zur Desktop-Ansicht wechseln. zur mobilen Ansicht wechseln.

Der Tannenbaumcrash

Lesemodus deaktivieren (?)

Informationen

Inhaltsverzeichnis

 

1

Julian war fertig. Die letzten Tage waren eine Hölle gewesen, und er war sich mal wieder sehr sicher, dass er niemals Kinder wollte. Seit acht Tagen wohnte sein Neffe Dennis, der siebenjährige Sohn seiner Schwester, seines Zeichens Nervensäge, Heulboje und McDonaldsunterstützer, bei ihm.

Dies war so, weil Dennis' jüngere Schwester die Windpocken aus dem Kindergarten nach Hause gebracht hatte, und Julians Schwester unter der Last mit einem kranken Kind und einem aus der Hölle, was Julians geheime Vermutung blieb, einfach überlastet war.

Julian hatte ihre Jammerattacken nicht mehr aushalten können und hatte Dennis einen Platz in seiner geräumigen Zweizimmerwohnung angeboten. Sogar in seinem Bett. Er schlief auf dem ausgeklappten Sofa. Es war ein großer Fehler gewesen und das nicht nur, weil das Sofa erstaunlich unbequem war. Im Nachhinein betrachtet hätte er die Schwester mit den Windpocken nehmen sollen.

Sein Neffe ja war eigentlich ein liebes Kind, aber konnte zum Teufel werden, wenn er schlafen sollte, wenn er etwas gesundes essen sollte, wenn er mit dem Nintendospielen aufhören sollte, wenn er morgens mal schneller machen sollte, wenn er baden sollte, wenn sie im Supermarkt an den Süßigkeiten vorbeikamen, wenn... Die Liste war in das Unendliche zu verlängern.

Aber Dennis hatte auch seine Vorteile an sich. Seit er da war, konnte Julian ohne Sorgen die Kinderpuddings kaufen, konnte zum Frühstück Cartoons ansehen, ohne sich dumm zu fühlen dabei, und seit Dennis in seiner Wohnung war, hatte er von dessen Mutter auch die Weihnachtsdekoration übernehmen müssen. Nicht nur das. Sie hatte ihn persönlich heimgesucht und dafür gesorgt, dass die Weihnachtlichkeiten ihren rechten Platz erhielten.

Vor seiner Tür hing ein Kranz mit roten Schleifen, der sein Namensschild verdeckte, an der Längswand seines Flures tobten vierundzwanzig Teddybären mit dicken Bäuchen, die den Adventskalender seines Neffen darstellten und zu Julians gelindem Ärger seine Kalenderbilder aus dem Men 2000 überdeckten. Allerdings hätte er den ohnehin nicht behalten dürfen, um den Jugendschutzaugen seiner Schwester zu genügen.

In seinen Fenstern klebten über den Ficusbüscheln, die es noch mit ihm aushielten, etliche goldene oder pergamentene Sterne, die den Blick auf die kahlen Bäume gegenüber nahmen. In der Küche hatte Julians Schwester gar ein Pfefferkuchenhaus aufgestellt, mit Eiszapfen aus Zuckerguss, mit einer Hexe. Sogar ein kleiner Brunnen aus Lebkuchen war dabei gewesen, aber den hatte Dennis in einem Anfall bereits aufgegessen.

Julian hatte offiziell nie viel von Weihnachtsatmosphäre gehalten. Zuhause hatte er sich rebellisch gegen das Baumschmücken und Kerzenanbrennen ausgesprochen. Doch mittlerweile, in seiner eigenen Wohnung, gab er es für sich auch zu, dass es ihm gefiel. Er mochte das warme Licht der Adventskerzen, die sie zum Frühstück und Abendbrot anzündeten, und er mochte die Geschichten aus dem Adventsbuch, von denen er Dennis jeden Abend eine vorlesen musste. Heimlich hatte er schon vorweggeblättert, nur um festzustellen, dass natürlich die übliche biblische Weihnachtsgeschichte am Vierundzwanzigsten stand.

Zudem war Dennis praktisch, denn er bemerkte als erster und sehr richtig, dass zwei Wochen vor Weihnachten die nackten Fenster neben Julians Wohnung nicht mehr mit unbewohnter Schwärze gähnten, sondern leichte Gardinen enthielten. Diese Bemerkung an sich brachte noch nicht viele Veränderungen, aber zwei Handwerkerautos und ein Umzugslastwagen vor dem Wohngebäude ließen schon einiges erahnen.

Julian vergaß über Dennis' nervigem Gehampel beim Türaufschließen und seinem Gejaule, dass er unbedingt und sofort auf Klo müsse, gleich wieder, dass er einen neuen Nachbarn hatte. Dieser brachte sich erst am nächsten Morgen, einem Morgen, an dem Dennis erst zur dritten Stunde zur Schule musste, weswegen sie eigentlich länger schlafen konnten, sehr nachdrücklich in Erinnerung. Mit Schlafen war es natürlich punkt acht Uhr vorbei, als nebenan ein Schlagbohrer zu Dröhnen begann.

In den nächsten Tagen folgten kreischende Sägen, Hämmern, Klopfen, Rücken von Möbeln, laute Fußtritte von Möbelpackern, Türenknallen und jede Menge weiteres Bohren. Julian saß mit Ohrstöpseln in seiner Küche, wo er am liebsten lernte und versuchte die Konzentration zurück zu erlagen, während er sich überlegte, wieso ein neuer Nachbar noch einmal genau das gewesen war, was ihm gefehlt hatte.

Er hatte sich ursprünglich gefragt, wann endlich jemand einziehen würde, und wann die kahlen Fenster aufhören würden, wohlmöglich noch Diebe anzulocken. Nun fragte er sich, wieso er nicht einfach zufrieden gewesen war, dass er seine Ruhe gehabt hatte, seit seine schwerhörige Nachbarin in das Altenheim umgezogen war und niemand mehr so dermaßen lautstark Radio hörte, dass er in seiner Wohnung von der Heideblüte mitsingen konnte.

Der neue Nachbar begann von Julian gedanklich in eine Dartscheibe verwandelt zu werden, auf die er mit jedem neuen Anschwellen des Getöses möglichst vergiftete Pfeile warf. Die Vormittage, die er ohne Dennis eigentlich genossen hatte, wurden durch den Baulärm zur Hölle. Die Nachmittage verbrachten er und Dennis im Zoo, im Kino, in der Fußgängerzone, im Schwimmbad und im Park, nur um dem Lärm entkommen zu können. Zum einen kam Julian raus wie nie zuvor und stellte fest, dass er es verwirrender Weise mochte. Es hatte auch den angenehmen Nebeneffekt, dass Dennis am Abend rechtschaffend müde war und mit einem Mal ohne Protest schlafen ging. Leider war auch Julian zu müde, um noch an seiner Doktorarbeit weiterzuschreiben.

Doch nach einigen Tagen, eine Woche vor Weihnachten, kam die Erlösung, die himmlische Erlösung in Julians Augen. Er erwachte, und es war still. Lediglich eine Krähe krächzte und flatterte vor dem Haus durch die kahlen, ein wenig von Raureif überzogenen Ästen, als Julian erst ein Auge, dann das andere probeweise öffnete.

Er war eigentlich nur deswegen schon wach, weil es in den letzten Tagen immer so früh laut gewesen war auf dem Hausflur, und auch nur aus diesem Grund erwischte seine Schwester ihn auch am Telephon nicht so grummelig wie sonst, obwohl es Samstag war.

Ein Blick in den Spiegel im Flur neben dem Telephon präsentierte Julian sein blasses, ein wenig zu zerknittertes Gesicht unter einem Mopp wilder Haare. Um seine grünbraunen Augen lagen Ringe, die deutlich zeigten, dass er in den letzten Tagen systematisch fertiggemacht worden war, von seinem Nachbarn und seiner Verwandtschaft aus der Hölle.

»Alles ist hier soweit wieder im Lot, Juli. Ich werde mein kleines Krümelmonster dann morgen Abend einsammeln, ist das in Ordnung?«

»Sehr. Monster ist auch ganz richtig. Da bedanke ich mich herzlich. Das kostet ein Essen, mindestens.« Julian gähnte und rieb sich die Augen, streckte sich ein wenig und ließ den Unleidigen raushängen. Seine Schwester ignorierte ihn.

»Fährst du Weihnachten nach Hause, Brüderchen?« Ihre Stimme klang so angespannt, wie es bei dem Thema immer Zuhause gewesen war. Natürlich fuhr er nicht nach Hause, nicht nachdem seine Eltern sich nur für ihn schämten, seit er es einmal gewagt hatte, mit seinem Freund gemeinsam zu kommen.

Julian spürte den Stich in seinem Magen und schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht sehen konnte. »Nein. Du weißt genau, dass es eh keinen Zweck hat. Christine hat mich außerdem gestern gefragt, ob ich Zeit für 'nen lustigen Job hab. Wir werden als Weihnachtsmann und Christkind arbeiten, und dann werde ich mich ein wenig betrinken. Am ersten Weihnachtstag bin ich schon zu einem Essen eingeladen, mach dir also keine Sorgen.«

»Die mache ich mir aber, Juli.« Sie seufzte und verlangte »Gib mir meinen Murkel mal.«

»Vergiss es. Der schläft, und ich wecke das Monster nur, wenn es unbedingt sein muss.« Julian grinste und fuhr sich durch seine mal wieder viel zu langen Haare. Probehalber versuchte er, sie im Nacken zusammen zu nehmen, während seine Schwester mit einer Litanei »Sag ihm, dass ermirssososooofehlt, daßichihnsososososooooliebehab« begann. Er zuckte zusammen, als er gleich darauf eine resolute Stimme hörte »Ich bin aber wach!«

Julian reagierte schnell und eiskalt. »Dein Glück. Der Weihnachtsmann will dich sprechen, Dennis. Er fragt, wieso du so unartig warst.« Sich mühsam das Lachen verkneifend lauschte Julian gleichzeitig über den entsetzten Vortrag seiner Schwester von der pädagogischen Undenkbarkeit einer solchen Aussage und betrachtete den geschockten, sehr schuldbewussten Gesichtsausdruck seines Neffen.

»Angeschmiert, Dennis-menace. Deine Regierung, zum Todesschuss bereit.« Er reichte den Hörer weiter und ging ins Bad, während Dennis maulig in den Hörer verkündete »Du bist doof, Mama. Ich will bei Julian wohnen. Ich darf hier immer Nintendo spielen, wann ich will.«

Wenig später saßen sie nach einer Strafpredigt von Mama an Julian das Nintendospielen betreffend und einer Dusche, für die Dennis prompt zum beleidigt prustenden Walross geworden war, am Frühstückstisch, und Dennis beschwerte sich, dass er nicht gleichzeitig die Cartoons sehen und spielen konnte, weil es einen Mangel an Fernsehern in Julians Wohnung gab. Julian überließ ihn im Wohnzimmer seinen inneren Debatten und konnte nach einer Weile hören, dass das Nintendo gewonnen hatte.

Er war sich der Stille im Haus wieder bewusst geworden und hatte seine Lernsachen in der Küche ausgebreitet. Genüsslich sog er den Duft aus seinem Kaffeebecher ein und spielte mehr mit den Seiten der Arbeit, die er noch immer korrigieren musste, als dass er wirklich produktiv war. Es war einfach schon zu friedlich und freundlich an diesem Morgen. Er hatte seinen roten Lieblingspulli und die Hosen mit den Flicken überall angezogen und fühlte sich herrlich, weil ihm klar wurde, dass er einmal nicht aus der Wohnung musste.

Er verfiel in eine Art Tagtraum, der sich um das Wiedersehen mit einem ehemaligem Schwarm von ihm am ersten Weihnachtstag drehte. Das war von einer gemeinsamen Freundin über ein Essen arrangiert worden und Julian setzte nach längerem Singledasein seine Hoffungen darauf. Gerade hatte er das Gesicht seines Schwarms heraufbeschworen, als es auf dem Balkon, den er mit dem neuen Nachbarn teilen würde, laut rauschte, dann krachte, worauf ein gellender Schrei ihn zusammenzucken und zur Balkontür eilen ließ.

Ein merkwürdiges Bild bot sich ihm. Ein wirklich fett zu nennender Weihnachtsbaum hing quer über das niedrige Gitter, der Stumpf wackelte, zitterte und neigte sich in Zeitlupe der Erde, zwei Stockwerke tiefer gelegen, zu. Am anderen Ende, in einige Äste und die Spitze gekrallt, hing ein fluchender Mann, dem die schwarzen Haare in die Stirn gefallen waren, so dass vom Gesicht nicht viel zu erkennen war.

Julian musste erst lachen, dann fasste er mit an, gerade noch rechtzeitig, um sich an einigen der Nadeln zu verletzen, bevor der Baum mit lautem Rascheln abwärts stürzte, wo er mit einem dumpfen Paff aufkam.

Der schwarzhaarige Mann ließ sich keuchend und leicht zitternd vornüber hängen und Julian dachte schon bestürzt, dass er sich etwas getan hatte, weswegen er über die Brüstung flankte, die ihre Balkone unterteilte. Doch der andere lachte. Er prustete laut los, als er sich aufrichtete und hielt, fröhlich zwinkernd, die Finger vor seinen Mund.

Dann lief er mit zwei behänden Sprüngen zur Brüstung und lehnte sich darüber, um hinunter zu starren. Erneut lachte er lauthals auf, während Julian seinen Hintern in einer engen, beigen Jeans sehr vorteilhaft ausgestellt, begutachten konnte, bevor er sich neben den anderen an die Brüstung begab.

Der Baum stand selbstbewusst mitten in dem winterlich leeren Beet der alten, zickigen Nachbarin aus dem Erdgeschoss und sah aus, als hätte jemand ihn dort eingepflanzt. Julian lehnte sich vor und warf einen Seitenblick auf den Besitzer, seinen neuen Nachbarn, wie er nun messerscharf schloss.

Nicht nur die Rückseite war attraktiv. Der junge Mann hatte ein ovales, frisch getöntes Gesicht, das durch die Anstrengung und das Lachen nun leicht gerötet war, die Wangen glühten förmlich. Pechschwarzes Haar fiel ihm in unregelmäßigen Strähnen in die Stirn und vor die recht hellen, runden Augen. Er hatte eine zierliche Nase und einen schönen Mund, wie Julian sogleich träumerisch befand.

Rasch senkte er den Blick auf seine Füße in den ausgelatschten Hausschuhen und verbot sich diese Gedanken, verbot sich diese Art, auf den anderen zu schauen. Leider hatte sich das Bild schon eingebrannt. Julian hatte seine Gesichtsform verinnerlicht. Durch das Kunstgeschichtestudium nahm er Bilder einfach zu schnell in fertige Kategorien in sein Gedächtnis auf und dieses hier würde er lange behalten.

Doch der andere wirbelte in einer eleganten Drehung zu ihm herum, um ihn zu begrüßen. Sein Lachen funkelte noch immer in seinen Augen, steckte an und bevor sie sich vorgestellt hatten, prustete sie beide wieder los, Julian nahm jedoch die Hand und schüttelte sie.

Er hielt die schlanke, warme Hand des anderen fest, holte Luft und brachte seinen Namen eben gerade so heraus »Julian...«

»Reicht mir, reicht mir. Ich bin Kevin. Wir sind... oh nein!«

Julian öffnete seine Finger, aber konnte sich dann doch nicht von Kevin lösen; ihre Finger klebten durch reichlich Baumharz aneinander fest.

Kevin lachte schon wieder los und schüttelte an Julians Finger zerrend den Kopf. »Ich bin immer so tollpatschig, mir musste so etwas ja passieren!«

»Wieso hast du den dicken Baum runtergeworfen?«, erkundigte Julian sich vorsichtig, während er Kevins Handgelenk umfasste und ihre Finger trennte. Dabei fiel ihm das zierliche Silberkettchen auf, das der andere trug. Hoffnung keimte in ihm auf.

Kevin lachte noch immer, es klang ein wenig nervös, dann erwiderte er noch einmal runterblickend »Dicker Baum ist gut! Ich wollte ihn bis Weihnachten auf dem Balkon stehen lassen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Balkon so kurz und der Dicke so...« Er rührte mit den Fingern in der Luft herum.

Julian grinste. »...selbstmordgefährdet ist?«

Wieder mussten sie lachen, doch dann erklärte Kevin ruhiger werdend »Er hatte sich mit einem Ast an der Balkontür verhakt und ist dann so plötzlich losgeschnellt, dass ich... ich hab mich erschrocken und da war das Malheur auch schon passiert.«

Er lehnte schwer atmend an dem Türrahmen und kicherte noch immer leise, während er zu seiner Wohnung deutete. »Kann ich mich irgendwie revanchieren, für die Rettungsangebote? Eine Tasse Tee oder Kaffee vielleicht?«

»Erst mal holen wir den dicken Baum zurück, schlage ich vor. So können wir ihn nicht lassen«, entgegnete Julian grinsend.

In dem Moment raschelte es erneut, und eine Katze rannte fauchend aus dem Garten fort. Der Baum war umgekippt und lag nun quer vor dem Hauseingang. Kevin bekam vor Lachen kaum noch Luft, während er herausbrachte »Nein, nicht mal zu Weihnachten kann man den so lassen.«

Sie stiefelte nebeneinander die Treppe herunter, und Julian stellte fest, dass er Kevin mehr als nur interessant und nett fand. Die ansteckende Fröhlichkeit, die sie über diese Ansammlung von Missgeschicken kichern statt fluchen ließ, war herrlich. Das lebendige, offene Gesicht zeigte deutlich, dass Kevin ihn ebenso mochte. Da war Julian sich sicher. Davon abgesehen war es noch ein geradezu schönes Gesicht, in das man gern blickte.

Julian war nicht viel größer als der andere, doch Kevin kam ihm zierlicher vor, auch wenn es nicht daher kommen konnte, dass er zu schmal war. Deutlich konnte man Muskeln sehen, als er die Ärmel seines Hemdes aufkrempelte, und auch im Ausschnitt sah Julian, dass Kevin viel Sport betreiben musste.

Sie hatten nur wenig Schwierigkeiten mit dem Baum. Mit vereinten Kräften schafften sie ihn wieder in den zweiten Stock und von dort auf den Balkon zurück, wo Kevin ihn sorgfältig in einen grünen Ständer verankerte.

Dann bot er Julian an »Du kannst dir in meinem Bad die Hände waschen, Seife und Handtuch hab ich schon ausgepackt.«

Sie kehrten wieder ins Wohnzimmer zurück und Julian sah sich neugierig um. Die Wohnung von der Vorbesitzerin war nicht mehr zu erkennen. Zwar war alles noch chaotisch mit Umzugskartons vollgestellt, die halb ausgeräumt den Weg versperrten und aus denen reichlich alte Zeitungen quollen, aber die Möbel, zwar noch kahl, waren sehr geschmackvoll und geschickt in dem Raum verteilt.

Helle Regale, ein schwarzes Ledersofa, ein interessanter, moderner Couchtisch und einige edel mit silbernen Rahmen gefasste Photographien hatten den Raum gemeinsam mit einem frischen Anstrich und neuem, teuer aussehenden Teppichboden in hellem Beige komplett verändert.

Wegen seines Blickes in der Runde war ihm entgangen, dass Kevin zu ihm getreten war. Er hatte rote Wangen und sah Julian erschrocken in das Gesicht. »Oh, das ist mir so peinlich. Per Weihnachtsbaumcrash hab ich mich bei meinem neuen Nachbarn vorgestellt, nicht wahr?«

»Nun, eigentlich hat man ja schon die ganze letzte Woche gehört, dass da jemand renoviert«, entgegnete Julian trocken, auch wenn er sich gleich danach gern dafür gehauen hätte.

Kevin ließ den Kopf ein wenig hängen. »Verdammt, wie kann ich es wiedergutmachen? Ich wünschte, ich hätte vorher schon Sektflaschen rumgehen lassen für alle, weil ich doch die Fußböden und diese Deckenvertäfelung hab raushacken lassen. Die Handwerker waren zu laut, nicht wahr?«

»Nein, schon gut. Es war eine Art Scherz. Ich bin zwar einige Male aufgewacht, aber wer ist schon den ganzen Tag zu Hause, nicht? Mach dir nichts draus«, versuchte Julian verständnisvoll zu antworten und hielt sich in letzter Sekunde zurück Kevins Schulter zu drücken, wonach ihm in diesem Moment wirklich war.

Die etwas gespannte Situation zwischen ihnen hob sich gleich darauf auf, weil ihm seine klebrigen, harzigen Finger wieder ins Gedächtnis kamen. Hastig ging seine Hände waschen. Auch das Bad war neu, hell und modern eingerichtet. Dies erklärte zumindest den ohrenbetäubenden Lärm gerade am Anfang der Umzugsphase von Kevin. Aber gelohnt hatte es sich, kein Vergleich zu den ekelgrünen Fliesen in seinem eigenen Bad.

Auf dem Badewannenrand standen noch etliche Farbeimer und Pinsel herum. Es roch auch noch frisch gestrichen, geklebt, renoviert. Julian blickte in den zierlichen, mit geätzten Gräsern verzierten Spiegel und kämmte sich mit den Fingern durch die wuscheligen Haare, registrierte seufzend, dass er noch nicht rasiert war. /Und das, wo du einen Traumnachbarn kennen lernst. War ja klar, dass du aussehen musst wie ein Strolch./

Nervös kehrte in das Wohnzimmer zurück, wo Kevin gerade ein weiteres Bild aufhängte. »Du könntest mir mal sagen, ob es gerade hängt. Ich seh das aus der Nähe so schlecht.«

Es war eine Photographie. Sie zeigte zwei Ballett-Tänzer im Sprung, von einem strahlenden Lichteffekt umgeben und dynamisch wirkend, als würden sie jeden Moment auch auf dem Bild noch landen.

Nun erst sah Julian sich bewusster um, während Kevin das Bild nach seinen Angaben an einem Nylonfaden hin- und her ruckelte, bis es einigermaßen gerade hing. »Es sind ja alles Ballettaufnahmen, nicht?«

»Ja.« Kevin nahm das nächste Bild auf und hielt es an die Wand.

»Das ist sehr schön. Mehr links runter, ja so.«

»Ich mag die Bilder auch gern.«

»Kennst du welche von den Tänzern?«

Unsicher schlich sich Julian näher an die noch am Boden stehenden Bilder heran und betrachtete eines genauer. Die leise Antwort von Kevin, der nun zu ihm trat, kam gleichzeitig mit seiner eigenen Erkenntnis. »Ich bin einer der Tänzer, auf diesem Bild zum Beispiel. Die anderen sind von Freunden und Kollegen, die ich bewundere.«

»Wow... ja, sieht man eigentlich auch. Tanzt du noch immer?« Beeindruckt betrachtete Julian Bilder von den Dingen, die Kevin so mit seinem Körper anstellen konnte. Zudem war es von ihm zuvor schlau beobachtet gewesen. Der andere war trainiert, bewegte sich so elegant. Erstaunlich, dass er zur selben Zeit so tollpatschig sein konnte, den Baum fallen zu lassen.

»Ich tanze nicht mehr, sondern gebe Unterricht an der Akademie. Die ist gleich hier um die Ecke, ich kann zu Fuß hin, was mir sehr recht ist.«

Kevin ging von ihm weg zur Küche und fragte »Magst du etwas trinken, bevor du über den Balkon zurückkletterst?«

»Nein, nein... ich kann auch einfach klingeln, Dennis wird schon... oh verdammt, Dennis!«

Rasch lief Julian über den Flur und klingelte an seiner Haustür. »Nun mach schon auf, bitte.« Als Dennis ihm nach einigen Malen des Klingelns nicht öffnete, erfasste Julian eine heiße Angst, die ihm klar machte, dass er das kleine Monster wider Erwarten doch gern hatte.

Kevin trat zu ihm und fragte »Ein kleines Kind?«

»Ja. Oh, wenn ihm nur nichts passiert ist. Er ist erst sieben. Gerade in die Schule gekommen. Dennis! Mach bitte auf!«

Um Kevins Mund zuckte es leicht, während er zu seiner Wohnung zurückdeutete und ein wenig distanziert fragte »Willst du doch über meinen Balkon...?«

Er kam nicht weiter, denn Dennis öffnete die Tür und nörgelte »Wo warst du denn?«

»Oh, dir ist nichts passiert. Gott sei dank!« Rasch umarmte Julian Dennis einmal und drückte ihn an sich, um ihm durch die strubbeligen, blonden Haare zu wuscheln. Ein Merkmal, das in der Familie lag.

»Ich konnte nicht aufmachen, musste erst abspeichern. Ich muss mal aufs Klo, machst du die Hose auf, ich kann das nicht.«

Julian half Dennis mit den Hosenträgern der Winterhose und erklärte über seinen Rücken zu Kevin hin, der einen Schritt entfernt dastand und sie anstarrte. »Dennis the menace. Ich bin froh, wenn das Monster in der nächsten Woche wieder bei seiner Mutter ist.«

Kevin nickte lediglich einmal und sagte leise »Ich entschuldige mich noch einmal für den Lärm. Und dann bedanke ich mich noch einmal für die Hilfe. Ich muss jetzt leider los, man sieht sich ja im Hausflur, denke ich.«

2

Man sah sich nicht mehr im Hausflur. Das einzige, was Julian von Kevin zu sehen bekam in den nächsten Tagen, waren noch einmal die Möbelpacker, die ein Klavier brachten, dann sah er nur ab und zu den ausladenden Tannenbaum auf dem Nachbarbalkon an, über dessen Sturz vom Balkon sie sich kennen gelernt hatten.

Einmal klingelte Julian bei Kevin, um ihn einfach hinter einem Vorwand noch einmal zu sehen, aber Kevin schien nicht daheim zu sein, machte zumindest nicht auf. In der restlichen Zeit versank Julian dann in der Arbeit, die er während der Anwesenheit seines Monsterneffen nicht hatte erledigen können.

Dann, einen Tag vor Heiligabend, traf Julian Kevin im Supermarkt um die Ecke. Die ohnehin hektische Atmosphäre wurde durch eine schreckliche Version von ,Jingle Bells' über quäkende Lautsprecher noch aggressiver gestaltet. Menschen diskutierten über die Preise für Gänsebraten und die Lamettadekoration über den exotischen Früchten hing schon schlapp und ermüdet herab; immerhin taten sie den Dienst schon seit Oktober, dafür sah sie nach Julians Ansicht noch sehr gut aus.

Ein leiser Ausruf aus der Gemüseabteilung ließ ihn sich umdrehen, während er zwei verschiedene Weinsorten als Mitbringsel gegeneinander abwägte. Schmerz im Portemonnaie gegen Schmerzen im Kopf. Er verschob die Wahl und ging den Jubelrufen neugierig nach. Schon vor dem Brotregal kullerten Julian einige Mandarinen entgegen, als nächstes rannte jemand gegen ihn, und er hielt die Person rasch an den Schultern fest, um den anderen am Umfallen zu hindern.

»Oh, hallo.« Kevin blickte unglücklich über die Horde noch immer fortrollender Mandarinen hinweg, dann erklärte er mit einer den Gang umfassenden Geste »Das Netz ist gerissen. Natürlich passiert so etwas immer mir.«

»Ach was, ich hab das auch schon erlebt.«

Kevin sah unglücklich zu Boden. »Es ist zerrissen, weil ich damit an der Uhr einer jungen Frau hängen geblieben bin. Sie ist in das Nussregal gestolpert. Während ich meine Mandarinen jagen muss, ist sie auf der Hatz nach Pekanüssen.«

Julian lachte auf, er konnte nicht anders. Sofort erinnerte er sich an den Baumcrash und musste erst recht lachen, froh, dass er Kevin einmal wieder getroffen hatte. Hinter ihnen sammelten einige Leute nebenbei die eine oder andere Mandarine auf und brachten ihn in die Gegenwart zurück. Um auch zu helfen, bückte Julian sich nun nach einigen der Früchte direkt neben seinen Füßen. Dies schien jedoch auch Kevin vorgehabt zu haben, sie stießen unsanft mit den Köpfen zusammen.

Julian sah fast schon Sterne, er hatte zum Glück eine Mütze getragen, die den Zusammenstoß abpolsterte. Kevin jedoch schwankte ein wenig, so dass Julian ihn rasch umfing und besorgt wie er war schon zu dicht an sich gedrückt festhielt. »Geht es?« Ein Teil seines Gehirns klickte sich aus rationalen Gedanken aus, Kevin roch herrlich und fühlte sich toll an, auch wenn der schlanke Mann ihn bereits übereifrig, wie es schien, von sich schob.

»Oh, das tut mir so leid! Ich bin so ungeschickt!«

»Wie kannst du nur Tänzer sein?« Verwundert sah Julian Kevin an, der mit roten Wangen nicht nur attraktiv sondern auch noch niedlich wirkte. /Wie kann ich nur so ein Trampel sein? Herrgott, Julian! Kein Wunder, dass du nie einen Mann findest!/

»Wenn ich Musik höre, dann kann ich mich bewegen. Nur ohne geht es nicht«, erwiderte Kevin unglücklich und rieb sich die Stirn, wobei ihm erneut zwei Mandarinen entglitten.

Julian blinzelte, dann schlug er vor »Nimm doch das Weihnachtsgedudel im Hintergrund.«

Es war ein Scherz gewesen, doch Kevin lachte auf und nickte. »Das sollte ich machen, gute Idee!« Mit einem verdächtigen Strahlen in den Augen legte er den Kopf schief und lauschte auf den nun gerade hyperkitschigen ,Drummer Boy', um sich an genau der richtigen Stelle rasch einige Male zu drehen, bevor er dermaßen sicher in die Hocke sank, um einige Mandarinen aufzuheben, dass Julian den Mund offen stehen ließ. Ein Mädchen, eine Nachbarin von ihnen, klatschte kurz, und Kevin wurde rot, aber zwinkerte ihr munter zu.

Einige Leute drängelten sich an ihnen vorbei, und Kevin blickte auf seinen Einkaufszettel, während er die losen Mandarinen auf ein Regal legte und sich ein neues Netz holte. Julian folgte ihm einfach und nahm auch ein Netz, obwohl er Mandarinen gar nicht mochte. Kevin seufzte auf. »Ich weiß gar nicht, wieso ich mir immer den Stress um ein Weihnachtsessen mache.«

»Ja, eigentlich kann Weihnachten auch ausfallen. Familienfeier, ist sowieso eine bigotte Tortur für alle.« Julian hätte sich erschlagen können, schon bevor er Kevins ein wenig verletzten Gesichtsausdruck sah. /Er liebt Weihnachten, du Trottel! Warum sonst würde er solch einen dicken Weihnachtsbaum kaufen! Verbreitest schlechte Laune, nur weil deine Eltern dir das Fest vermiesen mussten, du Depp!/

Julian schloss gepeinigt die Augen, dann holte er Luft, um etwas zu sagen, um die Stimmung zu retten, doch Kevin bückte sich nach einer Tüte mit Nüssen, bevor er ein wenig zu leise und flach irgendwie sagte »Ich muss mich jetzt wirklich beeilen. Ich wünsche fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch.«

»Danke, das wünsche ich dir auch.« Julian bekam den Drang, Kevin festzuhalten, ihn vom Weglaufen abzuhalten, aber sein Nachbar ging rasch zu den Kassen nach vorn und war verschwunden, bevor er sich gefangen hatte.

Am Heiligabend würde Julian mit seiner Studienkollegin Christine zu einigen Firmen und Festen tingeln, um aus dem Weihnachtswahnsinn noch einen kleinen Profit zu schlagen. Missmutig fluchend zog er sich den roten Weihnachtsmannmantel aus Plüsch über den aus Wohnzimmerkissen gebastelten Bauch und arrangierte die Kapuze und den Rauschebart aus Kunstfell, damit man sein Gesicht nicht mehr erkennen konnte.

Aus dem Spiegel sah ihm noch immer kein Fremder entgegen und Julian hoffte, dass seine billige Imitation den Leuten ausreichen würde. Seufzend zog er seine schwarzen Schuhe an und schleifte den obligatorischen Jutesack hinter sich her die Treppen runter. Ein kleiner Blick zu Kevins Fenstern hinauf und Julian seufzte noch einmal. Es brannte Licht dort, er hatte vorhin auch Schritte und Stimmen auf der Treppe gehört. Sein süßer Nachbar verbrachte Weihnachten sicherlich nicht allein.

Christine war eine durchgeknallte Partynudel und steckte ihn ständig mit Einfällen und wilden Aktionen an. Auch dieses Mal verfluchte Julian, dass er zugesagt hatte, als die schneidende Kälte ihn trotz des dicken Mantels und seiner Jacke noch erschaudern ließ. Feiner Schnee fiel halbherzig in winzigen Flöckchen, die kaum die Erde weißen konnten. Es war vermutlich schon wieder zu kalt dafür.

Christine erwartete ihn am Treffpunkt und war auch schon mit ihrem Christkindkleidchen samt Heiligenschein über den hellblonden Korkenzieherlocken ausstaffiert. Ein wenig irritierend dazu waren die sexy Overkneestrümpfe und ihr bemerkbarer Schwips.

»Vier Stunden mit Papilotten auf dem Kopf, mir brummt der Schädel, sage ich dir, Julian! Aber als Ausgleich schon zwei Glühwein!« Sie umarmte und küsste ihn stürmisch, was seinen Bart durcheinander brachte und den Kissenbauch ins Rutschen.

Während sie sich die Auftragsliste von der Agentur ansahen, erzählte Julian ihr bei einem Aufwärmglühwein aus dem Pappbecher von seinem süßen Nachbarn und wie er ihn kennen gelernt hatte, weil er sich einen Tipp, wie er ihm nahe kommen konnte, von ihr erhoffte.

Leider kam in der Erzählung der Hintern von Kevin einige Male zu häufig vor, zudem erwies Christine sich, wie eigentlich auch erwartet, als Reinfall, was dergleichen anging. »Geh hin, küss ihn und sag ihm, dass sein Arsch deine Träume durchtanzt.« Sie blickte in den Spiegel und tuschte die Wimpern mit Goldfarbe nach. »Dann... ehm, halt mal den Spiegel, dann zerrst du ihn in sein Designerschlafzimmer und legst ihn flach.«

Gereizt den Spiegel haltend starrte Julian sie an, aber konnte ihr nicht wirklich böse sein, dazu sah sie einfach zu niedlich aus mit den Locken und ihrem Glimmer-Make-up. »Blöde Ziege, kannst ruhig mal helfen. Als ob ich...«

»Du hast eben gesagt, dass dir zuerst sein Hintern aufgefallen ist!«

»Ich wollte ein Schwulenklischee bedienen.«

»Komm, lass uns loslegen, dann sind wir in zwei Stunden bestenfalls schon betrunken und reich.« Sie ignorierte seine verdrießliche, unweihnachtliche Stimmung und zerrte ihn zu den ersten Auftraggebern. Zunächst in einige Läden, wo die Angestellten mit ihnen feierten, und anstießen, dann schon ein wenig erheitert zu Privathaushalten, wo sie etlichen Kindern Angst einjagten und die Geschenke überreichten.

Wegen der Kälte bekamen sie überall Punsch, Glühwein oder Kaffee mit Schuss angeboten. Zudem natürlich reichlich Kekse, Pralinen und ein anständiges Trinkgeld. Als Ausgleich dafür trug Christine mit goldigem Lächeln ein Gedicht vor und Julian brummte seiner Stimmung entsprechend knurrige 'Hohohos' vor sich hin und zog die von Christine noch schnell auf seine Stirn geklebten Augenbrauen zusammen.

Christine konnte bei ihrem letzten Auftrag kaum noch gerade stehen und zog sich schon den ganzen Nachmittag zwischen den Einsätzen die dicke Skijacke von Julian über. Julian begrüßte die Wirkung des Alkohols, sonst hätte er Christine wohl kaum die Jacke überlassen.

Als sie das letzte Haus hinter sich gebracht hatten, tranken sie von dem Trinkgeld an einem Glühweinstand am Bahnhof, wie es sich gehörte auch ordentlich noch was, und als die Kirchturmuhr elf schlug, gab Christine leicht lallend zu, dass dieses Weihnachten wirklich angenehm betäubend gewesen sei.

»Wieso bist du nicht zu deinen Eltern, Christkindchen?«

»Weil die heuer bei meiner Schwester sind. Ich setze mich morgen früh in den ersten Zug und fahre zu ihnen hin. Eigentlich wollte ich gleich mit dem Nachtzug noch fahren, bin jetzt aber zu betrunken.«

Sie hing schwer an Julians Arm, der sie noch bis zu ihrer U-Bahn brachte. »Schlaf dich aus, nimm einen späten Zug, Christine.«

»Nein, quatsch. Danke fürs Bringen. Willst du deine Jacke noch haben?«

Julian wehrte ab. »Nein, nein. Wir sehen uns doch eh gleich nach Weihnachten, dann gibst du sie mir wieder. Ich gehe das restliche Stück schnell und bin dann in fünf Minuten zu Hause. Das verdammte Kostüm ist warm genug.« Das war zwar ein wenig gelogen, aber er konnte nicht riskieren, dass sie sich den Tod holte. Sie umarmten sich noch einmal, dann lief Julian mit unter den Achseln versteckten Händen durch die stillen Straßen zu seinem Haus.

Natürlich hatte er den Weg unterschätzt und fror erbärmlich, als er endlich vor der Haustür stand. Diese war gerade offen, weil seine Nachbarn aus dem Erdgeschoss mit den Kindern heimkehrten. Man grüßte sich und machte einige Witze über die Verkleidung und die Alkoholisierung, die man Julian doch deutlich anmerkte mittlerweile, dann stapfte er die Treppen hinauf und begann sich nach seiner Dusche und seinem Bett zu sehnen.

Vor seiner Wohnungstür kam dann das böse Erwachen. Sein Schlüssel befand sich in der Jackentasche! In der Jacke, die er Christine so großzügig geliehen hatte! Fluchend ließ er sich auf den Treppenstufen nieder und kramte nach seinem Handy, um sie anzurufen. Erschaudernd fiel ihm der lange Weg zu ihrer Wohnung ein.

Christine ging nicht ran. Er grummelte eine Weile, dann sprach er ihr auf die Mailbox auf, dass er den Schlüssel dringend brauchen würde und fluchte dann noch für weitere Minuten am Stück, ohne ein Wort zwei Male zu verwenden.

Schließlich war er so müde und begann erneut zu frieren, dass er sich konstruktive Gedanken machte. »Hingehen? Nicht hingehen? Ich kann nicht mehr fahren. Ich hab kein Geld für ein Taxi, Mistmistmist. Schlüsseldienst? An Weihnachten nehmen die so viel Geld, dass ich dann arm bin für das ganze nächste Jahr.« Wütend ließ er das Gesicht in seine Hände sinken. »Scheißtag.«

Eine leicht belustigte Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. »Nana, ein Weihnachtsmann, der an Weihnachten in betrunkener Tristesse versinkt?«

Julian schob sich den Bart unter das Kinn und verdrehte sich den Hals, als er versuchte, Kevin, der mit einem Mülleimer hinter ihm auf dem Treppenabsatz stand, in das Gesicht zu sehen. »Studentenjob, habe mich breitschlagen lassen von einer Kommilitonin und Freundin.«

»Oh, du studierst noch?«

Ein wenig verärgert versuchte Julian aufzustehen. »Wieso noch? Ich bin 26 und schreib am Doktor, das ist doch nicht noch, sondern schon, oder?«

Kevin seufzte hinter ihm und schien zuzustimmen, aber fragte ihn stattdessen »Und nun hast du den Schlüssel verloren?«

»Ich habe meinen Schlüssel samt meiner Jacke verliehen. Diese Jacke reist morgen in den Harz und kommt erst zu Silvester wieder, und wenn ich jetzt einen Schlüsseldienst rufe, dann bin ich pleite, aber morgen...«

»Du kannst gern erst mal zu mir reinkommen, auf der Treppe ist es zwar nett, aber ich frier schnell, bei mir drinnen höre ich vermutlich besser zu.«

Julian sah unsicher zu Kevin rauf, der lächelte jedoch nur knapp und drängelte sich an ihm vorbei und die Treppen runter. »Ich bring eben den Müll weg, geh doch schon vor.«

Leichter gesagt als getan, Julian verfluchte, dass er soviel getrunken hatte, denn sein süßer Nachbar würde ihn nun von der noch schlimmeren Seite kennen lernen als bei dem Tannenbaumcrash oder im Supermarkt. Ein Höllenweihnachten. /Unrasiert, schlecht gelaunt, betrunken wie eine Horde Seeleute und dann... kleben hier auf meiner Stirn doch auch noch diese schrecklichen Augenbrauen! Verdammt, Christine, was hast du für Kleber genommen!/ Verzweifelt riss Julian an den dicken Fellstücken in seinem Gesicht, aber gab endlich auf.

Als Kevin mit dem leeren Mülleimer wieder hochkam, lachte er über die komische Darbietung und half ihm dann jedoch auf. Währenddessen fragte er betont nebenbei »Wieso bist du an diesem Tag nicht bei der Familie?«

»Meine Eltern und ich sind eher... nicht einer Meinung. Ich belaste sie nicht an Weihnachten.«

»Oh...« Kevin schob die Tür auf und brachte die Mülltonnen in die Küche. Von dort rief er in den Flur zurück »Ich meinte, wegen deines Sohnes.«

Begriffsstutzig folgte Julian ihm und erblickte ein schreckliches Chaos aus dreckigen Töpfen und Tellern. »Was? Welcher...? Ach, Dennis?«

Kevin nickte leicht und schob Julian in seinen Flur zurück, um mit einem schrägen Lächeln die Tür zu schließen. »Ich muss noch abwaschen.«

Julian grinste, dann beantwortete er sich aus dem Mantel schälend die Frage. »Dennis ist mein Neffe. Mit eigenen Kindern kann man mich jagen. Ich war froh, dass ich ihn nur für die kurze Zeit hatte.«

»Ach, ich dachte, dass er zu deiner geschiedenen Frau zurück sollte, das tut mir leid. Ich hab das falsch verstanden, nehme ich an.«

»Ja, sehr falsch, aber wieso bist du zu Weihnachten allein?« /War er doch gar nicht, oder wer bitte hat das Chaos veranstaltet, Juli? Na, er wird doch wissen, wie ich die Frage meine, verdammt noch mal. Mist, ich bin so betrunken und so schlecht gelaunt, was tue ich nur?!/

»War ich nicht, hatte Kollegen zum Essen da. Die Ärmsten müssen arbeiten. Ich bin auch nicht besonders gut mit meinen Eltern im Einvernehmen. Außerdem sind es alte Leute, und sie verbringen Weihnachten gern bei meinem Bruder mit dessen Kindern.«

»Alte Leute? So alt bist du doch gar nicht!«

»Julian, ich bin 36. Das ist zu alt.«

Fast klang es, als sagte Kevin ,Zu alt für dich' und zwar auf eine belehrende Art, die Julian wütend machte. »Zu alt, zu alt, so ein Quatsch! Du siehst fabelhaft aus! Nun hör mit dem Mist auf und helf mir lieber!« /Verdammt noch mal, kann ich meine Launen langsam mal kontrollieren?/

Kevin schien seine harsche Art jedoch eher komisch zu finden, ein kleines Lächeln brachte seine Mundwinkel zum Zucken. Dies zu sehen brachte das Verlangen, ihn sofort zu küssen, in Julian auf. Natürlich traute er sich nicht. Zum anderen steckte er noch in dem Kostüm fest, hatte sich darin verhakt und bekam weder seine Arme frei, noch den dusseligen Bart von seinem Hals los.

Kevins Mundwinkel zuckten noch ein wenig mehr, während Julian sich stöhnend an die Wand lehnte und grummelig bekannt gab »Ich bin betrunken und sehr schlechter Laune, tut mir leid... außerdem... hat mich dieses gottverdammte Kostüm angefallen! Ah!«

Das war der Moment, als Kevin endgültig lachend zusammenbrach. Es dauerte im Folgenden eine ganze Weile und gab ein beträchtliches Gerangel, bis Julian sich von Kevins recht nutzlosen Hilfsversuchen mehr unterbrochen als unterstützt von dem Mantel, dem Bart und seinem Kissenbauch befreit hatte.

Als Julian nur noch seinen weißen Rolli und die schwarze Jeans trug, winkte Kevin ihn in das Wohnzimmer. »Komm mit, ich zeige dir den dicken Baum in all seiner Pracht. Die Rettungsaktion hat sich meiner Meinung nach gelohnt.«

Julian ließ sich seufzend und seinem Gleichgewichtssinn nicht mehr trauend auf dem Sofa nieder und sah sich den Baum an, an dem eine Unmenge echter Bienenwachskerzen in goldenen Haltern zu sehen waren. In den Zweigen hingen zwischen den Kerzen überall silberne und goldene Figuren und Kugeln. Auf der Spitze breitete ein Engel seine Flügel aus und schimmerte im Schein der Lichter überirdisch schön.

Julian hatte noch nie so dermaßen viel Kitsch gesehen, und noch nie hatte er es so dermaßen bezaubernd gefunden. »Der Baum ist wirklich wunderschön. Das zu sehen, war die Mühe und Aufregung bestimmt wert.«

Er warf einen kleinen Seitenblick auf den Mann neben sich. Im weichen Kerzenlicht vom geschmückten Baum schimmerte sein Gesicht ein wenig, die Wangen erschienen leicht gerötet, vielleicht vom letzten Lachanfall.

Kevin trug einen dunklen Pullover, in dessen Ausschnitt sich nackte Haut zeigte und eine schmale silberne Hose, beides stand ihm natürlich ausgezeichnet. Sein Lächeln, als er auf ihren vorhergehenden Streit zurückkam, war berauschender als der Alkohol. »Danke für das Kompliment von vorhin, Julian, aber ich bin alt genug. Für einen Tänzer zu alt.« Es klang beinahe bitter.

»Kevin, das ist...«

»Ach was!« Eine energische Geste wies Julian ab. Kevin setzte sich nicht zu ihm, sondern fragte leise »Was kann ich dir zu trinken bringen? Willst du etwas essen?«

Julian seufzte und rieb sich kurz den Bauch. »Nichts, danke schön. Ich bin schon viel zu betrunken und ich glaube, dass ich platze, wenn ich noch etwas essen soll. Ich fühle mich schon so dick, wie der wirkliche Weihnachtsmann.«

Kevin lachte auf und erklärte zur Küche gehend »Dann mach ich dir einen Espresso.«

»Oh, den kann ich brauchen. Ich frage mich nur, wie ich morgen rechtzeitig vor diesem verdammten Date in meine Wohnung kommen soll?«

»Date?«

»Hm. Morgen um halb zwölf. Heißes Date, schon seit Wochen geplant.« /Oh Sarkasmus. Erzähl ihm doch gleich noch, dass du schwer zu vermitteln bist, weil keiner deine Art erträgt./

Kevin seufzte leise, und erinnerte an die Möglichkeit einen Schlüsseldienst zu rufen, dann verschwand er in der Küche, die Tür schloss er wieder hinter sich, als ob er nicht wollte, dass Julian ihm folgte.

Das hätte dieser auch nicht mehr geschafft. Gähnend streckte er seine Füße aus, die langsam wieder wärmer wurden. Es war herrlich gemütlich auf der Couch und die Leise Musik störte nicht, im Gegenteil lullte sie Julian weiter ein.

3

Die Wärme und Gemütlichkeit, so musste er feststellen, war schlecht gewesen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, den Espresso noch getrunken zu haben, als er mit einem grauenhaften Kater, einem verlegenen Rücken und drückender Blase am anderen Morgen aufwachte. Kevin hatte ihn zugedeckt und ihm auch die Schuhe ausgezogen. Das war heroisch gewesen, und es war Julian schrecklich peinlich. Gähnend tappte er in das schöne, moderne Bad seines Nachbarn und spülte sich den Mund mit überreichlich Odol aus.

Als er nach einige Minuten, nach einer Aspirin, die er gefunden hatte und ohne weiteren Blick in den Spiegel in die Küche ging, musste er sehen, dass zum einen das schreckliche Chaos noch immer dort ausgebreitet war, zum anderen streifte er den Radiowecker neben der Mikrowelle und stöhnte auf. /Es ist erst sechs Uhr? Verdammt noch mal! Christine!/

Eine kleine Unterhaltung mit dem Handy und er fand heraus, dass Christine noch immer schlief, oder ihr Handy vergessen hatte mitzunehmen, das würde ihr ähnlich sehen. /Dann muss ich doch den Schlüsseldienst anrufen. Mist!/

Da ihm nichts weiter übrig blieb, als noch einige Stunden zu warten, da sein Kater nach Kaffee verlangte und sein Ordnungssinn vor Pein aufschrie, als er die Küche wieder betrat, beschloss Julian, dass er sich nützlich und die Küche sauber machen würde, wenn er schon nicht duschen und sich zum Menschen machen konnte.

Es war erstaunlich, wie unpraktisch Kevin seine Schränke gefüllt hatte. Ohne darüber nachzudenken, arrangierte Julian die Vorräte, das Geschirr und die Töpfe komplett um. Die Arbeit lenkte ihn von dem Kater und seinen Gedanken über den Nachbarn ab. Nach zwei Stunden, als die Turmuhr der Kirche begann, zu einer der zahlreichen Weihnachtsmessen zu läuten, saß Julian sehr zufrieden mit einem Becher Kaffee an dem kleinen Tischchen in der Küche, den er bereits gedeckt hatte und versenkte seinen Kater.

Er vernahm wie Kevin aufstand, und wie der Mann ins Bad ging, dann ins Wohnzimmer, dann hörte er seinen Namen. Kevin rief nach ,Juli' und seine Stimme klang so warm und freundlich, dass es Julian ein leichtes Gefühl im Magen bescherte, das ihn nervös machte.

Er schaffte es wegen seiner Verwirrung nicht rechtzeitig zurück zu rufen, und gleich darauf vernahm er ein leises Seufzen, gefolgt von einem Türenklappen. Im Bad wurde ziemlich laut klassische Musik angestellt und wenige Momente später prasselte die Dusche.

Verwirrt lief Julian in den Flur und starrte die Badezimmertür an. /Er denkt, dass ich schon weg bin. Mist!/ Sein Blick glitt zum Wohnzimmer hinüber, wo er die Wolldecke ordentlich gefaltet auf der Couch hinterlassen hatte.

Der Baum stand wuchtig und selbstbewusst mitten im Raum und war schon mit neuen Kerzen bestückt worden. /Er war gestern noch länger auf, und ich hab total weggetreten gepennt. Wie peinlich. Er wird mich so hassen!/ Mit dem Becher in der Hand ging Julian in den Raum hinein.

Sein Blick glitt über die Wände, über die Bilder, und er seufzte leise auf, als er sich daran erinnerte, wie Kevin ihm am Tag zuvor sein Alter genannt hatte, wie eine Begründung für irgendetwas. /Na und? Bin ich dann etwa zu jung, oder was? Ich weiß ja, dass ich zehn Jahre weniger Erfahrung hab, und dann sehe ich auch noch jünger aus, aber ist das so schlimm?! Was denkt er eigentlich... und wieso sieht er in dem Alter noch so toll aus? Und wie macht er das da, ohne zu sterben?!/ Probehalber versuchte Julian eine der Verrenkungen von den Bildern, aber gab fast sofort wieder auf und wendete sich statt dessen den Fenstern zu, um die Krähen auf den Bäumen gegenüber zu beobachten.

Er war ganz in seine Gedanken an den verrückten Tag, an dem er und Kevin sich kennen gelernt hatten versunken, als ein Aufschrei aus der Richtung der Küche ihn herumfahren ließ. Er verschüttete den lauwarmen Kaffee auf seinen weißen Pulli und fluchte während er durch den Flur hastete.

Im Badezimmer lief noch immer die Musik, noch immer recht laut, und die Tür war offengelassen worden. Kevin selber schien in der Küche zu sein. Was Julian erblickte, ließ ihn zum einen so abrupt in der Bewegung stocken, dass er noch einmal Kaffee verschüttete, zum anderen kroch eine unangenehme Hitze in sein Gesicht. Er war zu überrascht, um sich wegzudrehen und gaffte, obwohl es peinlich war.

In der herrlich aufgeräumten Küche, vor der leise zischenden Kaffeemaschine, stand Kevin. Noch ein wenig nass und sehr nackt hielt er sich eine Hand auf die Brust gepresst, als hätte ihn ein Herzinfarkt ereilt.

Julian starrte auf den trainierten Hintern und die herrlichen Beine seines Nachbarn entlang und war viel zu überrumpelt von zum einen Gedanken die sehr unartig waren, und zum anderen Möglichkeiten der Ausflucht, dass er vollkommen vergaß, sich züchtig wegzudrehen. Den anderen anzusprechen, war er ohnehin nicht fähig.

Kevin ließ in einer weichen Geste die Hand von der Brust über den Hals in seine Haare fahren, während er sich von der Kaffeemaschine zu dem für zwei Personen gedeckten Esstisch und weiter zur Anrichte drehte. Die Gesten und die Rundumschau auf seinen Körper waren zuviel für Julian. Ein wenig zu abrupt wendete er sich ab und stolperte mit einer gegrummelten Entschuldigung in Richtung des Wohnzimmers.

Ein weiterer leiser Aufschrei von Kevin informierte ihn gleich darauf, dass dieser ihn noch gar nicht bemerkt hatte. /Oh Gott, sieht der gut aus. Ich sterbe, ich sterbe, ich.../ Frustriert ließ Julian sich auf die Couch fallen.

»Guten Morgen. Ich... dachte, dass du schon wieder verschwunden bist.« Zögerlich blickte Kevin um die Ecke und fügte hinzu »Wegen des Dates.«

Julian blinzelte ihn recht dumm an, dann knurrte er »Das verdammte Date ist ohnehin nur eine aufgesetzte Sache von meinen Freunden, damit ich endlich unter die Haube komme. Es ist nicht leicht, für...« Er stockte, weil Kevin doch tatsächlich auf ihn zukam, außer einem hellgrauen Handtuch um die Hüften noch immer unbekleidet.

»...jemanden wie dich, jemanden zu finden?« Aus großen, interessierten Augen sah Kevin ihn an.

Julian nickte unwillig. Seine Augen blieben auf dem ovalen Bauchnabel des anderen hängen. Inmitten von herrlichen Bauchmuskeln in weich aussehende, glatte und unbehaarte Haut eingebettet, war dies sicherlich eins der schönsten Dinge, die er je gesehen hatte.

Julian senkte den Blick und deutete mit einer Geste an sich entlang. »Na, so schwer zu glauben ist das sicherlich nicht. Allein wie ich aussehe!«

Diesen Moment wählte Kevin um fröhlich, ungeniert und laut loszulachen. »Gut. Damit hast du vielleicht sogar Recht.«

Julian hob gereizt den Kopf, um ihn böse anzustarren, aber zu seinem Schrecken kam der schlanke Tänzer auf ihn zu. Einen Moment später informierte ein scharfer Schmerz Julian darüber, dass er noch immer die Weihnachtsmannaugenbrauen im Gesicht kleben gehabt haben musste.

Kevin beugte sich über ihn, hielt mit einer Hand sein Gesicht umfasst und murmelte eine leise Entschuldigung, bevor er mit den Fingern der freien Hand an der zweiten Augenbraue zupfte. Ein Lächeln umspielte seinen weichen Mund und Julian konnte nichts weiter tun, als erstarrt auf den Mund sehen und sich fürchten.

Kevin war so herrlich anzusehen, er roch so wundervoll nach einem vanilligen Duschgel, sein Atem streifte Julians Wange und dies sendete mit jedem Atemzug seines Gegenüber mehr und mehr Hitze seinen Körper herunter und direkt in seinen Schoß.

Ein scharfer Schmerz beendete seine lustvollen und sicherlich auch peinlichen Fantasien. »Das war die zweite. Jetzt kann man dein Gesicht wieder sehen.« Julian wäre gern aufgestanden, um sein Gesicht zu waschen, um nachzusehen, ob sich da noch Reste vom Kleber befanden, um die Hitze aus sich wegzuwaschen, aber er konnte sich nicht bewegen. Kevin war zu dicht vor ihm.

Nach einigen Sekunden wurde Julian klar, dass Kevin dies noch immer war, dicht vor ihm, nicht bekleidet, unglaublich erotisch anzusehen, duftend und überhaupt ein Traum, nur zu wirklich und wirklich zu... Julian wusste nicht genau was, aber Kevin hatte zu viel davon und er zu wenig, das war sicher. »Ehm. Du... hast nur ein Handtuch an.«

»Ich weiß.«

Kevins Finger berührten seine Wange, sein kleiner Finger hakte sich vorsichtig unter Julians Wangenknochen, um ihn dazu zu zwingen, den Kopf zu heben. Als sich ihre Blicke begegneten, sah Julian, dass Kevin ihn anlächelte.

Ihre Gesichter näherten sich einander an. Langsam, zu langsam, und Julian wurde schier wahnsinnig von der Spannung, die ihm Krämpfe in den Zehen bescherte. Doch endlich berührten sich ihre Lippen, und er schloss die Augen.

Eine Sekunde später riss er seine Augen wieder auf und fuhr erschrocken zurück, als sein Handy sich ihm per Vibrationsalarm mit einer Mischung aus erregend und störend in der Hosentasche bemerkbar machte. Fluchend kramte er es heraus und war erleichtert, dass es sich um Christine handelte, die ihn kichernd und unter Versprechungen um Verzeihen und Gnade bat, nachdem sie erfahren hatte, dass er beim Nachbarn auf der Couch geschlafen hatte. »Ich bin gleich da und bring den Schlüssel vorbei, Schatz! Wo soll ich genau hin? Welche Wohnung?«

»Ehm... leg den Schlüssel doch einfach...«

»Nein! Deine Stimme klingt so komisch! Bei wem bist du?! Doch nicht etwa bei deinem Sahneschnittennachbarn, dem du seit dem letzten Advent hinterher sabberst?!« Dies war so dermaßen laut gebrüllt, dass Kevin sicherlich jedes Wort verstanden hatte. Julian spürte, wie er rot wurde.

Unsicher streifte er den herrlichen Körper vor sich mit einem Blick, dann seufzte er und wollte gerade sagen, dass er runterkommen würde, als sie aufgeregt rief »Ich bin im Treppenhaus, wo bist du?«

Julian riss die Augen auf und holte Luft zu einem angstvollen Ausruf, als er ihr Lachen hörte. »Scherz, ich störe euch sicher nicht weiter. Also, soll ich den Schlüssel unter die Fußmatte legen?«

»Ja, tolle Idee. Danke Chrissi.« Erleichtert seufzte er noch einmal und Kevin hielt sich mit vor Vergnügen funkelnden Augen die Finger vor die Lippen, um nicht laut zu lachen.

»Ich wünsche dir einen guten Rutsch, mein Schatz, wo auch immer du bist.«

»Danke, wünsch ich dir auch.« Julian legte auf und wollte sich so dezent und wenig peinlich wie möglich erheben, um dann in seiner Wohnung zu verschwinden, als Kevins Lippen seine Wange streiften, zu seinem Ohr wanderten und neben einer Gänsehaut noch leichten Schwindel in Julian auslösten, als Kevin flüsterte »Ich finde dich ebenfalls superheiß.«

Julian war auch genau so zu Mute, superheiß. Leider eher von der tiefen Röte, die sicherlich sein Gesicht an sein Kostüm angepasst hatte. Er holte gerade Luft, um sich mit einer Gegenfrage zu vergewissern, dass er sich nicht verhört hatte, als sein Handy sich erneut meldete.

Gereizt fluchte Julian und meldete sich mit einem aggressiven »Was?!«

»Hallo Julian, Markus hier. Störe ich?«

»Nein, nein... ich hatte wen anderes... Entschuldigung.« /Scheiße! Das Date! Was mache ich denn jetzt? Mistmistmist./ Ein kleiner Seitenblick auf Kevin, der sich noch immer nur mit Handtuch bekleidet zur Küche wendete, die Haltung und der Gesichtsausdruck zeigten Julian deutlich, dass Kevin wusste, wer am Apparat war. /Muss der immer gleich so empfindlich sein? Mist, verdammter!/

»Ich wollte fragen, ob ich dich zum Essen nachher mit dem Auto abholen soll. Ist doch ganz schön kalt heute.«

Julians Herz machte einen Satz. Kevin war schon an der Wohnzimmertür angekommen. Er musste sich beeilen, sonst war der süße Mann für immer fort und er würde Zeit seines Lebens noch mehr Gründe haben, um Weihnachten zu hassen.

»Ich komme nicht. Ich wollte gleich anrufen und absagen.«

»Oh. Das ist schade. Ist etwas passiert?«

»Ja, ja ist es. Kann man so sagen. Tut mir leid. Sag den anderen, dass ich es wieder gutmachen werde.«

Julian starrte Kevins Rücken an, der in der Tür zum Flur angehalten war. Langsam drehte er sich wieder zu ihm um. Ein wunderschönes Lächeln belohnte Julian dafür, dass er sich garantiert bei den Freunden, die das Date organisiert hatten, würde übermäßig entschuldigen müssen.

»Ich wünsche euch trotzdem ein schönes Fest und einen guten Rutsch.« Julian legte auf bevor der andere antworten konnte. Hektisch schaltete er sein Handy sofort aus, während er sich vom Sofa erhob. »So! Ruhe, verdammt noch mal!« Als er aufsah, schrak er zusammen, weil Kevin wieder direkt vor ihm stand, noch immer lächelnd und wunderschön.

Kevin beugte sich dichter zu ihm und sagte leise: »Ich hoffe, dass du schnell duscht und dich umziehst und wir uns gleich in meiner wunderschönen, aufgeräumten Küche zu einem Frühstück wiedersehen. Ich verspreche auch, dass ich mich anziehen werde.«

Julian schloss die Augen und umfasste den wendigen Körper von Kevin vorsichtig mit einer Hand, während er unwillkürlich murmelte »Nein, versprech das nicht.« Gleich darauf stutzten sie beide, und Julian machte sich grummelnd und knallrot von Kevins neustem Lachanfall begleitet in seine Wohnung auf, um sich präsentabel herzurichten.

Eine umfangreiche Schönmachaktion, die Julian schon wieder peinlich war, musste gestartet werden. Duschen, gründlichst rasieren, Haare fönen, Deo nicht vergessen, die Zähne schrubben wie besessen und dann die Klamottenwahl. Julian tigerte unschlüssig vor seinem Schrank hin und her, fühlte sich wie ein Teenager, obwohl Kevin ihn doch auch, oder ausschließlich vielmehr, in den schrecklichsten Klamotten kannte.

Zuletzt entschied er sich für eine neue Jeans und ein weiches grünes Hemd, das gut zu seinen Augen passte. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass er erträglich aussah. Mittlerweile hatte er auch ordentlich Hunger und hoffte, dass die Aufbackbrötchen im Tiefkühlfach von Kevin nicht für eine bestimmte andere Gelegenheit vorgesehen waren.

Er griff sich noch einige Päckchen mit Käse und Aufschnitt und ging mit wild klopfendem Herzen erneut zu der Tür seines Nachbarn hinüber. Kevin öffnete ihm mit fröhlich funkelnden Augen und war zu Julians Erleichterung ebenfalls angezogen.

Er hatte sich für einen hellgrauen Pullover entschieden und sah erstaunlich aus, wundervoll, begehrenswert. Aber Kevin machte keine Anstalten, Julian zu küssen, oder wenigstens zu umarmen. Statt dessen winkte er ihn in die Küche und dirigierte ihn vor einen der Teller, um ihn mit Brötchen mit Lachs und Ei voll zu stopfen.

Sie redeten nicht viel, bis Kevin seinen Teller von sich schob und seinen und Julians Becher erneut mit Kaffee füllte. »Ich bin fertig, du auch, oder? Wollen wir nicht ins Wohnzimmer rübergehen?«

Julian nickte nur, seine Schüchternheit wuchs sich immer weiter aus, je mehr Kevin so distanziert war.

Mechanisch räumte er verderbliche Lebensmittel in den Kühlschrank und die Teller in die Spülmaschine, auch wenn es ihm einen Blick von Kevin einbrachte, der dann seufzend vorweg ging. Als Julian ins Wohnzimmer kam, spielte von irgendwo hinter dem Weihnachtsbaum her leise Musik und das trübe Vormittagslicht wurde von den Kerzen durchbrochen. Glänzend und prächtig bestimmte der dicke Baum die Atmosphäre im Raum und schuf eine lebendige Wärme, wie sie nur von solch vielen Kerzen stammen konnte. Kevin stand am Fenster und beobachtete irgendwas oder irgendwen auf der Strasse.

»Ich bin nervös.«

Julian blinzelte ihn verwirrt an, denn das war sein Text gewesen. Er seufzte und setzte sich auf die Couch, sein Lieblingsplatz mittlerweile. »Ich auch.«

»Du... treibst mich in den Wahnsinn.« Eine drastische Geste mit der schlanken Hand unterstrich den Satz, und Kevin drehte sich energisch zu ihm um.

Gut, das war zwar ein Satz, den Julian gern aus Kevins Mund gehört hätte, aber in einer anderen Situation. Ein wenig horizontaler zumindest. »In wiefern denn bitte das?« Schon wieder hörte er sich gereizt an. Vermutlich meinte Kevin das, seine grummelige Art. Verzweifelt versuchte Julian ein Lächeln, was ihm misslang. Er war nicht der Typ zu solch ansteckender Fröhlichkeit wie Kevin.

»Zuerst bist du herrlich, springst über das Balkongitter, rettest mich, hilfst mir, und ich bin sofort hin und weg. Dann taucht ein Sohn auf, und ich bin verwirrt, weil ich denke, dass ich die Blicke falsch gedeutet habe. Dann ist es nur der Neffe, aber ich habe Befürchtungen, weil Kinder mich in den Wahnsinn treiben, davon sind auf der Akademie schon genug. Aber du sagst, dass du sie auch nicht leiden kannst, bist wieder herrlich.

Dann bist du noch Student, so jung. Ich hatte dich wegen der Selbstsicherheit und deiner dunklen Stimme viel älter geschätzt, habe mich sehr erschrocken und wollte dich nicht... belästigen. Aber du meckerst mich an, dass ich mich albern benehme und bist gar nicht der Meinung, dass es dir etwas ausmacht, wenn ich soviel älter bin. Dann taucht ein Date auf, und ich bin noch verwirrter, und jetzt... bist du trotzdem hier.»

Julian starrte ihn an, konnte es eben gerade vermeiden, seinen Mund dabei offen stehen zu lassen. Er rieb sich über die Wangen, dann zählte er auf »Ich fand dich auch herrlich, als ich deinen Baumcrash mitgemacht habe. Dennis ist nur mein Neffe, ich hab nie gesagt Sohn. Ich hab auch nie gesagt, dass ich auf Kinder stehe, und dann hast du ja eine Woche lang nicht mehr mit mir geredet und bist mir im Supermarkt davongelaufen!«

»Das war zickig, ich weiß.«

»Ach.«

»Es war, weil ich... du hast mich so gedrückt, und ich dachte nur, dass es unfair ist, wenn ich dich immer und immer wieder sehen muss, wenn du hetero bist.«

Entrüstet verschränkte Julian seine Arme. »Und dann erzählst du mir was von deinem Alter, als ob ich das nicht selber entscheiden könnte, verdammt.«

Kevin blinzelte ein wenig, dann setzte er sich neben Julian und erklärte sanft »Zehn Jahre, Juli.«

Julian liebte ihn für die Art, wie er den Namen sagte. Hatte er das in der letzten Nacht auch schon? Es war wundervoll anzuhören und von einem bezaubernden Blick begleitet. Ein wenig ruhiger versetzte er deswegen »Vor zehn Jahren hätten wir uns auch ruhig schon begegnen dürfen, da war ich nämlich mit einem zusammen, der da schon dreißig war. Meine Eltern sind ausgetickt und haben mich an Weihnachten rausgeworfen!«

»Oh. Dann ist es...«

»... mir vollkommen egal, wann du geboren wurdest? Ja, das kannst du wohl annehmen!«

»Nein. Dann ist es der Grund, aus dem du Weihnachten nicht magst?«

Julian seufzte und nickte leicht.

»Und meine Küche? Ich weiß, ich bin eine schreckliche Schlampe. Findest du nicht, dass...«

»Küche?« Julian brauchte einige Momente, dann schüttelte er den Kopf. »Quatsch. Ich räum gern auf, das muss doch nicht jeder mögen! Außerdem wirst du in meiner Ordnung erst mal nichts wiederfinden, das ist Strafe genug.«

Kevin lachte wieder und warf sich gegen die Rückenlehne der Couch zurück. »Oh, ist das herrlich! Ich fasse es nicht!«

»Was ist denn nun schon wieder?!«

»Wir verschwenden einen kostbaren Weihnachtstag mit einem Streit über einen Streit über ein Missverständnis, anstelle... anderer Dinge.« Der Blick aus den grauen Augen wirkte mit einem Mal leicht verhangen. Wie Kevin von spaßig zu erotisch mit einem Augenaufschlag umspringen konnte, war Julian ein komplettes Rätsel. Eigentlich war der ganze Mann ihm ein Rätsel, aber das Raten hatte gerade eine unglaublich aufregende Qualität bekommen.

Julian verschränkte dennoch erst einmal ablehnend seine Arme vor der Brust und fragte betont missmutig. »Soll das heißen, dass deine Missverständnisse nun alle geklärt sind, oder war noch was?«

Kevin legte den Kopf schief, einige Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn und ein verdächtiges Leuchten erhellte seine Augen ein wenig, dann beugte er sich dichter. »Nur noch eines.« Er löste Julians Arme und lehnte sich dann langsam vor.

Julian rechnete mit einem Kuss und wollte die Augen schon träumerisch zudriften lassen, stattdessen hielt Kevin dicht vor seinem Gesicht inne und verkündete »Du machst einen schrecklichen Weihnachtsmann.«

Julian verzogen den Mund und sah wieder dieses verdächtige Zucken um die weichen Lippen des anderen. »Ach, hol dich doch der Kuckuck, verdammt noch mal!« Er umfasste Kevins Schultern und zog den nur wenig Widerstand aufbietenden Körper mit einem Ruck an sich, um ihn lange und atemraubend zu küssen.

Lesemodus deaktivieren (?)