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Trost

Kapitel 27-30

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 27

Lukas Zunge untermalte die Worte direkt an Kais Ohr und heißer Atem jagte Kai Schauer über den Rücken. "Lu… bitte, ich…" Lukas' Lippen verwandelten Kai innerhalb von Sekunden in ein Nervenbündel; vor allem, weil Jan gleich in ihrem Sichtfeld saß. Kai ruderte mit seinen Armen, während Lukas ihn über die Rippen bis auf seine Brust streichelte. Lukas reagierte, indem er ihm das Glas aus den erschlaffenden Fingern nahm.

Kai schaffte es gerade eben, sich freizuwinden und Lukas setzte sich lächelnd zurück. "Siehst du? Das tust du mir an. Dauernd. Wieder und wieder." Mit einer raschen Bewegung umfing er Kais Hand und schob sie über den Schritt seiner Hose. "Und schon wieder."

Kai konnte sich nicht wehren, so perplex war er. Er ertastete deutlich, was Lukas meinte, während dieser Kais Finger an sich gepresst hielt und ihm mit einem schon düsteren Blick in die Augen starrte. Das Leder fühlte sich weicher an, als er gedacht hatte und kühl. Irgendwie weniger wie die zweite Haut, die es an Lukas war.

Kai blickte ihm einen Moment lang noch gebannt in die Augen, dann ließ er seinen Blick langsam an dessen Körper hinab wandern. Er blickte auf das Hemd, nahm jeden Knopf wahr, streifte den Hosenbund mit den Augen, bis er direkt auf seine Finger, auf Lukas' Schoß sah.

Er legte den Kopf schief und betrachtete Lukas' Hand über seiner, Lukas hielt ihn nicht zu fest, nur eben gerade an sich gepresst, aber locker, weil er merkte, dass Kai sich nicht rührte. "Nimm deine Hand weg, lass mich los", verlangte Kai leise, selber über die Sicherheit in seiner Stimme überrascht.

Lukas blinzelte, dann nickte er, seufzte verhalten und ließ ihn gehen. "Entschuldige."

Kai spürte, wie Lukas' Wärme von seinem Handrücken verschwand, aber ließ die Finger dort liegen, wo dieser sie platziert hatte.

"Nein." Kai schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Daumen auf der Knopfleiste entlang. Er merkte, wie Lukas sich versteifte, dann jedoch in die Kissen zurücksank. Deutlich spürte er seine zunehmende Erregung. "Es tut dir eh nicht Leid, also sag es nicht." Ein seltsam verbotenes Gefühl. Er berührte Lukas. Er tat etwas und er hatte ihn in der Hand… im wahrsten Sinne des Wortes. Deutlich konnte er die Umrisse von Lukas unter dem Stoff ertasten. Das Leder. Ein merkwürdiges Material. 'Doch wie eine Haut.' Kai beobachtete seine Finger, während er begann, Lukas zu streicheln, leicht, ohne Druck.

Lukas starrte seine Finger einen Moment lang ebenso an, fassungslos, dann grinste er und nickte leicht. "Wie kann es mir jetzt noch Leid tun?" Mit einem Arm langte Lukas hinter sich und dimmte das Nachttischlicht komplett runter; nur noch der flackernde Fernsehschirm und der schwache Schein, der durch die Tür fiel, erhellten den Raum. Lächelnd zog er eine Wolldecke um Kai und sich und schob ihm noch ein Kissen unter den Kopf. Dann sah er ihm erneut ins Gesicht und betrachtete seinen Ausdruck eine Weile. Sie schwiegen sich an, betrachteten einander.

Kai fiel auf, dass er Lukas noch nie so eingehend gemustert hatte. Noch nie hatte er sich mit seinem Gesicht wirklich beschäftigt. Nun fiel ihm auf, wie gerade seine Augenbrauen standen, wie dunkel die Wimpern wirkten. Lukas' Mund war ihm zuvor nicht wirklich bewusst geworden. Die Linien neben den Augen, die ihn freundlich wirken ließen. Anders als bei Jan hatte er bei ihm immer nur auf das Gesamtbild geachtet, nie auf die einzelnen Details. Nun fiel ihm auf, dass die Unterlippe einen leichten Schwung machte, dem die Oberlippe nicht folgte, was den Mund ein wenig schräg aussehen ließ.

Kai musterte den Gesichtsschnitt seines Gegenübers nun eingehender und war sich zur selben Zeit klar darüber, dass er nur aufdringlich starren und derart lange einem Blick standhalten konnte, weil er so betrunken war. Die Stille zwischen ihnen zog sich hin, untermalt von dem Kommentator im Fernsehen, von der Bewegung des Ventilators über ihnen.

Endlich hob Lukas eine Hand und streichelte Kai über die Wange, über den Hals und von dort über seinen Rücken, brach nach und nach den Bann. Er zog Kai dichter zu sich heran, gleichzeitig hob er seine Hüfte leicht an, um den Kontakt zu Kais Hand zu verstärken.

Als Kai den Druck seiner Finger ein wenig erhöhte, sachte rieb, seufzte Lukas leise auf und zog Kais Kopf mit sich, während er sich tiefer in die Kissen sinken ließ. Ihre Lippen berührten sich gerade eben und verursachten ein Kribbeln in Kais Mund, als Jan mit einer Tüte raschelte und aufstand. "Ich hol mir noch ein Bier…"

Kai fuhr geschockt von Lukas hoch und drehte sich zu ihm um. Jan blickte zu ihm hin, kniff die Augen ein wenig und fragte "Kai? Willst du was trinken?"

"Nee, danke." Kai wunderte sich über seine ruhige Stimme, aber Jan reagierte nicht weiter, sondern nickte nur und streckte sich, dann ging er aus dem Raum. Frappiert starrte Kai seinem Freund nach, der doch zuvor nicht einmal wollte, dass er mit Lukas redete. Der kicherte ein wenig und küsste Kai auf die Wange.

"Ist er vielleicht nachtblind?"

"Nein. Naja, weiß ich nicht."

"Dann ist er betrunken."

"Das ist er mit Sicherheit, aber er verträgt doch so viel… egal." 'Egal.' Kai war irgendwie zu eingelullt in die Zärtlichkeiten von Lukas und das Gefühl, dass er bestimmen durfte. Außerdem war er noch immer zu wütend über Jans Verhalten und hatte viel zu sehr das Bedürfnis sich streicheln zu lassen in dem Moment. Den ganzen Abend schon. Er hatte das Bedürfnis sich begehren zu lassen. Jan schien ja nicht bereit dazu.

Ihn begehren. Genau das tat Lukas. Die Finger zogen langsame, dennoch erregende Bahnen unter Kais Shirt und seine Lippen streichelten jeden Millimeter von Kais Hals und Haaransatz, während Kai eigentlich nur seine Hand dort ließ, wo Lukas sie platziert hatte, nichts weiter tat. Mehr war auch nicht drin, weil er langsam aber sicher wegdämmerte. Immer wieder rissen Bewegungen, ein Lachen, ein Wechsel in der Musik ihn heraus, aber er steuerte immer sicherer auf den Schlaf zu, den sein Körper wollte.

Kai konnte dennoch spüren, wie sehr Lukas es genoss, mit ihm dort zu liegen, ihn zu berühren, von ihm gestreichelt zu werden. Und dieses Genießen machte erst den prickelnden Effekt aus.

Jan kam zurück und erklärte in Richtung des träge vor sich hindösenden Kai "Wir bleiben bestimmt noch eine Weile. Lolli kann zwar noch fahren, aber erst, wenn Frank von der Disco hier vorbeikommt."

"Hmhm. Ich bleibe hier liegen, bin zu müde und betrunken."

Lukas stützte sich auf und sah Jan an "Ihr könnt hier schlafen, Jan."

Jan versteifte sich ein wenig, was Kai an seinen Schultern sehen konnte. Sein Freund hatte Lukas erst an der Stimme erkannt, wie es schien. Dann nickte Jan leicht. "Ja, wenn es zu spät wird." Seine Stimme verriet durch eine leise Heiserkeit, dass er zu viel getrunken hatte. Ansonsten zeigte der Tonfall Kai an, dass Jan durchaus noch immer nicht begeistert von Lukas war. Jan ließ sich jedoch nach einem letzten Blick in Kais Richtung wieder zu den anderen auf die Kissen nieder.

'Wieso sagt er denn eigentlich nichts?' Verwirrt starrte Kai auf Jans Hinterkopf, bevor er sich wieder auf Lukas' Brust sinken ließ, während dessen Finger seine Haare streichelten. 'Vielleicht ist er echt zu betrunken. Oder er denkt, dass nichts sein kann, weil hier noch vier andere im Zimmer sitzen. Das wird es sein.'

Kai gab für sich zu, dass Jan zu Recht relaxt reagieren konnte. Er war zu betrunken und viel zu müde, als dass er noch irgendetwas schnallte oder zuwege bringen konnte. Dennoch war er erregt, von einer leichten Art, irgendwie unkontrollierbar und ohne ein Ziel, wie es sonst war. 'Zu betrunken für Sex… das ist schon einmal sicher.' Ein irgendwie beruhigender Gedanke.

Lukas zog eines von Kais Beinen über sich und küsste ihn wieder. Dieses Mal ließ sich Kai darauf ein, fühlte sich nicht wirklich überrannt und war zu träge, um sich zu wehren. Lukas umfasste seinen Po und presste ihn mit einer raschen Bewegung enger an sich, während er mit der Zunge an seinen Zähnen entlang glitt.

Als sie den Kuss vertieften, sich ihre Zungen zu berühren begannen, fing Lukas an, sich gegen Kais Hüfte zu bewegen, langsam, noch immer im Takt mit den Ventilatoren. Kai seufzte leise auf und stimmte sogar ein wenig in die Bewegungen mit ein. Sie waren doch vollständig bekleidet, was sollte schon passieren? Viel nicht. Jedenfalls nicht mit ihm.

Außerdem lag er oben, konnte doch jederzeit aufstehen. 'Naja, ob ich das jemals kann? Aufstehen? Vermutlich nicht.' Kai gestand sich ein, dass er nicht nur betrunken war, sondern auch müde. Zu müde. Er reagierte auf Lukas, aber machte nicht wirklich mit.

Die Hände auf seiner Haut unter dem Top, merkwürdigerweise auch unter der Hose, wann auch immer das passiert war, konnten ihn nur Wärme fühlen lassen, eine langsame, gemütliche Erregung. Eine, die im Bauch begann und dort auch blieb. Eine Erregung, die man gut aushalten konnte, die einen nicht quälte, die wie ein Sommernachmittag im Garten langsam vor sich hindämmerte. Jedenfalls blieb seine Abteilung für praktischen, angewandten Sex unbeteiligt davon. Zwischen zwei Küssen gähnte Kai, konnte es nicht verhindern.

Lukas lachte leise. Er schien zu merken, wie abgeschossen Kai schon war, denn er hielt an dessen Mund gelehnt inne und flüsterte "Ich sollte dich schlafen lassen, Engel."

Kai nickte trunken und suchte mit den Lippen nach Lukas' Mund. Sie küssten sich leicht, tastend und blieben noch einen Augenblick aneinandergelehnt liegen. Allmählich ließ Lukas ihn los. Kai seufzte und schloss die Augen, sackte seitlich in die Kissen, als Lukas sich unter ihm durchrollte.

Lukas hatte sich gerade aufgesetzt, als das Mädchen mit der Federboa ins Zimmer kam und ausrief "Hier bist du! Wir müssen los, Lukas. Es war eine tolle Party!"

Lukas nickte leicht. "Ja, das fand ich auch. Soll ich euch noch zur Tür bringen?"

"Ach Quatsch! Ach, da ist Jan ja auch. Wir sehen uns ja mal, nicht?!"

Jan hob den Kopf und einer der anderen schaltete den Fernseher aus, während er sich hochhievte und das Mädchen umarmte. "Klar, bis zur nächsten Party."

Kai schloss erneut die Augen, machte sich im Bett unsichtbar und zog die Decke weiter über sein Gesicht. Träge verfolgte er die Stimmen um ihn her.

Jan fragte "Können wir denn bleiben, oder sollen wir doch eine Taxe nehmen?"

"Wer weiß, wann Frank es beliebt vorbeizuschneien“, warf wer anderes ein. Lolli stellte fest "Eigentlich sollte er schon wieder zurück sein. Ist ja schon zwei."

"Naja, ihr legt euch erst mal hin. Lolli, ich hab doch das Sofa ausgezogen." Lukas Stimme.

"Ja, die Meiersche liegt da schon. Hey, ist das unsere Maus?"

"Das ist Kai, wenn du den meinst. Jan, du kannst doch auch hier pennen."

"Danke."

Das Bett schwankte leicht, dann erklärte Lukas "Ich gebe noch Decken raus. Wenn Frank doch noch kommt, dann fahrt ihr halt."

Die Stimmen entfernten sich und Kai streckte sich wohlig. Gleich darauf legte sich jemand zu ihm unter die Decke. 'Jan?' Schläfrig kroch Kai näher heran. Ein Arm umfasste ihn und jemand presste sich an Kai heran. Aus Reflex passte er sich an den Körper an. Alles war wunderbar gewohnt und fühlte sich sicher an, müde murmelte er noch "Jan? Nicht die Decke wegziehen…", und driftete wieder in den Schlaf zurück.

Kai wachte von Übelkeit auf und von wabernden Kopfschmerzen. Als er sich vorsichtig bewegte, stellte er Verspannungen seines Nackens fest, seine Arme und Beine fühlten sich schwer an und zudem schien er verschwitzt zu sein. Knurrend befreite er sich aus der Decke. Obwohl es im Zimmer dunkel war, kniff er die Augen weiterhin zu.

Seine Erinnerung begann ihn darüber zu informieren, dass seine Kopfweh und die Übelkeit mit Sicherheit von den Cocktails stammte. Sein Verstand gab zu bedenken, dass Kai noch nie einen so schrecklichen Kater gehabt hatte. Hämische Stimmen zählten die Promille, mit denen er sich vergiftet hatte, und Kai war zu schlapp, um den Spaßfaktor dagegen anführen zu können. Er hob den Kopf und rieb sich die Augen. Einen Augenblick später wurde sein Leben um einiges komplizierter.

Wie immer in solchen Situationen passierten viel zu viele Dinge zur selben Zeit. Zuerst wurde ihm richtig übel und sein Magen krampfte leicht, als Zweites begann ein heftiges Pochen hinter seiner Stirn und seinen Augen. Beides zusammen setzte ihn außer Gefecht, als er Jans Stimme vom Nachbarzimmer her vernahm; zur selben Zeit wurde er sich des warmen Körpers neben sich bewusst, den er für Jan gehalten hatte. Und während Kai sich noch immer verwirrt fragte, welches der wahre Jan war, kam jener in den Raum hinein.

Kai schaffte es eben, seine Augen aufzuzwängen. Zu seinem Schrecken erblickte er Lukas neben sich, mit einem T-Shirt und einer Shorts bekleidet. Und als Krönung hatte dieser eine Hand locker auf Kais Taille platziert 'Bin ich nicht mit Jan eingeschlafen?' Zugleich mit dieser Frage bekam er Antwort, denn von jenseits des Bettes starrte Jan ihn düster an, aus schmalen Augen und auf eine unheimliche Weise wortlos.

Mit einem heiseren Aufschrei stieß Kai sich von Lukas ab, der noch zu schlafen schien. Die Bewegung stellte sich als Fehler heraus. Die Welt begann wie irregeworden zu schwanken und sich zu drehen. Kai atmete einige Momente vorsichtig, flach ein und aus und schloss, sich am Nachttisch festkrallend, die Augen.

Jans Stimme kam wie durch einen Nebel zu ihm durch. "Wir fahren gleich, Frank ist endlich aufgetaucht." Er wendete sich ab und warf erst von der Tür einen Blick zurück. "Deine Schuhe stehen da vorn." Seine Stimme klang, wie kalter Zigarettenrauch schmeckte. Ekelig und bissig.

Kai sah zu Lukas zurück und murmelte "Wie kann das denn… wieso…?" Er hob den Kopf und rief ein wenig ungehalten "Jan! Was soll das?!" Das war ein Fehler. Er schaffte es gerade eben noch, sich zur Toilette zu retten. Die folgenden Minuten musste er sich übergeben und fühlte sich absolut widerlich.  

Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, sein Herz raste, der Geschmack in seinem Mund ließ ihn sofort wieder würgen, wenn er sich auch nur aufzurichten versuchte. Zudem schwankte der kleine Raum ebenfalls nicht gerade vertrauenserweckend.

Normalerweise war es doch immer so, dass man, nachdem man gekotzt hatte, wenigstens ein besseres Gefühl verzeichnen konnte. Kai befand lediglich, dass sein Kreislauf absackte und er sich nicht mehr rühren konnte, oder wollte. 'Oh Gott, ich sterbe! Mit Sicherheit.'

Jans Stimme klang von draußen zu ihm herein "Kai! Kommst du?!" Wütend, enttäuscht und sich zu krank für jede Bewegung fühlend, schwieg Kai, ließ sich stattdessen auf den Teppich fallen. Das Neonlicht tat seinen Augen weh, als es von außen einen Moment später angeschaltet wurde und jemand an die Tür klopfte "Kommst du, oder bleibst du jetzt?!"

Kai starrte auf das Waschbecken mit dem Seifenspender in Entenform und schüttelte leicht den Kopf. "Nein!!" brüllte er dann zurück 'Arsch! Wie kann er nur so unsensibel sein?! Ich sterbe hier fast und er…' Draußen verschwammen die Stimmen der anderen zu einem Summen, das auf seinen Ohren zu einem tiefen, schwingenden Brummen wurde und Kai stürzte erneut würgend zum Klo.

Als die Spülung durchgerauscht war, schlug eine Tür zu und es war still in der Wohnung. 'Sind die ohne mich…? Wie können die nur…? Jan, du Arsch! Mit dir rede ich kein Wort mehr! Blöder, unsensibler, nachtragender, eifersüchtiger…' Kai fiel nichts Geeignetes mehr ein, er fühlte sich den Tränen nahe, irgendwie nicht fähig, sich zu rühren.

Vollkommen fertig rollte er sich zusammen. Zu allem Überfluss begann er auch noch zu zittern, mit den Zähnen zu klappern. Noch immer war er dabei verschwitzt und sein Herz raste. Diese ekelhafte Übelkeit wollte nicht nachlassen, obwohl er nichts mehr im Magen hatte, das er noch hätte ausspucken können.

Wie lange er in diesem Dämmerzustand auf dem Badewannenvorleger vegetiert hatte, konnte er nicht mehr sagen, aber Lukas unterbrach ihn darin. "Kai? Mach die Tür auf. Ist alles in Ordnung?" Die Sorge war unverkennbar in seiner Stimme. "Kai?!" Nach einigem Klopfen und Rufen wurde es still. Dann kam Lukas zurück und nach einigen metallischen Geräuschen hatte er das Schloss ausgebaut und die Tür geöffnet.

"Kai! Was ist denn passiert?!" Kai röchelte nur tonlos, worauf Lukas ihn unsanft raffte und zu seinem Bett hin schleifte. "Scheiße, Kai. Was hast du denn angestellt?! Verdammt, sag was!" Kai wurde aus seinem Shirt und seiner Hose gepellt und unter die Decke gestopft.

"Lu…kas… ich muss brechen… bitte…"

Lukas reagierte erstaunlich schnell und holte ihm eine Schale aus der Küche und ein Handtuch. Kai wartete hinterher flach atmend ab, bis die Krämpfe sich gelegt hatten, dann warf er sich seitlich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Lukas strich ihm die Haare aus der Stirn und tupfte ihm mit einem Waschlappen darüber.

"Meine Güte. Du siehst scheiße aus, Kai."

"Danke."

"Nein, entschuldige. Hier, miss mal Fieber, bitte." Lukas zwang ihm das Thermometer in den Mund und kramte dann einen Moment lang in seinem Schrank. Als das Gerät zweimal piepte, reichte er Kai ein T-Shirt und las die Temperatur ab.

Kai zog sich das viel zu große Shirt mühselig an, dann vernahm er "Gute Güte! Du hast fast 39. Kein Wunder, dass du so kochst."

Kai schloss lediglich die Augen wieder und ließ zu, dass Lukas ihn sorgfältig zudeckte.

Als Kai erneut aufwachte, tupfte Lukas gerade ein wenig an ihm herum und stellte eine Tasse neben ihn auf den Nachttisch. "Wie fühlst du dich denn jetzt?"

"Beschissen. Wie sehe ich aus?"

Lukas lächelte und stopfte ihm das Thermometer noch einmal in den Mund. "Beschissen natürlich."  

Kai verdrehte die Augen. Noch immer krampfte sein Bauch, aber diese Übelkeit war fort, jedenfalls weitgehend. Ein wenig war sie noch vorhanden, wenn er sich bewegte, aber es war auszuhalten. "Ich hab in deiner WG angerufen, aber es ist niemand dort“, vernahm er Lukas' Stimme.

Kai reichte Lukas das Thermometer zurück, ohne darauf zu sehen. Es strengte ihn schon unsäglich an, die Augen zu öffnen. Seine Sprache klang verlangsamt. Denken war erschwert. "Hm. Lolli ist bis morgen früh bei Frank und Carl ist schon wieder gefahren."

"Du hast noch immer fast 39. Na, Herr Doktor, was soll ich dir denn geben?"

"Nichts, wenn ich nur daran denke, muss ich wieder brechen."

"Du kannst dich gern hier ausschlafen, Kai. Ich hätte dich auch nach Hause gebracht. Das Problem ist nur, dass du keinen Schlüssel dabei hast, jedenfalls nicht in deinen Klamotten, und ich nicht weiß, wie du nun bei dir rein kannst."

"Was?! Ach Scheiße. Den hab ich vergessen mitzunehmen."

Lukas seufzte und rieb sich die Augen. "Was jetzt, Engelchen? Hat dein Kerl einen Schlüssel?"

"Nein." Kai sah sich unsicher um. "Ich würde lieber in mein eigenes Bett. Hier störe ich doch nur."

"Das nicht, aber ich habe in zwei Stunden Dienstbeginn und dann passt bis morgen Abend keiner auf dich auf. Das will ich nicht."

Kai lächelte leicht "Ich bin doch kein Kind…"

"Ach, aber bist so fertig gewesen, dass ich das Schloss aus der Klotür ausbauen musste, um dich rauszuholen! Nein, nein. Ich rufe jetzt das Stinktier an, der soll auch mal was tun!"

"Hä, wen…? Jan?! Aber…"

"Der hat vielleicht eine Szene gemacht wegen dir. Du lieber Herr! Als ob du sein Eigentum wärst! Verdammter Arsch!"

"Lass ihn da raus, Lukas! Er hat dir nichts getan und ich bin mit ihm zusammen!"

Lukas sah ihn gelassen an. "Doch, hat er wohl. Er hat dich mir weggenommen."

Kai schüttelte den Kopf und entgegnete gereizt "Hat er nicht. Es war vorher aus und…" Kai kämpfte gegen die Übelkeit an, die wieder in ihm aufwallte.

Lukas war sofort an seiner Seite. "Entschuldige, Engel. Ich sollte dich damit in Ruhe lassen."

Kai nickte gequält, seine Augen tränten. Erneut musste er aufgeben und spuckte eine ganze Weile, sein Magen krampfte schmerzhaft, auch wenn er wirklich gar nichts mehr darin hatte.

Lukas rieb ihm über den Rücken und murmelte müde "Ich würde mir frei nehmen, aber diese Sache habe ich geplant und sollte sie leiten. Das wäre schlecht, wenn ich einen Urlaub so kurzfristig anmelde, weil ein Freund die Grippe hat."

Er reichte Kai den Teebecher rüber. Kamille. Kai nahm zunächst an, um den galligen Geschmack im Mund loszuwerden, wehrte aber nach zwei Schlucken ab und sagte matt "Nein, das musst du nicht."

"Genau! Weil Jan, dein Stinktier, sich ruhig auch mal kümmern kann!"

Kai hielt Lukas am Ärmel fest, bevor dieser das Telefon greifen konnte. "War er sehr sauer auf mich?"

Lukas seufzte und legte den Kopf schief. "Nein. Ich weiß allerdings nicht, was 'sehr' heißt bei euch. Nicht so sehr, dass ich mich freuen könnte, wenn du das meinst. Ich glaube, dass er doch ein wenig mehr mitbekommen hat, gestern Nacht."

"Scheiße."

"Mach dir keine Gedanken, Engelchen. Er ist vor allem sauer auf mich deswegen."

Kai blinzelte und seufzte "Scheiße."

Lukas betrachtete ihn und murmelte leise "Aber er wird sich einkriegen. Ich rufe ihn jetzt erst mal an. Sag mir bitte die Nummer."

Kai nannte die Handynummer und schloss erneut die Augen, um die nächste Serie Magenkrämpfe hinter sich zu bringen. Als er sich ein wenig entspannen konnte, vernahm er, wie Lukas mit Jan redete.

"Hallo, hier ist Lukas. Ich muss… Was?! Nein!… Natürlich nicht, du…! Wie bitte?… Hast du…? Hey!" Lukas' Stimme bekam einen aggressiven Klang und er tippte mit den Fingern auf dem Nachttisch herum, während er sich von Jan vollquatschen lassen musste. Endlich verdrehte er die Augen, um in einem wirklich zu freundlichen Ton in den Hörer zu sagen "Jetzt halt bitte mal kurz die Fresse, Jan." Kai zuckte zusammen, aber die Wirkung schien auch seinen Freund zu erreichen.

Lukas erklärte darauf in die anscheinend am anderen Ende herrschende Stille "Dein Schatz hat ne Grippe mit 39 Temperatur und kotzt seit Stunden. Das Dumme daran ist nur, dass ich heute Nacht Dienst hab und nicht auf ihn achten kann. Er will ja ohnehin, dass du das machst. Wenn du nicht willst, fein. Dann nehme ich mir gern Urlaub für den einen Tag. Allein bleiben kann er mit Sicherheit nicht."

Lukas senkte den Kopf und lauschte, dann nickte er und erklärte "Nein, er ist blass, schweißig, fiebrig und kotzt. Ja, hmhm, das hat er. Ja, das ist schon merkwürdig… Nein… Ich bin kein Arzt, verdammt!"

Lukas nickte noch einige Male und erklärte noch einmal den Weg zu seiner Wohnung. "Ach ja, er hat seinen Schlüssel nicht dabei und Lolli scheint fort zu sein. Ja. Nein. Vielen herzlichen Dank."

Kai schloss verzweifelt die Augen. Er wollte nicht, dass sie sich stritten wegen ihm. Lukas legte auf und brummte noch in Richtung Telefon "Du mich auch, du blöder Arsch… entschuldige, Kai. Er kommt in einer halben Stunde vorbei. Er bringt dir was zum Anziehen mit."

"Meine Klamotten…"

"Die hast du dir versaut, Schatz." Resigniert ließ Kai sich die nächste halbe Stunde hängen, dann kam sein Freund in der Tat vorbei.

Kapitel 28

Kai konnte den Flur runtersehen, als Lukas zur Tür ging. Er erkannte Jan sofort. Sein Freund trug ein grün kariertes Hemd, das locker über den Hosenbund hing. Seine Füße steckten in den obligatorischen Turnschuhen und seine Haare standen ab, alles wie immer. Bis auf sein Gesicht, seine Stimme. Jan sagte im Flur nur abweisend "Hallo" zu Lukas und folgte ihm in das Schlafzimmer, wo Kai versuchte, sich aufzusetzen.

Jan blickte auf Kai in Lukas' T-Shirt und seufzte genervt, wie es schien, während er einen Pullover und eine Jeans auf das Bett warf. "Zieh das an." Ein Befehl.

Kai zuckte ein wenig zusammen, aber nickte und griff nach den Sachen. Sie gehörten Jan, er erkannte sie wieder. Schüchtern sah er seinen Freund an. Jan wirkte mit einem Mal so autoritär. Es machte ihm ein wenig Angst vor dem, was noch kommen mochte. Er hatte nicht die Kraft für einen Vortrag, oder gar einen Streit. Flehend plädierte Kai mit Blicken, die Jan leider ignorieren konnte.

Er setzte sich lediglich ans Bett und wartete, bis Kai sich in die Klamotten gekämpft hatte, was er nur mit mehreren Unterbrechungen schaffte. Jan stellte seinen Rucksack neben dem Bett ab und sah ihm, ungeduldig mit den Fingern an einem Loch in seiner Jeans pulend, dabei zu.

"Du bist ganz schön blass. Verschwitzt auch. Seit wann kotzt du schon?"

'Verdammt, muss er so nüchtern sein?'

Ungeduldig rollte Jan einen Ärmel seines Hemdes neu auf und stützte sich auf dem Nachttisch ab. Er lehnte schon fast bedrohlich dicht vor Kai, der in die Kissen zurück kroch. "Jan, bitte."

Jan sah ihn unbewegt aus dunklen Augen, mit einem irgendwie entfernten Blick an. Kai gab bald nach. "Kurz bevor ihr gefahren seid, fing es an. Da bin ich im Bad umgekippt, hatte so Krämpfe im Bauch…" Er erzählte tonlos und ungeordnet, was ihm zu seinem Zustand so einfiel. Lukas erwähnte die Temperatur noch, aber Jan sah ihn nicht einmal an.

"Gut, ich nehm dich mit. Ich geb dir etwas gegen die Übelkeit, halt still." Jan streifte Kais Ärmel hoch und blickte noch immer so emotionslos und von ihm entfernt auf seinem Arm entlang, holte sich nebenbei einige Sachen aus dem Rucksack. Er knackte mit einer Hand eine Glasampulle und zog eine Spritze auf. Mit den Zähnen zog er die Kappe von der Nadel, nachdem er sie auf die Spritze aufgesteckt hatte. Stumm sah Kai ihm zu. Er war nicht fähig, sich irgendeinen Gedanken zu machen, konnte nur auf Jans unbewegtes Gesicht sehen. 'Hasst du mich jetzt?'

"Hey! Was soll das denn?!" Lukas trat einen Schritt näher an das Bett heran. Erst in dem Moment wurde Kai klar, dass Jan dabei war, ihm eine Spritze zu geben.

Jan hob seinen Kopf. "Ich geb ihm was, damit er mein Auto nicht vollkotzt, was dagegen?!"

Verdammt konnte Jan giftig sein. Erschrocken und wie betäubt sah Kai zu, wie Jan seinen Arm mit einem Alkoholtuch abrieb. Kai wusste, dass Jan all so ein Zeug immer in seinem Zimmer hatte. Er wusste auch, dass Jan sich selber Medikamente verabreichte, wenn er dies für nötig befand. Da war sein Freund rigoros und erschreckend cool. Er hätte nur nicht gedacht, dass Jan so etwas mit ihm auch machen würde.

"Aber…"

"Wenn ich es nicht spritze, sondern ihm Tabletten gebe, dann kotzt er es gleich wieder aus, oder es wirkt erst in einer halben Stunde." Jan sah Lukas kurz direkt in die Augen. "Tut mir leid, solange will ich hier nicht bleiben."

Kai sank zurück und murmelte "Schon in Ordnung. Er weiß, was er tut, Lukas."

Jan schob die Nadel rasch und geübt durch die Haut, gab Kai die Hälfte der Lösung, Kai merkte es kaum. Jan zog die Nadel, steckte die Plastikkappe wieder auf und nickte leicht. "Das reicht. Warte einen Moment, dann gehen wir. Wo sind denn seine Sachen?"

"Liegen im Bad. Ich pack sie zusammen." Lukas ging mit raschen Schritten raus.

Jan starrte Kai stumm an. Dann legte er den Kopf schief und schob eine Hand auf Kais Stirn. "Wird es schon besser?"

Kai hob die Schultern. Die Übelkeit schwand wirklich. Er konnte sich aufsetzen, ohne den Brechreiz gleich zu spüren.

"Was hast du mir gegeben?" Kais Stimme war nur ein Flüstern.

"Nichts dolles. Nur was gegen Übelkeit. Eine halbe Ampulle, du wiegst ja nicht so viel. Es macht dich auch müde… später. Ich vermute mal, dass es wenigstens reicht, bis wir bei mir sind. Du hast die Schlüssel wirklich vergessen?"

Kai senkte schuldbewusst den Kopf. "Die sind in meiner anderen Jacke."

"Hmhm. Ich nehm dich mit zu mir."

"Danke."

Jan half Kai sogar beim Aufstehen. Die Handgriffe kamen Kai aus dem Altenheim bekannt vor und ließen noch mehr Abstand zu seinem Freund entstehen. Lukas half Jan, Kai ins Auto zu verfrachten, und dieser fuhr ohne ein weiteres Wort los.

Jan schwieg auf dem gesamten Weg und Kai kämpfte gegen die Krämpfe in seinem Bauch, konzentrierte sich darauf, nicht zu kotzen, nicht noch mehr Ärger zu machen.

"Schaffst du es? Ich helf dir." Jan kam herum zu ihm. Wieder geübte Griffe. Kai fühlte sich elend allein dadurch, und durch die stetigen Anzeichen von Ungeduld bei seinem Freund. Den Weg in Jans Zimmer nahm er nicht wirklich wahr. Er sah nur, dass sie allein auf dem Flur waren, keiner begegnete ihnen.

Den Raum, den Jan bewohnte, hatte Kai immer schon gehasst. Er war klein, hässlich und absolut unpersönlich eingerichtet. Die Möbel hatten Generationen von Studenten überlebt und das hatte sie unansehnlich, hart und abweisend werden lassen. Der Boden war grau, zum Glück hatten Jans Eltern ihm einen Teppich hineingelegt, was die Beige-in-grau Mischungen ein wenig abmilderte.

Die Bilder an der Pinnwand waren neben dem dunkelgrünen Rollo der einzige stilistische Lichtblick, den Kai dort kannte. Allerdings hing an der Pinnwand gleich neben Bildern von ihm und anderen Kommilitonen auch noch ein Poster von einem Skelett, das Kai absolut geschmacklos fand. Ansonsten standen von Jan nur noch ein Computer, eine Stereoanlage und ein kleiner Fernseher im Regal und auf dem Schreibtisch verteilt. Die Bücher waren nur medizinisch und die einzige Pflanze hatte Jan irgendwann eingehen lassen.

Kai zog seine Schuhe aus und ließ sich auf das Bett fallen. Er wollte sich erneut entschuldigen, aber Jan hob eine Hand und erklärte "Schlaf. Wir reden nicht jetzt." Damit verschwand Jan und brachte die Schuhe fort, holte ihm eine Schale, ein Handtuch und gab Kai ein T-Shirt mit langem Arm. Ein Fußballhemd, das unmöglich aussah, aber Kai hatte keine andere Wahl, als sich hineinstopfen zu lassen.

Während er auf dem schmalen, zu weichen Bett lag, vernahm Kai, wie Jan seine Isomatte auf den Boden warf und in dem Bettkasten unter ihm nach dem Schlafsack kramte. Er schlief jedoch rasch wieder ein, auch wenn die Übelkeit wieder in ihm aufzuwallen begann.

Als Kai zögerlich wieder wach wurde, bemerkte er zunächst, dass der Fernseher lief. Jan saß an seinem Schreibtisch und starrte darauf, einen Becher Tee in der Hand. Kai drehte sich um und stellte fest, dass er sich nur wenig besser fühlte, als vor dem Schlafen. Er streckte sich und sah auf den Wecker, aber konnte die Zeit nicht erkennen.

Jan starrte noch immer auf den Fernseher, der auch die einzige Lichtquelle im Zimmer war. Es lief ein Heimatfilm. Jan sah sich nie Filme an und solche schon gar nicht! Kai rekelte sich zurecht und drehte sich auf die Seite. Er hatte Angst davor, aber irgendwann musste er Jan ansprechen, musste es hinter sich bringen. 'Dann lieber, solange ich mich eh bescheiden fühle. Lieber gleich den kompletten Untergrund.' Eine hämische Stimme erwähnte die Qualifikationen für die Hölle, oder wenigstens ein Fegefeuer, aber Kai verbannte all die Stimmen. Das war Jans Entscheidung, soviel war klar.

"Jan?"

Sein Freund blinzelte einmal, dann wendete er den Kopf und kniff die Augen einige Male, bevor er ihn anscheinend wirklich ansah. Jan schaltete den Fernseher aus und knipste seine kleine Schreibtischlampe hinter sich an. "Geht es dir besser?"

Es klang so müde, eigentlich uninteressiert. "Jan?" Mehr konnte Kai nicht sagen. Er konnte es nicht über sich bringen ihn in den richtigen Worten zu fragen, ob und wie sehr dieser ihn nun hasste. Er setzte sich mit Hilfe des Kissens gegen die Wand auf und zog die Decke um seine Beine, bevor er sie anstellte und mit einem Arm umschlang.

Jan stand auf und ging an ihm vorbei zu seinem Waschbecken, das hinter einer Wand versteckt lag. Er kam mit einem Fieberthermometer zurück. "Es ist acht am Abend. Du hast bestimmt Fieber."

Kai senkte den Kopf und seufzte. Dann nahm er das Thermometer an und schob es sich brav unter die Zunge.

"Ist dir noch immer übel?"

Kai nickte leicht.

"Magenkrämpfe?"

Kai nickte wieder, gleich darauf piepte das Thermometer und Jan las die Temperatur ab. "Es geht eigentlich, nicht mal 38." Eine kühle Hand schob sich über Kais Stirn. "Willst du was nehmen?"

"Nein, dann wird mir wieder schlecht." Kai ließ sich wieder herunterrutschen und legte das Gesicht auf seinen Arm, um Jan zu beobachten.

Jan schaltete den Wasserkocher ein und murmelte in seine Richtung "Kamille oder Pfefferminz?"

"Bäh, ich will weder noch."

"Du musst was trinken."

"Wasser reicht."

"Na gut."

Jan stellte eine Flasche stilles Wasser vor Kai auf den Nachtschrank hin und ein Glas daneben, dann sagte er "Deck dich gut zu, ich will mal für den Moment das Fenster aufmachen."

Kai beobachtete wie Jan sein Fenster öffnete, sich über die Fensterbank rauslehnte und eine ganze Weile lang hinaus starrte. Die Geräusche vom Verkehr auf der nahegelegenen Hauptstraße wurden lauter und leiser, je nach dem Ampeltakt. Die feuchtkalte Luft schwallte in den kleinen Raum hinein und erreichte Kais Liegefläche.

Er begann gerade zu frösteln, als Jan das Fenster wieder zuschob und sich umdrehte, um sich gegen die Fensterbank zu lehnen. Jans Gesicht wirkte noch immer verschlossen, als wolle er nicht reden, aber seine Haltung sagte Kai, dass die Diskussion vermutlich nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Zunächst goss Jan sich noch eine Tasse Tee auf. Kräutertee, den Kai im Leben nicht angerührt hätte. Dann kehrte er mit der Tasse zur Fensterbank zurück und lehnte sich wieder, mit Blick auf sein Bett und Kai darin, mit dem Rücken dagegen. Schweigend nippte er vom Tee, während Kai von dem Wasser trank.

'Fang schon an. Mach mich fertig. Ich hab es doch ausnahmsweise wirklich verdient. Oder nicht?' Verwirrt überlegte Kai, wie es noch einmal gekommen war, dass er Lukas geküsst hatte, obwohl Jan daneben saß. Wie es noch einmal passieren konnte, dass er vergessen hatte, wen er liebte und dass es sich dabei nicht um Lukas handelte.

Jan unterbrach das Schweigen nach einem Moment zu seinem Glück. Er stellte die Tasse neben sich auf die Fensterbank und tippte einige Male mit den Fingern darauf, bevor er Luft holte. Kai war es gewohnt, dass Jan Dinge zu ihm sagte, mit denen er nicht gerechnet hatte. Aber immer wieder überraschte sein Freund ihn.

"Es tut mir leid, dass ich mich immer mit Lukas streiten muss. Um dich dazu noch, als ob du eine Sache wärst."

Kai blinzelte verwirrt und raffte die Decke um sich. "Was… was ist denn gewesen?"

Jan hob die Schultern und stellte fest "Nichts, außer dem Üblichen." Er senkte den Kopf und schien sich zurückhalten zu wollen, aber konnte es dann doch nicht. Einen Moment später sagte er lauter als nötig "Ich finde ihn zum Kotzen. Er findet mich zum Brechen! Wir…" Jan unterbrach sich selber und holte Luft. "Wir sind einfach inkompatibel, würde Holger sagen."

Kai hob eine Augenbraue und fragte nach einigen Atemzügen der Stille "Du bist aber auch sauer auf mich, oder?" 'Fehler!', schrie eine panische Stimme in seinem Kopf, aber Kai senkte lediglich den Blick und wappnete sich gegen die Antwort von Jan. 'Ich hab das ja verdient. Ich bin doch so ein… egal was. Das hat er doch nicht verdient, auch wenn ich gestern genervt war.'

Jan machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich war sauer, weil du mit ihm herumgeknutscht hast. Das ist verständlich, nehme ich an, hm?!"

Kai wurde rot, gegen die kranke Blässe, die er mit Sicherheit noch hatte, ein schwieriges Unterfangen, aber er schaffte es. Er nuschelte gepeinigt "Ich… es ist… tut mir leid. Ich wollte… nicht…"

"Ach Kai, halt die Klappe." Jan sagte es nicht unfreundlich, aber Kai schwieg dennoch sofort. Was hätte er auch sagen können zu seiner Rechtfertigung?

Jan übernahm das Verteidigen für ihn, was Kai noch mehr verwirrte. "Du warst betrunken und ich hab nicht auf dich aufgepasst, obwohl ich weiß, dass du dann immer mit allem Greifbaren rumschmusen musst." Er grinste schief. "Ist doch so, nicht?"

Benommen nickte Kai, obwohl er sich bescheiden fühlte, wenn er so etwas hören musste. 'Scheißescheißescheißescheiße….'

"Lukas weiß das auch und hat es ausgenutzt. Zum Kotzen fand ich, dass und wie er dich abgegriffen hat. Im Schlaf, obwohl ich direkt daneben lag! Ich hab ihm erklärt, dass ich sauer werde, wenn er meinen Freund befummelt, da hat er mir gesagt, dass ich besser auf dich aufpassen soll. In dem Moment kam Frank und es gab erstmal Streit mit Lolli und ich hatte Frank gerade soweit, dass er uns trotzdem fährt, da sehe ich, dass Lukas dich schon wieder…" Jan brach ab und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. "Ach scheiße, ist doch auch egal!"

"Was? Was denn?! Ich hab nichts mitbekommen!"

"Wenn ich gewusst hätte, dass du das nicht mitbekommst, dann wäre ich nicht ohne dich gefahren. Ich dachte, dass du sauer auf mich bist, weil ich Lukas gesagt habe, dass er dich in Ruhe lassen soll."

Kai seufzte und murmelte leise "Das hab ich ihm selber auch gesagt."

"Aber nicht besonders überzeugend, nehme ich an." So zynisch konnte Jan auch sein? Kai litt unter seinem Blick und wendete sich wieder seinen Knien zu.

'Das hast du ihm nicht gesagt', stimmte sein Gewissen in Jans Blick mit ein. 'Nicht so richtig, nicht mit einem 'Nein' vorne dran'. "Vermutlich nicht überzeugend genug", milderte Kai ab und hörte, wie Jan durch den Raum auf ihn zuging.

"Kai." Sein Freund setzte sich zu ihm ans Bett. "Ich… ich kann nicht immer da sein. Ich kann nicht immer nur für dich da sein. Das geht nicht. Vor allem kann und will ich das nicht auf Kommando. Kannst du dich bitte etwas mehr zusammenreißen?"

"Aber ich…"

Jan hob eine Hand und unterbrach ihn. "Willst du, oder willst du jetzt nicht mit mir zusammen sein?"

Kai biss sich auf die Lippe und nickte dann einige Male, bis seine Kopfweh ihn daran hinderten. "Natürlich!" rief er schnell.

"Soso." Jan faltete die Finger ineinander und starrte Kai an.

In Kais Körper begann erneut dieser Wirbel. Er wollte Jan behalten, auf jeden Fall, unter allen Umständen. Panik machte sich in ihm breit und er rief hektisch und ängstlich "Jan, ich meine das ernst! Ich liebe dich und…" Er klappte den Mund mitten im nächsten Wort zu und starrte seinem Freund in das Gesicht.

"Hups", sagte Jan und grinste. "War das so schwer?"

Kai wurde nun wirklich rot und ließ den Kopf hängen "Entschuldige, ich… ich bin ein Idiot."

Jan lachte und murmelte "Krank, einmal mit alles, das bist du." Er sah ihn von der Seite her an und schlug vor "Du duschst jetzt und ziehst dir was Frisches an. Ich koche dir einen Kamillentee. Keine Widerrede, der ist gut für dich! Dann beziehe ich dir das Bett noch mal neu. Du hast ganz schön geschwitzt."

Kai fühlte sich jämmerlich. Jan machte sich lustig, obwohl er litt und ihm dann auch noch sagen musste, was er fühlte. Was sollte das denn? Einmal wollte Kai eine Antwort, nämlich das betreffend, was zwischen Jan und Lukas gelaufen war, und dann bekam er nicht einmal einen brauchbaren Hinweis, wo Jan doch sonst immer Mister Ehrlich raushängen ließ.

'Ich frage ihn aber jetzt gewiss nicht. Das wäre Selbstmord.' Stattdessen beeilte er sich aufzustehen. Es misslang, weil er sich schwindelig fühlte und auf das Bett zurücksackte.

Jan seufzte. "Scheiße. Bei dir in der Wohnung wäre alles leichter gewesen."

"Morgen früh kommt Lolli wieder. Da hat er einen Kurs und muss seine Entwürfe aus der Wohnung holen."

"Ich will dich nicht ungeduscht und verschwitzt und ekelig hier liegen lassen. Ich helf dir, komm mit."

Kai starrte Jan entsetzt an. Er sollte mit ihm in diese grauenhafte Gemeinschaftsdusche gehen, wo alle sie zusammen sehen konnten?! "Aber… Jan, aber…"

"Nichts aber! Komm schon, steh auf. Ich hab das Duschzeug und ein Handtuch hab ich auch für dich." Jan sah sich im Zimmer um und fischte ein Handtuch von der Heizung. "Nein, jetzt hab ich zwei Handtücher. Ich kann mich ja auch gleich mal duschen. Das hab ich nach der Feier noch nicht geschafft. Komm schon Kai. Ich bin müde."

Es gab kein Entrinnen für Kai. Jan schleifte ihn zur Dusche hin und dort in eine der Kabinen. Vorn war eine Ablagebank, auf der Kai sich ächzend niederließ. Die Kabine war groß genug für zwei. Der orangefarbene Duschvorhang biss sich mit den grünen Fliesen. Zudem sah man an der Wanne, dass hier sehr viele Leute täglich duschten, aber Kai konnte sich nicht weigern.

Sie waren gänzlich allein im Bad, sodass Kais Bedenken schwanden. Es war doch zudem sehr schön, sich an Jan anlehnen zu können, das warme Wasser über sich laufen zu spüren. Die Kabine war abgeschlossen und es konnte doch eh niemand hinein.

Kai war wirklich verschwitzt gewesen und seine Haare hatten den Zigarettenqualm angenommen, was er immer fürchterlich fand nach Feiern. Durch sein Fieber begann er rasch zu frieren, mit den Zähnen zu klappern.

Jan lachte leise. "Sch. Ich mach wärmer, komm her." Zart streichelte sein Freund ihn, verteilte Duschgel auf seinem Rücken, Shampoo in seinen Haaren. Nachdem er Kai an sich gezogen hatte, schwieg Jan wieder. Dieses Mal ein ruhiges Schweigen, nicht so kühl, nicht so entfernt, wie zuvor. Ein zufriedenes, müdes Schweigen, das Kai gefiel. Mit dem er sich wohl fühlte, genauso wohl, wie mit Jan an sich schon.

Nachdem dieser ihn abgetrocknet und ihm beim Umziehen geholfen hatte, bezog Jan das Bett neu und schob Kai dann mit einem Becher Tee unter die Decke. Kai trank nur wenige Schlucke, stellte die Tasse bald weg und zog sich die Decke bis unter das Kinn hoch. Jan lag bereits auf der Isomatte und raschelte mit dem Schlafsack herum.

"Jan?"

"Hm?"

"Magst du nicht zu mir kommen?"

Jan seufzte und murmelte "Kai, dann bekommen wir beide kein Auge zu."

"Bitte…"

Jan seufzte noch einmal, dann murrte er etwas Undeutliches und krabbelte gleich darauf zu Kai unter die Decke. "Bis du eingeschlafen bist, okay?"

"Danke."

Kai kuschelte sich schamlos an Jan an, nutze die Enge auf der Matratze aus, um seine Nähe zu spüren. "Ich werde so was nicht noch einmal machen. Ich trinke jetzt nicht mehr auf Partys", versprach er dann ernsthaft.

Jans Finger stoppten auf seinem Nacken zwischen den noch feuchten Haaren und Jan seufzte "Nein, das musst du nicht. Ich finde dich süß, wenn du getrunken hast."

"Süß?" Unsicher versuchte Kai Jans Gesichtszüge zu lesen, aber es war zu dunkel im Zimmer.

"Hm." Jan strich Kai über den Rücken und umfasste seinen Po, um ihn dichter an sich zu ziehen. "Noch mehr mein Baby."

'Waaaas? Sein…' Beleidigt sah Kai Jan an, aber dieser hatte die Augen geschlossen und fuhr gelassen fort. "Das nächste Mal passe ich besser auf dich auf. Ich hab das erst gar nicht gesehen, dass du da mit Lukas liegst. Ich dachte, dass es Lolli war und ihr schon eingeschlafen seid."

"Aber…"

"Aber dann, als ich es wusste, da hab ich natürlich auch gesehen, dass du dich mal wieder von ihm betatschen lässt."

"Gar nicht. Ich hab ihm gesagt, dass er mich loslassen soll."

Jan grinste und klopfte Kai mit der flachen Hand auf den Po. "Jaja, Kai."

"Gar nicht. Das hab ich wohl." Kai lächelte auch und murmelte "Er glaubt mir nur immer nicht."

Jan nickte. "Das hat man gesehen. Geht dir an die Wäsche, obwohl ich daneben liege. Fast hab ich gedacht, dass…"

"Was denn?" Jan gähnte und streckte sich ein wenig. "Ich dachte, dass er es extra macht. Weißt du? Damit ich es sehe. Damit wir Stress bekommen."

Kai blinzelte überrascht in die Dunkelheit und murmelte endlich "Das traue ich ihm nicht zu. Das macht er nicht, Jan. Er war auch betrunken." Aber in seinem Hinterkopf nagte eine kleine Stimme, die ihn daran erinnerte, dass Lukas das alles auf seinem Bett, mit Jan direkt daneben, schon recht auffällig gemacht hatte. Bevor er mit der Stimme debattieren konnte, schlief er jedoch ein.

Kapitel 29

Am nächsten Morgen wachte Kai von dem ekelhaften, gellenden Piepen von Jans Wecker auf. Dieser lag unten auf der Isomatte, raschelte mit seinem Schlafsack herum und gähnte. Er streckte sich gemächlich einmal, dann erst schaltete er den grauenhaften Alarm aus.

Kai wusste, dass Jan hervorragend aufstehen konnte. Mit einem Satz war sein Freund auch jetzt aus dem Schlafsack gesprungen und hatte schon den Wasserkocher angestellt, während er im Schrank nach Socken und einer Hose fahndete. Als nächstes stellte Jan das Radio an und begann Müsli mit Joghurt vermatscht in sich hineinzustopfen, was Kai ekelhaft fand.

Der kleine Raum duftete jedoch beinahe sofort nach schwarzem Tee und Jans Deo, eine nicht unangenehme Mischung. Eigentlich war das der Geruch, den Kai an Jan so gern hatte. Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen betrachtete Kai Jans Körper, als dieser sich für die Uni umzog.

Er döste vor sich hin, bis Jan ihn rücksichtslos mit dem Fieberthermometer attackierte und dann in der WG anrief. Er sprach Lolli auf den AB, dass er sich unbedingt bei ihm melden sollte, weil Kai den Schlüssel vergessen hatte. Bevor Kai so richtig mit ihm gesprochen hatte, war Jan schon mit einem "Ich unterschreibe für dich, Baby!" zur Tür hinaus.

Kai blieb geschafft und noch immer mit leichter Übelkeit im Bett liegen und dachte über Lukas nach. Zunächst nur voller schlechtem Gewissen Jan gegenüber, doch immer mehr begann er die Gedankengänge vom Vortag zu verfolgen.

'Was ist, wenn er das wirklich extra gemacht hat? Jan lag daneben, hat es mitbekommen und ich hab mich da auch noch nicht richtig gewehrt, ich Idiot!' Kai fasste sich selber an den Kopf. 'Wie viel soll Jan denn noch mit mir durchmachen? Ich muss mich wirklich besser benehmen… zusammenreißen.' Sein Gewissen lachte ihn aus und bereitete ihm ein noch schlechteres Gefühl, als er schon hatte. 'Ich mach was und Jan denkt dann auch noch, dass es Lukas' Schuld war. Was für eine Sch…'

Das Telefon unterbrach seine Überlegungen. Nach einigem Zögern, ob er rangehen sollte, weil es immerhin auch Jans Eltern hätten sein können, hob Kai kurzerhand ab und meldete sich mit 'Hallo'. Dann konnte die Person noch immer denken, dass sie sich verwählt hatte. Es war zum Glück ohnehin Lolli, der sich von Frank hatte bringen lassen und nun aufgeregt erzählt haben wollte, was denn vorgefallen war.

"Oh du meine Güte! Du arme Maus! Wir kommen und holen dich ab! In dem Wohnheim am Ring bist du? Neinnein, wir klingeln dann bei Jan… hmhm."

Kai nannte die Adresse und das Stockwerk und machte sich gleich daran, eine Jeans von Jan und einen seiner dicken Wollpullis überzuziehen.

Einige Minuten später kamen Lolli und Frank tatsächlich und holten ihn ab. Mit wackeligen Knien folgte Kai den beiden zum Wagen. Lolli stieg hinten ein, ließ ihm den Beifahrersitz. Kai bemerkte, dass Frank einen dunklen Anzug, ein Hemd und eine fein gemusterte Krawatte trug, er war schon für die Arbeit in der Bank vorbereitet.

"Ich hab Gleitzeit, Kai. Das ist kein Problem", vernahm er Franks gleichmäßige Stimme als Antwort auf seinen Blick.

Er lächelte Frank dankbar an, aber der setzte den Wagen zurück und fummelte parallel an dem Autoradio herum, beachtete ihn nicht mehr.

Der Wagen war gerade auf die Straße gerollt, als sich Lollis lange, dünne Arme auch schon von hinten um Kais Schultern legten und Lolli, soweit es der Gurt zuließ, nach vorn gelehnt fragte "Was ist denn gewesen, Kai?"

Frank setzte den Blinker und bog ab, währenddessen murrte er "Lolli, frag ihn bei euch Zuhause aus. Das ist nichts fürs Auto." Es klang, als sagte er 'Das interessiert mich nicht' Vermutlich war es auch das, was er meinte.

Lolli lachte nur und fragte "Hast du Stress gehabt mit Jan?"

Kai seufzte und gab Frank innerlich Recht. Der Wagen war kein geeigneter Platz für diese Unterhaltung. Er wollte sich ja mit jemandem darüber beraten, aber Lolli war irgendwie auch nicht die geeignete Person.

Zum ersten Mal fiel Kai auf, dass er niemanden mehr zum Reden über so etwas gehabt hatte, seit sein erster Freund damals in der Nacht, im Regen, vor seinem Vater fortgelaufen war. Betont matt antwortete er über seine Schulter nach hinten "Lolli, mir ist immer noch nicht gut.", worauf sein Mitbewohner ihn einmal kurz drückte und sich nach hinten fallen ließ.

'Hatte ich Stress? War das ein Streit? Eigentlich ja nicht. Jedenfalls nicht so ein Streit, wie Lolli ihn gern mal mit Frank hat. Mit zerschmissenen Sachen, Brüllen und Heulen und mit wenigstens einmaligem Schlussmachen.' Kai wurde zugleich klar, dass Jan und er eh nie so sein würden. Das war Lollis und vermutlich auch Franks Art zu streiten.

Nachdenklich starrte Kai auf Franks Profil mit der für sein Gesicht eher klein wirkenden Nase und den auffallend dunklen Augen, für die Lolli so schwärmte. Kai konnte das nicht so recht verstehen. Jan war zwar kein Superheld, aber gegen Frank allemal die bessere Wahl. 'Außer, wenn es um Fußball geht. Aber wenn Frank auf einen Rave gehen will, dann muss Lolli sich ja auch was anderes vornehmen, oder mitdackeln, nicht?'

Kai legte den Kopf schief und beobachtete, wie Franks Finger im Takt zum Lied im Radio auf das Lenkrad klopften. 'Aber wenn ich nicht mit zum Fußball gehe, dann weiß ich doch, dass Jan dort nicht mit anderen was anfängt. Lolli hat die Wahl entweder mitzufahren, oder zu wissen, dass Frank mit anderen rummachen wird.'

Kai wollte Frank gerade so richtig unsympathisch finden, als dieser sich an der stadtbekannt am längsten auf Rot stehenden Ampel umdrehte und mit einer Hand locker über Lollis Haare strich. "Ich komme dann heute Abend vorbei und wir fahren zum Getränkemarkt, ja Schatz?"

Lolli biss Frank in den Zeigefinger und lachte leise "Dann koche ich auch Nudeln mit Lachssoße."

"Hm, ich bring eine Flasche Wein mit."

Kai senkte den Kopf und rieb sich die Augen, wollte nicht indiskret hinschauen, aber Lolli sagte in dem Moment "Wow, schon Grün, Frank. Du kannst."

Wenig drauf kletterte Kai mit schlappen, müden Beinen neben seinem plappernden Mitbewohner die Treppen hoch.

Lolli trug eine Hose mit Kuhschecken und einen schwarzen Pulli, auf dem auch Kühe waren. Neben ihm fühlte Kai sich immer angenehm unauffällig. Auch jetzt bemerkte ihre Nachbarin lediglich Lolli, den sie mit einem kritischen Blick musterte. Kai schien sie nicht so störend zu finden, obwohl er sicherlich bescheuert aussah in Jans ihm zu großer Hose.

Kai hatte eigentlich gedacht, dass Lolli nur noch mal in die Wohnung gehen wollte, um seine Tasche zu holen oder dergleichen, aber sein Mitbewohner stürzte sich gleich in die Küche und rief zu ihm rüber "Ich koche dir einen Tee, Maus! Bin gleich da, dann reden wir!"

Kai stopfte zuerst seine und Jans verschwitzten und verdreckten Klamotten in die Waschmaschine und stellte diese auch gleich an, dann putzte er sich die Zähne und starrte eine Weile in sein bleiches Gesicht. 'Ich sollte mal ins Solarium gehen. So sehe ich ja echt aus, wie der Tod auf Latschen.' Dann schlurfte er in sein Zimmer rüber.

Lolli saß bereits im Schneidersitz auf Jans Seite von seinem Bett und hatte ein Tablett mit Fencheltee und Zwieback vor sich abgestellt. "Komm schon, kriech unter die Decke und ruh dich endlich aus! Und dann erzählst du mir, was da los war. Das war eine Show heute Morgen! Wow, ich sage dir, unglaublich. Ich hätte nicht gedacht, dass Jan so ein krasser Typ ist. Und dass er noch mit Lukas redet, halte ich für ein Gerücht. Die beiden…"

Kai hatte sich umgezogen und krabbelte unter seine Decke, dann unterbrach er Lolli "Magst du mir mal von Anfang an erzählen, was passiert ist? Ich hab nämlich nichts, rein gar nichts, mitbekommen."

Lolli riss die Augen erstaunt auf und rief dann aus "Meine Güte, musst du weg gewesen sein! Bist du ohnmächtig geworden, Kai?"

Kai blinzelte und hob kurz die Schultern. Er hatte auf dem Teppich gelegen, halb gesessen eigentlich, er hatte zudem die Augen geschlossen. "Ich weiß es nicht genau, Lolli. Beschwören, dass ich immer wach war, könnte ich nicht. Vor allem, nachdem ihr gefahren seid."

"Wir sind nicht gleich gefahren, Jan wollte nicht ohne dich los. Hast du ihn nicht gehört?"

"Nein, was war denn nun?!"

Lolli fegte einige Zwiebackkrümel von der Decke und lümmelte sich der Länge nach neben Kai, seine Schuhe fielen mit einem dumpfen Laut auf den Fußboden. Genau dieses Geräusch machte Kai mit einem Mal klar, dass er mit Lolli würde reden müssen, vorher würde der nicht gehen. Sein Mitbewohner wusste etwas, das er erfahren wollte, aber er konnte an Lollis Gesicht auch schon sehen, dass dieser seine Informationen nicht so leicht preisgeben würde.

Lolli schien an Kais Gesichtsausdruck auch zu sehen, was er von der Situation dachte und lächelte. "In Ordnung, Hübscher. Wir machen einen Deal. Ich erzähle dir, was passiert ist heute Morgen, aber natürlich nicht für lau. Du …", er pikte Kai mit einem Finger vor die Brust. "Du erzählst mir mal, was zwischen dir und Lukas läuft. Der ist nämlich ein guter Freund von mir und ich hab ihn noch nie so…" Lollis Finger rührten in der Luft. "… so eben gesehen, wie heute Morgen!"

Kai senkte den Kopf und seufzte, sich fügend. "In Ordnung. Du zuerst."

Lolli nickte und ruckelte noch ein wenig hin und her, dann runzelte er die Stirn und erklärte "Ich hab nicht alles mitbekommen, aber ich glaube, dass es ungefähr in der Reihenfolge passiert ist."

Er räusperte sich wichtig und zählte auf. "Magdalene, Lukas' Schwester, ist aufgewacht, weil Frank geklingelt hat und hat ihn reingelassen."

"Lukas hat eine Schwester?"

"Ja, die mit der Federboa. Ist 'ne Wilde. Aber ich finde, dass sie toll aussieht. Liegt in der Familie."

Lolli grinste hinterhältig und Kai sah lieber weg. "Hm."

"Ich hab mich mit Frank in die Plünnen bekommen und wieder vertragen, als ich gehört hab, wieso er zu spät war. Der Lärm hat jedenfalls Jan geweckt, der auf Klo gegangen ist." Lolli legte den Kopf schief und grinste. "Und als Jan zu dir und Lukas zurückgegangen ist, da hat er wohl gesehen, dass Lukas dich befummelt hat." Er betrachtete Kais Gesichtsausdruck. "Hat er denn?"

Kai hob unsicher die Schultern. "Ich kann mich erst daran erinnern, dass Jan ins Zimmer gekommen ist und ich neben Lukas lag, aber er hat mich nicht angefasst… naja, doch. Etwas, aber nichts Schlimmes."

"Ich weiß auch nur, dass Jan den Flur runtergeschaut hat und dann mit ziemlich energischem Gesichtsausdruck zu euch gegangen ist. Gleich darauf bist du ja wie von der Tarantel gestochen ins Klo gerannt und hast gar nicht beachtet, wie er hinter dir hergerufen hat."

"Was hat er zu Lukas gesagt?"

Lolli runzelte die Stirn. "Zuerst hat er ihm erklärt, dass du sein Freund bist und er nicht will, dass du betatscht wirst. Dann hat er ihm gesagt, dass er es peinlich fände, wenn wer sich jemanden betrunken machen muss, um überhaupt an ihn ranzukommen." Lolli starrte an die Decke und schien zu überlegen. "Ach ja, Lukas hat ihm als Antwort erklärt, dass er es wiederum peinlich findet, dass Jan so auf dich aufpassen muss und überhaupt, dass es ja was über die Beziehung aussagt. Daraufhin ist Jan ausgerastet und hat ihn angeschrien, dass du seinetwegen immerhin nicht leiden musstest, weil er es nicht nötig habe, dich zum Sex zu zwingen."

Kai zuckte zusammen und wurde rot. Jan hätte das nicht sagen sollen. Es war zwischen Lukas und ihm und es war nichts, das er jemals vor Lolli oder gar anderen ausgebreitet hätte. "Scheiße", flüsterte er heiser. Die Erinnerung daran, wie er es erlebt hatte, war doch schon lange verwischt. Er wusste zwar noch, dass er sich grauenhaft gefühlt hatte, nachdem Lukas das eine Mal irgendwie schon gegen seinen Willen mit ihm geschlafen hatte. Aber er hatte die Entschuldigung doch angenommen. Er hatte Lukas geglaubt, dass dieser das nur getan hatte, weil er Kai eben so sehr begehrte. Auch wenn es falsch gewesen war, noch immer war es ein Fehler, der nur ihn und Lukas etwas anging.

Lolli grinste entschuldigend und erzählte weiter "Lukas war vielleicht wütend. Er hat Jan angebrüllt fast schon, dass dieser sich freundlicherweise aus Dingen raushalten könne, die nur euch etwas angehen, und dass er sich vielleicht mal überlegen kann, wieso er dich dazu zwingt, die Beziehung zu verstecken. Er hat Jan vorgeworfen, dass dieser nur mal ausprobieren will, was so alles mit einem Mann geht und hat ihm vorgeschlagen, sich doch mal wieder eine Frau zu suchen, was ihm und dir besser bekommen könnte. Hab den Lukel noch nie so viel so unfreundlich sagen hören. Für gewöhnlich ist er sogar zu Dealern ausgesucht nett, solange die ihn nicht anmachen."

Kai rieb sich die Augen und schämte sich. Auch wenn er nicht Teil dieses peinlichen Streites war, war er doch das Thema, die Ursache und damit fühlte er sich noch viel schlimmer. "Wie konnten die nur solche Dinge sagen?"

"Ja, war ein wenig unter der Gürtellinie." Lolli kicherte auf und schüttelte den Kopf. "Nein, eigentlich haben die beide stets voll auf die Zwölf gezielt, hab selber schon ein wenig gezuckt."

"Und Jan ist dann gegangen?"

"Ja, fast gleich danach. Erst dachte ich, dass die beiden sich schlagen. Magdalene ist schon bereit gewesen, dazwischen zu springen… aber das haben sie nicht. Haben sich nur angestarrt. Lukas hat Jan schließlich gesagt, dass er sofort die Wohnung verlassen soll und Jan ist gegangen, nachdem er noch mal an die Tür vom Klo geklopft hat. Wieso hast du nicht geantwortet, haste nichts gehört?"

Kai schüttelte den Kopf und dachte daran, wie er auf dem Teppich gelegen hatte, kaltschweißig, mit dem Summen der Stimmen vor der Tür auf den Ohren, mit geschlossenen Augen. "Ich hab wirklich nichts mehr in Erinnerung. Ich weiß, dass ihr mit mir geredet habt, ich hab eure Stimmen vor der Tür gehört, aber ich war so fertig… hab ja nicht mal die Tür allein aufbekommen."

Lolli starrte ihn erschrocken an "Was?! Wie kam das denn? Sag schon!"

"Ich weiß nicht, Kreislauf vermutlich. Ich bin einfach im Bad liegen geblieben. Lukas hat das Schloss ausgebaut."

Lolli zwinkerte fasziniert und grinste dann. "Wow, da hast du unserem Lukel ja einen Schrecken bereitet. Weißt du, dass er mir mal erzählt hat, dass er den Gedanken, dass dir was passiert nicht aushalten kann?"

Kai dachte daran, wie Lukas ihn verletzt hatte und hob die Schultern "Das sagt er nur so."

"Nein, nein, das glaube ich nicht. Er hat sich schon verändert. Ich weiß noch, wie wir ihn…" Lolli quietschte etwas und grinste "Hups…"

Misstrauisch hob Kai den Kopf "Wie ihr ihm gesagt habt, dass er mich anbaggern soll? Das weiß ich doch."

Lolli grinste und wurde rot, ein seltener Anblick. Sein langes Gesicht wirkte mit einem Mal jünger und irgendwie schuldbewusst. Unsicher zupfte er an dem Kunstfell seiner Hose und murmelte "Naja, wir haben ihn quasi auf dich angesetzt. Weißt du, das ewige hinter dieser, damals noch, Hete Hergeheule haben Frank und ich nicht mehr mit ansehen können."

Kai schob sich mit den Ellenbogen höher im Bett hinauf und starrte seinem Mitbewohner ein wenig verunsichert in das Gesicht. "Was habt ihr ihm gesagt?"

"Wir haben ihm erzählt, dass du sein Fall sein könntest, dass du jemanden brauchst, der dich tröstet und ablenkt. Nachdem er dich auf dem Rave nur von weitem gesehen hat, war er sofort begeistert. Wir mussten ihm nichts weiter erzählen."

Kai blinzelte und trommelte mit den Fingern auf die Bettdecke "Und weswegen bist du jetzt so nervös geworden?"

Lolli grinste und seufzte dann. "Wir haben ihm vorgeschlagen, dass er es mit dir tut, damit du endlich mal damit anfängst“, erklärte er schließlich nachgiebig, aber grinste frech - ein Versuch davonzukommen. "Du hattest schon zu viel Zeit als Jungfer im Turm vergeudet, fanden wir."

Kai konnte es nicht fassen. Lukas hatten sie auf ihn angesetzt, damit er mit ihm schlief, damit er das tat, was Kai zu der Zeit am allerwenigsten hätte brauchen können?! Wenn Jan nicht gewesen wäre, dann hätte Kai sich vielleicht wieder mit Lukas eingelassen, wäre noch einmal von ihm so grob behandelt worden, oder vielleicht auch nicht?

"Wenn ich eines weiß, Lolli, dann ist es, dass ich nicht zu Lukas passe! Im Bett nicht und auch sonst nicht, verdammt!"

Lolli seufzte zur Antwort nur und murmelte "Aber ihr zwei… könnt nicht in einem Raum zusammen sein, ohne dass einem heiß wird. Man braucht euch ja nur anzusehen."

Kai wurde auch heiß in dem Moment, er wurde rot. 'Ist das etwa so deutlich? Aber das ist nicht richtig! Wir passen nicht zusammen! Wir…'  "Das ist nur… äh."  

Lolli grinste ihn fies an "Sex?"

Kai wich seinem Blick aus und entgegnete heftig "Das zählt nicht für mich! Ich bin nicht wie du."

Das war ihm herausgerutscht und Lolli stutze, ein wenig beleidigt. "Was willst du denn damit sagen, Kai?"

"Nichts…"

"Nee. Nun sag schon! Ich hab, seit ich mit Frank zusammen bin, ihn nicht ein einziges Mal betrogen. Er ist ein anderes Thema, wir streiten ja auch schon darüber, aber ich bin doch…"

"Und Benni?!" Erschrocken klappte Kai den Mund zu. Lolli blinzelte ihn verständnislos an, Kai wurde rot. Hatte er da was überinterpretiert?

"Ach, du meinst, weil er hier neulich bei mir war? Wir sind Freunde, mehr nicht."

'Von dir aus vielleicht, aber Benni denkt da doch anders, oder?' "Entschuldige. Es war nur, weil du neulich nicht wolltest, dass ich reinkomme." Kai erinnerte sich und fand noch immer, dass es eine ziemlich eindeutige Sache gewesen war an dem Tag.

Lolli zwinkerte ihn noch einen Moment lang recht unintelligent an, dann lachte er auf und rief aus "Das hat Benni hinterher auch gesagt! Er wusste, dass es falsch aufgenommen wird! Ha! Nein, Benni hat Diabetes seit er vier Jahre alt ist und er muss sich eben regelmäßig Insulin spritzen und den Blutzucker bestimmen. Ich dachte, dass es ihm unangenehm ist, wenn du dabei rein platzt. Er sagte mir hinterher, dass es vermutlich angenehmer für uns gewesen wäre, wenn du gleich gesehen hättest, weswegen die Tür zu ist. Ist ja zum Schießen, ich hätte nicht gedacht, dass du gleich so was denkst!"

'Toll, ich mach mich zum Deppen, Lolli und Frank versuchen mir Nachhilfestunden in Sachen Sex zu geben, Lolli ist gar nicht untreu und Lukas und mich verbindet Sex. Jan und ich verheimlichen unsere Beziehung, was alle sehr komisch zu finden scheinen, nur weil Jan ja eigentlich doch auf Frauen steht. Wahnsinn. Das Gespräch hat mir jetzt echt geholfen… meine gottverdammten Problem noch deutlicher zu sehen! Was soll ich nur tun?! Aaaaah!'

Äußerlich ruhiger, als der Terror seiner Gefühle es anmerken ließ, erklärte er seinem Mitbewohner: "Ich bin müde, Lolli. Musst du nicht zur Uni? Ich sollte jedenfalls schlafen."

Lolli nickte und schwang seine Beine vom Bett. "Ist gut, kleine Maus."

"Lolli! Nicht auch noch kleine!", keifte Kai aufgebracht, aber Lolli tappte, seine Schuhe in der Hand haltend, lachend zur Tür. "Wir sehen uns heute Abend. Wird spät, ich bin mit meiner Projektgruppe verabredet."

"Dann bis morgen, ich schlafe bestimmt den ganzen Tag und die Nacht noch."

Und das tat Kai auch bis zum Abend zunächst, nachdem er die immer wieder um Lukas kreisenden Gedanken abgeschüttelt hatte. Er wachte erst von der Türglocke auf. Hastig sprang er auf und ging an die Gegensprechanlage, um zu öffnen.

Da er Jan vermutete, lief er rasch ins Bad und glättete seine Haare und spülte den schalen Geschmack aus seinem Mund. Die Stimme, die jedoch vom Flur aus vorsichtig nach ihm fragte, gehörte Tini.

"Ehm… Kai?"

Kai atmete einmal durch und kam aus dem Bad.

"Hallo Kai… oh, oh ja. Ich hab schon gehört." Tinis Stimme klang ein wenig heiser, sie zupfte an einem dicken, roten Schal herum, während sie in der Tür stand und an Kai in seinem blauen Pyjama vom letzten Weihnachten bei der Patentante herunterblickte.

Es regnete wohl, denn ihre Jacke glänzte auf den Schultern und ihre Haare hingen in wirren, feuchten Fransen in ihr schmales Gesicht. "Was hast du gehört?"

"Dass du krank bist." Sie zog sich mit den Zähnen die Handschuhe aus und wedelte einmal an ihm auf und ab, um fachmännisch festzustellen "Siehst scheiße aus."

Kai ließ den Kopf hängen und rieb sich die Augen. "Danke."

Tini wurde rot und hob eine Hand vor ihren Mund, ihre Fingerspitzen waren ganz weiß, es musste kalt sein. "Oh, entschuldige Kai… entschuldige." Irgendwie wirkte sie klein, mit dem übergroß wirkenden Mantel, dem umfangreichen Schal und ihren Handschuhen, die sie unsicher zwischen ihren Fingern knetete, und dem auf die grauen Fliesen im Flur gesenkten Blick.

Kai winkte ab und fragte sich mit verschränkten Armen neben der Tür anlehnend "Aber du bist nicht hergekommen, um mir zu sagen, dass ich scheiße aussehe, oder?"

Sie schlug die Hände wieder vor den Mund und kicherte darunter hervor. "Oh du meine Güte, nein! Nein. Zumal du das nicht tust, war nur so…" Sie sah ihn an und lachte wieder "Nein, doch, tust du doch. Der Schlafanzug ist grauenhaft. Oh!" Wieder schlug sie sich die Finger vor den Mund und verdrehte die Augen.

Kai fand sie mit einem Mal komisch, unfreiwillig vermutlich zudem und lächelte leicht. "Der Pyjama ist von meiner Patentante. Ich mag ihn auch nicht besonders."

"Hmhm." Tini starrte noch immer auf die Fliesen im Treppenflur, ab und zu wanderten ihre Blicke zu seinen nackten Füßen, dann strichen sie wieder über die Fliesen zurück. Sie schwiegen das nervtötende, sinnbeladene Schweigen, nach dem der Verlierer, der zuerst sprach, der ganzen Unterhaltung würde Sinn geben müssen. Kai weigerte sich, sie reinzubitten, auch wenn ihre Blicke danach schrien.

"Du solltest dich wieder ins Bett legen, Kai. Ich wollte dir nur diese alten Klausuren zum Lernen bringen, vermutlich wirst du ja am Freitag fit genug sein, um mitzuschreiben." Sie kramte einen Moment lang in ihrem Rucksack, dann drückte sie ihm einen Stapel Papier in den Arm.

"Danke. Soll ich dir die Originale wiedergeben, oder wem?" fragte er an Tinis Hinterkopf gerichtet, da sie noch in dem Rucksack verschwunden war und geschäftig kramte.

Dumpf erwiderte sie "Das sind deine Kopien."

Kai blickte auf die mit Sicherheit fünfzig Seiten in seinem Arm. "Was schulde…?"

Tini richtete sich auf, entfaltete ein Taschentuch und schwang sich den Rücksack über die Schulter. "Vergiss es, okay?"

Sie zog ihre Handschuhe wieder über und winkte ihm mit dem Taschentuch einmal zu, ohne ihn anzusehen. "Ich wünsche dir gute Besserung, bis denn!" Damit ging sie schon mit raschen Schritten auf die Treppe zu, betupfte ihre Nase und sah sich nicht mehr um, als er ihr "Tschüss!" hinterher rief.

Kapitel 30

Jan kam nicht vorbei, sondern rief am Abend vom Handy aus an. "Wie geht es dir? Besser?"

"Hm." Kai versuchte die Enttäuschung aus seiner Stimme zu bannen. Er hätte ihn gern noch einmal gesehen, sein Verzeihen noch einmal zur Sicherheit direkt vor sich gehabt. Aber Jan war nicht so. Er vergab und vergaß in einem Atemzug, wie es schien. Deswegen versuchte Kai auch munter zu klingen. "Ja, es geht schon wieder, aber ich kann noch nichts essen, werde also morgen noch mal zu Hause bleiben. Freitag schreibe ich die Klausur mit, mach dir keine Sorgen."

"Tini hat dir die alten Klausuren unbedingt bringen wollen. Naja, ich konnte dem Argument, dass es eher auf ihrem, als auf meinem Weg liegt, nicht viel entgegenstellen."

Kai schloss kurz die Augen und erinnerte sich daran, was Lukas Jan vorgeworfen hatte. "Es macht mir nichts aus, wenn sie es weiß, Jan."

Jan schwieg einen Moment lang, dann murmelte er "Sie will so was nicht wissen, Kai. Die steht total auf dich."

Kai wurde rot. Gut, dass sie nur telefonierten. "Ich aber nicht auf sie!"

"Dann solltest du ihr das vielleicht mal sagen."

"Nicht extra, das ist so…"

"Blöd?" Jan lachte auf. "Hör zu, ich komme morgen nach der Uni vorbei, heute wird es spät bei mir."

"Ist gut."

Nachdenklich legte Kai auf und lehnte sich gegen die Wand neben dem Telefonschränkchen. ''Tini steht total auf dich.' Na danke. Wie soll ich ihr denn sagen, dass ich schwul bin, dass ich zudem schon einen Freund habe, ohne dass sie sich verarscht vorkommt?'

Eine gemeine Stimme in seinem Kopf erwachte und vermutete, dass es ihm doch egal war, aber zugleich erinnerte eine andere Stimme ihn daran, wie verletzlich Tini wirken konnte, wie viel sie ihm schon vertraut hatte. 'Mir doch egal! Ich habe nichts getan, damit sie das tut, verdammt!' Er senkte den Kopf und massierte seinen Nacken ein wenig. "Scheiße! Immer ich!"

Die Türklingel unterbrach ihn und zugleich klingelte schon wieder das Telefon. 'Scheiße! Wann lernt Lolli es denn endlich mal, seinen Schlüssel mitzunehmen!' Er drückte den Türsummer und meldete sich gleichzeitig mit einem genervten 'Hallo' am Telefon.

"Hallo selber! Kannst du dich nicht ordentlich mit vollem Namen melden?!"

Kai zuckte zusammen und verdrehte die Augen, während er die Wohnungstür öffnete, um in den Treppenflur zu spähen. "Mama. Heutzutage melden alle sich so."

Er vernahm Schritte auf der Treppe, aber zugleich meckerte seine Mutter "Ach, und nicht zum Geburtstag der Oma von sich hören lassen ist wohl auch heutige Mode, ja?! Wenigstens mal anrufen kannst du doch noch!"

'Scheiße!' Kai fuhr zum Kalender an der Pinnwand herum und stützte sich, vom Schwindel durch diese Drehung überrascht, an der Wand ab. Seine Oma hatte heute Geburtstag, er rief sie immer an dem Tag an!

"Ich hab es noch nicht geschafft, Mama, weil ich krank bin." Genervt erinnerte Kai sich, dass die Geburtstagsfeier ja auch noch bevorstand und er dort antreten musste. Gleichzeitig mit den entsetzten Fragen nach seiner Erkrankung durch seine fast schon hysterische Mutter, schob jemand die Wohnungstür auf und trat ein.

Kai drehte sich herum und ließ den Hörer sinken. Vor ihm stand Lukas in einer nass geregneten, knallblauen Steppjacke und wuschelte sich mit den Fingern der einen Hand über die Haare, dass die Tropfen flogen.

"….KAI?! Hörst du mir überhaupt zu, Junge?!"

Kai hob den Hörer hastig ans Ohr und versicherte "Es geht mir heute wieder gut, Mama. Das war nur eine kleine Grippe. Soll ich Oma gleich noch anrufen?"

"Schau gefälligst auf die Uhr! Sie geht doch schon um sieben ins Bett. Was ist? Du klingst so abwesend."

Kai seufzte und starrte Lukas ins Gesicht. Dieser erwiderte seinen Blick und schloss die Tür, um sich dagegen zu lehnen.

"Ich hab gerade Besuch bekommen, Mama. Ich rufe Oma morgen Vormittag an, ich bleibe noch einen Tag zu Hause, um sicher zu gehen."

Seine Mutter seufzte ebenfalls und schien zu nicken. "Du denkst bitte mal daran, dass du auch ein paar Blümchen oder so mitbringen kannst, hm?"

"Klar. Jan will auch kommen, geht es in Ordnung?"

Seine Mutter schien zu überlegen, aber antwortete doch überraschend freundlich "Natürlich, Schatz. Seid nur bitte pünktlich."

Erleichtert legte Kai auf und blieb noch einen Moment vor dem Telefonbänkchen stehen, den Blick auf den Apparat gesenkt und vollkommen unsicher.

Lukas' Stimme unterbrach ihn, als dieser leise sagte "Ich hab noch deinen Pulli bei mir gehabt." Schritte näherten sich über den Teppich, dann legte Lukas eine Tüte neben die Tür zu Kais Zimmer.

"Danke." Kai richtete sich auf und drehte sich zu Lukas um. "Ich wollte dich noch was fragen." Verwundert hielt Kai inne und seine Abteilung für Schüchternheit verlangte energisch, beim nächsten Mal erst gefragt zu werden.

"Ja?" Lukas wirkte mit einem Mal anders. Weicher als sonst, irgendwie schutzbedürftig, als bräuchte er die dicke Jacke als Polster.

'Jan hat ihn beleidigt.' Nervös betrachtete Kai Lukas' feuchtes Gesicht, während dieser die Druckknöpfe an seiner Jacke mit einer raschen Bewegung öffnete. Einige der sonst zurückfrisierten Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und verliehen ihm eine ungewohnte Ausstrahlung. Kai fiel auf, dass er Lukas nur mit ordentlicher Frisur und zum Ausgehen bereit gekannt hatte.

Kai wandte sich ab, hob langsam die Tüte auf und ging in sein Zimmer. Seine Füße waren unangenehm kalt und er wollte sich wenigstens Hausschuhe anziehen. Lukas folgte ihm, das war nicht geplant. Unsicher räumte Kai das Tablett mit dem kalten Tee vom Bett zum Chaos auf den Schreibtisch und versuchte, Lukas' Blicken auszuweichen.

In dem Moment fiel ihm der Regen auf, der draußen gegen seine Scheiben prasselte. Um Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu ordnen, ging Kai ans Fenster und zog das hellgrüne Rollo ein wenig hoch, um auf die Straße nach unten zu starren. Es war kein Regen, sondern eine feine Mischung aus Schnee und Eis, wie es schien. Direkt an der Ecke schlitterte ein Wagen, bei dem Versuch einzuparken, eben an einem anderen Auto vorbei.

Lukas schreckte Kai auf, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte und nach vorn gebeugt fragte "Was willst du mit mir bereden? Die Party? Was danach war?"

Kai seufzte und blieb einfach stehen, Lukas' Berührung fühlte sich nicht falsch an, sondern besorgt. Endlich hatte er sich soweit gesammelt, dass er fragen konnte "Hast du es extra gemacht?"

"Was?"

"Du hast mich extra… im Arm gehabt, als wir am Morgen aufgewacht sind. Ich bin mit Jan eingeschlafen, das weiß ich genau." Ja, das wusste er sicher. Es war Jan gewesen, sein Geruch, das Gefühl seiner Hände auf Kais Rücken, die perfekte Art, sich an ihn zu kuscheln, ohne ihn zu stören.

Lukas trat einen Schritt zurück und es raschelte, als er die Jacke auszog und auf den Boden warf. Dann erklärte er gelassen "Das wird wohl ein längeres Gespräch."

Kai fuhr zu ihm herum und starrte in sein Gesicht, Lukas blickte ernst zurück, lächelte nicht.

"Ja?" Langsam ging Kai zum Bett und setzte sich, zog sich die Decke über die kalten Füße.

"Ja." Lukas betrachtete ihn ein wenig von der Seite, dann murmelte er "Ja, ich hab es extra gemacht. Ich hole mir was zu trinken, habt ihr Bier da?"

"Ja, unten im Gemüsefach." Kai sah einfach nur geschockt vor sich auf die Decke.

'Ja, ich hab es extra gemacht?! Glaubt er, dass ich jetzt froh bin, oder was?! Scheiße! Was will er denn von mir?! Wieso lange Unterhaltung? 'Ich finde das scheiße, Lukas!' von mir und 'Das kann ich verstehen. Ich werde es nie wieder tun. Tschüss' von ihm, würde mir reichen!'

Lukas kam mit der Flasche in der Hand zurück und setzte sich ans Fußende in Kais Sichtfeld. "Es tut mir nicht leid, deswegen sag ich das auch gar nicht erst."

Kai sackte auf seinem Bett zusammen. 'Gut, soweit entspricht er schon einmal nicht meinem Protokoll. Scheiße.'

Lukas trank einige Schlucke, während sie schwiegen. Endlich seufzte er genervt und bemerkte "Doch, es tut mir doch leid…" Er hob den Kopf und wirkte mit einem Mal aggressiv. "Es tut mir verdammt noch mal leid, dass ich diesen Arsch nicht schon eher aus meiner Wohnung geworfen habe!" brüllte er fast und Kai schreckte zurück. Lukas fuhr fort, eher an die Flasche als an Kai gewandt "Das hätte ich gleich machen sollen, als er einen Affen gemacht hat, nur weil ich mit dir rede! Gleich am Anfang der Party, nicht? Da hast du schon Ärger mit ihm bekommen."

Kai öffnete und schloss seinen Mund einige Male, unfähig Worte zu formen. Endlich raffte er sich auf und fragte leise "Warum streitet ihr?"

Lukas hob die Schultern und trank einen Schluck aus der Flasche, dann vermutete er "Weil wir beide zu wissen glauben, was besser für dich wäre."

Da war es schon wieder! 'Was besser für mich wäre?! Ich! Ich und kein anderer sollte das wissen! Verdammt noch mal!' Entrüstet starrte Kai Lukas ins Gesicht und entgegnete lauter, als geplant "Und das scheint ihr alle beide ja prima zu wissen! Keiner von euch hat mich gefragt, ob es gut für mich ist, wenn meine Freunde sich total verblödet streiten! Es interessiert euch ja auch nicht, ob ich mich scheiße fühle, wenn ich feststellen muss, dass ihr mein Leben vor anderen diskutiert. Mein Privatleben!"

Er holte Luft und starrte wütend an Lukas vorbei. "Ich will nicht, dass sich alle immer und immer wieder einmischen in mein Leben! Sogar Lolli hat das gemacht! So eine hinterhältige Aktion auf dem Rave! Ich könnte kotzen, wenn ich daran denke, wie ihr das alles geplant habt!"

Hastig sprang Kai aus dem Bett und ging zum Fenster zurück. Er wollte jetzt nicht mehr in der Nähe von Lukas sein und seine Blicke ertragen. Schweigen senkte sich über sie. Lukas trank das Bier aus und beobachtete Kai, das wusste dieser, konnte es fast schon spüren.

Von seinem Ausbruch ein wenig überrascht lauschte er auf die Gedanken, die sich in seinem Kopf abwechselten, aufblitzten und dennoch nicht greifbar waren, auseinander stoben. Wie er Lukas kennengelernt hatte, wie er sich verhalten hatte, zuerst so grob, dann so verständnisvoll, nun wieder hinterhältig. Was wollte Lukas wirklich von ihm?

"Meinst du den Rave, auf dem ich dich kennengelernt habe?"

Lukas Stimme holte ihn in das Jetzt zurück, aber er nickte nur leicht. Wie konnte er beschreiben, was er fühlte? Sich benutzt? Nein, nicht wirklich. Wie ein Gewinn eher schon. Eine Prämie für etwas, aber das war es auch nicht ganz. Jan und Lukas machten eine Sache aus ihm, wenn sie so stritten. Ein Thema, einen Diskussionspunkt. Es hinterließ bei Kai das ekelhafte Gefühl, als Person nicht zu zählen, nur als Jury, als gäbe seine Zuneigung eine Wertung ab.

Irrigerweise erschien in seinem Kopf nun mit einem Mal die etwas brüchige Stimme seiner Oma. Vielleicht weil er ihren Geburtstag vergessen hatte. Sie hatte ihm früher, bevor ihre Augen aufgegeben hatten, immer vorgelesen, ihm erzählt.

Als es so aussah, als ließen seine Eltern sich seinetwegen scheiden - Kai hatte gerade herausgefunden, dass sein Vater seine sexuelle Orientierung nicht gutheißen konnte - da hatte sie ihm erklärt, wie eine Beziehung funktionierte. Seitdem hatte er daran geglaubt, es machte einfach zu viel Sinn.

In diesem Moment erinnerte er sich mit einem Mal daran. Er konnte sie sogar vor sich sehen. In ihrem Zimmer, damals noch in der eigenen Wohnung. Sie trug den beigen Rock und die hellblaue Bluse, saß in dem Ohrensessel und er hockte auf dem dazu passenden Fußbänkchen. Er hatte Angst um seine Eltern und grauenhafte Schuldgefühle deswegen. Er hatte geweint, was nur sehr selten bei ihm vorkam. Endlich hatte er seinen Kopf auf die Armlehne gelegt und sich von ihr streicheln lassen. Die einzige Frau, bei der Kai es mochte.

Er konnte sogar wieder das dumpfe Ticken der Uhr hinter sich hören, während er sich ihre Stimme in Erinnerung rief. 'Weißt du, einen Wagen mit zwei Pferden kann dennoch nur einer lenken, auch wenn man zwei Zügel hätte, Kai. Verstehst du? So sollte eine Partnerschaft sein. Wenn jedes Pferd von jemandem anderes gelenkt würde, dann bliebe der Wagen stehen.'

Er lächelte heute über sein damaliges Unverständnis. Doch an dem Tag hatte er nachgefragt 'Wie meinst du das, Oma?' Und sie hatte leicht gelacht und seine Locken gezaust. 'Ich meine das so. Die Pferde sind die Kraft, die einen voran bringt. Der Wagen ist das gemeinsame Leben und die Kutscher, das sind wir mit unserem Willen. Wenn zwei Menschen nicht dasselbe wollen, wenn sie sich in einer Partnerschaft, also auf einem Wagen befinden, dann wird dieser Wagen nicht weit kommen. Wenn sie es jedoch schaffen, sich zu einigen, dann fährt er jede Distanz.'

Lukas unterbrach Kai in seiner Erinnerung, indem er fragte "Das meintest du doch? Der Rave. Ging es dir zu schnell?"

Kai zog das Rollo noch ein Stück weiter hoch und starrte auf sein Spiegelbild im schwarzen Fenster. Die Erinnerung an seine Oma verschwamm, aber zugleich wusste er wieder, was sie ihm hatte sagen wollen.

Es war nicht seine Schuld, wenn seine Eltern nicht mehr zusammen, sondern nur noch voneinander weg lebten. Damals hatte es ihm geholfen. Seine Eltern hatten sich wieder vertragen, hatten ihre gemeinsamen Ziele wiedergefunden. Kai hatte nicht mehr vergessen können, wie seine Oma einen Pferdewagen als Vergleich gewählt hatte. In diesem Moment wurde ihm auch klar, dass er und Jan bislang immer dasselbe Ziel gehabt hatten, dass sie deswegen so gut miteinander umgehen konnten.

Bei Lukas, da war er sich mit einem Mal klar, waren die Ziele immer andere gewesen. Die beiden Pferde liefen also zwangsläufig verschiedenen Wegen folgend, und sie würden zusammen nirgendwohin gelangen. Noch nie hatte Kai das Gefühl einer derartigen Sicherheit gehabt.

'Ich hab ihn gern. Er ist unheimlich sexy, aber es hat doch keinen Sinn. Wie sage ich es nur? Ich kann doch jetzt unmöglich von Pferdewagen anfangen.' Errötend wurde er sich bewusst, dass Lukas sein Gesicht im Spiegelbild im Fenster anstarrte.

Draußen sauste Eisregen herunter, an ihm vorbei und plinkerte von Zeit zu Zeit gegen das Fenster. Kai starrte auf die Wasserspuren an der kalten Scheibe vor sich und fragte tonlos und eher uninteressiert "Wie seid ihr darauf gekommen, dass du mit mir schlafen sollst?"

Es knallte leise, als Lukas das Bier auf dem Schreibtisch abstellte, dann hörte Kai Schritte hinter sich und senkte den Kopf, schloss die Augen, schloss Lukas aus. Dieser stand dicht hinter ihm, aber berührte ihn nicht. Kai spürte, dass er es nicht wagen würde und entspannte sich wieder.

"Entschuldigung, was hast du da gefragt?"

"Lolli und Frank, du… ihr habt das doch beschlossen, war es eine spontane Idee, oder habt ihr das von langer Hand geplant? Ich fühle mich ohnehin bescheiden, sag es mir doch ehrlich. Ich kann mir doch eh denken, wie das abgelaufen ist."

Lukas seufzte und holte dann tief Luft, bevor er mit ruhiger Stimme erklärte "Du willst von dem Abend hören, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. In Ordnung. Aber du musst mir versprechen, dass du mir glaubst."

Kai nickte und starrte die Schemen im Fenster an, die Lukas hinter ihm abbildete. Dann erzählte er leise, so dicht hinter ihm, dass Kai seine Körperwärme schon spürte. "Ich bin tatsächlich aus dem Urlaub nach Hause gekommen und meine Schwester, die hast du ja auf der Feier kennengelernt, hat mich gleich zum Rave geschleift.

Ich hatte wirklich keine Zeit mehr, die Matratzen und Schlafsäcke aus dem Bulli zu räumen, aber dachte auch bei mir, dass man nach dem Rave noch eine Stunde schlafen könnte, um nicht total hype zurückzufahren. Lena hat gleich nach einer Stunde einige Freunde getroffen, die sie noch zu einer Afterhour mitnehmen wollten, sodass ich wusste, dass ich allein nach Hause fahren würde.

Gleich nach zwei Stunden auf dem Rave hab ich Lolli entdeckt. Der hat natürlich erst einmal eine Stunde lang auf mich eingeredet und im Verlauf hat er dann von dir erzählt. Er hat erzählt, wie fleißig du bist und wie ruhig. Dass du nie weggehst und dass du trotz deines niedlichen Aussehens viel zu wenig Möglichkeiten hättest, um mal den richtigen Mann kennenzulernen."

Kai hob den Kopf ein wenig mehr und Lukas lächelte ihn im Spiegelbild an. "Lolli hat nicht gesagt, dass er das ändern will, ich hab das gesagt. Es war ein Spaß. Ich sagte so was wie 'Oh prima, ich bin solo, er auch, dann können wir das doch auf einen Schlag ändern.' Da erst bekam Lolli die Sternchenaugen, vor denen ich solche Angst hab. Er hat mich am Ärmel gepackt und rumgeschleift, bis wir dich auf der Tanzfläche gefunden haben.

Wir haben dich betrachtet und Lolli hat fies, wie er immer ist, festgestellt, dass du komplett mein Fall bist. Und damit hatte er so verdammt Recht! Frank musste dazu noch bemerken, dass es darauf ankommt, ob mein Fall ein unterkühlter Eiswürfel sei. Lolli meinte jedoch nur, dass du bestimmt aufzutauen bist. Und ich…"

Lukas wich wieder ein wenig zurück und erklärte, an Kai herab deutend "Ich weiß noch genau, wie du ausgesehen hast. Du warst so leicht in der Menge auszumachen. Glaub mir, ich hab nicht als einziger gestarrt. Das enge, weiße T-Shirt, die silberne Hose, die jeden Schritt, den du gemacht hast, betonte. Deine Augen, als du gegen mich gerempelt bist."

Lukas lehnte sich vor und sprach dichter an Kais Ohr. "Ich hab die ganze Zeit nur gedacht, dass du ein Engel bist, egal wie kalt, egal wie entfernt."

Kai erschauderte und zog die Schultern an "Ich bin ein Mensch. Ich bin nicht so ein… Ding. Mach mich nicht dazu."

Er starrte auf die Wasserstraßen über seiner Fensterscheibe und seufzte. "Als ich dich angerempelt hab, hatte ich nur einen Schreck. Diese anderen Typen haben mich geschubst."

"Ja, was für ein Glück. Ich hätte sonst nicht die richtigen Worte gefunden."

Lukas schwieg, dann gab er zu "Lolli hat mir erzählt, dass er den dringenden Verdacht hat, dass dein Liebesleben zu wünschen übrig lässt. Und im Chill-out bist du mir auch wirklich nicht erschienen, als hättest du nennenswerte Erfahrung."

Kai knurrte ein wenig und Lukas lachte leise "Aber so süß… ich konnte die Finger nicht von dir lassen. Hm. Du hast so herrlich gerochen und geschmeckt."

Kai erschauderte, als er Lukas Mund an seinem Nacken spürte, aber er bewegte sich nicht, während er beleidigt murmelte "Nennenswerte Erfahrung."

Lukas küsste seinen Haaransatz, dann rückte er wieder ab und stellte fest "Das hat sich jetzt ja geändert, nicht? Ihr tut es doch, oder wozu brauchst du sonst Kondome?"

Kai fuhr herum und folgte Lukas' Blick. Tatsächlich lag auf dem Fußboden neben dem Nachttisch eine heruntergefallene Packung. Errötend wandte er sich ab und schwieg.

"Ist er denn soviel besser als ich? Was ist denn der Unterschied, außer dass er einen Affen macht und nur noch die Leine bräuchte, um dich richtig auszuführen?"

"Was?" Schreck war noch nicht das richtige Wort für das, was Kai bei solchen Anschuldigungen empfand.

"Na, so, wie du hinter ihm herdackelst, da wird einem ja schlecht!”

"Wie?!" Langsam drehte Kai sich um und sah, dass Lukas wieder so wütend wirkte.

"Dann sag mir doch, was es wert ist, wie ein Hund aufs Herrchen zu hören, auf allen Spaß zu verzichten und ihm beim Fernsehen zuzuschauen?!"

Das war gebrüllt, aber Kai hob kampfbereit das Kinn. Verzweifelt versuchte er sich daran zu hindern, indiskret zu sein, aber schaffte es nicht. "'Ich' schlafe mit 'ihm', das ist besser!" zischte er unterdrückt. Er errötete noch heftiger und wandte sich unterdrückt fluchend ab.

Lukas war nicht nur beeindruckt von dieser Neuigkeit, sondern regelrecht geschockt. Er riss Kai an den Schultern herum und starrte ihn an. "Was?!"

Kai erwiderte seinen Blick trotzig und machte sich mit einer abweisenden Bewegung der Schultern aus seinem Griff frei "Du hast schon richtig gehört."

Lukas blinzelte und erwiderte leise und dumpf "Dann hat es dir nicht gefallen? Gar nicht?"

Kai schüttelte den Kopf. Eigentlich, um zu sagen, dass es zum Teil nicht schlecht war, aber Lukas verstand es anders. Geknickt erkundigte er sich "Auch nicht das Vorspiel?"

Überrascht blinzelte Kai ihn an. Eine weiche, mitleidige Stimme in seinem Kopf legte ihm die rücksichtsvolle Antwort zurecht, die zudem noch der Wahrheit entsprach 'Doch, das Zusammensein hat mir mehr als gut gefallen, Lukas. Das Küssen, dein Streicheln, deine ganze begehrliche Art.' Stattdessen verschränkte er jedoch die Arme und murrte "Der Anfang ging."

"Ging?! Vielen Dank! Wieso hast du nichts gesagt?"

"Hab ich doch, verdammt! Ich hab 'nein' gesagt. Ich hab Schluss gemacht! Soll ich dir das auch noch schriftlich geben?! Willst du es nicht nur von Jan, sondern auch noch von mir hören?! Ich habe Schluss gemacht, reicht das nicht?! Scheiße!" 'Scheiße, jetzt hab ich ihn angeschrien.' Kai hasste es, wenn er die Kontrolle über seine Reaktionen verlor.

Lukas ließ den Kopf langsam sinken, einige noch immer feuchte Haarsträhnen fielen ihm vor die Augen. Seine sonst so selbstbewusste Haltung war zusammengefallen, die Schultern hingen und seine Lippen waren zu einem blassen Strich zusammengepresst.

Kai konnte sich nicht rühren, nichts mehr sagen, um ihm zu helfen, um das, was er gerade gesagt hatte, abzumildern. Der Regen wurde durch einige Windböen gegen sein Fenster geklatscht und Kai drehte sich einfach fort und lehnte seine Stirn gegen die kalte Scheibe.

Er konnte sich nicht bewegen, während er zuhörte, wie Lukas aus dem Zimmer ging. Die Tür fiel zu. Eine Weile später trat die kräftige Gestalt in der blauen Jacke auf den Gehweg hinaus und schlug den Kragen hoch. Kai starrte Lukas wie betäubt hinterher. Langsam legte er seine rechte Handfläche gegen die Fensterscheibe und flüsterte "Entschuldige…"

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