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Trost

Kapitel 31-34

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 31

Kai konnte es nicht über sich bringen, mit Jan darüber zu reden, wie sein letztes Gespräch mit Lukas verlaufen war. Es war allerdings auch kaum möglich, da Jan viel mit einem Hallenfußballturnier zu tun hatte und Kai gleich nach der Klausur am Freitag zum Altenheim hetzen musste, um seine Schicht pünktlich zu erreichen.

Am Samstagmorgen verfluchte er Jan, der ihn ja dazu gebracht hatte, die Frühschicht zu wählen, damit sie noch an die See fahren konnten. Grummelnd rollte er sich um fünf in der Früh aus dem Bett und zog sich im Halbschlaf seinen besonders warmen Pulli über. Missgünstig starrte er den schlafenden Jan an, der sich davon leider nicht beirren ließ.

Als er gerade gehen wollte, war Jan wach geworden und hielt ihn an der Tür auf. "Du hast schon alles gepackt, nicht?"

"Hm."

"Dann hol ich dich dort ab. Das Heim liegt ja auf dem Weg zur Autobahn."

Kai nickte leicht, ohne wirklich zugehört zu haben. "Ist gut."

Lustlos schlurfte er zur S-Bahn. Erst als er auf der Arbeit bei der Übergabe der Bewohner von der Nachtwache saß und Kaffee trank, wurde ihm klar, dass Jan ihn abholen würde, dass seine Kollegen sehen würden, dass er einen Freund hatte. 'Oder vielleicht auch nicht? Vielleicht sehen sie ja auch nur, was sie sehen wollen.'

Die Schicht war grauenhaft, begann gleich mit der Weigerung der einen Oma aufzustehen, fuhr damit fort, dass die Grippe, die auch Kai gehabt hatte, das Heim erreichte. Zwei seiner Omas klagten über Bauchkrämpfe, eine musste gar ins Krankenhaus und eine erbrach sich beim Mittagessen mehrmals, was andere auch ansteckte und insgesamt mehr als ekelig ausartete.

Fluchend zerrte Kai zwei seiner Schützlinge nach dem missglückten Essen deswegen vom Speisesaal zum Bad und zu deren Zimmern. Er würde sie noch umziehen und waschen müssen, bevor er fahren konnte. Das bedeutete eine Verzögerung der Pläne für das Wochenende.

"Scheiße, Frau Müller. Sie merken doch, wenn ihnen schlecht wird." Die Angesprochene kicherte albern, die andere begann von Blumen zu singen. Es schien einmal wieder einer dieser Tage zu sein. Kai verdrehte die Augen und stopfte die Müller in ihr Zimmer, um die andere erst einmal zu duschen.

'Und das, wo Erbrochenes wirklich der Untergrund ist! Ich hasse meinen Job.' Die kleine Oma sang auch unter der Dusche vor sich hin, während Kai zu der schiefen Melodie 'Ich hasse meinen Job! Hasse, hasse, hasse ihn…' vor sich hindachte.

Endlich kam er in das Zimmer von der Frau Müller. Diese hatte sich schon bis auf die Unterwäsche entkleidet. Der Rock hing über der Lampe, die Schuhe waren im Waschbecken und sie selber trank Wasser aus einer Blumenvase.

"Oh bitte, bitte nicht heute!" Kai entriss ihr hastig die Vase und schimpfte, während er frische Kleidung aus dem Schrank suchte "Sie kann man wirklich nicht eine Sekunde allein lassen!" Dann versuchte er es freundlicher, mit Affengeduld ging es manchmal. "Wollen sie den gelben Rock?"

"Neinneinnein."

"Die Hose vielleicht?"

"Nein!"

Er stöhnte und zog einen schwarzen Rock heraus. "Und dieser…?"

Eine eher kindische Stimme unterbrach ihn inmitten des nächsten Angebotes. "Neinnein…"

"Der hier ist bestimmt auch noch warm genug, Frau Mü…"

"Der gehört nicht mir! Neinnein."

"Das sind alles ihre Sachen, Frau Müller."

"Nein!"

Kai senkte den Kopf und sammelte sich ein wenig. "Gut, dann also anders“, murmelte er gepeinigt und fuhr zu ihr herum. "Verdammt noch mal, Anneliese. Ich habe nicht mehr viel Zeit! Entweder du nimmst den schwarzen, oder den gelben Rock, ansonsten suche ich einen aus, klar?!"

Sie mit dem Vornamen anzuschreien war für gewöhnlich nur der letzte Ausweg, auch dieses Mal half es. Sie schnüffelte beleidigt und deutete auf den gelben Rock und eine farblich nicht besonders gut passende Bluse, dann wandte sie sich ab und nahm noch einen Schluck aus der Vase, um sich zu beruhigen.

Kai entriss ihr diese noch zwei Male, bevor er auch frische Unterwäsche und Strümpfe gefunden hatte. Dann trat er zu ihr und fing mit einer Hand ihre abwehrenden Arme ein, mit der anderen langte er hinter sie, um den BH zu öffnen, der auch einiges abbekommen hatte.

Er hatte gerade die erste Öse geöffnet und ihr "Nein, nein, nein…" Geschrei ausgeblendet, als die Tür aufging und seine Kollegin Jan zu ihm ins Zimmer schob. "Hier ist unser Kai. Anneliese macht ihn fertig, wie ich höre." Sie lachte rau und mitleidslos auf und schloss die Tür hinter Jan wieder, ohne ihm Hilfe anzubieten.

Kai linste über Annelieses speckige Schultern und verlor eine Hand aus seinem Griff. Sogleich wurde er schmerzhaft am Haar gezerrt, aber ließ nicht locker und hatte den BH ausgezogen, bevor sie seine Haare ausreißen konnte.

"Ich bin gleich soweit, ich muss nur noch Frau Müller umziehen und aufs Bett legen, „ entschuldigte er sich bei Jan, um an Anneliese gebrüllt fortzufahren "Verdammt, halten Sie mal still! Nein! Die Haare loslassen, ich mag das nicht!"

"Du kannst einen BH hinter dem Rücken einer sich wehrenden Frau mit einer Hand ausziehen? Das ist einer mit drei Haken. Wow, Kai. Ich bin total beeindruckt. Du würdest Frauen begeistern." Jan lachte und reichte ihm die Klamotten an und hielt die Hände der Oma ab und an von seinen Haaren fern. "Vielen Dank. So den anderen Arm. Ja, jetzt wird alles wieder gut, nicht?"

Anneliese schnüffelte ein wenig. Wenn sie angezogen war, dann war sie für gewöhnlich friedlicher. Kai seufzte und streichelte der Oma einmal über den Rücken, bevor er sie komplett anzog und dann unter einer Wolldecke auf dem Bett verstaute.

"Das ist Frau Müller, Anneliese. Sie hatte einen Hirntumor und ist seit der OP… komplett wallawalla."

"Ah."

"Leider ist sie abwechselnd kindisch und aggressiv." Kai zog sich Handschuhe an und nahm die verdreckten Klamotten auf. "Mir hat sie schon mal so heftig in den Arm gekniffen, dass die Stelle eine halbe Stunde lang taub und zwei Wochen lang blau war. So, schlaf schön, Anneliese."

Anneliese summte leise vor sich hin und suchte das Zimmer mit Blicken nach der Vase ab.

Kai trat wenig später mit Jan an den runden Tisch, an dem die Spätschicht bereits mit Kaffeetassen und Zigaretten bewaffnet herumsaß und verkündete seinen Kolleginnen "Ich will gleich los, deswegen sag ich mal schnell an: Zimmer zwei, sieben und acht haben Magengrippe und kotzen, Zimmer neun ist noch im Krankenhaus auch wegen Kotzen. Ich hoffe, dass es bald aufhört. Anneliese hab ich eben komplett ausgezogen und Martha musste ich duschen, die hat gleich dazu noch Durchfall."

Seine eine Kollegin entließ Rauch aus ihrem Mund und murmelte "Scheiße. Alles voll, ja?"

"Ja, aber dafür hab ich die Schränke mit grünen und gelben Windeln aufgefüllt und die Sondennahrung von der Frau Schmidt schon ausgeräumt. Wieder alles Vanille, vielleicht muss da mal jemand in der Apotheke anrufen, dass die das besser mischen."

"Hm, du bist so fleißig, Kaichen. Noch was? Du willst los, nicht?"

"Ja, wenn es recht ist. Ich hab die Klamotten von Anneliese und Martha in die Waschmaschine geworfen, geht nicht anders."

"Alles klar. Und? Wie heißt dein Freund?"

Jan trat dichter an den Tisch und stellte sich mit Vornamen vor, worauf er gleich gefragt wurde, ob er nicht auch Lust hätte, zu arbeiten. Jan lachte nur und lehnte dankend ab.

"Ach Kai, nächstes Wochenende kannst du nicht?"

"Nein, meine Oma hat Geburtstag gehabt, der wird mit dem meiner Tante zusammen gefeiert."

"Na gut, wir rufen dich dann noch mal wegen des Dezembers an, die Feiertagsliste ist noch nicht fertig."

"Hm. Ich kann Weihnachten, Silvester hätte ich gern frei, wenn das geht."

"Geht bestimmt."

"Viel Spaß dann!"

Als sie in den Wagen gestiegen waren, küsste Jan Kai einmal kurz auf die Wange und murmelte "Tut mir leid, dass du so hetzen musstest."

"Schon okay. Ich mag lange Übergaben nicht. Die rauchen und labern eh nur rum."

"Hm." Jan fuhr an und fragte erst auf der Autobahn, als sie ein gutes Tempo erreicht hatten "Wieso wolltest du Weihnachten arbeiten und nicht Silvester?"

Kai war mit Blicken den Scheibenwischern gefolgt und bereits ein wenig weg gedöst, im Auto wurde er immer so schnell müde. Er zerrte den nun zu warmen Pulli erst einmal über seinen Kopf und strich sich glättend über die Haare, bevor er zurückfragte "Wieso nicht? Weihnachten mit meinen Eltern ist die Hölle, das Gehalt ist das Dreifache und ich bin dann sowieso lieber hier. Silvester wollte ich gern in der Stadt feiern. Du nicht?"

"Ich bin über Silvester Skifahren."

Kai öffnete den Mund einmal, dann schloss er ihn wieder. 'Scheiße. Wann bitte wolltest du mir das denn mal mitteilen?!' Laut fragte er gleich darauf. "Aha, von wann bis wann denn?"

Jan überholte gelassen, dann erwiderte er "Vom zweiten Weihnachtstag bis zum fünften Januar."

"Aha." Kai kniff die Lippen zusammen und dachte daran, dass er sein Silvester im Geiste irgendwie mit Jan gesehen hatte.

"Ich… wie lange hast du das denn schon geplant?"

Jan lenkte mit einer Hand und fummelte am Radio herum "Dafür hab ich mich vor ein paar Tagen beim Unisport eingetragen. Ich war noch nie in Norwegen, mal sehen, wie das wird." Er hob die Hand und wollte Kai über die Schultern streicheln, doch Kai wandte sich ab und verschränkte die Arme.

"Ist was, Baby?"

"Ist was? Ist was?! Ja! Wieso hast du mir das nicht gesagt?!"

"Wieso? Weil ich dachte, dass du auch fort bist über Weihnachten."

Jan sah ihn kurz aber deutlich verwundert an, das ärgerte Kai noch mehr. "Was?! Ich hätte es nur gern gewusst, jetzt muss ich mich um mein Silvester kümmern. Toll!"

Jan schwieg, überholte zwei Laster, dann murmelte er "Entschuldige, Baby. Ich fahre jedes Jahr über Weihnachten Ski. Es war so gewohnt für mich, dass ich nicht daran gedacht habe."

Sein Gesicht hellte sich einen Moment lang auf, als er hoffnungsvoll fragte "Hey! Willst du vielleicht mitkommen?"

Kai starrte wütend auf die nasse Straße vor ihnen. "Nein, vielen Dank. Ich will arbeiten, damit ich leben kann."

Jan seufzte ein wenig genervt und legte seine zweite Hand wieder auf das Lenkrad zurück. "Na gut."

Sie schwiegen die restliche Fahrt beinahe nur noch. Kai schmollte und Jan war still. Freundlich, aber still. Er schob nach einer Weile eine CD in das Gerät und eine eher träge Musik umhüllte Kai, ungewohnt, aber passend zu seiner Stimmung. Schräge und dann doch wieder harmonische Klänge, eine auffällige Frauenstimme.

Endlich hob Kai den Kopf und fragte betont uninteressiert "Was ist das für Musik?"

Jan lächelte jedoch wissend "Das bist du irgendwie, nicht wahr? Rate mal."

"Ich will nicht raten, verdammt!"

"Dann nicht. Portishead. Wir sind ja gleich da."

Jan fuhr tatsächlich von der Autobahn ab und nach einer kleinen Strecke an einem unschönen Industriegebiet vorbei, durch bereits dämmrige Straßen, an die Kai sich nicht mehr erinnern konnte. Von seinem ersten Besuch in dem Kurort war ihm ohnehin nur Jan in Erinnerung geblieben.

Doch als sie an das Ferienhaus kamen, erkannte Kai es wieder. Die Außenrollläden waren heruntergelassen, es wirkte in dem stetigen Nieselregen wie eine abweisende, aber zugleich ängstlich geduckte Festung.

Jan parkte den Wagen vor der Garage, ein Scheinwerfer wurde ausgelöst und flutete den Parkplatz mit grellem Licht. Kai kletterte mit steifen, müden Beinen aus dem Wagen und zerrte lustlos an seinem Rucksack, mit dem er sich schnell in Richtung des Hauseinganges flüchtete. Jan fuhr den Wagen, nachdem er dort ein wenig herum geräumt hatte, in die Garage und Kai stand beleidigt auf der Haustreppe.

Die Luft roch salzig und spröde, die Feuchtigkeit, die vom Wind um die Hausecken gegen Kais Beine getrieben wurde, ließ ihn zittern und sich schutzlos fühlen. Sie kroch ihm gleich in die Klamotten und Schuhe. Er sehnte sich nach einem Bett und Schlaf und wollte Jan davon abgesehen gern ausgiebig anschmollen.

Endlich schloss Jan die Tür auf, sicherte die Alarmanlage und ging vor ihm in das Haus. Es war kalt, ungeheizt und dunkel. "Wir müssen erst mal die Heizungen überall anstellen. Bis es hier warm genug ist, können wir im Hafen was essen gehen, okay?"

"Hm."

Grummelig verschwand Kai aufs Klo und zog sich einen zweiten Pullover über, während Jan im Wohnzimmer umherkramte, im Obergeschoss die Taschen forträumte und ihn dann energisch mit sich in die Innenstadt schleifte.

Regen setzte ein und wurde von einem besonders unangenehm scharfen Wind durch die Straßen gepeitscht. Kais Laune senkte sich weiter. Seine Füße waren von Anfang an nass und wurden von der Kälte allmählich taub, seine Finger waren ohnehin schon gefühllos.

Zutiefst missmutig trottete er hinter Jan her, der sich merkwürdigerweise davon nicht irritieren ließ. Endlich kamen sie bei einer kleinen Kneipe an, in der es auch zu Essen gab. Jan erzählte, dass er mit seinen Eltern im Sommer sehr oft dort gewesen war und der Wirt begrüßte ihn auch mit "Moin, auch mal wieder im Lande?"

Über Backfisch mit Pommes und einem starken, heißen Kaffee ging es Kai dann schon wieder besser, so dass er sogar einigermaßen freundlich antwortete, als Jan ihm erklärte, dass er ihn einladen wollte. "Wir gehen am Strand zurück, bist du warm genug angezogen?"

Kai hob die Schultern und erklärte dann gähnend "Mir egal, ich will nur noch schlafen. Ich bin müde ohne Ende, Jan." Jan nickte, aber ging dann trotzdem mit ihm zum Strand hinunter, wo sie eine ungeschützte Holzpromenade entlang für wenigstens eine halbe Stunde gegen den Wind und scharfen, eiskalten Regen ankämpfen mussten.

Kai schlug sogar schon mit den Zähnen, als sie endlich wieder in der Straße anlangten. Er ließ sich von Jan mehr ziehen, als dass er noch selber ging. Sie gingen schon länger aneinandergedrängt, so dass er gar nicht weiter bemerkte, wann Jan den Arm um ihn gelegt hatte. Es war wärmer so und er hatte sein Gesicht enger an Jan geschmiegt. Ihre kalten Wangen berührten sich fast schon.

Sie waren den ganzen Weg allein gegangen, waren niemandem begegnet, doch direkt in der Straße kam ihnen ein Pärchen mit einem älteren Hund entgegen. Kai wollte sich aus Jans Griff befreien, doch dieser hielt ihn fest. Schlimmer noch, er blieb mit Kai unter einer Laterne stehen und zog seinen Schal zurecht. "Du bist noch nicht dick genug angezogen, Baby."

Kai seufzte und verfolgte aus dem Augenwinkel wie das ältere Paar sich ihnen näherte. Der Hund schnüffelte uninteressiert und schüttelte sich dann, wodurch er kurzzeitig wie eine dünnbeinige Klobürste aussah. Kai beobachtete ihn grinsend und war deswegen einen Moment lang abgelenkt gewesen. Genau diesen Moment nutzte Jan, um ihn zu küssen.

Kai erstarrte, doch Jan zog ihn schon weiter, den Fußweg entlang. "Das Haus müsste jetzt warm genug sein." Freundlich sah er den Leuten entgegen und grüßte mit "Guten Abend.", während Kai nur auf den Fußweg vor sich starrte. Die Leute sagten auch nur etwas Unverständliches und zerrten den Hund weiter den Weg entlang.

Als Jan die Tür vom Ferienhaus aufschloss, erklärte er leise "Das waren die Winters, die haben das gelbe Haus hier auf der Ecke."

"Du kanntest sie?"

"Ja."

"Hast du mich eben extra geküsst?!" 'Er wollte, dass sie uns sehen!'

Jan lächelte und zog ihn in den Flur "Natürlich extra, weil ich es wollte."

Kai ließ sich von Jan wie eine Puppe aus den nassen Klamotten schälen. "Komm schon, Kai, mach mal mit. Geh nach oben und zieh dir was trockenes an, meinetwegen den Schlafanzug, ja? Ich mach uns was warmes zu trinken."

Kai nickte und wankte zum Schlafzimmer von Jans Eltern, in dem sie schlafen würden.

Doch als er in das Zimmer kam, die gestreiften Vorhänge sah, das Bett und den Kleiderschrank mit der Spiegeltür, stockte er. Mit einem Schlag versetzte es ihn wieder in die Nacht, in der Jan und er in diesem Bett zusammen gewesen waren. Er schüttelte über die Intensität der Erinnerung verblüfft den Kopf und setzte sich langsam. Es war sogar dieselbe Bettwäsche gewesen, da war er sich sicher.

Er erinnerte sich an den Sex, natürlich, aber auch an das Vertrauen, das er an Jan schon immer so unendlich bewundert hatte. Jan hatte zugelassen, dass er mit ihm schlief, hatte es anscheinend sogar ein wenig genossen, und er hatte Kai etwas gegeben in der Nacht, das dieser nie mehr hatte verlieren wollen. Das Gefühl zu jemandem zu gehören.

Es war auch im Schlafzimmer kalt, so dass Kai durch sein Zittern aus der Erinnerung gerissen wurde. Hastig kramte er den Inhalt seiner Tasche auf den Fußboden, bevor er sich erinnerte, dass Jan seinen Schlafanzug in den Rucksack obenauf gelegt hatte.

Nach wenigen Minuten konnte Kai mit seinem Lieblingsschlafanzug und dicken Socken gegen die Kälte bewaffnet die Treppe runter und ins Wohnzimmer gehen. Jan kniete vor dem unpassend modern wirkenden Kachelofen, in den er noch Kohle nachschüttete und nickte zum Sofa hin, auf dem er schon eine Wolldecke ausgebreitet hatte.

"Setz dich, ich hol gleich den Glühwein."

"Glühwein? Willst du mich komplett nutzlos machen für drei Tage?"

"Nein, nur so niedlich und ankuschelig, für heute Nacht." Jan zwinkerte ihm zu, seine Augen leuchteten, das Feuer spiegelte sich in ihnen. Wieder erinnerte Kai sich an die erste Nacht, an die Blicke, die Jan ihm zugeworfen hatte, an die Fragen, an den Strandkorb und den ersten Kuss.

Ein Becher wurde vor ihm abgestellt und er zuckte zusammen. Jan hatte sich von hinten aus der Küche angeschlichen, Kai hatte nicht einmal gemerkt, wie er vorher rausgegangen war.

"Woran denkst du so intensiv, dass du meine Frage nicht hörst?" Jan beugte sich über die Rückenlehne des Sofas zu ihm rüber und Kai wurde rot. "An das erste Wochenende hier."

Jan sah ihn lächelnd an, dann legte er eine Hand unter Kais Kinn und küsste ihn lange. "Ich auch, schon die ganze Woche hab ich das."

Kai sah ihn lächelnd an. "Wirklich?"

"Ja natürlich. Wir sind immerhin vier Monate zusammen, seit heute. Das ist doch eine Feier wert, nicht?"

'Oh nein! Scheiße! Ich hab es… scheiße…' "Ach… ja…" Kai wurde noch röter. Er hatte nicht im Geringsten daran gedacht.

"Das macht nichts, Kai", erriet Jan seine Gedanken. "Du hast zu viel Stress. Ich freue mich nur, dass es geklappt hat, zusammen hierher zu kommen."

"Ja. Jetzt, wo ich nicht mehr nass und kalt bin, ist es eigentlich ganz in Ordnung", gab Kai zu und Jan wuschelte ihm durch die Haare. Er ließ gar nicht zu, dass Kai ein schlechtes Gewissen entwickelte, der ihm dafür unendlich dankbar war.

"Ich wollte dich eigentlich verwöhnen, aber nur, wenn wir uns einig sind, was die Schmollerei wegen des Skiurlaubs angeht."

"Ja, ach so." Es war typisch Jan, dass er es ausdiskutieren wollte und typisch für Kai selber, dass er es eigentlich lieber vergessen und später weiter schmollen wollte.

"Was ist jetzt? Willst du schmollen deswegen, oder nicht?" Kai grinste wider Willen, dann beschwerte er sich halbherzig "Doch, will ich! Dasnichfair!"

Jan stellte einen zweiten Becher vor sie hin, der schwere, süße Duft von Glühwein, Zimt und Orangen vermischte sich mit dem dumpfen Geruch nach Feuer und Kohle aus dem Kachelofen, bei dem Jan die gläserne Klappe offen gelassen hatte.

"Also hast du mir verziehen und lässt mich fahren, ohne rumzunölen?"

Kai grinste ihn ein wenig herausfordernd an. "Muss ich ganz ohne Nölen auskommen?"

Jan seufzte, dann hob er die Schultern. "Hast du denn Silvester auch noch ne andere Möglichkeit zu feiern, oder muss ich echt ein schlechtes Gewissen haben?"

"Ich kann Silvester bestimmt mit Lolli feiern. Frank ist auch nicht da. Das ist schon recht“, entließ Kai ihn nach einer kleinen Überlegung gnädig.

Jan atmete gespielt und vielleicht auch wirklich erleichtert auf. "Danke, Baby." Er küsste ihn noch einmal auf die Wange und reichte ihm dann den Becher und hob seinen ebenfalls an. "Dann trinken wir auf das erste Wochenende hier, ja?"

Sie tranken einige Schlucke und schwiegen. Saßen lediglich nebeneinander auf dem Sofa und Kai genoss sowohl das Schweigen, als auch die Nähe. Jeder schien in die Gedanken an das erste Wochenende am Meer vertieft. Jan brach das Schweigen, indem er an Kais Schulter zog und ihm leise vorschlug "Ich fang mit dem Verwöhnen an, wenn du willst."

Kai blinzelte in das Feuer, dann nickte er. "Klar will ich. Was hast du denn geplant?"

"Och, ich massier dir den Rücken, die Schultern und so ein wenig, und du liegst dafür flach wie eine Flunder hier rum und siehst schön aus. Willst du?"

"Was soll ich?" Kai wurde rot. 'Hat er 'schön' gesagt?!'

Jan drückte ihn bäuchlings auf das Sofa und zerrte an seinem Schlafanzug. "Ist es schon warm genug zum Ausziehen?"

"Ich sehe nicht schön aus, nur dünn und…" begann Kai zu protestieren, als er sein Oberteil folgsam abgestreift hatte. Jan erschreckte ihn in dem Moment mit kühlem Öl, das er reichlich auf Kais Schultern laufen ließ.

"Dünn? Du bist nicht dünn, nur…" Jan zögerte, seine flachen Hände verstrichen das Öl derweilen, ruhten einen Moment über Kais Hüfte, die Stellen wurden unnatürlich warm.

Kai hob den Kopf. "Ja? Was denn dann? Sag nicht unsportlich, das weiß ich auch so", mäkelte er, während Jans Finger gleich darauf mit kräftigem Druck seiner Wirbelsäule folgten. Jan strich ihm leicht über den Nacken, dehnte die Wirbel auseinander und Kai spürte nach und nach, wie seine Anspannung sich löste, er tiefer in die Sofakissen sackte. Jans Finger folgten seinen Muskeln langsam, mit Kraft, aber ohne zu schmerzhaft zuzufassen. Sein Atem streifte Kais Haut im Nacken von Zeit zu Zeit.

Nach einer kleinen Stille vernahm Kai ein nachdenkliches "Nein, ich wollte statt dünn lieber zart sagen. Fein."

Kai hatte die Frage zuvor schon vergessen und hob fragend den Kopf, bevor er sich erinnerte. 'Zart, fein? Ich? Das hört sich an wie Porzellan, ich bin kein…'   

Jan malte gerade eine Sonne auf Kais Rücken. "Was male ich?", unterbrach er Kais beginnenden Protest.

"Eine Sonne."

"Zu leicht, gut. Was ist das?"

"Hm, noch mal. Ein Stern?"

"Nein, ein Dreizack." Jan malte einfache Figuren und Buchstaben, lenkte Kai von den Gedanken ab, die ihn doch die ganze Woche und auch die Fahrt in dem Wagen über begleitet hatten.

Gedanken daran, ob er Lukas verletzt hatte, ob er das Recht dazu gehabt hatte, ob er nicht vielleicht doch hätte freundlich und vor allem etwas ehrlicher sein sollen. Er hatte es in dem Moment so gesagt, wie er es meinte. Er hatte mit Lukas Schluss gemacht, weil er keinen Spaß im Bett mit ihm gehabt hatte. Etwas beim Sex, eine Kleinigkeit vermutlich nur, war eben nicht perfekt gewesen. Am ehesten war diese Kleinigkeit einfach, dass er nicht Jan war. Das war alles, was Lukas falsch gemacht hatte.  

Jans Finger folgten der Wirbelsäule abwärts, ganz langsam, Wirbel für Wirbel mit kleinen Kreisen umschreibend. Sie schwiegen mittlerweile, Kai starrte auf das Feuer und spürte, wie angenehm leer sein Kopf wurde. Er war gerade maximal entspannt, als Jan seine Finger unter den Gummizug des Pyjamaunterteils schob und seinen Hintern zu streicheln begann.

Kai zuckte ein wenig zusammen, aber blieb lethargisch liegen, nicht fähig sich zu rühren. Zudem war es angenehm. Jan erzeugte durch sein weiches Streicheln ein Kribbeln auf der Haut, das nicht nur dort wirkte, sondern sich erregend in Kais Unterleib fortsetzte. Jan beugte sich über ihn und küsste seine Wange, gleichzeitig strichen seine Finger erneut über Kais Rücken und noch einmal wieder zu seinem Po zurück.

Kai drehte sich auf die Seite, um Jan noch einmal küssen zu können. Ohne die Lippen voneinander zu  lösen, legten sie sich nebeneinander auf das Sofa, rangelten sich zurecht. Kai ließ seine Finger unter Jans Pullover gleiten und Jan streichelte ihm weiter über den Rücken, umfasste seinen Po und begann ihn mit der Zunge an Mund und abwechselnd am Ohr zu necken.

Nach einer Weile legte Kai eine Hand an Jans Wange und schnappte sich grinsend seine Unterlippe mit den Zähnen. Ein schönes Spiel. Sie konnten das stundenlang machen, ohne dass Kai dessen müde würde; sich küssen, nur streicheln, dann wieder übereinander herfallen, sich gegenseitig mit den Zähnen und der Zunge bestürmen, um sich wieder zurückzuziehen.

Jan hatte jedoch noch andere Pläne. Er schloss die Augen, griff fester nach Kais Po und schob seine Finger zwischen dessen Beine, während er den Mund öffnete und seine Zunge einließ. Kai japste nach Luft, als er Jans Finger nicht nur an den Beinen, sondern gleich darauf höher, wesentlich intimer spürte.

Dass Jan ranging, war er gewohnt, aber an diesem Abend war die Stimmung anders. Was genau anders war, wusste er nicht, aber Jans Bewegungen, sein Streicheln, das Spiel mit den Küssen, alles war eine Spur intensiver.

Als sie die Küsse einen Moment lang unterbrachen, sah Jan ihn überraschend ernsthaft an. Sein Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an. Es ließ ihn älter wirken, vielleicht dadurch unterstützt, dass nur wenig Licht aus dem glimmenden Ofenfeuer zu ihnen auf das Sofa fiel.

Einen Moment nach diesem Blick direkt in Kais Augen, zu lang um einfach nur ein Blick zu sein, zu intensiv und ernsthaft dazu, fiel Jan erneut über Kai her und streichelte ihn nun direkt, umfasste ihn ohne Vorwarnung und zog sein Hüfte zu sich heran.  

Kai genoss die steigende Erregung, während Jan sich schamlos an ihn drängte, um endlich eine von Kais Händen auf seine Hose zu schieben. "Zieh mich endlich aus!" befahl gleich darauf seine durch den Flüsterton etwas heisere Stimme. Kai wurde von einer Gänsehaut überzogen. Zudem hatte Jan im gleichen Atemzug seine Pyjamahose herab gestreift.

Seine Finger arbeiteten fahrig an den Metallknöpfen der Jeans. Seine Erregung und Jans Erektion machten es ihm nicht leichter, die Hose überhaupt aufzubekommen. Endlich konnte er daran zerren und schob mit der Jeans gleich auch Jans Unterhose herunter.

Ihre nackte Haut aneinander zu bringen, war gleich darauf die eiligste Angelegenheit. Während Jan noch dabei war, die Hose vom Sofa zu kicken, umfasste Kai schon seine Hüften, um ihn gegen sich zu ziehen. Unerwartet warm fühlte Jan sich gegen Kais nackte Beine an. Der gleiche Gedanke schien seinem Freund auch zu kommen.

Während sie sich erneut küssten, rollte er sich und Kai ein wenig in die Decke und schlug das freie Ende über ihnen zusammen. Er lag über Kai und drängelte sich, ihn noch immer wie ausgehungert küssend, zwischen seine Beine.

Erst nach einer ganzen Weile ließen sie atemlos voneinander ab, starrten sich in die Augen, grinsten sich beide gleichzeitig an. Verschwörerisch, grundlos eigentlich, dennoch im Einvernehmen. Jan stützte sich auf und nahm seinen halb vollen Becher auf, um einen großen Schluck vom mittlerweile kühlen Glühwein zu trinken.

Er hielt Kai den Becher an den Mund und zwang ihm ebenfalls noch einige Schlucke auf, bis Kai abwinkte, dann beugte Jan sich vor und fragte, Kais Ohr küssend "Ich würde gern mal wieder mit dir schlafen. Wie steht es damit? Lässt du mich?" Er grinste verschlagen. "Oder sagen wir mal so - bist du betrunken genug?"

Kai wurde rot, aber nickte leicht und küsste Jan noch einmal, mehr um sein Gesicht zu verstecken. Er gab es für sich zu. Seit er Jans Finger auf seinem Po gespürt hatte, zwischen seinen Beinen, hatte er es sich eigentlich auch gewünscht. Niemals würde er das jedoch sagen, das ging nicht. Jan stützte sich mit den Händen links und rechts von Kais Gesicht an der Sofalehne auf und ruckelte seine Hüfte drängender gegen Kais Schoß.  

Er streichelte Kai einige Haarsträhnen aus der Stirn und flüsterte "Super!", dann murrte er sich umschauend "Ich muss leider erst hoch laufen, Kulturbeutel ist im Bad, schlechte Planung."

Kai öffnete und schloss den Mund einmal, dann fragte er flüsternd "Und ohne…?"

Doch Jan schüttelte nur den Kopf und küsste ihn flüchtig auf den Mund. "Bin gleich zurück, Baby. Lauf nicht weg und lass dich nicht rauben."

Er war nicht lange fort, aber Kai bekam schon wieder Bedenken in der kurzen Zeit. Er hatte es sich wirklich gewünscht, einfach spontan weiterzumachen, ohne die unwillkommene Unterbrechung, ohne diesen künstlichen Geruch und vor allem dieses Geräusch, das ihn noch immer erschaudern ließ. Das Knistern. Er schalt sich zur gleichen Zeit unvorsichtig und fand seine Idee allein schon peinlich.

Jan ließ ihn nicht zum Überlegen kommen, sondern griff ihm nach einem schnellen Kuss und nachdem er sich halb neben und halb auf Kai gelegt hatte, gleich zwischen die Beine, mit nur wenig aufgewärmtem Gel, wie es sich anfühlte. Kai erschauderte vor Kälte und zuckte zusammen.

In den folgenden Minuten streichelte Jan ihn jedoch nur, küsste seinen Hals, schwieg und erforschte Kais Körper.

Kai erforschte ebenfalls, seine Gefühle jedoch. 'Mag ich es? Ja, eigentlich schon… theoretisch jedenfalls. Will ich das? Ja, klar! Ja, klar? Aber… Kein 'Aber'. Kai, du und dein verdammtes 'Aber'! Dennoch… du bist lächerlich und außerdem… aua!' "Aua." Kai hob den Kopf und Jan entschuldigte sich, aber entzog seinen Finger nicht, den er überraschend in ihn geschoben hatte.  

Während Kai mit sich debattierte, ob es nur drückte, oder schmerzte, oder gar angenehm und erregend war, verteilte Jan noch mehr Gel auf und in ihm, streichelte ihm mit der freien rechten Hand über die Haare und küsste ihn ab und zu, aber schien sich nicht darauf zu konzentrieren, sondern abzuwarten.

Kai begann nach einer Weile unruhig zu werden. Er wollte Jan spüren, mit einem Mal. Er wollte nicht mehr von den Fingern geärgert werden. 'Dann lieber gleich den ganzen Schock. Halbe Sachen sind doof.' So nervig wie möglich ruckelte er hin und her und versuchte sich den Fingern von Jan zu entziehen.

Jan seufzte, dann sagte er mit einem schnellen Blick in Kais Augen "Noch nicht!" Gleich darauf rutschte er über ihn hinweg tiefer, um ohne Vorwarnung zum einen Kais Beine auseinanderzudrängen und ihn zum anderen mit den Lippen zu umfangen. Er ließ Kai eben gerade einmal seine Zähne spüren, wie um ihm klarzumachen, dass er stillzuhalten hatte. Nichts anderes hatte Kai jedoch auch vor.

Er lehnte, nachdem seine Überraschung abgeklungen war, den Kopf zurück und streichelte in Ermangelung anderer Möglichkeiten nur noch über Jans Wuschelkopf und die kräftigen Schultern entlang, während Jan ihn abwechselnd erschaudern und dann wieder leise aufstöhnen ließ, weil er zum einen noch mehr kühles Gel auf Kai tropfen ließ, zum anderen seine Oberschenkel entlang knabberte, bis zu seinem Glied und dann ein wenig tiefer zur weichen Haut darunter.

Jan war im Bett große Klasse, wenn es nach Kais Meinung ging. Was er vorneweg besonders gut konnte, war es mit dem Mund zu machen. Mit der Zunge zu streicheln, ohne nervig zu kitzeln. Er konnte zudem genau die richtigen Stellen treffen. Wenn er sie erst einmal gefunden hatte, dann schaffte Jan es, einen Punkt solange mit der Zunge zu massieren, bis Kai bereit war, die Wand raufzulaufen vor Wonne und weil er die elektrisierende Spannung in seinem Körper nur noch schwer ertrug.

Jan konnte zudem mit den Lippen Druck auszuüben, ohne die Zähne störend schrappen zu lassen. Er schaffte dies alles mit einem angenehmen Tempo zu vollbringen, nicht lieblos hektisch, oder zu langsam, dass man wahnsinnig wurde davon. Und er hatte noch nie von Kai verlangt, dass dieser sich auf gleiche Art revanchieren sollte, auch wenn Kai sich voller schlechtem Gewissen manchmal fragte, ob es nicht nur fair wäre.

Wenn Kai ihn verschüchtert, so indirekt wie möglich, darauf ansprach, erklärte Jan lediglich "Ach, ich mag es, wie du schmeckst. Das macht mir vermutlich mehr Spaß als dir." Das konnte nicht sein, denn Kai kam immer sehr rasch und heftig dabei. Genau wie auch an diesem Abend, als er mit einem leisen Aufstöhnen den Griff um Jans Haare mit der einen Hand und dessen Finger mit der anderen verstärkte, um ihn vorzuwarnen.

Jan lachte leise, während er auf Kai herum putzte, dann lehnte er sich kurz vor und küsste ihn leicht. "Ich liebe es, wenn man dich mal hört im Bett."

Kai wurde rot und rief leidend "Jan!"

"Nein wirklich, das klingt sexy."

Kai litt und genoss gleichermaßen, wie Jan ihn behandelte. Er genoss es natürlich, von ihm so richtig und seine Erregung so wild steigernd berührt zu werden, aber er litt zugleich unter der noch immer in ihm herrschenden Furcht vor Verletzung. Vor allem wenn Jan solche Dinge sagte, fühlte er sich stets ein wenig überrannt.

Jan umging seine Angst mal wieder einfach, indem er nach einem schnellen Kuss ohne weiteren Kommentar begann in ihn einzudringen, während Kai noch ganz schlapp von seinem Höhepunkt dalag und nur leise japsen konnte vor Schreck. Jan hatte Kais Beine festgehalten und auseinandergedrängt und umfasste seine Hüfte zusätzlich mit einem Arm, um sie für sich anzuheben.

Kai biss sich auf die Innenseite der Lippe und kniff die Augen zu, wendete sein Gesicht ab und atmete flach, während Jan sich leise Worte flüsternd gegen ihn bewegte, in ihn, nur in eine Richtung, er gab nicht nach. Schließlich blieb Jan liegen und nach und nach vernahm Kai wieder, was er sagte.

"Baby sag schon… machst du die Augen einmal auf für mich? Ist es so schlimm? Soll ich aufhören? Kai?"

"Es… geht schon“, ächzte Kai. Dann holte er tief Luft und blinzelte, öffnete die Augen und stellte fest, dass es wirklich ging. Er küsste Jan und umfasste dessen Po, streichelte darüber und kniff ihn ein wenig. "So hab ich dich auch in der Hand“, tat er unter Grinsen kund, was eine hochgezogene Braue bei Jan hervorrief.  

Doch dann erklärte Jan praktisch denkend. "Ja, das ist schon besser als letztes Mal, aber der Winkel ist scheiße. Heb mal den Po, ich will ein Kissen unterlegen."

Kai rollte mit den Augen, aber machte brav mit. 'Vielen Dank für das romantische Gespräch, Jan!' Doch als er sich zurecht geruckelt hatte und sie still liegen blieben, begann Kai das Gefühl, mit Jan zusammen zu sein, zu genießen.

Ihn anzusehen dabei fand er zusätzlich schön. Jans entspanntes Gesicht zu sehen, die leichte Röte in seinen Wangen, die Kai zeigte, dass er erregt war und es genoss mit ihm zu schlafen, steigerte für Kai auch den Reiz der Sache. Außerdem konnte er ihm über die Schultern streicheln und über den Hintern, wenn er sich vorlehnte.

Jan schloss die Augen und begann seine Brust zu streicheln, den Hals entlang. Endlich küssten sie sich wieder. Keiner bewegte sich, bis Kai seine Hüften ein wenig hob und Jans Hintern umfasste, um ihn zu Bewegungen zu bringen.

Zudem war es ein heißer Anblick. Kai öffnete die Augen bewusst und blickte über seinen Bauch hinab, bis zwischen seine Beine und zum Punkt, an dem Jans Körper zu beginnen schien. Jans Haut war dunkler und sein Oberkörper wirkte härter. Kai seufzte leise und strich mit den Fingerspitzen über Jans Brust, berührte die paar Haare dort sachte, dann strich er weiter abwärts, um schließlich erneut seinen Hintern zu umfassen, während er ihn küsste

Jan öffnete die Augen und grinste ihn an, gleich darauf flüsterte er heiser "Pass auf. Ich muss mich beherrschen, bin schon jetzt so kurz davor, keine wilden Sachen bitte, Kai."

Kai lachte leise, dann gab er mutig zurück "Doch, nur wilde Sachen bitte, Jan." und streichelte den festen Hintern in seinen Händen deutlich genug dabei.

Jan grinste und nickte leicht. "Gut. Du hast es so gewollt, Baby."

Er hatte Recht gehabt. Sehr rasch kam Jan auch zum Höhepunkt, verlor kurzfristig die Kontrolle, was Kai immer wieder bemerkenswert fand an ihm. Ab einem Zeitpunkt konnte Jan nicht verhindern, dass er die Beherrschung nicht wie gewohnt beibehielt, seine Bewegungen nicht mehr so richtig an die Vorsicht anpassen konnte, mit der er eigentlich mit Kai umging. Jan umfasste Kais Schultern auch nun mit beinahe schmerzhaftem Griff, um ihn an sich zu pressen, während er sich härter bewegte und endlich seufzend zusammensackte.

Kai wartete, bis Jan den Griff um seine Schultern lockerte, dann knurrte er "Gehruntergehrunter, ich bekomm keine Luft.", und begann herumzuruckeln, um eine ungemütliche Atmosphäre zu schaffen. Es war auch nicht angenehm, denn nun, da die Erregung abflaute, fiel ihm auf, wie kalt ihm war.

Jan gähnte aufstehend und streckte sich. Er blieb nackt und ging in dem dunklen Raum umher, schloss die Klappe am Ofen, sammelte Kleider auf und räumte die Becher fort, während Kai seinen Schlafanzug wieder anzog, dankbar für das angenehme Schweigen zwischen ihnen. Nebeneinander trotteten sie die Treppe hinauf, putzten sich ruhig die Zähne und krochen weiterhin schweigend unter die Decken in dem breiten Ehebett von Jans Eltern.

Jan knipste das Nachtlicht aus und seufzte zufrieden. Dann raffte er Kai zu sich heran und flüsterte "War es in Ordnung, Baby?"

Kai lächelte und drehte sich halb um, um ihn zu küssen, während er schläfrig zurückgab "Ja, sehr, sehr. War toll."

Jan lachte leise und drückte ihn noch einmal. "Ich hab dich trotz deiner Nörgelei lieb."

"Trotzdem? Ich dich doch auch, obwohl…"

Jan hielt ihm den Mund zu. "Das reicht mir, danke schön. Schlaf jetzt."

Kai grinste und biss ihn in den Handballen. "Jawohl!" gab er zackig zurück, dann gähnte er und schlief gleich drauf auch schon tief und fest.

Kapitel 32

Kai wachte am nächsten Morgen auf, weil ihm Sonnenlicht, von den letzten Tagen mit Dauerregen ungewohnt, direkt auf das Gesicht schien.

Jan lehnte lediglich mit seiner rot-blauen Schlabbershorts und einem alten, etwas löcherigen T-Shirt bekleidet am Fenster und blickte in den stahlblauen, perfekt wolkenfreien Himmel hinaus. Er nippte abwesend an seinem Tee aus einem dunkelblauen Becher, der mit seinem Namen als weißem, geschwungenem Schriftzug verziert war.

Kai studierte die Linien um Jans Mund, während er gerade einen Schluck trank. Die feine Narbe auf der einen Seite verlieh ihm einen draufgängerischen Zug, den er vielleicht sonst nicht hätte. Zum ersten Mal bemerkte Kai dieses Detail.

Jans Blick war auf die Straße gerichtet, das Sonnenlicht umgab sein Haar mit einer weichen Halo, ließ es heller aussehen, fast blond. Um ihn herum tanzte Staub, der vermutlich aus dem Vorhang aufgewirbelt worden war.  

Kai stützte sich auf und betrachtete ihn eine Weile lang. Jan schien in Gedanken versunken zu sein. Er bemerkte nicht, dass er angestarrt wurde, sodass Kai sich wieder zurücksinken ließ, um die Augen noch einmal zu schließen, das warme Bett zu genießen und die Beine auszustrecken. Sonntagsgefühl. Einfach nur göttlich.

Träge begann er darüber nachzudenken, wie er fühlte, wie er Jan seine Gefühle vielleicht zeigen könnte. 'Ohne was sagen zu müssen, ohne so peinliche… willst du etwa behaupten, dass du romantische Dinge peinlich findest, Kai? Nein! Aber so… unpassend! Spießig, das bin ich nicht, das sind meine Gefühle nicht!' Ihm fiel der Gartenzwerg ein. Rebellisch dachte er wieder einmal 'Ich will niemals so werden, wie meine Eltern!'

Nun fiel Kai wieder ein, warum er so zu denken begonnen hatte. 'Vier Monate. Ich liebe ihn doch schon viel, viel länger.' Kai überdachte, wieso man diesen Tag feierte. Einen Tag, an dem man beschlossen hatte nachzugeben, dem anderen zu gestehen, oder auch nur zu zeigen, dass man mit ihm zusammen sein wollte.

'Viel lieber würde ich den Tag feiern, an dem ich dir begegnet bin. Den ersten Tag in der Uni, den Tag, an dem es mit einem Mal Sinn gemacht hat, dass ich schwul bin.'

Erschrocken öffnete Kai die Augen wieder und blickte an die weiß tapezierte Zimmerdecke hoch. '…, dass ich schwul bin… Es macht erst seitdem ich dich kenne wirklich Sinn?'

Seine Abteilung für chronologische Erinnerungen mischte sich in diese äußerst romantische Sicht der Beziehung zu Jan ein, indem sie Kai nachdrücklich an seinen ersten Freund erinnerte. Kai schloss die Augen wieder. 'Ja, stimmt. Als er mich geküsst hat, hat es auch Sinn ergeben, dass ich schwul bin. Anderen Sinn. Irgendwie hat es sich in dem Moment anders angefühlt.'

Kai erinnerte sich lächelnd an den ersten Kuss und sah seinen Schulfreund wieder vor sich: die dunkelblonden Haare, der honigfarbene Teint vom Sommer, ernsthafte, hellgraue Augen und kurze, saubere Fingernägel, wegen des Klavierunterrichts. 'Genau, wie immer am Mittwoch. Erst hatte er Klavier, bei Frau Gravenski, und ist dann zu mir, Physik lernen.'

Sie hatten an Kais Schreibtisch gesessen und es war eigentlich zu wenig Platz für zwei gewesen. An dem Nachmittag aber fiel es Kai zum ersten Mal so richtig auf, dass ihre Ellenbogen sich immer wieder berührten; beim Umblättern einer Seite, wenn sie einander etwas zeigten, wenn er Kai etwas erklärte. Er war deutlich besser im Rechnen, Kai konnte sich die Formeln rascher merken.

Dann die Tüte mit den 'Riesen'. Er hatte sie mitgebracht. Es war halt immer so, dass der eine sein Zimmer hergeben musste für das Lernen, der andere hatte für die Schokolade zu sorgen. Kai erinnerte sich daran, wie ihre Finger sich vor der Tüte trafen, wie ihre Blicke sich gleich darauf begegnet waren, und sie beide es doch gleich gewusst hatten. In dem Moment machte es mit einem Mal Sinn. Mit einem Mal wusste Kai, dass er Jungs immer vorziehen würde. Diesen bestimmten Jungen allerdings gerade ganz besonders.

Natürlich hatte Kai zu lange gezögert, zu viel gedacht und mit sich selber debattiert, aber sein Freund hatte es sich doch getraut, aus den Blicken auch eine Konsequenz zu ziehen. Die Küsse, die den Nachmittag begleiteten, die Sicherheit, die sie beide mit einem Mal fühlten und zugleich die vielen Fragen, deren Existenz Kai noch nicht einmal geahnt hatte, machten den ersten sinnvollen Tag in seinem Leben zugleich zu einem anstrengenden und verwirrenden Taumel aus 'Ja!' und 'Warum?'.

'Warum? Das habe ich mich schon öfter einmal gefragt, jetzt kann ich ja sagen: Weil es einfach so sein musste.' Kai dachte in dem Zusammenhang an die Krisen seiner Mutter, an ihre Bücher, an die Studien aus Zeitschriften, die Teilnahme in der Elterngruppe in der Kreisstadt, an die Vermutungen und Vergleiche, die sie brauchte, um zu begreifen, dass ihr Sohn Männer liebte.

Er wusste, dass sie endlich nach etwa zwei Jahren, in denen er aus Schock wegen der Reaktion seines Vaters und aus Schüchternheit heraus keine weitere Beziehung mehr gehabt hatte, die Erklärung für ihren falsch geratenen Sohn in einem entfernten, schwulen Verwandten aus der Linie seines Vaters gefunden hatte.

'Wenn ich ihr jetzt sage, dass ich schwul bin, weil ich sonst einfach keine Möglichkeit gehabt hätte, Jan zu lieben, dann wird sie erst recht verrückt.'

Kai warf einen raschen Blick zu Jan hinüber, der etwas zu beobachten schien, denn er lächelte ein wenig, den Becher erneut an die Lippen gehoben. Das Lächeln glitt über sein eckiges Gesicht, zauberte eine ihm sicherlich nicht bewusste Weichheit hinein, die Kai an Jan bewunderte. Das Lächeln erreichte Jans Augen eben gerade, bevor es wieder verschwand.

Kai seufzte stumm. 'Dass ich es nie fertigbringe, 'Ich liebe dich' zu sagen. Nicht einmal, wenn ich kaum noch atmen kann, weil das Gefühl so stark ist. Nicht einmal in diesem Moment - Jetzt.' Ein wenig über sich selbst verärgert zog er sich die Decke über den Kopf.  

Kai realisierte, dass er noch einmal eingeschlafen war, als Jan sich zu ihm auf das Bett setzte und komplett nackt war, die Haare noch feucht von der Dusche in sein Gesicht hingen, während er sich die Füße abtrocknete. Kai hatte nicht einmal gehört, wie er aus dem Zimmer gegangen war.

Er streckte sich und berührte Jans noch ein wenig von Wassertropfen gesprenkelten Rücken mit den Fingerkuppen. Eine Gänsehaut sprang sofort über dessen Schultern und Armen auf und Kai grinste noch, während Jan sich umdrehte, um ihn zu knuffen. "Na, Langschläfer?"

Kai gähnte und wand sich unter der Decke hervor. Er schwang die Beine aus dem Bett und verkündete gerade "Ich geh auch schnell duschen!", als Jan seine Socken verlor, die er eigentlich hatte auseinanderziehen wollen. Das Knäuel hüpfte an Kai vorbei und rollte unter das Bett, gleich neben den Nachttisch.

"Ich hab's!" Kai tauchte unter das Bett und hatte die Socken gerade in der Hand, als Jan ihm lachend auf den Po klopfte. "Ha! Wehrlos ist er mir ausgeliefert!"

Kai sprang lachend auf und bewarf ihn mit den Socken, wollte sich eigentlich gerade auf ihn stürzen, um sich etwas zu rächen, als ihm bewusst wurde, dass Jan noch immer nackt vor ihm saß.

Kai starrte Jans leicht schimmernden Oberkörper an und lächelte mit einem Mal. Die Sonne strich genau über die Körpermitte seines Freundes. Die dunklen Haare, die sich vom Bauchnabel abwärts zogen, waren noch feucht, ebenso seine Schamhaare. Kai betrachtete den Körper seines Freundes genau diesen einen Moment zu lang, und wusste mit einem Mal, dass er es jetzt oder nie herausfinden wollte.

Er lehnte sich vor und umfasste Jans Hüfte, um ihn dichter zu sich heranzuziehen, bevor er das Gesicht gegen seinen Schoß lehnte und die Augen schloss. Jan hatte nichts in der Art erwartet, was sein überraschtes Zischen ahnen ließ, aber Kai gewährte ihm nicht, dass er abrückte und wollte auch nicht darüber reden, einfach mal nur etwas tun. Mit einer ihm selber ungewohnten Bestimmtheit schob er Jans Oberkörper zurück, bis dieser auf dem Bett vor ihm lag, die Ellenbogen aufgestützt, um Kai weiterhin mit befremdetem Blick zu betrachten.

Kai atmete einmal durch, um sich Mut zu machen, um seinen Entschluss zu verstärken, aber Jans Geruch war gleich darauf so anziehend für ihn, dass es ihm aus der Hand genommen wurde. Sein Körper machte weiter, fällte die Entscheidungen nun schneller, als er sie überdenken konnte.

Kai küsste Jans Bauch ein wenig, seine Hüfte, dann leckte er über die Haut und schließlich strich er mit den Fingern über Jans schon leicht steifes Glied. Er umfasste es und bewegte seine Lippen zunächst einmal tastend darüber hinweg. Es fühlte sich weich an, samtig, bis auf die feine Narbe an der Spitze, die er deutlich spüren konnte.

Jan schmeckte nach Seife, ein wenig nach kühlem Wasser und zugleich nach Haut, wie am Hals, wie an seinem Nacken, an der Brust, an all den Stellen, die Kai schon mit den Lippen und der Zunge zu erkunden gewagt hatte. Nach und nach traute Kai sich, weiter zu gehen und endlich versuchte er an Jan all die Dinge zu unternehmen, die ihm auch so gut gefielen.

Er konnte es natürlich nicht auf Anhieb schaffen und Jans Finger dirigierten ihn nach einer kurzen Weile, die er sehr deutlich in einer Mischung aus Verwirrung und Überwältigung gefangen nur so auf dem Bett gelegen hatte. "Vorsicht mit den Zähnen, Kai", flüsterte er nach einem Moment leise und schob Kais Gesicht mit leichtem Druck weiter zu der einen Seite hin.

Kai stellte in den nächsten Minuten fest, dass es nicht nur daran lag, sich einige Dinge zuzutrauen, sondern dass Oralsex einfach nicht so leicht war, wie Jan ihn aussehen ließ. Seine Lippen und Zunge so effizient einzusetzen, schien es doch auch Übung zu bedürfen. Allein, um die richtigen Stellen zu treffen, die er mit den Fingern ja schon fand, mit der Zunge jedoch am Anfang zu verfehlen schien.

Doch nach und nach beschleunigte sich Jans Atmung deutlich, seine Finger gruben sich in Kais Haare und das Bettzeug, das trieb ihn an. Zudem schmeckte er nicht schlecht. Und es erregte ihn, Jan so zu sehen, ihn so zu berühren. Bevor er sich versah, waren die Finger seiner einen Hand über seinen Bauch abwärts gewandert, und er streichelte neben Jan auch sich selbst.

Seinen Freund leise keuchen zu hören, seine Finger in die Haare gekrallt zu spüren, die Anspannung seiner Bauchmuskeln, die Kai deutlich bemerkte, weil er seinen Arm darauf abstützte und Jan somit auch an Bewegungen hinderte, war einfach zu gut. Er hatte gerade begonnen, Spaß an der Sache zu finden, als Jan auch schon kam und ihn vorsichtig warnend wegschob.

Jan umfing Kais Gesicht, der ihn noch immer streichelte, und küsste ihn schnell einmal auf den Mund. Danach ließ er sich nach hinten fallen und atmete einige Male tief durch. Ebenso jedoch Kai, der noch immer sehr erregt vor dem Bett kniete und an Jans nackten Körper entlang blickte, was seine Erregung nicht wirklich zu mindern wusste.

Nach der ersten Stille setzte Jan sich jedoch auf mit einem "Wow, war das toll! Damit hatte ich eben gar nicht gerechnet, Kai." und zog ihn zu sich auf das Bett, zerrte zugleich den Schlafanzug von ihm herunter, um ihn zu küssen und heftig und ungeduldig zu streicheln, direkt, ohne Umwege und effektiv, sodass Kai wenig später schon japsend neben ihm lag.

Jan lachte. "So, dann wollen wir mal endlich duschen gehen, was? Hab ich ja so lange nicht mehr." Kai nickte seufzend und streckte sich. Dann huschte er vor Jan zum Bad, schloss ab und klatschte sich eine Hand voll kaltes Wasser entgegen. Er starrte sein tropfnasses Gesicht einen Moment lang im Spiegel an und lächelte mit einem Mal.

'Das war wirklich cool. Es hat ihm Spaß gemacht und mir auch und das hätte ich gar nicht gedacht. Er schmeckt lecker und überhaupt war es…'

"Kai, ich will mich auch noch einmal abduschen, heute noch, bitte!"

'Blödmann!' Von der Hektik, die Jan irgendwie verbreitete, gereizt, ließ Kai ihn ins Bad und verschwand sofort unter der Dusche.

Jan kam gleich darauf zu ihm, packte seinen Kopf und küsste ihn so harsch und unerwartet, dass Kai gegen die Wand taumelte. "Verdammt Kai, das war schön eben. Lauf doch nicht immer gleich weg, bevor ich was dazu sagen kann!"

"Sagen?" Kai drehte sich schnell um und nahm von dem Duschgel. 'Reden, muss man über alles reden, verdammt?'

Jans Finger umschlossen seine und Jan begann ihn einzuseifen, obwohl er das eigentlich nicht wollte. Kai wollte jetzt nicht betatscht und vollgequatscht werden, sondern seine Ruhe haben und lediglich duschen.

"Du warst eben so… entschlossen. Das mag ich, wenn du mal so bist. Das passt gut zu dir", erklärte Jan und seine Finger strichen Kai über den Bauch abwärts.

'Das passt gut zu mir?' "Entschlossen?"

"Ja, außerdem war es gut. Dein erstes Mal, nicht?"

Kai senkte den Kopf und nickte leicht. 'Ja, erstes Mal… Muss Jan immer so peinl…?'

"Ich fand, das hat man kaum gemerkt."

"Gemerkt ist gemerkt, Jan."

"Nein. Man kann es bemerken und darunter leiden, oder es fällt einem nebenbei auf und man freut sich darüber."

"Freut sich darüber."

Jan langte an Kai vorbei und stellte das Wasser wärmer. "Ja. Ich weiß, dass du es vielleicht nicht so siehst, aber ich finde es schön, Dinge zum ersten Mal mit dir zu machen."

"Das finde ich auch schön, Jan."

Kai erinnerte sich an Jans Worte, als es darum ging, dass es bei ihm eben nicht Kais erstes Mal war, mit jemandem zu schlafen. Es schien Jan wirklich etwas zu bedeuten.

"Du, Kai?"

Kai verdrehte die Augen, weil er den Tonfall schon kannte, was darauf folgte war entweder peinlich oder anstrengend, typisch Jan eben. "Nein."

Doch Jan ignoriere ihn und murmelte an sein Ohr "Ich weiß ja, dass du mich für ein Sexmonster hältst."

Kai hörte deutlich, dass er grinste und musste auch kichern. "Ja, das tue ich allerdings. Mit gutem Grund!" stellte er fest.

Gleich darauf strichen Jans Finger ihm zwischen die Beine. "Jan!" Er wusste sowieso, dass sein Freund schon gewonnen hatte und ergab sich ihm gleich darauf, indem er sich umdrehte, ihn küsste und auch begann, ihn zu streicheln.

Als sie eine kleine Weile später endlich geduscht und mit geputzten Zähnen zum Anziehen kamen, verkündete Jan "Wir gehen am Strand in die Stadt und essen da was, hier ist eh nichts Ordentliches zu finden. Dann wandern wir wieder zurück. Ich werde dich noch mindestens einmal vernaschen, dann musst du dein Chaos mal wieder aufräumen und wir fahren danach, in Ordnung?"

Kai bewarf ihn kommentarlos mit einem Kopfkissen, aber fügte sich in sein Schicksal, indem er einen von Jans Pullis noch zusätzlich überzog.

Das Wetter entsprach Kais Gefühlen an diesem Morgen. Klar, frisch, sicher. Der blaue Himmel und die Sonne machten gute Laune, der scharfe Wind war eher ein Abenteuer, als eine Unannehmlichkeit, nicht so unangenehm wie der Regen am Abend zuvor.

Jan und er zogen Gummistiefel an, auch wenn Kai die Dinger schrecklich fand, am Meer nachher erwiesen sie sich als ausgezeichnete Idee. Jan hatte sich natürlich in den Kopf gesetzt, dass sie auch unten an der Wasserkante entlanglaufen mussten, um den Wind und die Atmosphäre richtig aufnehmen zu können.

Das einzige, was Kai daran gut fand, war dass der Wind so scharf und stark wehte, dass man sich hinein lehnen konnte, ohne umzufallen. Lachend versuchten sie das wieder und wieder, wobei die Windböen dem Spiel unweigerlich ein Ende setzten, bis Jan sogar einmal in den Sand plumpste.

Sie wollten gerade vom Stand fort, als Jan sich bückte und aus einem kleinen, mit Sicherheit eisigen Tümpel etwas herausfischte. Kai blinzelte "Was ist das? Ein komischer Stein?"

Jan lächelte und murmelte die Finger abtrocknend "Das ist ein Schneckenhaus gewesen, ist vom Wasser außen abgeschliffen worden. Findest du nicht, dass es wie eine Blume aussieht?"

"Hm, eine weiße Blume, ja, stimmt. Hast recht."

Jan drehte den Fund um und überreichte Kai das Schneckenhaus. "Schenke ich dir."

Kai merkte, dass er ein wenig rot wurde, seine Freude über die einfache Geste überraschte ihn. Jan schien dem Geschenk aber, ebenso wie er, auch mehr beizumessen, denn er machte ein ernstes Gesicht und sah Kai in die Augen.

Rasch nahm Kai das Schneckenhaus und betrachtete es, während er mit gesenktem Kopf "Danke, das ist hübsch“, murmelte. Es sah tatsächlich wie eine helle Blume aus, mit feiner, beigefarbener Streifung.

Nun erst begriff Kai, dass es sich vermutlich um eines der schmalen, schlanken Schneckenhäuser gehandelt hatte und nur noch das Innere der Windungen stehen geblieben war. Jan zupfte an Kais Ärmel und dirigierte ihn über den weitgehend verlassenen Strand weiter.

Als sie das Haus wieder erreichten, war Kai total müde und jammerte über Wadenschmerzen vom ungewohnten Laufen in den Gummistiefeln und durch den Sand. Jan jedoch wies ihn rigoros an, seine Klamotten wieder in die Tasche zu packen, bevor er Kai half die Tasche zum Wagen zu tragen.

Vom Wind und dem ungewohnte Laufen in der scharfen Luft ermüdet, schaffte Kai gerade das einmal und war dankbar, dass er gleich darauf nur noch im Auto sitzen und schlummernd der seltsamen Musik lauschen musste, die Jan wieder eingelegt hatte.

Am Montag hatte Kai einen noch schrecklicheren Muskelkater und kam nur unter Ächzen und Fluchen aus dem Bett, um Jan in die Küche zu folgen, nachdem dieser ihn schon zwei Male gerufen hatte.

Während Jan schon nach einigen Schlucken Tee zu seinem Zimmer fahren wollte, um vor der Uni noch Sachen für den Sport am Abend zu packen, blieb Kai lethargisch auf dem Klappstuhl hocken und begann das Blumen-Schneckenhaus zwischen seinen Fingern zu drehen.

Eine schlanke, helle Hand glitt in sein Blickfeld und entwendete ihm sein Schneckenhaus mit der Geschicklichkeit eines Taschendiebes. Gleich darauf fragte Lolli interessiert "Das ist süß, woher hast du es, Maus?" Er ließ sich Kai gegenüber auf dem anderen Klappstuhl nieder und goss sich Kaffee ein.

Kai gähnte, dann erklärte er, dass es sich um ein Schneckenhaus handeln würde und zeigte Lolli, woran man das noch sah. "Das hat Jan am Strand gefunden und mir geschenkt“, versuchte Kai nebenbei zu sagen, was natürlich misslang. Vor allem, weil er rot wurde.

Lolli drehte das Ding zwischen den Fingern und strahlte. "Oh, wie romantisch. Das ist ja ein süßes Geschenk!" Er gab es Kai zurück und stützte sein Kinn in eine Hand, bevor er hinterhältig nachfragte "Anlass? Wieso seid ihr denn weggefahren? Hattet ihr Streit?" Nachdenklich drehte er eine seiner frisch blondierten Haarsträhnen um den Zeigefinger.

Lolli schien jedes Geschenk gleich mit einer Versöhnung zu verbinden. Kai schüttelte den Kopf und erklärte "Nein, eher im Gegenteil. Vier Monate zusammen. Jan fand das wichtig."

"Ich auch! Ihr seid so goldig!" tat Lolli kund.

'Was? Ihr? Jan wohl eher. Und überhaupt, goldig ist ja wohl…'

"Soll ich dir ein Loch in die Blumenschnecke bohren und ein Lederband reinziehen, Kaichen? Dann kannst du es als Kette tragen, wär das nicht supi?"

Kai betrachtete das Schneckenhaus grüblerisch. "Ja, wieso nicht."

"Das ist doch nett. Ich glaub, dass ich noch Ösen und so in meinem Bastelkasten hab. Mach ich dir gleich, Maus. Gib mal her!" Energiegeladen sprang Lolli mit dem Schneckenhaus davon und Kai riss sich endlich ebenfalls genügend zusammen, um sich anzuziehen.

Als er dann im Bad vor dem Spiegel stand und seine Haare mit Schaum bekämpfte, die sich mit der Heizungsluft nicht einverstanden gaben, tauchte Lolli hinter ihm auf, in einem pinkfarbenen Pulli, auf den aus Kunstfell ein grünes Alien appliziert worden war.

Kai war noch mit Zusammenzucken wegen der grauenhaften Farbkombination beschäftigt, als Lolli ihm auch schon eine Kette um den Hals legte und ihn im Spiegel ansehend fragte "Kürzer oder lieber länger?"

Kai blickte nachdenklich auf das zierliche Schneckenhaus und zog noch ein wenig an der Kette, bevor er die Nähe zu Lolli unangenehm fand. Lolli aber lief schon wieder in sein Zimmer davon, sodass Kai ihm neugierig folgen musste.

Lollis Zimmer war das größere in der Wohnung, vermutlich der ursprünglich als Elternschlafzimmer gedachte Raum. Zudem brachte Lolli ein Hochbett darin zusätzlichen Platz, darunter hatte er sein riesiges Zeichenpult mit den Linealen aufgebaut.

So chaotisch Lolli wirken mochte, was sein Zeichenbrett unter dem Bett und den Apple anging, der daneben auf einem kleinen Computertischchen vor sich hin flimmerte, war er sehr ordentlich. Der Rest des Zimmers versank in einem konfusen Mischmasch aus Pop-Art Deko, indischen, tibetanischen sowie undefinierbaren Gegenständen und Möbeln. Die meisten Sachen waren einmal normale Möbel und Dinge gewesen, die Lolli mit einem Überschuss an Kreativität umgebaut, bemalt, umgenäht oder einfach sinnentfremdet hatte.

Sein Mitbewohner hockte vor seinem gläsernen Couchtisch, dessen Füße von besonders schrägen Radkappen gebildet wurden. Nun sah Kai, während er sich neben ihm niederließ, wohin die Regenbogenfahne gewandert war, deren Verschwinden aus dem Wohnraum er eher mit Erleichterung aufgenommen hatte. Lolli hatte daraus ein überdimensionales Sofakissen genäht, wie es aussah.

Sein Mitbewohner fummelte mit einer Heißklebepistole herum, dann erklärte er "Ist gleich fertig, ich hab es abgewaschen und noch mal mit Klarlack gepinselt, dann wird es nun für immer und ewig so hübsch bleiben, Maus."

Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück, während er eine kleine Eieruhr mit Schweinchengesicht auf zehn Minuten stellte. "Und? Du schuldest mir noch ein Gespräch über Lukas, Kai."

Der Ernst in seiner Stimme ließ Kai etwas zusammenzucken, zudem wurde er rot im Gesicht. "Ich… weiß nicht…"

Lolli schnippte die Zigarette gegen den Rand einer indischen Schale, die ihm zurzeit wohl als Ascher diente. "Doch, weißt schon, was ich gern hören möchte."

Lolli schob seine Finger einmal über seinen Bauch und spielte kurz mit dem Bauchnabelpiercing, während er sich gähnend streckte. "Bitte“, murmelte er dann leise. "Ich hab gestern mit Lukas telefoniert und er war wie… deprimiert. So, wie zurzeit, hab ich ihn noch nie erlebt."

Kai senkte den Kopf und rieb sich die Augen. "Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn nicht mag."

"Liebe."

"Nein, mag. Nicht einmal das. Ich weiß, das war gelogen, aber nach der Show auf der Party hab ich mich so gefühlt." Kai starrte auf das schon schmerzhaft kitschige Pierre et Gilles Poster gegenüber und murmelte "Liebe… das wussten wir doch beide, dass es das niemals sein kann."

Lolli drückte die Zigarette aus und lehnte sich dann gegen das Regenbogenkissen zurück. "Warum das denn nicht? Mir sah Luki ganz so aus. Er hat alle Symptome."

"Nein. Er will nur genau das haben, was er nicht bekommt." Kai lehnte sich neben Lolli ebenfalls an die Sofalehne zurück und überdachte diese Interpretation der Sache. "Sonst kann er hier in der Szene doch jeden haben, bin ich mir sicher."

Ein leises Lachen. "Da magst du recht haben, Maus."

Lolli drehte den Kopf und sah ihn an, das spürte Kai, obwohl er leer auf das Poster starrte. Mit einem Mal bemerkte er Lollis Finger an seinen Haaren. Eine seiner widerspenstigen Locken an der Schläfe wurde geschickt und beinahe schon zärtlich gebändigt, dann stellte Lolli mehr fest, als dass er fragte "Du hast dich entschieden, nicht? Jan oder niemand, ist es das?"

Kai nickte einfach nur, da gab es für ihn irgendwie keine Zweifel mehr. Die Eieruhr rasselte in dem Moment lauthals. Die Schneckenhausblume war zwischen zwei kleinen Perlen auf das Lederband aufgefädelt und glänzte wie neu. Als Lolli Kai die Kette umlegte, stellte er fest, dass sie eine gute Länge hatte. Nicht zu kurz, um den Hals einzuengen und nicht so lang, dass sie im Ausschnitt von allen Klamotten verschwand.

"Danke. Das ist wirklich toll."

Lolli nickte nur, dann fragte er "Du bist am kommenden Wochenende auch weg, nicht? Ich bekomme Besuch, den könnte ich doch in deinem Zimmer unterbringen, oder?"

"Hm." Es war Kai ganz und gar nicht recht. "Wer denn? Ich will nicht, dass da jemand raucht."

"Benni, den kennst du doch."

Kai strich mit den Fingern über die glatten Kanten der Schneckenhausblume und nickte dann leicht. "Na gut, aber nur Benni, nicht noch wer anderes." Er stand auf und warf einen Blick auf seine Uhr "Ich muss los zur Uni, danke noch mal."

"Ach, gern, Maus."

In der Uni begegnete Kai zuerst einmal Holger. Dieser erklärte es aber auch sogleich, indem er ihm sagte "Ich hab auf dich gewartet. Du hast versprochen, dass du Tini von der Party erzählst."

Kai seufzte und nickte leicht. Er öffnete die Knöpfe seiner Jacke und zog sich den Schal vom Hals, während sie gemeinsam in die Cafeteria gingen.

Tini saß mit Renate an einem der geschmacklosen, orangefarbenen Tische und sah nicht besonders gut aus. Erkältet, aber auch empfindlich irgendwie. 'Bianca. Wo ist die denn?' Gleich darauf entdeckte Kai die silberblonden Haare auf der anderen Seite des Raumes. Sie stand mit zwei anderen und – wie sollte es auch anders sein – mit Jan zusammen vor einer Pinnwand.

Kai setzte sich zu Tini und Renate, während Holger die Mädchen fragte, ob sie noch einen Kaffee wollten, bevor er zum Verkaufstresen stiefelte. Kai fand einen leichten Einstieg in das Gespräch, weil Tini ihn kaum ansah, aber gleich verkündete "Morgen Kai, du hast bestanden, die Klausurergebnisse hängen schon beim Prof gegenüber."

"Ja? Wie viel Punkte?"

Tini sah Renate fragend an und diese erklärte ihre Milch abstellend, an der sie genuckelt hatte "Natürlich fast voll, wieso fragst du denn eigentlich noch? Ich glaube, sie haben dir 0,2 abgezogen, insgesamt waren es 4,8, eine Frage fiel raus, und bei dir stand 4,6."

Kai errechnete, dass er also das Soll erfüllt hatte und im Grunde die letzten beiden Klausuren in den Sand setzten konnte, die Gesamtpunktzahl würde noch immer lang hinreichen für ihn. "Und Jan?"

"Bestanden. Ich glaub er hatte 3,6 und die Grenze war ja 3,4."

'Oh, immer so knapp. Jan, wegen dir bekomm ich noch Herzrasen!'

Kai drehte den Kopf, um nach Jan zu sehen, dieser sah gerade auch zu ihm rüber und zeigte ihm ein Grinsen und ein Victory-Zeichen. Kai musste lachen. 'Gewonnen, jaja. Ich hab doch wieder mal alles vorsagen müssen. Wie will er das Staatsexamen eigentlich überleben?'

Holger mischte sich nun ein, indem er mit Kaffee zurückkehrte und eine Runde Kinderschokolade spendierte. "Habt ihr auch bestanden?" fragt er an Tini gerichtet. Diese putzte sich gerade die Nase, sodass Renate für sie antwortete. "Klar und du auch, hatte ich ja schon gesehen."

Sie zog sich ihre Goretexjacke aus und zupfte den Pulli über ihrem ausladenden Busen zurecht. Kai rückte ein wenig weiter ab von ihr. Renate war eines von diesen Mädchen, die ihn ständig volllaberten, wenn er nicht flüchtete.

Holger kam ihr zuvor. "Ich feiere ja am Wochenende die Party. Könnt ihr kommen?" Kai versuchte es, aber brachte es nicht über sich, etwas zu sagen, weswegen er nur leicht nickte. "Kai kommt auch, das ist doch schon mal was. Irgendwie sind viele krank zurzeit."

Tini nickte und murmelte unsicher "Ich fühle mich auch nicht so toll. Die Erkältung will nicht weggehen. Aber ich denke, dass ich vorbeikommen werde. Was sollen wir denn mitbringen? Irgendwas zum Essen?" Holger strahlte sie voller Freude an und das Gespräch änderte rasch die Richtung.  

Als sie alle aufstanden und zum Hörsaal wanderten, fragte Tini mit einem Mal "Was ist das denn? Sieht witzig aus." Kai wurde rot, konnte es nicht verhindern, während sie ihn aus ihren dunklen Augen anstarrte. Sie lehnte sich vor und nahm das Blumenschneckenhaus zwischen Daumen und Zeigefinger, beugte sich dichter zu ihm.

"Das ist ein Schneckenhaus gewesen. Meeresschnecke." Jans Stimme schnarrte leicht und klang unfreundlich. Erstaunt sah Kai in Jans Gesicht.

Tini blinzelte verwirrt, dann murmelte sie "Sieht hübsch aus."

Jan trat dichter zu ihnen und berührte das Schneckenhaus kurz mit den Fingern, bevor er wieder zurücktrat. "Wer hat das denn so schnell umgebastelt?"

Kai lächelte, Jan war doch nicht etwa eifersüchtig auf Tini? "Das war Lo… Peter heute Morgen. In einem Anfall von Kreativität."

"Komm, die Vorlesung fängt gleich an“, erwiderte Jan daraufhin nur und entband Kai jeder weiteren Erklärung an die verwirrt blinzelnde Tini, die sich dann aber Renate und zwei anderen Mädchen anschloss und auf die andere Seite des Hörsaals ging.

Während der Vorlesung hatte Jan seine Finger fest um Kais Hand geschlossen, was dieser herrlich fand. Schon wieder diese Eifersucht. Niedlich irgendwie. 'Aber hoffentlich wird das nicht schlimmer.' Kai grinste jedoch unbesorgt 'Da hat Jan ja gar keine Zeit für.'

Kapitel 33

Das Wochenende, an dem sie zu seinen Eltern fahren wollten, kam für Kai viel zu schnell. Er hatte mit Klausuren und Referaten zu tun gehabt und eine leichte Erkältung tat ihr übriges, ihn genervt sein zu lassen. Es machte ihn irgendwie schwächer, als er zu diesem Anlass hatte sein wollen. Morgens wachte er immer mit einem leichten Kratzen im Hals auf und ärgerte sich über Jans Energie.

Aber am Samstag war Kai zu aufgeregt, um sich krank zu fühlen. Er wachte schon um halb sechs auf, obwohl sie erst zum Mittagessen angekündigt waren und das Kaffeetrinken mit allen Verwandten doch ab vier stattfinden würde. 'Jan und ich gehen da zusammen hin. Meine Tanten und Onkels werden es nicht mehr ignorieren können.'

Nachdenklich betrachtete er Jan, der neben ihm lag und ruhig schlief. 'Nicht fair. Ich bin wach, er schläft und heute Abend bin ich dann müde, wenn er wach ist und Sex will und dann… hups, Sex? Bestimmt nicht in meinem Kinderzimmer! Das geht nicht.' Kai grinste bei dem Gedanken, es war zu abwegig. Dann schloss er die Augen jedoch wieder, um in Erinnerungen an seine dicke Tante verwickelt einzuschlummern.

Seinem Schlaf setzte Jan ein jähes Ende, als der Wecker um neun Uhr ging. Er hatte es gewagt, den Wecker zu stellen?! Kai drehte sich grummelig in seine Decke ein und verweigerte jedes Aufwachen. Nichts war schlimmer, als dann aufstehen zu müssen, wenn man musste. 'Wäre ich doch bloß vorhin aufgestanden, dann wäre ich schon geduscht, rasiert, angezogen… scheiße! Jan muss ich auch noch anziehen. Ich hoffe, dass er was ordentliches dabei hat.'

Kai öffnete ein Auge, um zu sehen, dass Jan zwar eine seiner neueren Hosen auf den Stuhl geworfen hatte, aber - sehr typisch für ihn - ein mit Werbung für ein Kopfschmerzmittel bedrucktes T-Shirt ebenso.

"Jahaaan?"

"Morgen, Baby. Gut geschlafen?" Eine Tasse mit Kaffee tauchte neben Kais Gesicht auf und Jan setzte sich auf die Bettkante, nachdem er das Radio angeschaltet hatte.

"Ich war schon mal wach, gegen sechs." Kai setzte sich steif auf und streckte sich gähnend. Dann nahm er sich den Kaffeebecher.

Jan trank ebenfalls einen Schluck, dann fragte er leise "Meinst du, dass es glatt geht mit all deinen Verwandten?"

Kai wollte sich nicht darum sorgen, nicht in Aufregung verfallen wegen dieser Frage. Er seufzte und schloss die Augen, weil er es in dem Moment doch nicht verhindern konnte. "Ich weiß nicht. Willst du lieber doch nicht…?"

"Jetzt. Erst. Recht." Jans Augen blitzten und er lehnte sich vor, um Kai zu küssen.

"Gut, dann können wir…"

"…erst mal duschen? Wolltest du das sagen? Komm endlich, Kai!"

"Aber.. wegen der Klamotten, Jan…" Unsicher stand Kai aus dem Bett auf und betrachtete den Pullover und das T-Shirt.

"Ja?"

"Du hast nur diese hier mit?"

Jan runzelte die Stirn, schien die Frage nicht zu verstehen, verstehen zu wollen. "Ist was mit den Sachen? Sind die kaputt, oder so?"

Kai ließ die Arme hängen. "Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich dachte nur, dass du vielleicht einen Rolli anziehen willst, oder so."

"Nee, danke sehr. Ich hab dein Handtuch, gehe schon mal vor!"

Kai öffnete seinen Schrank und tippte sich überlegend mit dem Zeigefinger auf die Unterlippe. Die Wahl der Klamotten war wichtig. 'Auf keinen Fall dürfen sie schwul aussehen!' Rasch schob er seine silberne Hose nach hinten und zog eine schwarze Stoffhose hervor. 'Warm und genug Schutz. Vielleicht machen die aber den Kamin an, dann schwitze ich mich tot. Ich hasse das! Hab ich das Deo eingepackt?'

Ein rascher Blick auf die Tasche, dann wühlte Kai eine Weile darin herum, bevor er die Flasche fand und zum Schrank zurückkehren konnte. Unentschlossen wog er das grüne Hemd und den neuen schwarzen Rolli gegeneinander ab.

'Tante Hella… Ich sollte was anziehen, worin ich auf jeden Fall besser aussehe, als mein beschränkter Cousin Jörg! Na gut, das ist eh nicht schwer. Fetter, selbstgerechter, totaler Idiot und dann auch noch…'

"Kai! Herkommen! Aber zack zack!"

Kai zuckte zusammen und warf den Rolli zu der Hose auf das Bett. "Ja, ist ja gut! Sklaventreiber, blöder."

Wenig später stand Kai geduscht, rasiert, von Jan fürsorglich, aber für seinen Geschmack nicht zärtlich genug eingecremt und mit noch feuchten Haaren erneut vor dem Schrank. "Wie konntest du denn vergessen, dass wir über Nacht bleiben? Du hast doch gestern alles schon mal gepackt, Kai!"

Weswegen war Jan jetzt so gereizt? "Ja… aber die Klamotten waren falsch, das geht so nicht, ich kann doch nicht…."

"Wenn du bei drei nicht im Auto sitzt, dann packe ich für dich, verdammt!"

Kai fuhr zu Jan herum und starrte ihn verwundert an. "Was?! Du spinnst wohl! Hau ab und lass mich in Ruhe raussuchen hier!" giftete er zurück.

"Wenn du dich nicht beeilst, dann komme ich nicht mehr mit“, erklärte Jan stur, verschränkte seine Arme und machte sein stures Gesicht. "Wieso denn die Hetze? Warum interessiert es dich auf einmal, hm?" versetzte Kai und warf noch Unterwäsche sowie Socken in seinen Rucksack und stopfte einen zweiten Pulli darüber.

"Wir kommen auch so schon zu spät, immer musst du noch in letzter Sekunde…"

"Was?! Ich? Du hast doch letztes Mal Fußball sehen müssen und wir sind zu spät zum Unikino gekommen!"

"Ach, daran erinnern wir uns jetzt, ja?!" Jan schnappte seine Tasche. "Wenn es dir egal ist, dass wir zu spät kommen, dann kann es dir auch egal sein, wenn ich mitkomme… tschüss!" Mit einem Knall flog die Wohnungstür ins Schloss.

Kai blinzelte noch einige Male, nachdem Jan rausgegangen war. "Jan! Was soll das denn?!" 'Spinnt der total?!'

Es blieb still, die Tür blieb zu, Jan blieb fort. Kai packte unsicher das Geschenk für seine Oma in den Rucksack und musste den Pulli dafür wieder fortlegen. Dann wurde ihm verspätet klar, dass er und Jan sich soeben um einen absoluten Unsinn gestritten hatten. Die nächste Erkenntnis war für ihn, dass Jan fort war. Gegangen. Die Tür hatte geknallt.

Kai sank auf das noch nicht gemachte Bett und hielt den Pulli in den Händen. 'Worum ging es eben eigentlich? Wieso hat er… habe ich…?' "Wa… was war das denn?" 'Ein Streit, du Idiot. Du bist vermutlich schuld.' Die Statistikabteilung berechnete dies allerdings noch. 'Wer hat denn noch mal angefangen? Du hast wirklich nicht früh genug gepackt! Also, sieh zu, wie du das hinbekommst! Geh ihm nach. Los, mach schon!'

Kai stand auf, dann wandte er sich jedoch von der Tür ab und ging zum Fenster, um auf die Straße runterzusehen. Jan stand unten, neben dem Wagen und trat gegen den einen Reifen. Kai seufzte und öffnete das Fenster.

"JAN!!" Seine Stimme hallte zwischen den Häusern und Kai zuckte zusammen. Jans Schultern versteiften sich, er senkte den Kopf ein wenig. 'Blöder Arsch… dreh dich schon um…! Was heißt hier Arsch? Du musst schon mehr machen. Aber ich kann mich doch nicht entschuldigen, das wäre zu bescheuert! Du traust dich eh nicht.' Die Stimmen in seinem Kopf neckten ihn und Kai wehrte sich, indem er eine Art Mittelweg wählte. Er lehnte sich weiter vor und rief "Jan, ich bin fertig! Warte bitte!"

Kai kam sich wie ein Idiot vor, während er in der Zugluft stand und fror. Aber nach einem Moment der Unsicherheit drehte Jan sich um und winkte, dann brüllte er zurück "Warte, ich komme noch mal hoch!"

Kai war die Zeit, bis Jan oben bei ihm ankam, noch nie so lang erschienen. Er hockte nervös auf der Bettkante und kaute unbewusst auf den Nägeln. 'Streit mit Jan… das kann ich nicht haben, wieso ist er so geprickt? Ist er sauer wegen was?'

Die Türglocke riss ihn aus seiner Überlegung und er ging öffnen. Dann standen sie sich gegenüber. Jan seufzte und sah ihn an, Kai starrte zurück, wusste nicht, was er noch tun sollte. Nach einer ganzen Weile des Schweigens murmelte Jan. "'Jetzt erst recht' war wohl gelogen, ich bin… irgendwie macht mir der Gedanke an all deine Verwandten Angst."

Kais Herz schlug wild, das hatte er nicht bedacht. "Angst? Vor meinen Verwandten?"

Jan seufzte und ging an ihm vorbei. Er lehnte sich an die Wand neben der Heizungstherme und erklärte "Nein, das nicht! Ich hab nicht Angst 'vor' ihnen, Kai! Ich habe Angst, dass ich ihnen zu viel sage. Mehr, als sie wissen müssen. Ich habe Angst, dass ich ihnen Dinge zeige, die…" Er betrachtete seine Finger und begann am Daumennagel zu knibbeln. "… die uns gehören", flüsterte er endlich.

Ein Schauer rann Kai den Rücken hinunter und eine Gänsehaut stellte seine Nackenhaare auf. "Jan…" Er konnte nichts weiter sagen. Hastig stürzte er sich auf seinen Freund und schlang die Arme um ihn, sie küssten sich, ungeduldig, verlangend, unerwartet. Kai öffnete den Mund, wollte Jan spüren, mehr als je zuvor. 'Die uns gehören… uns… uns… Ich liebe dich so…'

Er löste sich für einen kleinen Moment von Jan, um ihm dies zu sagen, als eine mäkelige Stimme hinter ihnen erklärte "Macht ihr es jetzt schon im Flur? Ja? Vielen Dank und guten Morgen auch. Vielleicht könntet ihr vorher ja mal die Tür zumachen! Wir haben Nachbarn, Kai."

Kai errötete und erstarrte, die Hände noch um Jans Nacken geschlungen.

Jans Stimme entgegnete knurrig "Verpiss dich, Lolli.", womit die Wärme zwischen ihnen endgültig erstarb.

Er ließ Kai los, klopfte ihm noch einmal auf den Po und murmelte an sein Ohr "Na gut, fahren wir. Wilden Sex kann man auch in deinem Kinderzimmer haben." Er lachte auf und wandte sich ab. Kai lief rot an. Lolli hatte das gehört! 'In meinem…!' "Untersteh dich! Das… das… Hey! Jan! Warte auf mich, ich muss noch die Tasche…!"

Kai bekam eine Gnadenfrist von fünf Minuten, dann schnappte Jan seine Chaostasche und ging einfach damit aus der Wohnung. Kai rannte, seinen Rolli unter den Arm geklemmt, hinter ihm her und lamentierte bis zur Autobahnauffahrt, dass er bestimmt etwas wichtiges vergessen hatte.

Die weitere Fahrt verlief still. Jeder schien, in seine Gedanken verstrickt, zu schweigen. Jan streichelte Kai lediglich mit der freien Hand über den Nacken und die Schulter. Das tat er immer, wenn er entspannt vor sich hinfuhr und Kai döste weg, in Überlegungen um Jans Gereiztheit versunken.  

'Es fühlte sich an, als wollte er mich verteidigen. Wie bei Tini. Wie albern. Als ob Tini mir je zu nahe kommen könnte! Oder was war sein Getue denn sonst? Hat er Angst, dass ich Schluss mache? Nein. Eher habe ich Angst, dass er es eines Tages nicht mehr mit mir aushält. Ich… jeder hat Fehler. Ich ja auch. Einige… na gut, etliche, aber er verdammt noch mal vor allen Dingen! Einfach abhauen, nur weil ich noch packe. Wieso ist er so nervös? Wieso bin ich es nicht?'

Kai starrte auf die dahin huschenden weißen Streifen am Fahrbahnrand. 'Ich bin ruhig. Alles wird gut werden, nicht? Ich stelle ihn vor und das war's. Sie werden sehen, was sie sehen wollen. Niemand wird sich belästigt fühlen… oder doch?'

Unsicher streifte Kai seinen Freund mit einem Seitenblick. 'Wenn du eine Show veranstalten willst, dann sieh dich bloß vor! Ohne mich!' teilte er Jan in Gedanken mit. 'Hübsch zurückhaltend. Alles ruhig. Nichts überstürzen.' Kais Tante wusste, dass er schwul war. Als der Ärger mit seinem Vater aufgekommen war, hatte seine Mutter es ihr erzählt. Deswegen wusste der Arsch von einem Cousin Jörg es doch auch!

'Verdammter Mist! Das weiß Jan noch nicht! Jörg. Wie sage ich ihm denn, dass da sehr wohl wer ist, der mich meidet und so tut, als hätte ich eine ansteckende Krankheit? Das kann ich nicht machen. Jan ist zu ehrlich, das wird er mit Jörg ausdiskutieren wollen. Mit Jörg kann man nicht reden! Scheiße. Vielleicht… vielleicht, mit etwas Glück kommt der fette Arsch ja nicht.'

Jan fuhr schnell und schon bald hielten sie vor dem Haus in einer verdammt engen Parklücke. Kai fragte sich einmal mehr, wie Jan dies immer so locker vollbrachte, einmal zurücksetzen, einmal wieder vor und das Auto stand. Ohne das Geschwitze, das Gekurbel, und das mehrmalige Türenöffnen, um nach dem Bordstein zu schielen, das er selber immer veranstalten musste.

"Weißt du Jan, du kannst obszön gut einparken. Ich beneide dich um diese…" Jan kürzte Kais Lobrede mit einem heftigen Zungenkuss ab, dann bemerkte er leicht heiser "Aber nicht, lass es uns hinter uns bringen." Kai keuchte überrascht. "Ja…n hey! Warte!"

Jan war jedoch schon auf dem Weg zur Haustür, die Tasche von Kai locker über die Schulter geschwungen und seinen Rücksack in der anderen Hand. Kai rannte ihm hastig hinterher. "Aber es ist doch erst…"

"Kai! Endlich seid ihr da! Ich hab mir vielleicht Sorgen gemacht!" Seine Mutter stand schon mit der guten Bluse und einer neuen, schwarzen Hose bekleidet in der Tür. Die rotblonden Haare waren merkwürdig streng frisiert. Es gefiel ihm nicht. "Aber es ist doch erst…" versuchte er einen Protest und wurde unterbrochen.

"Ich hab das Essen schon warmgestellt. Es gibt…"

"Guten Tag erst mal, Mama." Kai umarmte seine Mutter rasch und ließ sich drücken und betrachten.

Jan gab ihr die Hand und folgte ihnen gleich in das Haus, nahm die Treppen zwei Stufen auf einmal nach oben, ohne nach Kai zu sehen, als wohnte er schon länger dort. Als Kai hinter ihm her gehetzt kam, wusch Jan sich schon die Hände, beide Taschen lagen vor dem Bett in Kais Zimmer.

"Ich kann jetzt nicht stehen bleiben. Das halte ich nicht aus", erklärte Jan kryptisch und Kai ließ ihn in Ruhe. Dieser altbekannte Zug um seinen Mund bildete sich allmählich, der sture Blick. In diesem Zustand war Jan sehr griffig, das wusste Kai. Und noch einmal wollte er nicht so schmerzhaft in die Schusslinie geraten, wie am Morgen.

Doch alles verlief ausgesprochen gut. Kais Oma trug ihre weinrote Bluse, in der sie irgendwie edel aussah. Sie freute sich am meisten über die Blume, die Kai geistesgegenwärtig mitgenommen hatte. Ihr schmales Gesicht strahlte die Frische und Fröhlichkeit aus, die Kai an ihr mochte. Das Kaffeetrinken verlief in die Erinnerungen seiner Großmutter getaucht. Kai genoss es stets, weil es neutrale Erinnerungen waren, nur Geschichten. Nirgends kamen Wertungen hinein. Es gab Eierlikörtorte von Tante Hella, deren mollige Gestalt absolut zu den Kalorienmengen in einem halben Stück passte.

Auch Hella trug neue Kleidung, eine dunkelbraune Kombination und sie wirkte aufgekratzt, aber niemand beachtete sie. Wie immer eigentlich. Hella war einfach da, mehr nicht. Kai mochte sie nicht besonders. Ihr Geschmack in Klamotten ließ zu wünschen übrig und ihre jammerige Art nervte.

Kais Oma saß aufrecht in ihrem Sessel, eine Wolldecke auf den Knien und erinnerte sich an die guten wie die schlechten Zeiten. Jeweils mit derselben Wärme. Heute vor allem an seine Kindheit. Eine Zeit, in der alles noch in Ordnung war. Mit ihm vor allem. Als er mit den anderen Kindern um die Wette durch die Laubensiedlung gerannt war, am See gespielt hatte, mit Papierbooten, die doch immer wieder sanken. Seine Oma erinnerte sich noch genau, wie er seinen ersten Zahn verlor und das Radfahren lernte. Jan hörte fasziniert zu, das bemerkte nicht nur Kai. Seine Oma hatte selten so lebendig erzählt und so voller Begeisterung.

Ihre durch den Schlaganfall vor zehn Jahren entstandene Seitenlähmung, konnte man, umso deutlicher, je müder sie wurde, an dem ein wenig schiefen Gesicht sehen. Sie begann nach zwei Stunden müder und müder auszusehen. Schon bald sank sie in ihrem Sessel ein wenig zusammen. Sie konnte sich nicht mehr so lange gerade halten wie früher.

Kais Mutter beendete den Besuch wie immer durch ihre resolute Feststellung, dass die Mutti nun schlafen müsse. Alle verabschiedeten sich, niemand fragte nach Jan, keiner sah sie komisch an, Jan selber war ruhig geblieben, Jörg war nicht da gewesen und Kai war so erleichtert, wie nie zuvor.

Doch dann drehte seine Tante Hella sich an der Eingangstür zum Wohnheim um und schlug lächelnd vor "Wir essen Abendbrot bei uns. Von dort könnt ihr nach Hause gehen, dann können wir zusammen noch ein wenig von unserem selbst gemachten Wein trinken. Was sagt ihr?"

Kais Mutter nickte sogleich und rief übermäßig erfreut und aufgekratzt aus "Was für eine gute Idee! Ich werde mir meine bessere Hälfte vom Fernseher loseisen. Kai und Jan kommen doch auch mit, nicht?" Kai erstarrte ein wenig, doch nicht so sehr wie seine Tante. Hella zog die Brauen ein wenig zusammen und strich sich die mal wieder blondierten halblangen Haare aus der Stirn.

"Oder willst du dein Patenkind nicht da haben?" Die Stimme seiner Mutter hätte Metall ätzen können. Sie war gut in solchen Dingen.

Hella lachte nervös. "Martina, natürlich nicht! Kommt alle zusammen rüber. Ich mache uns noch ein paar Käsestangen. Den Teig hab ich eingefroren, das geht schnell. Sagen wir in einer Stunde?"

"Natürlich. Wir bringen dann noch ein wenig Kräuterdip mit." Sie starrten sich an. Kais Mutter, die Zierliche, Energische, die Ältere. Hella, seine dicke, ein wenig weinerliche Tante mit dem zu grellen Lippenstift. Kai wusste wieder, warum ihm Frauen immer so unheimlich waren.

Ihre Gesichter lächelten, doch ihre Augen hackten aufeinander ein. Wie wütende Furien, denen man Ketten angelegt hatte, die sich deswegen nicht gegenseitig anfallen konnten, standen sie da. Er spürte an der Luft um sie her, dass etwas ganz gewaltig falsch war. Seine Mutter lächelte noch breiter, dann umarmte sie ihre Schwester, bevor sie sich abwandte und "Komm schon, Kai!" über ihre Schulter zurück schnauzte.

Kai blinzelte verwirrt. Das hatte sie schon lange nicht mehr zu ihm gesagt. 'Komm schon, Kai?!' Das ist der Supermarkt-'Nein-das-darfst-du-nicht-haben'-Spruch. Den hab ich seit meinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr bekommen. Spinnt die total?!'

Jan enthob ihn einer Antwort. "Wir gehen ein wenig spazieren, werden bestimmt pünktlich sein. Okay, Martina?"

Martina und Hella fuhren zu ihm herum und Kais Mutter nickte leicht. "Natürlich, Jan. Ihr könnt auch gleich zu Hellas Haus gehen." Ihre Augen strahlten eine bizarre Dankbarkeit ab, die Kai nicht verstand. Jan jedoch nickte Hella zu und ging mit einem Kais Mutter ähnlichen "Kommst du?" einfach in Richtung der Schrebergärten vom Heim fort.

Kai folgte ihm verwirrt und konnte sich keinen Reim auf die Geschehnisse um ihn her machen. "Sie tut mir leid."

"Hella?" Kai kam es nur natürlich vor, dass jemand mit Hella Mitleid hatte. Die wirkte ständig, als würde sie unter dem Gewicht ihrer Probleme zusammenbrechen.

Jan blieb stehen und lehnte sich an eine Hausmauer. "Nein. Du verstehst von der Situation gar nichts." Jan lehnte sich dichter zu ihm, zog Kai am Jackenärmel zu sich heran und sah ihm in die Augen. "Baby", flüsterte er leise und Kai spürte eine unangenehme Hitze in seine Wangen steigen.

'Was soll das?! Spinnt er denn jetzt noch mehr? Scheiße!' "Was…"

"Nicht Hella, sondern Martina tut mir leid, denn sie muss nun zu deinem Vater gehen und ihm erklären, dass er zu deiner Tante zu kommen hat. Um zu zeigen, dass ihr cool seid. Dass es okay ist, wenn alle wissen, dass du mit einem Mann zusammen bist. Dass er nicht mehr kotzt vor Wut." Jan senkte den Kopf. "Sie tut mir leid, denn sie weiß doch jetzt schon, dass sie verliert, selbst wenn er heute Abend mitkommt."

Kai zögerte, dann lehnte er sich neben Jan an die Wand. "Scheiße." Das hatte er nie so gesehen. Nun wurde ihm einiges klar. Jans Stimme drang zu ihm durch, leise und dunkel. Er klang fast so erotisch, wie beim Sex, dennoch mit ganz anderer Wirkung in der Situation. "Deine Mutter hat behauptet, dass ihr es geschafft habt, dass dein Vater es akzeptiert. Heute Abend werden wir ja sehen, ob es stimmt. Für gewöhnlich würde dein Vater mit Sicherheit zu Hella gehen und dort trinken und reden, nicht?"

Kai nickte benommen. "Ja, er und mein Onkel Rolf sind Kumpel. Rolf und Hella haben den Garten zwei Wege weiter, die gleiche Siedlung. Meine Eltern sind dauernd dort." Kai senkte den Kopf. Deswegen war seine Mutter so aggressiv geworden. "Ob es hilft, wenn wir… sollten wir nicht…?" Jan schüttelte den Kopf. "Das ist ihr Ding. Lass sie allein reden."

Er stieß sich von der Wand ab und murrte. "Mist, es fängt gleich zu regnen an. Wir müssen uns was überlegen." Kai schleifte ihn kurzerhand zu der Gartensiedlung. Nebeneinander gingen sie durch die bereits düsteren Wege, an den verlassenen winterstillen Gärten vorbei. "Hier können wir warten. Ist eh nur noch eine halbe Stunde und von hier kann man gut zu Hella rüberlaufen, die wohnen hinten am Friedhof."

"Verdammt dunkel hier, hast du keine Angst?"

"Du bist doch hier."

Jan grinste, seine Zähne blitzten auf. "Ich meinte ja auch – vor mir, mein Ba-by."

Gleich darauf musste Kai kreischend um sein Leben rennen. Zu seinem Glück kannte er sich besser aus und erreichte die Laube seiner Eltern noch halbwegs sicher. Schon von weitem leuchtete sie ihm durch den Nebel und Regen entgegen. Eigentlich von Vorteil, dass seine Eltern den unpraktischen, weißen Anstrich gewählt hatten. Er tastete gerade auf dem Türrahmen nach dem Schlüssel, als er auch schon von Jan gegen die Tür geworfen und in den Nacken gebissen wurde. "Auauaua! Jan, du Raubtier! Au, lass los, lasslosloslassen!"

Zu ihrer Verwirrung wurde die Tür gleich darauf von innen geöffnet und Kai starrte seinem Vater erschrocken in die blauen, zusammengezogenen Augen. "Norbert… hallo."

"Kai." Norbert blickte zwischen ihnen hin und her. "Seid ihr nicht bei Hella?"

Kai reckte sein Kinn und dachte mit Jans Stimme im Kopf 'Jetzt erst recht!', bevor er sich aufmüpfiger als sonst erkundigte. "Bist du nicht auch eingeladen?"

Norbert wendete sich ab und zog seinen Parka an. "Ich habe noch zu tun. Muss noch mal in den Verein fahren. Ich wollte hier nur…" Er beendete den Satz nicht, sondern seufzte und ging zu seinem Fahrrad. "Schließ zu, Kai."

"Ja." Kai fühlte, wie eine unbestimmte Kälte in seinen Körper kroch.

Jan schien es ebenso zu gehen, denn er warf sich in der Hütte auf die Bank und rieb sich die Augen, bevor er leise murmelte "Das tut mir leid, Kai. Ich hatte fast gedacht - gehofft, dass ihr es könntet."

'Nie. Verstecken, belügen, verdrängen, belauern, vergessen, bedauern, vernichten…' "Scheiße. Mir ist übel." Kai setzte sich neben Jan auf die Bank und lehnte sich gegen ihn. Nach einem Moment legte er den Kopf an Jans Schulter und murmelte "Ich weiß nicht. Irgendwie bin ich enttäuscht. Kommt das durch deine Hoffnung?"

Jan hob eine Hand und streichelte Kai über die Haare. "Ja, entschuldige."

"Neinnein. Ich… hätte es wissen müssen."

"Wollen wir zu deiner Tante gehen? Ich fühle mich kalt und müde. Wein wäre nett."

"Aber nicht zu viel, Jan!"

Jan seufzte. "Doch, einiges. Der Pegel, den ich jetzt brauche, damit ich nicht mehr deprimiert bin, wird sehr hoch liegen."

Kai erhob sich steif und zog an Jans Arm, um ihm aufzuhelfen. 'Bitte, lass Jörg nicht da sein! Bittebitte!'

Kapitel 34

Die rote Tür mit dem gravierten Namensschild aus geputztem Messing schwang träge auf und Kai und Jan flüchteten sich zugleich aus dem penetranten Nieselregen in den noch unbeleuchteten Flur. Das ungemütliche Licht einer Sparlampe blendete sie einen Moment drauf, dann erklang die schnarrende Stimme seines Cousins.

"Guten Abend, guten Abend. Der tolle Kai ist also wieder da."

Kai kroch ein Schauer den Rücken runter, aber Hella trat zu ihnen in den Flur und Jörg wandte sich einfach ab und ging in die Küche. Jan und er hängten die durchnässten Jacken im Badezimmer im ersten Stock neben die Heizung und Hella fuhrwerkte mit pinkfarbenen Gästehandtüchern um sie herum, bis Kai gereizt erklärte "Danke, Hella, aber ich denke, wir föhnen die Haare einfach schnell, okay?"

Hella errötete ein wenig, dann vernahm Kai, wie Jan fragte "Kann ich Ihnen mit etwas helfen? Meine Haare trocknen auch so."

Hella lachte nervös, sie schien Angst vor Jan zu haben. Merkwürdig eigentlich, aber dann auch wieder ziemlich klar, wenn man bedachte, dass er der Beweis war. Der Beweis, dass Kai schwul war. Ein nicht zu übersehender Beweis und so männlich, wie jemand nur sein konnte.

"Du könntest den Tisch im Wohnzimmer ausziehen, dann haben wir mehr Platz. Das wäre nett, Jan!" rief jedoch in dem Moment Martina zu ihnen herüber und verschwand wieder nach unten. Dankbar für diese Art des Selbstverständnisses blickte Kai ihr hinterher. Er hatte versucht, auf die Stimme zu lauschen. Klang sie rauer? Er konnte es nicht genau sagen. Nervös überlegte er, ob seine Eltern seinetwegen etwa wieder Streit gehabt hatten. Er wollte nicht schuld sein.

Kai föhnte seine Haare und kämmte mit den Fingern hindurch. Natürlich lockten und wellten sie sich aufbegehrlich in die verschiedensten Richtungen. Er hatte den Kopf gesenkt, um die Haare im Nacken zu trocknen, deswegen erschrak er sich fast zu Tode, als er den Fön ausstellte und den Blick wieder zum Spiegel hob, um dort direkt in das Abbild von Jörgs schmalen, dunklen Augen zu sehen.

Jörg starrte ihn an, unfreundlich war noch untertrieben und Kai konnte nicht anders, als sich dichter an das Waschbecken zu pressen, um ihm auszuweichen. Jörg und ihn verbanden seit Jahren eigentlich nur noch Beleidigungen, die immer und immer wieder Grund zur Erneuerung gefunden hatten.

Im Kindergarten konnte Kai schon lesen und seinen Namen schreiben, als Jörg nur dafür auffiel, dass er sich mit den anderen Jungs so heftig geprügelt hatte, dass die kleine Rutsche im Garten umkippte. Damit ungefähr schien es begonnen zu haben.

Er war aber auch stark. Breitschultrig, massiv wirkend, ohne dass er fett war, was Kai ihm immer gern vorwarf. Jörg war nicht dick, er war nur kräftig. Seine dunkelblonden Haare wichen an der Stirn zurück seit er sechzehn war. Seit zwei Jahren hatte er sich die Haare deswegen sehr kurz rasiert, es machte sein Gesicht jünger, zudem auch runder.

Jörg war der ältere von ihnen. Um ein Jahr nur, aber immerhin. Zudem wirkte er stets älter. Zum einen, weil er einen Kopf größer war, zum anderen vermutlich, weil er sich so gab. Er trug stets Cordhosen und unattraktive Hemden in Farben, die Kai zum Schütteln fand.

All das hätte Kai jedoch nicht gestört, wenn Jörg nicht durch den ganzen Wirbel erfahren hätte, dass er schwul war und wenn Jörg nicht begonnen hätte, sich vor ihm zu ekeln. Auf eine Art, die er Kai schmerzlich spüren ließ. Immer, wenn sie sich zu Weihnachten, zu Ostern, zum Geburtstag von ihren Müttern sahen, nahm Jörg seine Gelegenheit wahr, um Kai mit dem Wissen um diese Gefühle zu quälen.

Kai wickelte das Kabel langsam auf, während Jörg sich hinter ihm auf dem Badewannenrand niederließ. Ein geringschätziges Lächeln spielte um seine Lippen, dann erklärte er mit einer vor unterdrücktem Ärger gepressten Stimme "Rosa steht dir."

Kai wurde rot, das spürte er. Langsam zog er sich das Handtuch von der Schulter. Er wollte nicht mit Jörg reden, doch dieser saß genau in dem Weg, den er zur Tür nehmen musste und streckte nun seine Beine aus, verstellte die Fluchtmöglichkeit.

Jörgs braune Augen verfolgten seine Bewegungen mit scharfem, gnadenlosem Blick. Er trank einen Schluck aus seinem Glas und erklärte "Ich sollte doch dankbar sein. Endlich ist sie still! Endlich hab ich Ruhe und ich hab gewonnen!"

Kai blinzelte verwirrt "Gewonnen? Still?"

"Gegen meine Mutter." Jörg schnaubte einmal, es klang grausam verachtend. "Immer hieß es 'Kai dies, Kai das. Wieso bist du nicht wie er?!'" Jörg starrte Kai böse an. "Ja, aber jetzt ist sie so froh. Jetzt hält sie davon endlich die Schnauze! Jetzt ist sie glücklich, dass ich dumm bin, nicht so… hübsch, dafür aber normal! Nicht so ein Perverser!"

Kai zuckte zurück und taumelte gegen das Waschbecken. Nicht die Worte erschreckten ihn, sondern die Blicke und der verletzende Spott in Jörgs Stimme. Nicht gegen ihn, sondern gegen dessen eigene Mutter richteten sich die schlimmsten dieser Gefühle. Diese Missgunst. Sonst hatte sein Cousin immer nur ein paar Beleidigungen ausgeteilt. Die Begrüßung reichte ja meistens.

"Wie wäre es, wenn du deinen perversen Freund nimmst und jetzt verschwindest?! Mir wird ja schon übel, wenn ich nur daran denke… Lasst euch doch mal kurieren. Ihr habt doch bestimmt genug Psychoheinis… Ach so! Ja, das ist es! Du studierst Medizin, damit du dich kurieren lassen kannst, ist es das? Ja?! Gibt es Heilung, Kai?!" Jörg sprach schnell und lauter als nötig. Ängstlich blickte Kai zur Tür. 'Wenn nur Jan das nicht hört. Er darf das nicht…'

Es war zu spät. Jan stand schon in der Tür, die langsam aufschwang. Er hielt ein Handtuch in den Händen, das er wohl zurückgeben wollte und hatte seine Augen auf Kais Gesicht geheftet. Jörg, der irritiert aufsah, beachtete er nicht.

"Jan…" Kai blinzelte. Dann ballte er eine Hand zur Faust und kontrollierte seine Stimme zu nichtssagender Freundlichkeit herab. "Gib mir das Handtuch. Ich weiß, wo es hingehört. Wir kommen gleich runter, ja?"

Jan blinzelte einmal, dann warf er Kai das Handtuch zu, bevor er langsam den Kopf wandte und Jörg betrachtete. Er starrte Kais Cousin kurz an, dann seufzte er und knurrte. "Komm mit. Jetzt!"

"Was?! Spin…"

"Du bleibst hier, Kai. Er."

Jörg stellte sein Glas mit einem Knall auf den Badewannenrand ab und sprang lachend auf. Kai wich an die Wand zurück und spürte, dass ihm schlecht wurde. "Du willst dich schlagen? Ha! Geil! Na klar! Ich wollte schon immer einem Perversen mal die Schnauze po…" Weiter kam er nicht, weil Jan sich mit einem verächtlichen "Schwätzer." abgewendet hatte, um zur Treppe zu gehen.

Jörg lief hinter ihm her und Kai konnte sich erst aus der Starre lösen, als er die Haustür unten zuschlagen hörte. 'Oh scheißescheißescheiße… Jan, bitte…. Jan…' In dem Moment wurde ihm klar, dass er keine Angst um Jan hatte, sondern Angst darum, was Jan mit Jörg tun würde.

Er stutze. Jörg war fast ein Meter neunzig groß, er war kräftig. Seit er als Installateur arbeitete, war er noch kräftiger geworden. Er konnte den um einiges kleineren Jan doch leichtens fertigmachen. 'Wieso hab ich denn keine Angst um Jan?'

Kai lehnte sich verwirrt wieder an das Waschbecken. 'Jörg. Er hat immer darunter gelitten, dass er nicht so war, wie ich. Nicht so schlau, nicht so fleißig, nicht so hübsch. Will er, dass ich schlecht dastehe, um sich zu rächen? Aber wieso? Er sollte einfach so glücklich sein, wie er ist. Immerhin hat er doch auch schon einiges geschafft.'

"Kai! Wo bleibst du denn?!" Kai zuckte zusammen und beeilte sich, nach unten zu laufen. Dort traf er zu seiner Überraschung auf Hella, seine Mutter, auf seinen Onkel Rolf und auf Jan. Zwei Nachbarpärchen saßen auch noch dort auf dem Sofa und nickten Kai zu. Die Atmosphäre war leicht gespannt, aber nicht unerträglich. Sie saßen um den Couchtisch herum verteilt, auf dem mal wieder viel zu viele Teller mit Broten, Käsestangen, eingelegten Gurken und Silberzwiebeln, Dips und Nüssen standen.

"Na endlich. Kai, du brauchst immer so lang. Du bist einfach zu verträumt", bemerkte seine Mutter und lächelte die Nachbarn an. Diese reichten ihm die Hand und verkündeten nichtssagend "Gut schaust du aus. Mit dem Studium alles in Ordnung, Kai?" Man hatte Jan als seinen Freund vorgestellt. Sie sahen, was sie sehen wollten. Alles war wie immer.

Kai starrte Jan an und bemerkte zu seiner unendlichen Verwirrung, dass dieser normal aussah. Keine Schrammen, keine dreckigen Klamotten, kein Anzeichen, dass er sich geprügelt hatte. Unsicher setzte er sich ihm gegenüber neben seine Mutter.

Die Unterhaltung begann recht rasch mit dem üblichen Ausfragen. Hella wollte alle Details wissen und Kai musste von den letzten Klausuren erzählen. Dann wurde über die neusten Neuigkeiten im Schrebergarten gelästert und am Ende wurde beratschlagt, was mit dem Geld, das die Oma übrig hatte, gekauft werden sollte. Jan war recht ruhig und wich Kais Blicken aus, betrank sich stattdessen.

Nach einer Stunde gingen Hella und Kais Mutter dazu über, mit den Nachbarn die Stadt und Umgebung durchzuhecheln, denn da hatte doch die eine Kleine vom Bäckergeschäft so verdächtig schwanger ausgesehen, der neue Pfarrer der Paulkirche stotterte, was den Gottesdienst unerträglich machte und der neue Autohändler schien was mit der Frau vom Supermarktleiter zu haben, Skandal, Skandal. Kai schaltete auf Durchzug.

Der selbst gemachte Johannisbeerwein ging herum und die Flaschen, die sich leer zwischen den Tellern sammelten, nahmen an Anzahl zu. Kai hielt sich nach einem Glas zurück, der Wein schmeckte nach Kopfweh, außerdem war ihm nicht nach Trinken zumute.

Kais Mutter wirkte aufgekratzt und seine Tante Hella erschien merkwürdig zufrieden. Die Nachbarn lockerten auf, nachdem sie angetrunken waren, und das Lästern und die Gespräche wendeten sich zum Thema Politik und Müllverbrennungsanlage Ost. Alles in allem waren die wenig mehr als zwei Stunden bei seiner Tante die anstrengendste Zeit, die Kai seit langem gehabt hatte. Hinzu kam noch, dass Jan ebenso sehr viel trank.

Es kam selten vor. Kai erlebte Jan zwar auf Partys schon nicht selten angetrunken, aber das waren Unipartys und er war dabei immer noch in vergleichsweise gutem Zustand. Doch bei Hella trank er seiner Ankündigung entsprechend so viel, dass er am Ende schon glasige Augen hatte und still wurde, gänzlich aufhörte, sich am Gespräch zu beteiligen.

Endlich konnte Kai eine Pause im Gespräch nutzten, um aufzustehen und sich abzuseilen. "Es war sehr nett, Hella. Vielen Dank. Wir gehen aber besser nach Hause. Jan sieht mir ein wenig… hm. Jan, kommst du?"

Jan nickte und stand langsam auf.

"Ich hole die Jacken!" Kai drückte Jan auf das Sofa zurück und lief rasch in das Bad hoch. In der Tür jedoch stockte er und japste erschrocken nach Luft. "Jörg!"

Sein Cousin hielt seine blutende Hand über das Waschbecken und kramte nach Verbandsmaterial. "Scheiße! Was hast du denn gemacht?! War Jan das?"

Jörg starrte ihn böse an. "Nein, du Idiot."

"Wir müssen zum Krankenhaus. Das muss vermutlich sogar genäht werden, Jörg!" Kai wusste es auch so schon, auch wenn es ihm nicht gefiel. Er war der einzige, der noch nüchtern war. 'Scheiße, immer ich, so eine… Scheiße!' "Ich muss dich fahren. Die anderen sind alle betrunken."

Jörg ließ seinen Kopf hängen, dann stürzte er zum Klo und übergab sich. Kai sah ihm wie gelähmt dabei zu, bis sein Cousin sich aufrichten und auf den Badewannenrand abstützen konnte.

Er verschmierte die Umgebung mit Blut und Kai begann verzweifelt mit einem Schwamm, den er unter dem Waschbecken entdeckt hatte, hinter ihm her zu putzen. Er bekam die meisten Blutflecken einigermaßen von den Fliesen herunter. Jörg starrte ihn nur leer an dabei, unheimlich irgendwie und bedrohlich beinahe.

"Wenn meine Mutter das erfährt, bist du tot, Kai!" 'Ich?! Wieso denn ich? So ein Arsch!' "Okay, wickel ein Handtuch um die Hand und komm… geht es jetzt?" Immerhin noch einigermaßen besorgt ging Kai auf Jörg zu, aber dieser fuhr zurück und zischte "Fass mich nicht an!"

Kai zuckte zusammen, dann schlug er leise vor "Bitte, wir sollten den Arzt drauf sehen lassen."

Jörg knurrte, doch sein Verstand schien ihn gut zu beraten, er murrte nach einem kurzen Moment "Die Schlüssel sind in meiner Jacke. Wir treffen uns in der Garage."  

"Ich verrate nichts, versprochen." Kai mochte Jörg nicht, vermutete stark, dass dieser ihn hasste, aber es half nichts. Bestimmt war er dann auch noch schuld an der Verletzung, auf die eine oder andere Art. Er würde sich ewig Vorwürfe machen, wenn er sich jetzt nicht verhielt, wie er es sich zum Beginn seines Studiums geschworen hatte.

Jörg erhob sich schwankend und wickelte eines der rosafarbenen Handtücher um seine blutende Hand. "Gut“, stieß er hervor und ging aus dem Bad. Kai schnappte die mittlerweile getrockneten Jacken von Jan und sich und hetzte wieder runter. Er wartete, bis Jörg durch den Keller in die Garage gewankt war, dann ging er in das Wohnzimmer und zerrte Jan vom Sofa herunter, auf dem dieser in verdächtiger Schräglage saß. Hektisch verabschiedete er sich von allen.

Mit seinem betrunkenen Freund zusammen ging er so schnell es ging zur Garage. Er machte gerade Licht im Flur, als sein Blick auf die Wand neben dem Schuhschrank fiel und er abrupt stoppte. Dort hatte Hella ein Bild aus Kindertagen von Jörg und ihm aufgehängt. Auf dem Bild waren er und Jörg zu sehen. Es war im Din A4-Format, eine Aufnahme vom Kindergarten. Sie saßen Arm in Arm und lachten in die Kamera. Freunde eigentlich. 'Es war ja mal anders. Jörg hat mich doch gern gehabt… früher…'

Kai senkte den Kopf, denn quer über den Glasrahmen zogen sich spinnwebenartige Risse, ein Splitter lag am Boden und er konnte Blut daran erkennen. 'Warum hat er das getan? Wieso denn? Jörg war doch immer so ruhig und nun so was?'

Er beeilte sich, auch wenn die Unsicherheit ihn zerfraß. Als er zum Wagen kam, saß Jörg schon auf dem Beifahrersitz. Jan stieg verwirrt und betrunken hinten ein, dann erst sah er Kais Cousin und stockte. Verlangsamt setzte er sich und starrte Jörgs Hinterkopf an. "Hallo, Arschloch."

"Halts Maul, Perverser!"

"Hey! Ruhe, ihr beiden! Ich will jetzt nichts mehr hören!" 'Oh Gott, das überlebe ich nicht! Scheiße!' Hastig knallte Kai die Tür zu und öffnete das Garagentor. Es regnete immer noch, was das Rausfahren aus der ungewohnten Garage und das Abschließen des Tores unangenehm verzögerte.

Immer und immer wieder sah Kai das Bild vor sich. Die zwei grundverschiedenen Jungs, Arm in Arm und lachend, der tiefe Riss im Glas. 'Hat er mich doch gern, oder hasst er mich? Was hieß das jetzt? Gibt er mir die Schuld? Wofür denn? Warum? Ich fang schon an wie Jan mit seiner Psychoscheiße!'

Kai fuhr, in das eisige Schweigen der beiden anderen gehüllt, zur Notaufnahme des Krankenhauses und schleifte Jörg an dem Pförtner vorbei in die Ambulanz, wo ihnen der Notarzt gähnend entgegen kam.

"Na, Kai?" Der Arzt war zum einen Stationsarzt auf der Station, auf der seine Mutter arbeitete und zum anderen kannte Kai ihn auch aus dem Sportverein, in dem sein Vater war.

"Hallo. Mein Cousin hat sich die Hand an einer Glasscherbe verletzt."

Der Arzt nickte und besah sich die Hand, während Kai den nöligen Jan in das Wartezimmer abschob. Jörgs Hand wurde geröntgt und gewaschen. Nach einer kleinen Weile rief der Arzt ins Wartezimmer rein. "Kai! Willst du das nähen?! Deinem Cousin ist es egal und gleich kommt ein riesenhafter Unfall rein. Ich wäre ausnahmsweise wirklich dankbar!"

Kai blinzelte, dann nickte er leicht. "Ja, kann ich machen." 'Was?! Nein, kann ich nicht, scheiße, scheißescheiße…!'

"Wir haben die Hand schon betäubt, sind eh nur die paar Stiche."

Kai setzte sich seinem Cousin gegenüber und senkte den Blick auf die vom getrockneten Blut befreite Hand. Kräftig, rau, man konnte die Schwielen deutlich sehen. Er hatte mit rechts zugeschlagen, mit der Handkante, vermutlich im Vorbeigehen. Es war kein Versehen gewesen.

Kai zog sich sterile Handschuhe über und breitete das grüne Tuch über die Hand, bis nur noch die Wunde in dem Schlitz zu sehen war. "Ist es dir wirklich recht, Jörg?"

"Klar. Mach es schön, wehe du verbockst das!" Jörg biss die Zähne zusammen und senkte ebenfalls den Kopf. Sie schwiegen, während der Pfleger zu ihm kam, um ihm Nahtmaterial zu geben.

"Schon alles taub? Merkst du das noch?" Vorsichtig pikte Kai ihn einmal.

"Au. Pass auf!"

"Kann ich noch mal etwas Lidocain haben?"

"Klar." Der Pfleger zog ihm eine Spritze auf und fragte nach einem Blick zur Tür, vor der ein Rettungswagen mit Blaulicht hielt. "Noch was?"

"Nee, danke." Ohne sie weiter zu beachten, lief der Pfleger raus, um dem Sanitäterteam zu helfen.

Jörg starrte ebenso wie Kai auf den Riss in seiner Handkante und schwieg, während Kai mit dem Nähen begann. Es war ungewohnt. Er hatte es schon länger nicht mehr gemacht, fühlte sich durch die ganze Situation zittrig und musste die ersten Stiche wieder reinkommen, aber beim dritten Stich schon fühlte es sich gut an. Die Wunde begann weniger gefährlich auszusehen, er entspannte sich. Natürlich war er schon durchgeschwitzt und sein Arm tat vom Zittern und Verkrampfen bereits weh, aber sein Cousin schien das gar nicht zu bemerken.

"Wieso hast du in das Bild geschlagen?" 'Oh Gott, kann ich nicht meine Klappe halten? Ich Idiot!'

"Wieso? Aus… Ich weiß nicht."

Kai seufze und schnitt den Faden, spannte die Nadel neu ein. "Ich weiß, dass du mich nicht abkannst, sag es mir doch einfach."

Im Geiste zitterte er und duckte sich unter den Tisch, in Wirklichkeit fand er nicht einmal dazu noch genug Kraft. Jörgs gesunde Hand, die neben der abgedeckten auf dem Untersuchungstisch lag, ballte sich leicht zusammen, dann zitterte der ganze Arm ein wenig. "Warum… bist du so?"

Kai hob erstaunt den Kopf und sah ihn an. Der große, kräftige Kerl sah doch tatsächlich so aus, als würde er sich gleich in Tränen auflösen.

"Was?! Wie bin ich?"

"Warum…?"

Kai knotete nachdenklich, dann fragte er "Warum bin ich wie? Was meinst du?"

"So… perfekt."

"WAS?!"

Kai schnitt den Faden ab und ließ die Nadel sinken. "Das kann doch nicht wahr sein, wieso sagst du das denn?! Wer denkt denn so was Idiotisches?! Scheiße."

Jörg schnüffelte und Kai dachte panisch, dass es nicht sein konnte, dass sein Cousin jetzt zu heulen anfing. "Meine Mutter, deine Mutter, alle Lehrer, Imke Jelenik, die Leute von meiner Arbeit sogar… alle eben. Es ist ja sogar toll, wenn du einen Kerl mitbringst!"

"Nein, ist es nicht." Kai nähte den letzten Stich, dann erst fiel ihm der eine Name auf. "Imke Jelenik?!"

Jörg wurde rot und schnüffelte noch ein wenig mehr. Er betrachtete den letzten Stich mit dumpfen Blicken, während Kai das grüne Tuch und die Handschuhe in die Sammelsäcke gab und den Wundversorgungskasten zum Sterilisieren stellte. 'Meine Güte, was für ein beschissener Tag! Erst Jan, jetzt mein Cousin… was wollen die alle denn von mir?!'

"Ich klebe dir noch Pflaster auf“, erklärte er, um das Thema fortzuwischen, aber Jörg sagte düster.

"Imke stand doch schon im Kindergarten auf dich, Kai."

"Ich nicht auf sie."

"Ich weiß. Aber ich."

Kai stockte kurz, dann holte er die Pflaster und einen Tupfer und wischte die Wundränder frei. "Dann sag ihr doch, dass ich schwul bin", murrte er unglücklich und hasste das Wort, auch wenn es zur Stimmung passte.

Der Arzt kam herein und warf einen Blick auf die Wunde, nickte Kai zu. "Ist doch gelungen, schaut super aus! Ich schreib schnell noch mein ABC drunter, danke dir."

Kai sah Jörg noch immer an, war noch zu erschrocken von dem, was er gerade gesagt hatte. 'Wie konnte ich ihm das nur so deutlich vorschlagen?! Ich Idiot!' Der Arzt lief nach einem Gruß wieder in den Nebenraum und Kai zog seine Jacke über, sah seinen Cousin auffordernd an.

Jörg ließ seine Hand liegen und blieb einfach sitzen. An der Tür rannten einige Sanitäter vorbei, der Arzt fluchte herum und schrie einem Röntgenassistenten einen Befehl zu. "Das habe ich mich nicht getraut. Ich kann das nicht sagen."

"Wieso nicht?"

Jörg senkte den Kopf. "Das Bild. Weißt du noch?"

"Das war im Kindergarten."

"Ja. Ich war im selben Kurs, wie du. Tante Martina und Mama wollten das so."

"Damit du mich beschützt, weil ich so klein war und viel zu dünn. Das hast du doch auch immer gemacht."

"Ja. Ich hab es immer versucht. Aber ich hab doch auch immer versagt. Das einzige, was passiert ist war, dass du besser warst als ich, dass du niedlicher warst, ordentlicher."

"Ich war langweiliger, langsamer, schwächer. Noten sind nicht alles, und ordentliche Klamotten erst recht nicht."

Jörg stand langsam auf und nickte leicht. "Für meine Mutter schon, Kai." Er wendete sich ab und nahm seine Jacke vom Stuhl auf. "Und für Imke auch. Sie ist ja mit mir gegangen, aber hat Schluss gemacht, vor einem Monat. Als Grund kamen lauter so Sachen, wie Klamotten, Bücher, Filme… ganz merkwürdig. Meine Mutter hat mir heute sogar vorgehalten, dass du einen Freund hast. Weißt du, was sie eben gesagt hat, bevor ihr gekommen seid?"

Kai ließ den Mund offen stehen. Wie konnte seine Tante denn aus Jan einen Vorwurf bauen? "Nein, weiß ich nicht", murmelte er betäubt. 'Und ich will es auch wirklich nicht wissen.'

Jörg ignorierte Kais Wünsche natürlich, indem er giftig erzählte "Sie hat gesagt, dass ich es nicht mal schaffe, eine Freundin zu bekommen, wo du sogar mit deiner perversen Vorliebe jemanden gefunden hast, der auch noch anständig aussieht." 'Oh Scheiße… Hella ist eine dumme Kuh! Aber… Jan…'

Kai sprang vor und umfasste Jörgs Arm. "Was hat Jan dir gesagt?"

Jörg blinzelte und hustete leicht, dann wand er sich frei und entgegnete. "Er hat gesagt, dass es ihm lieber wäre, wenn ich ihm eine reinhaue, als wenn ich noch einmal mit dir rede."

"Was?"

"Er hat wörtlich gesagt: 'Kai gehört zu mir, ob es dir passt, oder nicht. Rede nie wieder so mit ihm. Dann ist es mir lieber, wir schlagen uns wirklich.'"

Kai blinzelte dämlich, sein Cousin bekam sogar Jans Tonfall für gefährliche Momente gut hin.

Jörg schloss die Jacke langsam. "Dann hat er noch gesagt, dass ich das billige Erlebnis eines geschmacklosen Sieges ja leider zu brauchen scheine, und dass er das arm findet." Er zuckte mit den Achseln. "Ist es ja wohl auch. Ich kann nur nicht anders. Warum, verdammt… warum ist es egal, was du machst?!"

Kai zuckte zurück, dann ließ er sich auf den Hocker fallen und murrte "Ist es doch gar nicht. Mein Vater redet immer noch nicht mit mir."

"Norbert… Stimmt. Mein Vater auch nicht."

"Rolf und er waren sich ja auch einig."

"Aber das soll doch - laut meiner dämlichen Mutter - die Schuld von dem Typen gewesen sein, wie hieß er noch mal? Der Sohn von Feinwebers, nicht? Der ist doch in den USA zurzeit. Ich hab gehört, dass er Karriere macht."

"Wirklich?" Kai hustete ein wenig. Das konnte er sich nicht vorstellen, wenn er an den damals so schüchternen, verhuschten Jungen dachte, der ihn hinter nicht gerade wenig Brillenglas hervor angeblinzelt hatte, nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten.  

"Ja, Frau Feinweber prahlt doch rum mit dem Geld, das er macht. Anlagetyp bei der Bank, scheint sogar an der Börse zu arbeiten."

"Wir haben uns seit dem Abi nicht mehr gesehen oder gesprochen."

"Aber du hast mit ihm rumgemacht."

"Nein, habe ich nicht." 'Das war gelogen, Kai. War es nicht! Doch. Halt die Klappe!'

"Gerüchte bloß? Ist der gar nicht schwul?"

Das Thema begann Kai zu nerven. Er ging an seinem Cousin vorbei in Richtung des Warteraumes und zu Jan, der dort in der Tür lehnte und betrunken aussah. "Ich weiß es nicht, Jörg."

Das war noch mehr gelogen. Wenn einer in Kais Augen schwul war, dann Pascal Feinweber. Er sah vielleicht nicht wirklich so aus, auf den ersten Blick, aber er war es, der Kai dazu gebracht hatte, darüber nachzudenken. Er hatte ihn zuerst geküsst.

"Hey, Kai."

"Ja?"

Jörg hielt ihn an der Schulter fest. "Danke für die Naht."

"Hm."

Jörg seufzte leicht, dann murrte er "Ich finde dich trotzdem pervers. Stehst du echt nicht auf ne richtige Frau? So mit ordentlichen Brüsten? Hm? Kurven? Nicht?" Mit den Händen verdeutlichte er, was er meinte und einige Sanitäter starrten sie an.

Kai schüttelte entsetzt den Kopf und wich Jans merkwürdigen Blicken aus.

"Wie kannst du denn so was wie den gut finden?!" Jörg deutete auf den düster dreinschauenden Jan.

Kai lachte auf. "Tut mir leid. Aber sieh es doch mal so. Auf Imke stehe ich bestimmt nicht. Also, schnapp du sie dir doch. Erzähl ihr doch, dass ich schwul bin, dann hast du auf jeden Fall ein Gesprächsthema."

"Reden? Das will sie eh dauernd… Weiber. Immer wollen die reden!"

Kai hielt sich noch bis zum Wagen den Bauch vor Lachen. "Reden! Da kann sie sich ja mit Jan zusammentun!"

Jan war zu seinem Glück zu betrunken, um sich wirklich an ihm rächen zu können. Dafür schlang er auf der Rückfahrt von hinten die Arme um Kais Schultern und küsste ihn auf die Wange, was Jörg mit einem "Ihr seid absolut widerlich!" kommentierte.

Statt darauf zu antworten, parkte Kai den Wagen in der Garage und ging mit Jan schnell nach Hause, ohne sich weiter um seinen Cousin zu kümmern, dem er das Schließen des Tors einfach stillschweigend überließ. Zu ihrem Glück merkte seine Mutter nicht, dass sie nicht gleich von Tante Hella nach Hause gegangen waren, weil sie erst nach ihnen heimkehrte.

Vollkommen erledigt schlief Kai an Jan gekuschelt ein, gleich nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte. Er schlief traumlos und wie ein Stein, überhörte sogar, wie seine Eltern aufstanden, obwohl er das sonst immer mitbekommen hatte.

Er erwachte am nächsten Morgen stattdessen von Jans Gestöhne und Gemähre, weil dieser einen schlimmen Kater hatte. "Mir ist schlecht, ich hab Kopfweh, so einen komischen Geschmack im Mund. Wo ist bei euch das Aspirin? Oh, das ist ja ekelig! Es riecht hier überall nach Ei! Ich glaub ich muss…"

"Aspirin macht dir nur noch mehr Magenschmerzen, trink lieber etwas Wasser, Jan."

"Wäh, lass mich bloß in Ruhe! Wieso hast du mich nicht gewarnt? Ich hätte von dem Zeug aus der Hölle nichts trinken dürfen. Ekelhaft… oh mein Kopf!"

Kai seufzte und ging ihn ignorierend duschen.

Als er wiederkam, war Jan knatschig und zerknautscht aussehend aufgestanden. Mal wieder hatten sie die Matratze auf dem Boden ignoriert und zusammen in Kais Bett geschlafen, aber Jan war für wilden Sex im Kinderzimmer zu betrunken gewesen, was Kai nicht wirklich schade fand. Der Gedanke störte ihn noch immer.

Kai kippte seinen Rucksack auf dem Bett aus und begann sich anzuziehen, während Jan über seinen dreimal so großen Schädel lamentierend ins Bad schlurfte. Kais Mutter rief sie schon zum dritten Mal zum Frühstück, bevor Jan überhaupt mit Duschen fertig war, also ging Kai schon nach unten in die Küche, ließ sich dort auf die Sitzbank auf seinen Stammplatz fallen und zog über Jan und seinen Kater her.

Seine Mutter belud ihm einen Teller mit Rührei und Toast und stellte ihm einen Becher mit Kaffee hin, dann lief sie davon, um mit seinem Vater zu streiten, der im Garten an irgendwelchen Holzpfosten für Rosenstöcke hantierte.

Sofort lauschte Kai erschrocken und ängstlich, aber der Ton zwischen den beiden war alltäglich. Seine Mutter rief Norbert nur zu, dass er – verdammt noch mal – die Handschuhe anziehen solle, wenn er sich nicht wieder einen Holzsplitter einholen wolle, wie im Sommer, der dann vereitern würde und und und… Kai schaltete auf Durchzug.

Die Nase in den Kaffeebecher versenkt, starrte er auf die Kinderbilder an der Wand neben sich. Die meisten stellten ihn allein dar, doch da war auch das Bild, das Hella in ihrem Flur hängen hatte. Das Bild, gegen das Jörg geschlagen hatte.

Merkwürdig berührt versuchte Kai sich an die Tage zu erinnern, an ihre Beziehung zu der Zeit, als das Bild geknipst wurde. Es gelang ihm nicht. Er hatte Jörg nur als den schlecht gelaunten, immer fiesen und missgünstigen Typen in Erinnerung, der ihn auf Familienfeiern piesackte. Die Zeit davor, die Momente, in denen Jörg ihn umarmt und im Kindergarten beschützt hatte, waren ausgelöscht. Kai fühlte sich mit einem Mal durch sein lückenhaftes Gedächtnis um etwas Wichtiges betrogen.

Ein wenig unglücklich dachte Kai darüber nach, was Jörg alles hatte aushalten müssen. Die ewigen Vergleiche mit seinem Cousin, der in der Schule besser war, der bei den Lehrern beliebter war und bei den Mädchen anscheinend auch. 'Hella ist blöd. Wieso redet sie ihm ihre eigene Eifersucht ein? Ich bin doch nun wirklich nicht der bessere von uns beiden.'

Jan unterbrach Kais Grübelei und nervte ihn während des Frühstücks, während sie packten und auf der gesamten Heimfahrt mit Beschwerden zu seinem Befinden und mit Klagen über den Verdacht, dass Hella ihn mit diesem merkwürdigen Mirabellenschnaps hatte vergiften wollen.

Als Kai Jan verabschiedet hatte und hinter ihm die Tür schloss, war er mehr als dankbar, dass er endlich mal seine Ruhe hatte. Schnell rief er seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie gut angekommen waren, dann fiel er auch schon auf sein Bett und starrte aus seinem Fenster in den regnerischen Nachmittagshimmel.

'Norbert hat nicht ein Wort mit mir geredet. Mit Jan auch nicht. Wieso ist er jetzt wieder so? Warum hat er Mama das angetan? Es wäre doch nicht zu viel verlangt gewesen, einfach mit zur dummen Hella zu gehen, um ein Bier zu trinken, oder? Und dann Jörg. Ob er das verstanden hat? Ob er… vielleicht ist er nächstes Mal besser drauf, netter zu mir. Immerhin hab ich ihn mit fünf Stichen genäht!'

Kai grinste bei dem Gedanken ein wenig, doch dann drehte er sich auf die Seite und seufzte leicht. 'Vermutlich nicht. So etwas vergisst er bestimmt leichter, als all das Gekeife von Hella.'

Seine Augen drifteten gerade zu, als jemand in seiner Tür erschien und nur nachlässig anklopfte, bevor sich Schritte dem Bett näherten. Kai stöhnte genervt auf und drehte sich herum.

Vor dem Bett stand Lolli und hielt sich ein Hemd mit Rüschen in Kreischlila und abwechselnd dazu einen giftgrünen Rolli mit gelben Blümchen an dazu rief er zu laut "Gott oh Gott, Kaichen! Gut, dass du da bist! Welches soll ich nehmen? Das in Flieder, oder das in Meergrün? Entscheidungen, Entscheidungen… hilf mir!"

Kai stöhnte noch einmal auf und tastete blind nach etwas, das er werfen konnte. "Wieso ziehst du nicht auch mal einfach was naturfarbenes an, bei den Sachen braucht man ja ne Sonnenbrille!"

Lolli ließ die Augenmarterteile sinken, dann tat er die Bemerkung mit einem Kichern und einer lässigschwulen Handbewegung ab. "Pah! Natur? Das ist eine andere Art zu sagen: 'Das Geld hat für Farbe nicht gereicht!'"

Mit Schwung verließ er Kais Zimmer und rief "Aber warte, ich hab da noch ein himmelblaues Teil, oder vielleicht kann ich ja auch den zimtfarbenen…" Kai bedeckte seinen Kopf mit einem Kissen und wünschte sich wieder zu seiner Tante zurück. Es erschien ihm mit einem Mal sogar dort angenehmer.

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