sich auf den Rücken zurückrollen. "Danke?"

Es raschelte leise, gleich darauf legte sich ein kühler Arm unter der Decke um Kais Brust und Schultern. "Dafür, dass du einfach da bist."

Kai verdrehte innerlich die Augen und stählte sich gegen den Drang, Pascal an sich zu reißen, ihn zu drücken, sein Gesicht zu streicheln und diesen herrlichen Mund zu küssen. Stattdessen streichelte er den Arm seines Freundes einmal leicht entlang und erwiderte "Danke, dass ich hier sein darf, Passi."

 

Kai musste eingeschlafen sein, denn das nächste, das er bewusst wahrnahm, war der Beginn merkwürdiger Klopfgeräusche, dann folgte ein Sägen und schließlich begann ein Bohrer in unregelmäßigen Abständen die Stille zu durchbrechen.

Kai blieb starr liegen und hoffte eine Zeit lang, dass es aufhören mochte, wurde aber gnadenlos enttäuscht. Stattdessen bewegte sich das, was er für sein Kissen gehalten hatte leise stöhnend. Als nächstes murmelte eine weiche Stimme "Oh mein Gott. Nicht einmal an Weihnachten geben die Alten Ruhe!"

Pascal lag halb unter Kai, der ihn, vermutlich durch Jan bereits daran gewöhnt, an sich gerafft hatte. Als sie sich mehr und mehr bewegten, stellte Kai fest, dass sie sich komplett umeinander gewickelt hatten und versuchte sich errötend aus Pascals Umschlingung zu befreien.

Sein Freund rollte sich gähnend unter seine eigene Decke zurück und streckte sich, kommentierte die Situation nicht, sondern schien sie als gegeben hinzunehmen. Pascal hatte zu Kais Verzweiflung nicht im Mindesten ein Problem damit, dass ein anderer Mann mit in seinem Bett lag. Zudem einer, mit dem er schon einmal rumgeknutscht hatte.

Gleich als erstes am Morgen in schlechtem Gewissen zu aalen, war schon lange nicht mehr da gewesen, aber Kai begann den Tag ganz ausgiebig damit, vor allem, als Pascal sich lasziv streckte und das T-Shirt ganz entschieden zu spät über einen verblüffend trainierten Bauch zurück zupfte.

Verwirrt wandte Kai sich erneut ab. Die einzige Möglichkeit, seine Gedanken zu ordnen, war an der Holzwand die Astlöcher zu zählen. Eisern versuchte Kai sich darin, während Pascals Bewegungen verrieten, dass dieser sich noch einmal streckte.

Wo in seiner Erinnerung war Pascal eine derartige Versuchung gewesen? Vermutlich lag es daran, dass es eine verbotene Sache war. 'Genau. Das ist verboten und muss ja gut sein. Ich darf ihn nicht anrühren. Schon einmal seinetwegen nicht. Er will nur Freundschaft. Er braucht mich anders, als jemand, mit dem er reden und seine Vergangenheit vergessen kann. Und ich will Jan nicht verlieren.'

Erschrocken erinnerte Kai sich an Jans ultrasüße Stimme, als dieser ihn gefragt hatte, ob er nun jedes Mal untreu werden wollte, sobald Jan einmal nicht auf ihn Acht geben konnte. Natürlich würde Jan ihn töten, wenn er auch nur einen Schritt in die falsche Richtung abwich. Dieses Wissen stählte Kai und half ihm gegen seine erste Reaktion.

"Morgen, Kai. Trinkst du Kaffee?"

"Eh… ja. Danke." Es raschelte wieder und Pascal stand auf. Kai drehte sich nur kurz um, wendete sich gleich wieder ab. Natürlich sah Passi in seinen Schlafshorts besonders niedlich aus. Zum Glück war er gleich darauf durch die Tür verschwunden.

Wenige Augenblicke später keifte er durch den Flur "Seid ihr Alten total durchgeknallt? Es ist Weihnachten, verdammt noch mal! Ich wollte ausschlafen!"

Die Stimme von Passis Mutter entgegnete verwirrend gelassen "Das tut uns leid, Passi. Es ist doch schon neun Uhr durch. Ich hab dir Frühstück unten stehen lassen. Die Brötchen sind im Korb auf der Anrichte, Schatz."

Was Pascal erwiderte, konnte Kai nicht mehr verstehen, weil er sich die Decke über den Kopf zog. Verwunderlich, dass Pascal so derb zu seinen Eltern sein konnte. Ob diese ihn noch immer so sehr verwöhnten, wie sie es früher getan hatten?

Es blieb zumindest still, was schon mehr war, als Kai über seine Eltern sagen konnte. Wenn diese morgens um sieben etwas arbeiten wollten, dann musste er halt aufwachen, oder ertauben. Wenn er seinen Eltern gesagt hätte, dass er sie für durchgeknallt hielt, dann hätten sie ihm vermutlich eine gescheuert, jedenfalls hätten sie nicht damit geantwortet, dass das Frühstück fertig sei.

Kai musste eingeschlafen sein, denn er wachte von leisem Klirren auf, das von Pascal mit einem Tablett voller Teller, Schalen und Becher verursacht wurde. Pascal setzte das Tablett auf dem Couchtisch ab. "Ich hab auch noch Stollen und Heringssalat mitgebracht."

Kai fühlte sich noch nicht fähig zu antworten, deswegen knurrte er nur leise und rollte sich auf den Rücken, um die Holzdecke weiter anzustarren. Astlöcher schienen sein Lebensinhalt geworden zu sein. Pascal ließ sich neben ihm nieder und beobachtete, wie Kai wacher wurde. Es war so still, dass Kai die Radiomusik aus der Küche eben gerade wahrnehmen konnte.

Pascal durchbrach die Stille, indem er sich vorbeugte und Kai mit den Fingern einmal durch die zerrauften Haare kämmte. "Du bist immer noch so hübsch wie früher, Kai."

Kais Herz machte einen Satz. 'Ich?! Hübsch?! Ein einfaches 'steh auf' hätte es getan, danke! Ja, gut, wo war ich stehen geblieben. In der Ecke hier haben wir 57 Astlöcher, zwei davon sind so schräg angeschnitten, dass ich… Kai, du bist ein Idiot! Dreh dich endlich um.'

Statt einer Antwort sah Kai seinen Freund verwirrt an, doch Pascal lächelte ihm nur zu und verschwand in Richtung seiner Couch. Einen Augenblick später hatte er den Fernseher angeschaltet und die Stille vernichtet, in der Kai seine Gedanken hatte rasen hören.

Sie frühstückten nachdem Kai sich notdürftig hergerichtet und angezogen hatte. Pascals Haare waren noch verwuschelt und Kai fühlte sich ebenfalls nicht gerade frisch, aber es half in der Situation auch, sich von Pascal zu verabschieden.

"Ich muss mich dringend duschen und rasieren, bevor ich zu meiner Oma zum Weihnachtsessen fahre."

Pascal nickte und sah aus dem Fenster, vor dem es sachte zu schneien begann. "Ich wohne jetzt ja auch in deiner Nähe. Gibst du mir deine Telefonnummer, damit wir mal was unternehmen können?"

Begeistert nickte Kai und versprach Pascal, dass er ihm gern beim Einziehen in sein neues Einzimmerapartment helfen könne.

Pascal und er trennten sich nach einer weiteren Stunde, die Pascal über die Pein, eine geeignete Wohnung zu finden, lamentiert hatte. Der Abschied fiel knapp aus, da Pascals Eltern gerade begannen Holzbalken in das Haus zu schleppen und sie sich unter den verwunderten Blicken nicht einmal zu umarmen wagten.

 

Als Kai Zuhause ankam, stellte er fest, dass seine Eltern nicht mitbekommen hatten, dass er überhaupt nicht da gewesen war. Sie hatten angenommen, dass Kai vor ihnen angekommen und gleich zu Bett gegangen war. Da sie zu der Zeit, zu der er nach Hause kam, beide im Garten waren, fragte seine Mutter ihn, als er zur Terrassentür rausblickte, lediglich, ob er nun endlich ausgeschlafen war.

Erleichtert ging Kai duschen, um sich dann auf das Päckchen von Jan zu stürzen. Er riss das Papier ungeduldig von der Schachtel und nahm keine Rücksicht auf die geschmacklose kleine Schleife auf der Ecke. Doch dann ließ er es vollkommen überrumpelt sinken.

In der Tat enthielt der leichte Karton kein Buch. Jan schenkte Kai ein Handy. Mit der krakeligen, zu kleinen Schrift tat Jan Kai kund, dass er das Handy nur einzuschalten bräuchte. Die Pin-Nummer wäre in dem Heftchen verzeichnet. "… dann schreib mir eine SMS, damit ich weiß, dass du es bekommen hast. HDL Jan."

Kai blinzelte einige Male, dann schaltete er das dunkelblaue Gerät vorsichtig ein. Ein Quäkton, dann blinkte die Anordnung, die Nummer einzugeben und endlich, nachdem Kai mit zitternden Fingern der Aufforderung nachgekommen war, zeigte das Display ein grinsendes Männchen und den Schriftzug 'Hallo Kai!'

Kaum war es an, schon quakte das Ding einige Male. Es waren Nachrichten eingegangen. Drei Stück. Alle von Jan. In der ersten fragte dieser an, ob Kai es hinbekommen habe und ob er sich freuen würde. In der zweiten, wieso Kai denn nicht mal versuchen würde zu antworten. In der dritten teilte Jan mit, dass er gleich anrufen würde, bevor er zur Skifreizeit fahren wollte.

Kaum hatte Kai begonnen zu antworten, als das Handy klingelte. Kai legte vor Schreck zuerst einmal auf. Beim zweiten Klingeln schaffte er es, abzuheben. "Hallo?"

"Na endlich! Verdammt, wieso bist du denn nicht rangegangen?”

"Ich… habe…"

"Fröhlichen Weihnachten, Baby."

Kai atmete aus und nickte leicht. "Danke. Wünsch ich dir auch, Jan." Er zögerte, seine Gedanken waren bei Pascal, während Jan sich für das Geschenk bedankte und ihn fragte, wo er so lange abgeblieben war.

"Ich war über Nacht bei einem Schulfreund, bei Pascal. Es ging ihm nicht gut, wir haben uns unterhalten." Kai biss sich auf die Lippen und hoffte, aber seine Furcht wurde bestätigt.

"Pascal? War das nicht der, den dein Vater mit dir erwischt hat?"

Jans Stimme klang misstrauisch und Kai fühlte sich schuldig, auch wenn er nicht einsah, weswegen überhaupt. "Ja. Ich hab ihn in der Bahn getroffen."

Jan war einen Augenblick lang still, dann fragte er das Thema verlassend "Kommst du mit dem Handy klar? Lass es doch einfach in den nächsten Tagen an, dann kann ich dich am Abend immer anrufen, ja?"

"Ja. Ich werde es mir schon beibringen. Lolli hat ja auch einige. Ich glaube fast, dass er das gleiche hat."

Jan seufzte. "Ist gut. Du arbeitest morgen?"

"Ja. Spätschicht. Ich fahre morgen früh wieder nach Hause. Ich muss dann ja auch mit Tini einkaufen gehen."

Sie redeten noch kurz über ihre Geschenke und Jan murmelte leise "Ich vermiss dich.", bevor er auflegte.

Kais Gewissen kochte über, obwohl wirklich effektiv nichts war. "Ich war nur für Pascal da, nichts weiter." 'Jaja, Kai.'

Da es nichts half, sich Vorwürfe zu machen, brachte Kai den restlichen Weihnachtsstress bei seiner Oma mit den anderen Verwandten hinter sich, ohne sich den Kopf über Pascal oder Jan zu zerbrechen.

Erst als er nach seinem Frühdienst im Altenheim am Tag nach Weihnachten zu seiner Wohnung heimkehrte, brachte sich das Weihnachtsfest erneut in Erinnerung. Pascal hatte ihm schon auf den Anrufbeantworter gesprochen und seine neue Nummer hinterlassen.

Bevor Kai darüber nachdenken konnte, ob er Passi vielleicht doch schon einmal besuchen sollte, klingelte es an der Tür und Kai vergaß Pascal zunächst über gänzlich andere Probleme. Diese fingen mit einem 'T' an und hörten mit 'ini' auf. Sie war viel zu früh dran und er hatte die Wohnung noch nicht aufgeräumt, musste sie aber reinbitten, weil er noch nicht umgezogen war.

Kapitel 38

Kai wartete an der Tür, bis Tini über das Treppenhaus zu ihm vorgedrungen war und fragte sich erneut, wie es passiert sein konnte, dass er mit ausgerechnet Tini einkaufen gehen musste.

Sie war wieder gesund, ihren Schnupfen schien sie überwunden zu haben. Während sie den letzten Treppenabsatz erklomm, nahm sie ihren roten Schal ab und legte ihn sorgfältig zusammen. Kai konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie das nur machte, um ihn nicht direkt anschauen zu müssen. Jedenfalls war er dankbar, weil er ihr dadurch auch nicht ins Gesicht sehen musste.

"Hallo Kai. Fröhliche Weihnachten wünsche ich dir!" Tini umarmte ihn sogar noch und Kai ließ es erschrocken geschehen, aber schaffte es nicht, die Arme auch nur anzuheben, bevor sie ihn wieder losgelassen hatte. Gleich darauf drückte sie ihm einen Weihnachtsmann aus Schokolade in die Hand und ging an ihm vorbei in den Flur.

"Fröhliche Weihnachten", entgegnete er lahm, dann erklärte er in die Wohnung deutend "Ich muss mich noch schnell umziehen, ich komme gerade von der Arbeit."

Tini nickte nur und trat ein, knöpfte den Mantel auf und sah sich zurückhaltend um.

Kai nahm ihr den Mantel ab und schlug vor "Du kannst in der Küche noch einen Kaffee trinken. Ich muss auch noch duschen, bin aber in zehn Minuten soweit."

'Zehn Minuten, Kai? Das hast du seit der Grundschule nicht mehr geschafft. Die arme Maid wird eine Stunde in euerer Chaosküche rumhocken!' Kai seufzte tonlos und verfrachtete Tini auf einen der Klappstühle an ihren Esstisch, zu der Katzenuhr. Nachdem er ihr einen Becher mit Kaffee vor die Nase gestellt hatte, verkrümelte er sich in Rekordzeit in das Bad.

Natürlich musste Kai noch vier Male in sein Zimmer zurück und hatte im Endeffekt seine Tasche auf dem Bett ausgekippt, um seinen Rasierer, das T-Shirt, das er unterziehen wollte, und die schwarzen Socken zu finden, aber insgesamt schaffte er es in den versprochenen zehn Minuten sogar, wenigstens nass zu werden.

Er duschte sich hektisch, genervt nach möglichen Gesprächsthemen fahndend und föhnte seine Haare ebenso hektisch und abgelenkt. Als er dann endlich aus dem Bad herauskam, hatte er vermutlich trotz seiner Hetze eine halbe Stunde Zeit verbraucht. Dennoch saß Tini noch immer in derselben Position auf dem Stuhl, den Blick noch immer auf ihren Becher mit Kaffee gerichtet. Verwirrt stellte Kai fest, dass sie gar nicht getrunken hatte.

Sie schien ihn auch nicht zu bemerken, obwohl er wirklich direkt hinter ihr stand und den Blick starr auf ihren dunklen Kurzhaarschnitt gerichtet hatte. Ihre Haare waren noch kürzer als vor Weihnachten, nun hatte sie fast kürzere Haare als er, das verwunderte Kai schon ein wenig. Er sprach es aus, bevor er darüber nachgedacht hatte "Du warst beim Friseur."

Tini schrie leise auf und wirbelte mit der Hand auf dem Herzen zu ihm herum, fast wäre sie vom Klappstuhl gefallen. "Oh Gott, du hast mich erschreckt!" Dann fuhr sie sich durch die Haare. "Merkt man das so sehr? Der Friseur hatte einen schlechten Tag, sind viel zu kurz geworden."

"Ist der Kaffee zu stark, oder einfach nur schlecht?" Kai nahm sich einen Becher und schenkte sich aus der violetten Isokanne von Lolli auch von der verdächtig schwarzen Brühe ein.

"Nein, jetzt ist er nur kalt, ich war so in Gedanken versunken."

Kai interessierte sich nicht dafür, was sie dachte und wollte sich auch nicht damit auseinandersetzen, was sie nun sagen wollte. Nebenbei nahm er ihr den Becher weg und gab ihr frischen Kaffee. "Was müssen wir alles einkaufen?"

Tini seufzte leise und warf einen Blick auf die schwarze Katzenuhr, bevor sie einen Zettel aus ihrem Rucksack kramte. "Wir werden ungefähr dreißig Leute sein. Ich war gerade beim Bäcker und hab' Brot bestellt. Eigentlich müssen wir nur noch dafür sorgen, dass genug Bowle da ist und Sekt für alle. Ein Freund aus dem Fitnessstudio, in dem ich arbeite, bringt mit seinem Wagen das Bier morgen Nachmittag vorbei."

"Also Sekt, Wein und sonst nichts mehr?" wiederholte Kai und überschlug, dass sie drei Kisten Sekt würden schleppen müssen.

"Der Sekt für die Bowle kann ruhig billig sein. Schmeckt doch eh keiner raus. Ich wollte Schlammbowle machen. Mit Schattenmorellen und Vanilleeis."

Energisch trank Kai seinen Becher aus "Dann mal los." 'Je eher wir damit durch sind, desto eher kann ich sie loswerden.' Als sie gerade an der Tür waren, klingelte das Telefon und Kai hechtete hin, bevor Lollis ultrapeinlicher Spruch noch erklang.

Es war Pascal, der ein wenig überrascht und atemlos klang. "Oh, ich wollte gerade zu meinem Spruch ansetzen."

"Du hast doch schon mal angerufen." Kai schloss die Augen und fluchte insgeheim. Er hatte nicht anklagend klingen wollen und er hätte zurückrufen müssen.

Pascal nahm ihm seine harsche Art nicht übel. "Ja, ich weiß. Ich wollte aber wissen, was du heute machst, bevor ich mich in den Einkaufstrubel stürze."

Kai warf einen Blick zur Tür, in der Tini sich, unauffällig zu ihm hinsehend, den Schal umschlang. "Ich gehe einkaufen für die Silvesterparty, auf der ich sein werde. Mit Freunden bei mir in der Nähe."

Pascal zögerte und atmete endlich aus. "Oh."

Kai lauschte einen Augenblick lang, dann schlug er so unaufdringlich wie möglich vor "Du könntest bestimmt mitkommen, oder hast du schon was?"

Es schien die richtige Eingebung gewesen zu sein, denn Pascals Stimme klang freudig, als er schnell zurückgab "Ich würde gern mitmachen, wenn ich nicht störe!"

Sie verabredeten, dass Pascal vorher zu ihm kommen sollte, dann beeilte Kai sich, um das Einkaufen und Tini hinter sich zu bringen.

Tini stellte sich als ausgezeichnete Shoppingexpertin heraus. Sie waren effizient, vergaßen nichts, mussten nicht zurückgehen, auch wenn Kai mit Sicherheit nicht von allein in der Gemüseabteilung schon an die Kräuter für das Kräuterbaguette gedacht hätte, oder in der Chipsabteilung an den Dip.

Tini dachte für ihn an alles, und sie hatte auch noch genug Geld dabei. Kai konnte nicht umhin, sie ein wenig zu bewundern, während sie sich die Straße entlang schleppten, um den Sekt und die Chipstüten schon einmal in ihrer Küche zu stapeln.

Da er ihre Wohnung von der Einweihungsfeier schon kannte, ging Kai in die Küche vor, um sich des Kartons zu entledigen, der schmerzhaft in seine Finger schnitt. Als er sich umdrehte, stand Tini schon hinter ihm und begann die Sachen wegzuräumen, den Kühlschrank umzuorganisieren und setzte zu seinem Ärger auch noch Kaffee auf.

"Ich… sollte bald mal los, weil…"

Tini nickte leicht, aber blieb mit dem Rücken zu ihm stehen, während sie mit dem Kaffeefilter hantierte. "Keinen Kaffee mehr?" Sie klapperte mit pinkfarbenen Bechern, die verschiedene, zerknautschte Gesichter hatten.

Ihre Stimme klang so fein, plädierend. Kai fühlte sich schlecht und gab deswegen verhalten seufzend zurück "Doch. Soviel Zeit hab ich noch." Innerlich haute Kai sich selber. Im Supermarkt hatten Tini und er genug zu tun. Es waren tausende von Leuten um sie gewesen, damit auch tausende von Möglichkeiten, nicht mit ihr zu reden, sie nicht anzusehen.

Nun fand Kai sich in Tinis Zimmer auf dem Sofa unter ihrem Hochbett wieder und starrte verwirrt auf das Fenster, vor dem sich der leichte Regen allmählich in Schnee wandelte.

Tini stellte Kekse und den Kaffee vor ihn hin und setzte sich, nachdem sie Musik angestellt hatte, neben ihn. Sie trug dicke gestrickte Socken, rot-tannengrün-weiß geringelt. Tini bemerkte seinen Blick und wackelte mit den Zehen. "Weihnachtssocken."

Kai blinzelte ertappt und nickte, bevor er an dem Kaffee nippte. Unverschämt guter Kaffee. Mit aufgeschäumter Milch zudem. Anerkennend wollte Kai etwas sagen, die Worte fehlten ihm. Er fühlte sich schuldig, weil er Tini so abweisend behandelte. Zugleich störten ihn ihre bloße Anwesenheit, die Aufforderung, die in ihrer Art versteckt war, schon wieder genug für Genervtheit.

Sein Handy durchbrach die Stille mit einem widerlich lauten Klingelton. Er hatte noch nicht begriffen, wie er die Klingeltöne umstellen konnte. Kai errötete und kramte es hektisch aus der Jackentasche, nachdem er vor Schreck fast den Becher hatte fallen lassen.

Es war Jan, das stand schon auf seinem Display. Kai ging aus dem Zimmer in den Flur und meldete sich erst dort. "Hi."

"Hallo, wollte nur kurz nach dir hören, Baby." Jan klang heiser, im Hintergrund pfiff Wind und es rauschte und knackte.

"Hast du dich erkältet? Wo bist du?"

"Auf dem Balkon. Was machst du denn gerade?"

Kai lehnte sich neben der Garderobe an die Wand, aus den Jacken stieg ihm süßes Parfüm in die Nase. "Ich bin bei Tini, du wirst es nicht glauben. Wir haben für die Silvesterfeier eingekauft."

Jan lachte als Antwort nur und erzählte ihm schnell, dass der Schnee schlecht sei und nun ein Sturm aufkam, weswegen sie vermutlich über Silvester nicht fahren, sich nur langweilen würden. "Zum Glück haben die hier ein Schwimmbecken, da können wir wenigstens Wasserball spielen."

Sie verabschiedeten sich hastig, als Stimmen hörbar wurden, weil Leute zu Jan auf den Balkon traten.

Kai ging zu Tini zurück, er kam sich mit einem Mal noch mehr vor wie ein Verräter. Tini hatte ein Gespräch mit ihm geplant, das spürte er, und verfluchte noch einmal, dass er sich auf den Kaffee eingelassen hatte. Ergeben ließ er sich vor seinem Becher nieder und nippte noch einmal daran, versuchte den Milchschaum zu vermeiden, der seine Nase anfallen wollte. "Der Kaffee ist gut."

Tini lächelte. "Ja, die Maschine war ein Werbungsgeschenk von der Zeitung. Der Milchaufschäumer war ein Weihnachtsgeschenk von meinen Mitbewohnern. Hast du was von deinem Mitbewohner bekommen?"

'Was soll das denn? Fangfrage?' "Nein. Das heißt, ich weiß nicht. Wir haben uns noch nicht gesehen. Letztes Jahr haben wir uns nichts geschenkt." Das war nicht ganz richtig. Er hatte für Lolli die Küche aufgeräumt und es unter den Tisch fallen lassen und Lolli hatte ihm ein mit Strass verziertes Armband überreicht, das Kai nie hatte tragen wollen.

Tini drehte ihren Becher zwischen den Händen und starrte in die dunkle Brühe, der Milchschaum hatte sich bei ihr schon längst unschön am Becherrand abgesetzt. Sie holte mehrmals Luft, um etwas zu sagen, aber klappte den Mund schließlich zu und fragte stattdessen "Weißt du, wo der Raum ist, in dem wir feiern?"

Vom Themawechsel verwirrt hob Kai die Schultern.

"Das Sportheim. Das liegt in der Raukestraße auf der Ecke. Das kann man nicht verfehlen. Renate hat das organisiert."

"Werde es schon finden. Ach ja, kann ich einen Freund mitbringen? Ein Schulfreund, er ist gerade hergezogen."

Tini bedachte ihn mit einem merkwürdig fragenden Blick, dann nickte sie und erwiderte "Klar, du kannst dir mitbringen, wen du willst. Wir wollten von jedem zehn Mark kassieren, wenn das in Ordnung ist. Dich natürlich ausgenommen, weil du so tapfer mitgeholfen hast."

Kai überschlug die Summe, die sie ausgegeben hatten und hob die Schultern. "Ich weiß ja nicht, wer noch so alles kommt." Er leerte seinen Becher und stand zögerlich auf. "Wir sehen uns dann also auf der Silvesterfeier?"

Sie brachte ihn nicht zur Tür, sondern blieb mit dem Becher in der Hand auf dem Sofa sitzen. Dort sah sie aus, als sei sie ein kleines, sitzen gelassenes Mädchen, das sich weigerte, nach Hause zu gehen, obwohl es klar war, dass niemand sie mehr abholen würde. Kai widerstand jedoch dem Befehl seines Gewissens, sich umzudrehen und Nettigkeiten zu sagen. Ganz offensichtlich traute sie sich nicht, das zu sagen, was sie sagen wollte, es war nicht seine Schuld. Wenn ihre Zeit gekommen war, dann würde er ihr ohnehin nicht entkommen können. Tini war weitaus gefährlicher, als sie immer tat.

 

Kai hatte am Abend noch gut damit zu tun, sein Zimmer aufzuräumen. Irgendwie gab ihm der Gedanke, dass er Pascal früher oder später zu sich einladen würde, genügend Energie dazu. Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester verbrachte Kai mit Frühdiensten und war abends so erschossen, dass Jan ihn meistens weckte, wenn er ihn anrief. Die Gespräche waren eher unpersönlich, glichen von Jan aus Wetterberichten und von Kai aus bestanden sie mehr oder weniger aus Gähnattacken.

Am 31ten hatte Kai endlich frei und blieb im Bett liegen, obwohl sein an das quasi nächtliche Aufstehen gewöhnter Körper ihm energisch befahl, jetzt keine Verwirrung in die Sache zu bringen.

Die Kleiderfrage zu Silvester war schwierig und nahm den Vormittag ein. Es war schneidend kalt geworden, der Wind biss ins Gesicht und trieb Eisflöckchen vor sich her, die eben gerade Autos und Straßen bedeckten, nicht als Schnee zu bezeichnen waren.

Andererseits war die Möglichkeit gegeben, dass es warm war in dem Sportheim. Kai hatte sich das geduckte Eckgebäude einmal vorsichtshalber angesehen, es war wirklich nur zwei Straßen zu gehen von ihm aus. Deswegen hatte er Pascal auch zu sich bestellt, damit sie dann beizeiten zusammen dorthin gehen konnten.

Als Pascal bei ihm eintraf, hatte Kai sich gerade zum sechsten Mal umgezogen, dieses Mal einen beigen Rolli und darüber einen ebenfalls beigen Pulli. Er blickte dennoch nicht gerade zufrieden auf sein Abbild im Garderobenspiegel, als er die Tür öffnen ging. 'Mist, zu blass. Ich sehe so krank aus, Augenringe… verdammt!'

Pascal hatte die Kleiderfrage praktisch gelöst, indem er ein blaues Hemd unter einen seiner beigen Pullover mit V-Ausschnitt gezogen hatte. Kai wollte nicht ebenfalls helle Sachen anziehen und zog sich deswegen hektisch noch einmal um, während er Pascal in der Küche mit der Katzenuhr allein ließ.

In den Straßen wurde es schnell grau und düster, die ersten Raketen zischten zwischen den Häuserzeilen empor, diverse Sorten von Knallern musste Kai schon seit Tagen immer wieder hören, sodass er sich schon gar nicht mehr erschreckte.

Endlich hatte Kai sich für einen schwarzen Pullover entschieden und die schwarze Hose, in der er Jan so gut gefiel und zeigte Pascal sein Zimmer, während dieser ihm von der Pein, farblich zu seinem Sofa passende Vorhänge zu finden, vorjammerte. Dann begann Pascal Kais Zimmer zu loben.

"Hellgrün, das ist wirklich toll. Und entsprechende Lampen hast du auch, genial. Das Bett hast du mit deinem Mitbewohner selber lackiert? Wow, das sieht echt toll aus. Passt auch alles zusammen. Wirklich klasse, Kai."

"Ja, ist auch mein ganzer Stolz. Wenn ich nur ordentlich sein könnte." Kai räumte noch die restlichen Klamotten in seinen Kleiderschrank, als Pascal mit einem Mal im Lob zu dem Mut auf diesen absolut antiquierten Computer verstummte.

"Passi, wollen wir vielleicht gleich… los?" Kai drehte sich zu seinem Freund um und sah, dass dieser auf die Fotos an der Wand neben seinem Bett starrte.

Kai trat zu ihm und deutete auf die gerahmten Bilder. "Das sind Kommilitonen von mir. Holger ist sehr nett, er steht auf Tini. Das ist diese da, die steht leider auf mich. Sie veranstaltet die Party heute."

Pascal betrachtete Tini und lächelte. "Sie sieht doch aber sehr hübsch und total nett aus."

"Nett? Na, warte es mal ab, sie ist sehr aufdringlich. Wenn sie was will, dann nervt sie so lange, bis man sie einfach machen lässt, um seine Ruhe zu haben." Kai wollte nicht länger über Tini reden, weswegen er ablenkend zum nächsten Bild überging. "Das sind mein Mitbewohner Lolli, sein Freund Frank und ein gemeinsamer Freund von uns, Lukas, bei Lollis Geburtstagsfeier letztes Jahr. Ich hab das aufgehängt, weil meine Augen ausnahmsweise einmal nicht zugekniffen waren darauf."

Kai streifte die Bilder noch einmal mit einem Blick, dann endete er leise "Das ist Jan. Da sitzen wir zusammen auf dem Unigelände auf dem Rasen und versuchen zu lernen." Es war ein schönes Bild. In Jans Augen sprühten die goldenen Funken fröhlich und Kai und er sahen gut aus zusammen. Jan hatte an dem Tag ausnahmsweise sogar ein sehr nettes Shirt angehabt, und Kai war vom Sommer noch einigermaßen gesund getönt.

Pascal betrachtete die Bilder noch einmal der Reihe nach, dann nickte er leicht "Ihr seht gut aus zusammen, auch wenn ich ihn nie so eingeschätzt hätte."

"Lolli sagt noch immer ab und zu Hete zu Jan und Lukas… naja, die beiden hassen sich ja ohnehin."

Pascal ließ sich auf Kais Bett nieder und sah ihn an. "Lukas?" Sein Blick glitt erneut suchend über die Bilder. "Wieso hassen sie sich? Deinetwegen?" Er studierte Kais Gesicht und schloss, während Kai noch nach einer Ausrede aus der Zwickmühle suchte "Ah, Lukas ist der, von dem du mir erzählt hast?"

Kai nickte leicht, gegen seinen Willen. "Ich… muss noch mit ihm reden. Ich hab ihn nach dem letzten Streit mit Jan unfair behandelt."

"Aber du hast nichts mehr mit ihm, oder?" Interessiert betrachtete Pascal das Foto erneut, auf dem Lukas sich über die Sofalehne zu Lolli und Kai beugte, um in die Kamera zu lächeln, als sei er ein Star.

Kai folgte seinem Blick und seufzte. Natürlich hatte Lukas auf dem Bild ein enges Hemd an, das seinen Körper vorteilhaft ausstellte, er zeigte natürlich sein Tattoo und sah natürlich unverschämt sexy aus. Mit einem Mal fragte Kai sich, wie er Lukas nur so hatte abservieren können.

'Ich muss mich wirklich bei ihm entschuldigen, die Stimmung war einfach nicht gut für Gespräche gewesen, und er hat ja Recht. Ich hab es ihm verziehen, dann kann ich das nicht jedes Mal wieder aufwärmen, wenn ich sauer auf ihn bin.'

Zu Pascal gewandt meinte er "Ich denke, dass wir schon los können. Wenn du magst, kannst du ja hier übernachten. Du hast doch Zeug mitgebracht, oder?"

"Zur Sicherheit ja, aber ich kann mir bestimmt auch ein Taxi nehmen, wenn die Party vorbei ist. Das wird doch kein Problem sein."

"An Silvester? Ein Taxi? Passi, wo lebst du eigentlich? Aber egal. Wir gehen erst mal hin und schauen dann weiter, okay?"

Sie gingen mit gegen den Schnee, der ihnen hart in das Gesicht peitschte, geduckten Köpfen bis in die Raukestraße vor. Pascal hielt mit zum Schluss schon blau gefrorenen Fingern die Flasche Champagner umklammert, die er mitbringen wollte, aber Kai konnte sich nicht dazu bewegen, sich am Tragen zu beteiligen, es war einfach zu kalt für heroische Hilfsangebote. Unendlich dankbar kuschelte er sich in die Jacke, die er von seiner Mutter zu Weihnachten bekommen hatte und genoss den Geruch von neuem daran.

Als sie ankamen, brannten die Partylämpchen von Tini in dem einen Fenster, diese saß auch gleich im Eingang an einem Tischchen, um dort den Eintritt zu kassieren. Sie sah auch erfroren aus und trug einen dicken Pullover, soweit Kai sie hinter Getränkekisten und einem Pappschild mit Hinweis auf die Toiletten erkennen konnte.

Er stellte Pascal vor und wunderte sich, wie charmant dieser mit Tini redete, wie freundlich zuvorkommend er sein Kleingeld zusammen kramte, damit sie mehr zum Wechseln hatte. Endlich überreichte er ihr sogar noch die Flasche Schampus.

Genervt wendete Kai sich ab, als ein eisiger Luftschwall an seinen Beinen ihm verriet, dass jemand neues kam und die Tür geöffnet hatte. 'Um zwölf werde ich mir alles hübsch von drinnen ansehen. Rausgehen? Zu besoffenen Idioten, die frieren, saufen und sich mit Knallern bewerfen? Nein danke!'

Kai wollte der Kälte weiter ausweichen und hatte Pascals Ärmel schon ergriffen, als Tini aufsprang und kindisch hopsend winkte. "Lukas! Super! Das Bier ist endlich da!"

Kai fuhr wie gestochen herum, kam sich doof dabei vor, weil es nun wirklich mehrere Lukas' geben konnte und erstarrte, weil es sich in der Tat doch um seinen Lukas handelte, der mit je einer Kiste Bier pro Hand in den Raum schritt.

Gelähmt vor Schreck beobachtete Kai wie Lukas die Kisten absetzte, um Tini auf die Wange zu küssen. Lukas beachtete ihn nicht, sondern nahm die Kisten wieder auf, um damit zur Bar weiter zu gehen. Er ging noch vier Male an Kai und Pascal vorbei, sah Kai kein einziges Mal an dabei. Beim fünften Mal reichte es Kai und er folgte Lukas in den dunkleren Raum hinein, in dem einige wenige Leute sich an die Tische verteilt hatten und auf die leere Tanzfläche starrten.  

"Lukas!"

Lukas drehte sich halb um und nickte leicht. "Kai. Hallo." Die Stimme war flach, auf idiotisch freundliche Art abweisend und herablassend.

'Scheiße, er ist sauer auf mich.' "Ich… ehm… woher kennst du Tini?" 'Idiotidiotidiot… So eine Scheiße! Das wollte ich doch gar nicht sagen, verdammt!' Kai nagte wütend auf seiner Unterlippe, aber Lukas seufzte und drehte sich um, von ihm weg. "Wir sind im selben Fitnessstudio. Sie ist Spinning Instruktor."

Kai blinzelte und warf einen Blick zu Tini zurück, die einigen anderen aufkreischend um den Hals fiel. "Oh, aha. Weiß sie zufällig, dass du…?"

"Nein." Lukas zog seine Jacke aus und warf sie zu den anderen auf einen Haufen. Kai folgte seinem Beispiel, um etwas zu tun zu haben. Er beobachtete unsicher, wie Lukas die Ärmel seines roten Hemdes zu den Ellenbogen aufrollte, wie er sich eine Zigarette nahm und gemächlich entzündete. Er selber begann an einigen Pappbechern rumzufriemeln. "Lukas, ich… wollte…"

"Hey! Lukas! Hier sind die beiden, die sich für ein Bild auf ihrem Wohnwagen interessieren! Kommst du mal eben?" Tini winkte ihnen zu, hopste schon wieder so albern herum.

Lukas nickte und ging einfach weg. Kai blieb ertaubt stehen und senkte den Kopf. 'Er ist wirklich sauer auf mich. Wieso tut das jetzt weh? Was soll ich denn tun? Ich will nicht, dass er so ist zu mir. Ich will aber auch nicht, dass er jetzt denkt, dass ich… ihm nachrenne. Das will ich erst recht nicht. Scheißparty!'

"Kai? Das ist doch der Typ von dem Foto, nicht?"

Kai fuhr herum. 'Passi!' "Oh, Passi. Entschuldige, ich wollte ihn grad nur was fragen. Ja, das ist Lukas."

Pascal folgte Lukas mit grüblerischer Miene. "Ist er wirklich auch… ich meine…?"

Kai nickte leicht. "Ja, soweit ich weiß, ausschließlich." Nachdenklich folgte er Pascals Blick zu Tini, die aufgedreht um Lukas und einige andere herumhüpfte.

Sie trug einen engen Rock und Stiefel bis zu den Knien, zu denen der unförmige Pullover merkwürdig deplatziert wirkte, aber ihr Gehopse ebenso, alles an ihr wirkte wie bei einem überdrehten Spielzeug. Kai sah zu Pascal zurück und schlug mit einer Geste zur Bar vor "Lass uns mit dem Betrinken anfangen, der Abend scheint dazu gemacht zu sein. Die Bowle soll lecker schmecken."

Und das taten sie dann auch. Kai und Pascal betranken sich genau im richtigen Maß. Kai wurde albern und schmusig und Pascal ließ ihn, machte sogar mit. Zuerst tanzten sie ausgelassen mit einigen anderen zu Oldies und Schlagern. Auf der Tanzfläche wurde es bald zu voll, sodass die Esstische noch zur Seite geräumt wurden, um mehr Platz zu schaffen. Dort auf den Tischen an der Wand saßen Kai und Pascal dann dicht nebeneinander, schmusten hemmungslos im Schutz der Dunkelheit und kicherten über den größten Unsinn.

Nach einer Weile vergaben sie Noten für den bestangezogensten Mann, für den mit dem nettesten Hintern, für den, der am allermeisten Hete schrie, für den, der am allermeisten Tunte schrie. Kai hielt sich den Bauch vor Lachen, es war herrlich. Niemandem fiel auf, dass sie sich so nahe waren, dass sie sich nicht selten streichelten, sich in die Augen sahen, und keinen interessierte, worüber sie so kicherten.

Erst um zwölf bekam Kais Laune einen Dämpfer. Alle gingen hinaus und er und Pascal beschlossen, sich dreinzufügen und auch eine Runde zu frieren und Knallern auszuweichen. Als es leerer im Raum wurde und sie noch nach den Jacken wühlten, küsste Kai Pascal auf die Wange, als keiner hinsah und Pascal drückte ihn lachend an sich. Erst draußen, im Trubel mit den anderen, die einander zuprosteten, sah Kai zum einen Tini wieder und zum anderen Lukas.

Tini hatte nach einer Weile drinnen ihren Pulli ausgezogen und ein rotes Glitzertop enthüllt, das ihren Busen ausstellte. Kai war ihr geschickt ausgewichen und hatte das Glück, dass sie einfach zu viele Leute kannte und zu beschäftigt war für die paar Stunden bis zwölf.

Doch auf dem Hof, zwischen all den Leuten, die Sekt- und Schampusflaschen rumgehen ließen und mit 'oh' und 'ah' das Feuerwerk anerkennend kommentierten, konnte er ihr natürlich nicht entkommen.

Tini schlang ihre Arme um Kais Hals und drückte ihn fest an sich. "Frohes neues Jahr, Kai!", schrie sie ihm betrunken ins Ohr und küsste ihn auf die Wange. Sie umarmte dann zu seinem Glück gleich noch Pascal, der es lachend geschehen ließ und ihr einen Schluck von seiner Flasche anbot, dann lief sie schwankend weiter und Kai war wieder sicher und begann zu frieren.

"Passi, ich geh rein, ja?"

"Ich bleib noch ein bisserl, ist luschtig hier." Pascal hatte definitiv seinen Anteil Alkohol intus. Kai drückte ihn kurz und wandte sich rasch fort, um nicht noch aufzufallen.

Erst als Kai sich umdrehte, sah er Lukas. Der stand ein wenig abseits, in der Tür nach drinnen und rauchte. Der rot glühende Punkt erhellte sein Gesicht ein wenig und Kai zögerte nur einen winzigen Augenblick. Einmal sah er noch zu Pascal zurück, aber der war gerade dabei, mit zwei Mädchen die Flaschen zu tauschen. Schampus gegen ein süßes Mixgetränk.

Kai ging schnell zu Lukas hin und griff nach ihm, hatte Angst, dass er ihm entkommen konnte. "Bitte… Ich… bitte, lauf nicht wieder weg."

Lukas sah ihn an und lächelte leicht. Er trat die Zigarette aus, dann umarmte er Kai und sagte an sein Ohr "Frohes Neues." Es klang freundlich, gar nicht mehr so herablassend abweisend.

Kai schloss die Arme fest um Lukas und drückte ihn ebenfalls an sich. "Wünsche ich dir auch, Lukas", erwiderte er leise. Als Lukas ihn wieder losgelassen hatte, fuhr er fort "Bitte sei nicht mehr sauer auf mich. Ich… weiß, dass es…"

Lukas unterbrach ihn mit einer Handbewegung. "Du hattest Recht. Ich wollte es nicht sehen und du hast so krass sein müssen, damit ich was schnalle. Du stehst nun mal nicht auf mich, ich zu sehr auf dich. Das lässt sich nicht ändern, Engel."

Kai senkte den Kopf und lehnte sich in Lukas' Nähe an die Wand. Ein besonders lauter Knaller ließ ihn zusammenzucken, dann seufzte er "Wenn es so einfach wäre."

"Was daran ist denn einfach?"

"Das meinte ich nicht. Es ist nur so… ich mag dich, sehr. Zu sehr. Aber zugleich weiß ich, dass es falsch ist. Verstehst du?"

Lukas' Hand ballte sich zur Faust und er knurrte "Nein, wie immer verstehe ich dich nicht."

Kai warf einen unsicheren Blick auf die anderen und Lukas zog ihn an einem Arm nach drinnen, zu der Toilette hin, wo noch niemand war.

"Es ist so, dass ich nicht so bin, wie du denkst. Ich bin nicht so…", begann Kai.

Lukas' Arm um seine Schultern lenkte ihn zu dem Getränkeautomaten und daneben an die Wand. "So grausam unsicher, so berauschend schüchtern, so erregend zurückhaltend?" Lukas' Stimme hatte wieder diesen Raubtierklang, der Kai eine Gänsehaut den Rücken runtersandte. "So wehrhaft, dass man dich immer wieder angreifen will, und dann doch so schwach, dass man den Moment, in dem du zu schwach geworden bist und statt einem Angriff viel mehr einen Schutz brauchst, verpasst? Kai, du bist unverständlich für mich, vollkommen unverständlich."

Kai errötete und schüttelte den Kopf. "Ich will dich nicht verletzen, aber… geht es denn anders? Ich kann Jan nicht untreu sein, das geht nicht. Aber du redest doch immer nur von Sex." Wieso ging es eigentlich nicht? Ja, sie konnten wirklich nicht in einem Raum zusammen sein, ohne dass es zu knistern anfing, grundlos zumeist. Wieso konnten Lukas und er nicht so einfach und locker rumschmusen, albern sein, sich sogar küssen, ohne dass es gleich gefährlich werden musste? Mit Pascal ging das so hervorragend, wieso nicht mit Lukas?

"Du bist nun mal Sex für mich, Kai. Warum begreifst du nicht, welche Wirkung du hast? Du denkst immer so unschuldig, aber deine Blicke, deine Körpersprache… schau dir nur allein an, wie du hier stehst."

Kai starrte nach einem verwirrten Blinzeln an sich herab. Er hatte sich mit der Hüfte an die Wand gelehnt und die dicke Jacke noch an, die Arme locker verschränkt. Wo war er denn Sex in diesem Moment? "Wo denn bitte?"

Lukas lachte auf. "Sowenig wie ich dich verstehe, verstehst du mich. Deine Haltung. Auffordernd und doch abweisend zugleich. Ich kenne niemanden, der das kann. Mit den Augen und dem Mund 'Komm, nimm mich' und mit dem restlichen Körper 'Verpiss dich' sagen. Das bist du, Kai."

"Bin ich nicht! Ich bin… normal." Nun klang Kai kindisch und das wusste er. Aber natürlich war seine Unterhaltung mit Lukas wieder in vollkommen falsche Bahnen gelaufen und es ärgerte ihn auf eine kindische Art.

Pascal unterbrach sie. Er schwankte schon leicht und grinste betrunken. "Hallo! Frohes Neues! Kai, soll ich deine Jacke nehmen? Ich geh zu unserem Sitzplatz zurück."

Lukas legte den Kopf schief und betrachtete Pascals Gesicht intensiver als nötig. Er trat einen Schritt vor und lächelte überfreundlich. "Hallo, wir kennen uns noch nicht wirklich, denke ich. Ich bin Lukas, ein Freund von Kai."

Pascal wurde ein wenig rot und antwortete hektisch "Pascal, ich bin ein Schulfreund von Kai. Bin gerade hergezogen."

Lukas lächelte strahlend, ignorierte die gereichte Hand und umarmte den vollkommen verwirrten Pascal fest. "Frohes Neues, Pascal."

Pascal hatte es hinterher erstaunlich eilig, mit den Jacken zu verschwinden. Lukas lehnte sich neben Kai an die Wand und stellt heimtückisch fest "Niedlich, der Kleine. Habt ihr was?"

Aggressiv stieß Kai sich ab und baute sich vor Lukas auf. "Rühr ihn nicht an! Ich warne dich! Wenn du ihn auch nur falsch anschaust, dann rede ich wirklich nie nie nie wieder mit dir! Er hat genug… erlebt." Und er fühlte sich wirklich stark in dem Moment. Er wollte wirklich nicht, dass Lukas Pascal zu nahe kam, ihn falsch behandelte, dass Pascal noch einmal etwas passierte, wie zuvor.

Lukas hob seine Hände und lachte. "Nana, Kai. Ich werde ihn gern in Ruhe lassen. Kein Grund zur Panik. Ich fühl mich ja schon wie der böse Wolf bei all deinen Anschuldigungen immer." Er zog Kai locker mit einem Arm dichter zu sich heran. "Redest du denn nun wieder mit mir, mein Rotkäppchen, hm?"

Kai wollte etwas wütendes sagen, aber Lukas umfing sein Gesicht mit einer Hand und küsste ihn. Erst seinen Mund, dann die Wange entlang und bis ans Ohr "Frohes neues Jahr, Engel."

Er ließ Kai los und nickte zum Partyraum hinüber. "Lass uns weiterfeiern, ja? Ich will dich noch mal tanzen sehen, sexy."

Kai wurde rot so gut er konnte und versuchte sich zu erinnern, wie er denn bitte getanzt hatte. "Wenn du so weitermachst, Lukas, dann trau ich mich nicht mehr. Ich fühl mich schon ganz komisch."

Lukas lachte leise. "Und wie du jetzt schmollst, wow. Kai, du verstehst mich immer noch nicht. Es ist vollkommen egal, was du tust, ich werde dich sexy finden. Immer." Er gab ihm einen derben Klaps auf den Po. "Aber jetzt geh erst mal mit deinem Freund spielen, der langweilt sich schon." Er lehnte sich zu Kai hin und sagte schnell noch "Das fand ich auch sexy, euch zwei zuzusehen."

"Lukas!" Kai stolperte wütend und verwirrt, aber auch ein wenig erleichtert, dass Lukas ihn wieder mochte, zu Pascal zurück und amüsierte sich wirklich noch bis vier Uhr ganz köstlich, auch wenn er sich der Blicke von Lukas nun bewusst war.

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